Kjall konnte kaum schlafen. Er wälzte sich herum, auf den Bauch, auf den Rücken, auf die Seite, aber keine der Lagen war bequem. Nicht, dass er sich je groß um Bequemlichkeit geschert hätte. Er konnte sich jedoch nicht daran erinnern, derart heftige Schlafprobleme erlebt zu haben. Heute konnte er seine aufgewühlten Gedanken einfach nicht zur Ruhe bringen. Und so lag Kjall still da und ließ seine Gedanken schweifen.
Noch bevor die Sonne sich am nächsten Tag über die Berggipfel erhob, beschloss Kjall, diesem elenden Halbschlaf ein Ende zu bereiten und zum Baum der Lieder aufzubrechen. Wenn irgendwo weitere Schriftrollen zum Gebrauch dieser mystischen Sphäre zu finden waren, dann wohl in den Schwarzen Archiven. Ohne seine Tiefminen-Golems würde es für Kjall schwieriger werden, dort einzubrechen, aber das Risiko wollte er auf sich nehmen. Er wollte zurück in seine eigene Zeit, sein eigenes Museum, und wenn keine zweite Version seiner selbst ihn dorthin bringen wollte, musste er halt selbst herausfinden, ob diese Sphäre auch Portale in die Zukunft öffnen konnte. Schlimmstenfalls, falls er entdeckt würde, könnte er einfach ein kleines Stückchen weiter in die Vergangenheit fliehen.
Einige Apfelnuss-Sträucher am Rande des gewundenen Wegs verliehen Kjall etwas dringend gebrauchte Stärke, während er in seiner neuen Wanderkleidung durch den Wachsamen Wald strich, den Silberschild fest auf seinen Rücken gezurrt und mit einer dünnen Stoffdecke bedeckt, sodass er nicht allzu sehr auffiel. Kjall konnte nur hoffen, dass die Helden von Andor nicht ebenfalls beschlossen hatten, den Baum der Lieder aufzusuchen.
Erstes Sonnenlicht ergoss sich über den Wachsamen Wald. Die Lichtung, über welcher der Baum der Lieder imposant thronte, lag vergleichsweise still da. Die meisten Bewahrer vom Baum der Lieder waren wahrscheinlich noch in ihren Betten oder kümmerten sich um ihre allmorgendlichen Rituale. Einige Dorfbewohner zogen bereits zum Brunnen und brachten Wasser zurück in ihre Häuser. Bogenschützen patrouillierten in Dreiergruppen am Rande der Waldlichtung entlang. Ein kleines Männchen saß auf einem Hocker am Rande der Lichtung und blickte Kjall aus zwei verschmitzten Augen unverwandt an. Wäre es vielleicht geschickter, umzudrehen und in der nächsten Nacht zurückkehren? Da fiel Kjalls Blick auf eine mächtige Gestalt, die in der Nähe des kleinen Männchens auf einem Stein saß, im Schneidersitz, die Hände auf die Knie gelegt und den Kopf mit den mächtigen Hörnern in Andacht gesenkt. Ein Tarus! Ein ihm wohlbekannter Tarus! Er schien etwas vor sich hin zu murmeln, und wenn Kjall sich nicht täuschte, wogte das Gras um den Stein herum, flimmerte die Luft um den Tarus leicht und knirschten die nahestehenden Bäume, als würde die Seele des Waldes dem Tarus antworten. Geisterhaft.
Um nicht den Verdacht der Wache haltenden Bogenschützen auf sich zu ziehen, näherte sich Kjall dem Tarus langsam, aber selbstbewusst aufgerichtet. Dass er abgesehen vom Schild auf seinem Rücken komplett unbewaffnet war, ließ ihn relativ ungefährlich erscheinen, dennoch wollte er keine Konfrontation auslösen. Das kleine bucklige Männchen betrachtete ihn weiterhin nachdenklich, während er näher schritt, nickte ihm dann aber freundlich zu und wandte sich von ihm ab. Er atmete erleichtert auf.
„Thogger“, zischte Kjall, und tippte dem Tarus auf die Schulter, die selbst im Sitzen die Schulter des Zwergs überragte.
Thogger schien nicht überrascht, sondern öffnete bloß die Augen: „Falls du dich anschleichen wolltest, so warst du eindeutig zu laut. Was willst du, Kjall?“
„Freust du dich nicht, mich zu sehen? Ich bin hier, um mehr vom Umgang mit der Sphäre zu erfahren. Ich will zurück in meine eigene Zeit reisen. Wie sieht es bei dir aus? Und wie steht es um die anderen?“
Thogger schnaubte: „Die haben versagt. Shan wurde in Brandurs Lager eingekerkert. Der Fahle hat tatsächlich einen Schleier der Nacht über das Land verhängt, aber dieser wurde kurz darauf wieder gebrochen, von einer Kräuterhexe an einem Feuerkreis. Ich wusste gar nicht, dass es einen in Andor gibt. Mit dieser Hexe und dem buckligen Hüter dort drüben habe ich mich schon ausführlich unterhalten. Sie verfügt über so viele Kenntnisse, dass sie eine gute Schamanin abgegeben hätte, und er ist weiser, als es selbst mein Vater Hogger war. Die Hexe scheint tatsächlich zu wissen, wo Sternkraut wächst, und könnte mich dorthin führen. Das ist gut, denn diese Helden, die mir dasselbe versprochen hatten, haben sich nach ihrem Sieg über den Fahlen in Luft aufgelöst. Ich vermute, dass sie einen Weg zurück in ihre eigene Zeit gefunden und uns hier zurückgelassen haben. Schöne Helden sind das. Ich weiß nicht, wie du ohne die Sphäre nach Hause zurückkehren willst.“
„Wenn es nur das ist...“, grinste Kjall, und ließ die schimmernde Sphäre aus einer seiner Taschen hervorblitzen. Thogger riss die Augen auf. Kjalls Grinsen wurde noch breiter: „Direkt aus der geheimen Fürstenkammer der Schildzwerge. Wenn du wüsstest, was ich alles erlebt habe... aber das ist jetzt nicht relevant. Kommst du mit, wenn ich herausfinde, wie wir uns zurück in unsere Zeitlinie transportieren können?“
Thogger zögerte: „Ich habe geschworen, mich Varatans Fluch hinzugeben, sobald das Sternkraut sicher in meiner Heimat angekommen ist. Diese Hexe vermag mich zum Kraut zu führen. Ich glaube, hier meine Bestimmung gefunden zu haben. Ich stärke mich nur noch für diese letzte Reise, dann breche ich auf. Meine Wünsche sind mit dir auf deinem weiteren Pfad, Kjall, aber ich glaube, hier trennen sich unsere Wege.“
Kjall nickte schwer. Er hatte nie ganz verstanden, was es mit diesen Flüchen auf sich hatte, die auf Thogger, Shan und dem Bleichen lagen, aber wenn Thogger hier seinen Frieden finden konnte, würde Kjall ihn nicht aufhalten. Interessanter war, dass die Helden offenbar einen Weg zurück in ihre eigene Zeit gefunden hatten. Eine Schande, dass Kram nicht in der Vergangenheit festsaß, aber diese Möglichkeit ließ in Kjall die Hoffnung wachsen, dass er dasselbe erreichen könnte. Zudem hieß das auch, dass die Helden ihm in dieser Zeit nicht mehr gefährlich werden konnten. Kjall musste nur den riesigen Baum betreten, die Treppe hochklettern, die Schwarzen Archive erreichen und die Schriftrollen finden, die ihm den Weg in die Zukunft zeigen würden. Kein Problem, er hatte bereits einem Fürsten und seinen zwei Wachen getrotzt, was sollten ihn da einige blasierte Schriftensammler auch aufhalten.
Kjall griff dem riesigen Tarus an den Unterarm und sprach ihm viel Glück und den Segen des feurigen Gottes für seine Zukunft zu. Der Tarus verabschiedete sich gerührt und Kjall bewegte sich schnurstracks über die Lichtung auf den Baum der Lieder zu. Vielleicht war es doch eine schlechte Idee gewesen, bei Tageslicht hierher zu kommen. Die Bogenschützen hatten ihn nicht aufgegriffen, vielleicht konnte er aufgrund seiner Waffenlosigkeit auch als harmloser Gelehrter durchgehen, aber sein Aussehen weckte dennoch die Aufmerksamkeit vieler Dorfbewohner. Zwerge sah man hier nicht alle Tage, und erst recht nicht welche, die sich mit dem Tarus unterhielten, der erst kürzlich noch Sturm und Unwetter über den Baum beschworen hatte. Und der Silberschild auf seinem Rücken sah selbst von einem Tuch verdeckt immer noch imposant aus.
Ich bin ein ganz unschuldiger, schriftrollenversessener Narr, ganz genau wie alle anderen hier, dachte Kjall, achtet einfach nicht auf mich, ich bin nur wegen der Schriftrollen hier. Er schaffte es nur bis kurz vor den Eingang zum großen Tor am Baum der Lieder, dann hörte er eine helle Stimme vom Rande der Lichtung: „Das ist Jork, dieser elende Zwerg, der in die Schwarzen Archive eingebrochen ist!“
Kjall sah sich unauffällig um – oder besser gesagt versuchte es zumindest – und erblickte eine junge Bewahrerin, die mit ausgestrecktem Finger auf ihn zeigte. Er hatte diese Frau noch nie in seinem Leben gesehen.
Thogger sah nun ebenfalls alarmiert auf und meinte beschwichtigend: „Aber was redest du denn da, Folla, das ist doch nur Kjall, ein alter Freund...“
Folla quittierte diese Aussage mit „Schweig schon stille, unseliger Unruhestifter!“ und beharrte weiterhin darauf: „Das ist Jork, der Mörder von Fanatos! Fasst ihn!“
Das brachte Leben in die drei Bogenschützen, die Folla am nächsten standen. Kjall blieb nicht lange genug stehen, um ihnen beim Anrennen zuzuschauen. Stattdessen nahm er selbst die Beine in die Hand und hechtete auf den Eingang zum Baum der Lieder zu. Links und rechts von ihm zischte je ein weiß befiederter Pfeil durch die Luft, und zwei dumpfe Geräusche an seinem Rücken verrieten ihm, dass zwei weitere Pfeile am Silberschild an seinem Rücken abgeprallt waren. So war dieser Schild zumindest für etwas gut. Dann hatte Kjall das Innere des Baums der Lieder erreicht.
Ein Glück, dass er den inneren Aufbau des Baums so gut studiert hatte, als er seinen ersten Einbruch mit den Tiefminen-Golems geplant hatte. Dieses Meisterwerk aus Architektur und Naturkunde, eine Vielzahl von Räumen und Wohnungen in einem lebendigen Baum, hatte Kjall stark an die Art und Weise erinnert, wie die Zwerge Gänge und Stollen durchs Graue Gebirge gruben. Auch hier fühlte er eine tiefe Verbundenheit mit der Natur, als er im Innern des riesigen Baums nach oben sah. Aber davon durfte er sich nicht ablenken lassen.
Kjall wusste genau, wie er die Schwarzen Archive erreichen konnte. Die Wendeltreppe mit den viel zu großen Stufen hoch, durch den Eingang auf die Balustrade hinaus, um die halbe Balustrade herum, die Raumflucht betreten, zweite Tür links. Auf seinem Weg traf er auf allerlei verschlafenere und wachere Menschen, welche ihm neugierig hinterhersahen. Novizen, Adepten, untere Bewahrer, selbst der Oberste Bewahrer... Kjall hatte für sie keine Zeit, denn sobald die Bogenschützen unter der Anführung Follas die Wendeltreppe erreicht hatten, zischten wieder Pfeile an ihm vorbei.
„Fasst ihn! Kallun, so schnapp‘ ihn dir doch! Er hat Fanatos auf dem Gewissen!“, ertönte erneut Follas Stimme, und die ersten Bewahrer versuchten, sich in Kjalls Weg zu stellen. Einer bekam ihn auch tatsächlich zu fassen. Als Kjall sich losriss, löste sich das Tuch von seinem Rücken und enthüllte den Silberschild in all seiner Pracht. Dabei kannte Kjall doch gar keinen Fanatos. Von was sprach diese Frau nur?
Endlich erreichte Kjall die Raumflucht, die die Schwarzen Archive enthielt. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, die Tür hinter sich ins Schloss fallen zu lassen, als von draußen auch schon die ersten Faustschläge zu hören waren.
„Gib auf, Jork!“, schrie Folla nun, „Nur wenn du dich freiwillig stellst, wird das Urteil des Rats der Bewahrer milder ausfallen! Und der Rat wird dich früher oder später richten, du Mörder, da kannst du dich darauf verlassen!“
Ein flaues Gefühl machte sich in Kjalls Magen breit, aber er achtete nicht darauf. So war das nun wirklich nicht geplant gewesen. Aber wie schon bei ihren Anschuldigungen, hatte diese Folla auch mit ihrer letzten Aussage hatte Unrecht. Kjall verfügte sehr wohl über die Möglichkeit, dieser Situation ungestraft zu entkommen.
Nachdem Kjall mithilfe des fürstlichen Casamatucs sicherstellte, dass die Tür zu den Schwarzen Archiven demnächst verschlossen blieb, beschloss er, auf Nummer sicher zu gehen, und wuchtete ein schweres Schreibpult vor die Tür. Viel Zeit würde ihm das nicht verschaffen, aber zumindest genug, um die passende Stelle im Schwarzen Archiv aufsuchen zu können.
„Zwergenartefakte, Zwergenartefakte...“, murmelte Kjall, während er die langen Regale auf, und abwanderte. Das Archiv war nach einer gewissen Logik sortiert, die sich ihm noch nicht zur Gänze erschloss. „Wo sind denn die verflammten Zwergenartefakte?!“
„Den Gang herunter, zweites Regal links“, ertönte eine heisere Stimme. Kjall schreckte auf. An einem der Schreibpulte zu seiner Linken saß eine uralte Frau, in ein schneeweißes Gewand gekleidet, welche mit einem langen Finger zitternd den Gang entlangzeigte. Kjall starrte die eigenartige Frau an. Sie war unverwechselbar eine Bewahrerin, und eine altehrwürdige dazu. Warum half sie ihm? Ihr Gesicht blieb abgewandt, als sie sanft sprach: „Nun zieht schon von hinnen, Störer des Friedens. Ihr werdet nicht zufrieden sein mit dem, was ihr vorfindet. Die Schriften sind nicht mehr hier.“
„Nicht mehr hier?“, fragte Kjall, „Wo sind sie dann?“
„Wenn wir das wüssten, mein Kind, wenn wir das wüssten. Sie wurden uns gestohlen.“
Dann drehte die Frau ihm endlich ihr Gesicht entgegen. Ihr beinahe zahnloser Mund verzog sich zu einem Lächeln und blinde Augen starrten ins Nichts, als sie prophetisch meinte: „Du wirst hier keinen Frieden bringen, Kjall, Sohn des Xoll, und du wirst keinen Frieden finden. Dein Ende wird langsam kommen und schmerzvoll sein, wie du es verdient haben wirst. Und doch... wenn du dich je dazu entschließen solltest, deine Geschichte zu Pergament zu bringen, so würden wir uns geehrt führen, sie hier zu bewahren.“
Kjall starrte die alte Frau entgeistert an und wich verängstigt zurück. Erst ein weiteres lautes Klopfen vom Eingangstor zu den Schwarzen Archiven holte ihn in die Gegenwart zurück. Jetzt hörte er sogar einen Schlüssel im Schloss knirschen.
„Alte Hexe“, fauchte er der seltsamen Frau entgegen, und rannte dann in Richtung des Ganges, auf den sie gezeigt hatte. Zweites Regal links, zweites Regal links... da war es!
„Möge Irlok dich holen!“, stieß Kjall hervor, als er endlich die Ablage fand, die in großen andorischen Buchstaben mit „Zwergenartefakte“ betitelt war. Hier hatte er gehofft, weitere Informationen zur Sphäre zu finden. Aber im Gegensatz zu sämtlichen sonstigen Ablagen in den überladenen Regalen dieses Archivs war diese Stelle vollkommen leer. Keine einzige Schriftrolle zu den Zwergenartefakten befand sich in diesem Regal. Die alte Bewahrerin hatte nicht gelogen. Aber das war jetzt nicht die Hauptsache. Wichtiger war, diesem verrückten Mob aus aufgebrachten Bewahrern zu entkommen.
Kjall packte seine Sphäre aus und legte sie vor sich auf den modrigen Archivboden. Wie weit sollte er in die Vergangenheit reisen? Eine Woche, einen Mond, gar ein ganzes Jahr? Falls er nicht herausfände, wie er in die Zukunft reisen könnte, würde ihn das alles nur tiefer in die Vergangenheit schicken. Und tiefer in der Vergangenheit... die Zeiten, in denen Cavern noch glorreich und voller Tradition gewesen war... ach, es wäre schon zu schön, diese Zeiten zu erleben. Aber es war wichtiger, sich um die Zukunft des Zwergenreichs zu kümmern, und das konnte er tief in der Vergangenheit nicht. Rund ein Mond zurück musste reichen. Das würde ihm nebenbei, falls er hier scheitern und nicht in die Zukunft reisen sollte, genug Zeit verschaffen, in Ruhe einen neuen Plan auszuhecken, ehe sein Doppelgänger aus der Zukunft mit Thogger, Shan, dem Bleichen und den Helden im Gepäck hier erscheinen würde.
Das Kontrollzentrum der Sphäre war rasch bedient und das Zeitportal entstand in Kürze. Kjall blickte hindurch und sah durch die blau schimmernde Scheibe – wenig überraschend – denselben Regalabschnitt, den er auch so hinter dem Portal sehen konnte. Personen waren keine zu sehen. In diesem Moment ertönte ein lautes Krachen von der Tür zu den Schwarzen Archiven und Follas Stimme: „Gut gemacht, Kallun!“
Die Stimme der alten Bewahrerin ertönte: „Wirklich toll gemacht, Kallun! Der Kerl ist doch schon so gut wie weg und neue Türen wachsen auch nicht auf Bäumen. Mhare, mein Kindchen, sei bitte so gut und begleite deine Großmutter zurück auf ihr Zimmer. Das war mehr als genug Aufregung für heute. Und ohnehin, Folla, dein Vorgehen...“
Kjall vernahm nicht mehr, was die alte Bewahrerin an Follas Vorgehen auszusetzen hatte, denn er hatte sich bereits die Sphäre gegriffen und war damit ins blaue Zeitportal gesprungen.
Der Geruch nach altem Holz stieg in Kjalls Nase. Kjalls Nase, welche auf dem Archivboden flachgedrückt wurde. Der Archivboden des Schwarzen Archivs, auf dem Kjall ziemlich verrenkt ruhte und jeden Moment entdeckt werden konnte!
Rasch richtete Kjall sich auf und stieß prompt mit dem Kopf an eine Tischkante. Er unterdrückte einige Flüche und sah sich um. Aus einem vergitterten Fenster brach Sonnenlicht ins Archiv und tauchte den Raum in ein warmes, goldenes Licht. Staubfetzen tanzten durch die Luft und eine Fee zog sich laut meckernd vom Fensterrahmen zurück, Kjall habe mit seinem unordentlichen Magiedingsbums ihren Schönheitsschlaf gestört, ein Verbrechen, für das der Rat der Bewahrer bestimmt die Höchststrafe verhängen würde.
Kjall wusste besser, als sich mit einer Fee anzulegen, also brummelte er eine leise Entschuldigung und wandte sich ab. Sein Blick fiel auf die Ablage, die mit „Zwergenartefakte“ angeschrieben war. In der Zeitlinie, aus der er soeben gekommen war, war sie vollkommen leer gewesen. In dieser Zeitlinie, einen Mond früher, war sie allerdings nur so überfüllt mit Manuskripten, Schriftrollen, Pergamenten aller Art. Kjall hatte seine Tiefminen-Golems bereits zu einem höchst riskanten Einbruch in die Schwarzen Archive gesandt, aber diese Dokumente hier hatte er noch nicht studieren können. Diese Gelegenheit konnte er sich nicht entgehen lassen. Auf der Suche nach einem Gefäß drehte sich Kjall im Kreis. Eine alte Holzkiste lag da unter einem Pult, von Spornenweben übersät. Ihr Deckel fehlte und außer Staub schien sie nichts zu beinhalten. Das musste genügen.
Kjall wuchtete die Holzkiste unter dem Lesepult hervor und stand auf die Zehenspitzen, um die „Zwergenartefakte“-Ablage zu erreichen. Ein Glück, dass sie so tief unten stand! In Windeseile zerrte Kram wahllos Schriften und Berichte aus der Ablage in die verstaubte Holzkiste. Egal, was diese Berichte beinhielten, er konnte nur davon profitieren.
„Jetzt stört er nicht nur meine Ruhe, sondern stiehlt auch noch seltene Schriften. Ts, ts, was der Oberste Bewahrer nur davon halten würde?“, ertönte nun die neckische Stimme der nervigen Fee, die sich vom Fenstersims erhoben hatte und Kjalls Kopf umschwirrte. Sie fuchtelte mit ihren kleinen Händchen herum und Funken sprühten drohend aus ihren Fingern.
„Ich klau‘ doch nichts, ich bin nur hier, um zu studieren!“, erwiderte Kjall unwirsch, wedelte die glühenden Teilchen beiseite und kletterte demonstrativ auf den Stuhl vor einem Lesepult. Der Silberschild auf seinem Rücken drückte unangenehm gegen die Stuhllehne, aber das war jetzt nicht wichtig. Einer der Berichte, die Kjall von der Ablage in die Holzkiste geschaufelt hatte, hatte sein Interesse ganz besonders erweckt. Dieses grau-silberne Papier stammte eindeutig aus der Fürstenkammer Caverns... und er hatte bislang nur einen einzigen Bericht gelesen, welcher auf diesem Material geschrieben war.
Rasch kippte Kjall die restlichen Schriftrollen der „Zwergenartefakte“-Auslage in seine Holzkiste und wandte sich mit zitternden Fingern dem Bericht auf dem grau-silbernen Papier zu. Er traute seinen Augen kaum, als er eine weitere Skizze eines ihm so wohlbekannten Zwergenartefakts erkannte. Kein Zweifel, er war auf Gold gestoßen! Der zweite Teil eines Berichts zur geheimnisvollen Sphäre!
Wie schon der erste Teil des Berichts, den Kjall aber und abermals konsumierte hatte, war auch dieser hier in schlichten Lettern, kurz und bündig geschrieben. Wer weiß, ob hier vielleicht mehr Informationen zum Erschaffer der Sphäre zu finden waren. Im Moment musste Kjall nur eines: Herausfinden, ob und wie er zurück in die Zukunft reisen konnte.
„Meint der Zwerg etwa, er könne mich ignorieren?!“, erklang erneut die quengelnde Stimme der Fee, die sich auf Kjalls Lesepult niedergelassen hatte. Noch mehr Funken tanzten um die Fee herum und drohten, die nahegelegenen Schriftrollen zu entzünden.
Die Fee fuhr fort: „Ich weiß, ich weiß, ich soll‘ ja um Mutters Willen nicht die edlen Herrschaften stören, die sich hier um die Bewahrung der Geschichten und Legenden des Landes kümmern, das wurde mir oft genug eingebläut. Aber weiß er, ich hab‘ da so den gewissen Verdacht, dass er gar nicht zu den edlen Herrschaften gehört, die diesen Raum betreten sollten. Ich hab‘ einen Riecher für so etwas.“
Kram guckte die Fee enerviert an und erkannte zum ersten Mal, dass es sich um einen Feerich handelt. Der Feerich tippte sich auf die Nase und kicherte, als er Kjalls Gesichtsausdruck sah, und meinte: „Ertappt! Wie spannend, sonst geschieht hier fast nie etwas aufregendes! Was sucht er hier? Will er geheimes Wissen klauen? Wie gedenkt er, von hier zu entkommen? Soll ich die Wachen alarmieren?“
Kurz überlegte Kjall sich, einfach einen weiteren Mond in die Vergangenheit zu reisen, um diese Fee hinter sich zu lassen. Aber er wusste nicht, wie viel Treibstoff noch in der Sphäre lagerte, und er würde diesen sicher nicht wegen eines vorlauten Feerichs verbrauchen. Er musste nur diesen Bericht überfliegen... da! Da stand eindeutig etwas von einer Reise in ‚Zukünftiges‘. Und dafür musste man... oh, natürlich! Die Querverstrebung links und der dritte Schalter im Kontrollzentrum. Nun, jetzt war es offensichtlich! Warum war Kjall nicht von selbst darauf gekommen?
„Meint er etwa, er könne mich einfach ignorieren? Hallihallo, mich gibt es auch noch!“
Der Feerich flatterte vor Kjalls Gesicht und schnippte mit den Fingern. Der Bericht zur Sphäre, den Kjall ehrfürchtig in seinen Händen hielt, verging in einem Funkenregen. Kjall zog seine Hände abrupt zurück und betrachtete fassungslos die verkohlten Papierfetzen, die vor wenigen Augenblicken noch ein Bericht zur Sphäre gewesen waren. Dann wandte er seinen hasserfüllten Blick dem Feerich zu. Der Bericht zu einem der mächtigsten Artefakte aus aller Zeit, vernichtet durch die Willkür einer Fee! Funken und Feuer, was für ein nutzloses Wesen! Kjall sah rot.
„Ups!“, grinste der Feerich, „Habe ich nun seine Aufmerksamkeit? Die Wachen werden in wenigen Augenblicken hier oben sein. Ich glaube, damit ist seinen Schandtaten ein Ende...“
Kjall griff nach seinem Casamatuc und versetzte dem kleinen Feerich einen mächtigen Hieb. Der Feerich reagierte nicht rechtzeitig und wurde aus der Luft an das nebenstehende Regal gefegt, wo er gebrochen zu Boden sank. Kjall musste ihn nicht genauer ansehen, um zu wissen, dass er das nicht überlebt haben konnte.
‚Mörder‘, klang Follas Stimme aus seiner Erinnerung nach, ‚Du hast Fanatos auf dem Gewissen!‘
Schwer atmend stand Kjall von seinem Pult auf. Hatte Folla recht behalten? War er ein Mörder? Aber... aber es war doch nur eine elende Fee! Kjall hatte noch nie einem Zwerg oder selbst einem verflixten Menschen etwas angetan und vermochte dies wahrscheinlich auch gar nicht! Klar, Brandur hätte er mit Freuden entführt, aber das wäre für das größere Wohl Caverns gewesen. Und dieser Feerich, dieser Nervtöter, hatte nicht einmal ansatzweise eine Ahnung davon, welches Schriftstück er soeben vernichtet hatte. Nicht... nicht dass er deswegen verdient hätte, zu sterben.
Bei Kreatoks versengten Augenbrauen, Kjall wusste ja jetzt, wo sich der Bericht befand! Er würde einfach hierhin zurückreisen und den restlichen Bericht lesen können. Es war nicht von Bedeutung, weder die Vernichtung des Berichts noch den Tod dieses Störenfrieds hier. Es war einfach nur ärgerlich. Aber gut, nun musste Kjall definitiv von hier verschwinden. Zum Glück wusste er jetzt auch, wie. Die Querverstrebung links und der dritte Schalter im Kontrollzentrum. Ganz einfach.
Als wäre das ihr Stichwort gewesen, hörte Kjall, wie sich die Tür zu den Schwarzen Archiven mit einem lauten Knarren öffnete. Eine helle Stimme, die er als Follas erkannte, rief: „Fanatos, ist alles in Ordnung? Warum hast du uns gerufen?“
Die Besorgnis in Follas Stimme wurde zu Gereiztheit, als die Bewahrerin nachsetzte: „Ich schwöre, wenn das wieder einer deiner Scherze ist...“
Kjall brachte die Sphäre aus seiner Tasche zum Vorschein und verschob hastig Streben, Schalter und Hebel. Keine Zeit, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, einfach in die Zukunft zurück wollte er. Lieber etwas zu weit, wenn er bedachte, dass er sich soeben mit dem gesamten Bewahrerorden zu verfeinden schien. Kjall platzierte die Sphäre in der Holzkiste mit den gestohlenen Schriftrollen und drehte sie leicht, sodass das Portal sich seitlich um die Holzkiste bilden würde. Diese Kiste würde Kjall sofern möglich gerne in die Zukunft mitnehmen.
Die Sphäre begann zu sirren und blauer Dampf stob aus einer Öffnung zu ihrer Seite, während die drohenden Schritte Follas immer näher kamen. Zu wenig Zeit, zu wenig Zeit! Kurzerhand wandte sich Kjall vom sich bildenden Zeitportal ab und trat selbstbewusst zwischen den Regalen hervor, den Silberschild immer noch auf seinen Rücken geschnallt.
„Zum Gruße, werte Bewahrerin“, rief Kjall, „Ich bin Jork von den Schildzwergen“ – er tippte auf den Schild an seinem Rücken – „und ich würde hierher gesandt, um... um... um die Stabilität dieser Räume zu begutachten.“
Folla blieb überrascht stehen, nur wenige Schritte von Kjall, dem toten Feerich und dem sich bildenden Zeitportal entfernt. Es dauerte nur einige Augenblicke, bis sie zwei gekrümmte Klingen aus ihrem Gürtel gezogen hatte und Kjall entgegenstreckte. Immerhin hatte sie das Portal und Fanatos‘ Leichnam noch nicht entdeckt.
„Wie seid Ihr hier hereingekommen, Jork? Zu diesem Raum besitzen nur wenige Auserwählte Zugang...“
„Ich muss sagen, ich bin wirklich beeindruckt von den Abstützungen, die diese Deckenkonstruktion verstärken. Wer auch immer diese Räume in den Baum gebaut hat, die wussten wirklich, was sie taten“, plapperte Kjall munter weiter, immer wieder zum sich bildenden Zeitportal schielend. Inzwischen hatte es volle Größe erreicht und seine Rotation nahm stetig zu. Nicht mehr lange...
„Was wollt Ihr hier?“, fragte Folla nun, „Der Oberste Bewahrer würde bestimmt nicht einfach... nun, fragen wir ihn doch einfach selbst. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet? Dem Geheimnis Eures Aufenthalts hier werden wir noch auf den Grund gehen, glaubt mir! Aber das müssen wir nicht in hier in diesen geheimen, zutrittsverbotenen Räumen tun.“ Den Worten „geheim“ und „zutrittsverboten“ verlieh sie eine besondere Betonung.
„Ich befürchte, dass ‚zutrittsverboten‘ kein wirkliches Wort ist. Und ich befürchte, dass ich euch nicht folgen werde“, antwortete Kjall vorsichtig. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Holzkiste mit den Schriftrollen und der Sphäre darin ins schief stehende Portal kippte. Der Durchgang war offen!
„Wenn ihr euch nicht gefügig verhaltet, so sehe ich mich gezwungen...“, begann Folla, doch Kjall achtete nicht mehr auf sie. Er drehte sich auf seinen Fersen um, rannte zwischen die Regale und stürzte auf das Portal zu. Ein scharfer Schmerz entflammte in seinem rechten Arm, dann hatte er das blau schimmernde Portal erreicht und ließ sich hineinfallen. Kalt glitt dessen Oberfläche über seine Haut, während die üblichen blauen Strahlen sein Blickfeld überdeckten. Das letzte, was Kjall wahrnahm, war ein gellender Schrei Follas.
„Fanatos!“
Kjall erwachte nießend in einem riesigen Berg aus Staub und zerfledderten Pergamenten. Kein Tageslicht und keine Fackeln erhellten das Innere des Raums. Nur schwaches, goldenes Mondlicht drang durch das Fenster zu seiner linken. Blind tastete Kjall seine Umgebung ab und ergriff die Holzkiste mit zahlreichen Schriften zu verschiedenen Zwergenartefakten. Er rang nach Luft. Warum war es hier so schwer zu atmen?! Natürlich war die Lage hier kein Vergleich zum schrecklichen Limbo zwischen der Zeit, aus dem er soeben gekommen war, aber dennoch kam Kjall mit der schlechten Luft nur schlecht klar. Endlich trafen seine Finger auf kühle, glatte, verschlungene Metallstreben! Kjall ergriff die Sphäre, steckte sie in seine Tasche und hechtete zum nahe gelegenen Fenster.
Kjall musste auf den Sims klettern, um das Fenster zu ergreifen. Er riss und zog, und unendlich langsam ruckelte das Glas auf. Kühle, frische Luft strömte in die Schwarzen Archive, und Kjall sog sie gierig ein. Gute Güte, wie lange hatte niemand diese Archive betreten? Das war falsch, das sollte so nicht sein. Kjall hatte es offenbar in eine weit entfernte Zukunft verschlagen, erheblich weiter, als er geplant hatte.
Ein frischer Schnitt brannte an Kjalls rechtem Arm. Offenbar hatte Folla ihn mit einem ihrer Dolche erwischt. Aber tief war er nicht und die Blutung hatte bereits gestoppt. Alles im grünen Bereich.
Zwischen den schneebedeckten Ästen des Baums der Lieder hindurch – es musste Winter sein, was auch die verdammte Kälte erklären würde – sah Kjall in der Ferne Lichter aufblitzen. Konnten das der Sternenhimmel über den nördlichen Ausläufern des Grauen Gebirges sein? Irrte er sich, oder waren weniger Sterne am Himmelszelt zu sehen als üblicherweise? Kjall schüttelte den Kopf und wandte sich wieder vom Fenster ab.
Am Lesepult fand er eine schon fast vollständig abgebrannte Wachskerze in einem Tonhalter, welche er mit einer beiläufigen Bewegung seines Glutholzes anzündete. Das Licht der Kerze enthüllte erst jetzt den Zustand der Schwarzen Archive. Viele Schriftrollen lagen am Boden umher, dort drüber war sogar ein Regal umgestürzt, und jede Oberfläche war überzogen mit einer dicken Schicht Staub, die Kjalls Niesreiz ganz gewaltig reizte. Offenbar war schon seit Monden niemand mehr hier gewesen und hatte sich um die Ordnung gekümmert.
Kjall versteckte seine Holzkiste mit den Berichten zu verschiedenen Zwergenartefakten unter einem Lesepult und überlegte. Diese letzte Begegnung mit Folla und dem Feerich Fanatos hatte ihn etwas aus der Bahn geworfen. Warum hatte Folla ihn erkannt, ehe er in die Vergangenheit gereist war? War eine solche Interaktion über verschiedene Zeitlinien hinweg möglich? Oder war die Zeitlinie doch vorgeschrieben und Andors Entstehung unvermeidlich? Konnte man dies überhaupt überprüfen?
Kjall lauschte an der Tür, die die Schwarzen Archive mit dem Rest des Baums der Lieder verband. Keine Stimmen waren zu hören. Schliefen die Bewahrer allesamt?
Die Tür erwies sich als hartnäckigeres Hindernis als erwartet, zumal Kjall seinen Casamatuc in der Vergangenheit liegen gelassen hatte. Beim Netz der Schicksalssporne, er würde nicht in diesem Raum verrotten! Endlich, mit etwas Gewalt und einem eisernen Kerzenhalter, schaffte Kjall es, das Schloss aufzubrechen. Die Tür schwang mit einem lauten Knarren auf und Kjall duckte sich zurück ins Dunkel, für den Fall, dass das Geräusch einige Bewahrer geweckt hatte. Nichts. Nach einigen Minuten brachte Kjall genug Mut auf, die Schwarzen Archive zu verlassen. Er huschte aus dem Türrahmen und blickte zurück auf die aufgebrochene Tür. Jemand hatte in großen schwarzen Lettern „Betreten verboten per Dekret des Statthalters Ken Dorr Obersten Bewahrers“ darüber gepinselt.
Zumindest sah der restliche Teil des Baums der Lieder nicht so verlassen aus wie die Schwarzen Archive. Der Boden war sauber, die Türen waren beschildert und drei Stockwerke weiter oben sah Kjall sogar noch ein Lichtlein brennen – wohl irgendein Mitglied des Bewahrerordens, dessen Enthusiasmus für alte Schriften keine Tageszeit kannte. Ein Gefühl, von dem Kjall selbst nur allzu gut wusste, wie es sich anfühlte.
Kjall wusste ganz genau, wo er hinwollte: Im zweiten Stock, in der großen Bibliothek, gab es eine Sammlung von Aufzeichnungen zu den vier mächtigen Schilden aus uralter Zeit, in welcher Kjall bereits geschmökert hatte. Zu manchen war erheblich mehr bekannt als zu anderen, Zum Feuerschild hatten die Bewahrer aus Kjalls Zeit etwa bloß eine kleine, mickrige Erwähnung aus der Zeit der Trollkriege gefunden. Oh, der mächtige Feuerschild! Kjall hatte seine Kraft erleben dürfen, als sich ihm in der Vergangenheit die Helden von Andor und dieser ach so ehrenvolle Schwertmeister Harthalt entgegengestellt hatten. Es gab keinen Zweifel daran, dass der magische Schild, den Harthalt geführt hatte, der Feuerschild gewesen war! Wie dieser Lackaffe ihn wohl errungen hatte? Und ob er überhaupt wusste, was für einen Schatz er da trug? Wahrscheinlich nicht, die Schildzwerge hatten die Geschichte des Feuerschilds gut unter Schutz gehalten. Nun gut, es brauchte Kjall nicht zu kümmern. Ein hämisches Grinsen zog sich über sein Gesicht: Vielleicht könnte er Harthalt sogar mithilfe der Sphäre einen Besuch abstatten gehen und ihm den Feuerschild abknöpfen. Das wäre doch was: Nicht nur einen, sondern gleich zwei mächtige Schilde zu führen. Kjall wurde ganz hibbelig bei der Vorstellung. Fokus!
Fokus! Jetzt ging es zunächst einmal darum, herauszufinden, ob Kjall durch seinen Diebstahl des Silberschilds wirklich die Vergangenheit verändert hatte. Die große Bibliothek war einfach genug zu finden, und bei dieser Beschilderung fand Kjall die große Sammlung zu den vier mächtigen Schilden noch viel einfacher. Wo war denn die Chronik? Ah, da! Silberschild, Silberschild, Silberschild... nichts!? Wie sah es unter ‚Sturmschild‘ aus? Ah, hier! „lagerte für hunderte von Jahren in der Waffenkammer der Schildzwerge, ehe er von Fürst Hallwort dem Großen nach Silberhall befördert wurde.“
„Feuer und Spucke“, murmelte Kjall, „Feuer und Spucke...“
Es war, als hätte er den Schild nie gestohlen. Hatte er die Vergangenheit gar nicht verändert? Wobei, vielleicht war das hier auch nur eine andere Zeitlinie. Zum Glück konnte Kjall zumindest das überprüfen. Er raste in eine andere Sektion der großen Bibliothek und suchte die Chronik zu den Unruhen am Baum der Lieder. Zur Zeit der Trollkriege... in einem Herbst... das Jahr, das Jahr... hier war es: „Jork (?), rothaariger Zwerg, Einbruch in die Schwarzen Archive, Diebstahl zahlreicher Schriften, Mord. Verfügt über unbekannte Portaltechnologie. Zwei Unruhen in einem Abstand von rund einem Mond. Beziehung zu Thogger? Entflohen aus den Kerkern der Schildzwerge gemäß Aussage von Wächter Bort.“
Sein Besuche am Baum der Lieder waren niedergeschrieben worden. Das machte es eindeutig. Dies war dieselbe Zeitlinie, in welcher Kjall den Silberschild gestohlen hatte. Und dennoch hatte er keine Veränderung am Verlauf der Geschichte ausgelöst. Kein Paradoxon hatte ihn verschlungen. Hatte Fürst Hallwort mit seinen Behauptungen recht gehabt? Standen das Vergangene und die Zukunft in Stein gemeißelt? Das würde doch bedeuten, dass irgendjemand irgendwann den Silberschild, den er immer noch auf seinem Rücken trug, zurück in seine Zeit bringen würde. Hieß dass, das Kjall den Schild wieder verlieren würde, verlieren musste?
Kjall sank neben dem Pult zu Boden. Wenn diese Überlegungen stimmten, so konnte er tun und lassen, was er wollte, und dennoch nicht verhindern, dass Hallwort in den Norden zog. Nicht verhindern, dass Hallgard Xoll in seinen Tod schickte. Nicht verhindern, dass Kram zum Fürsten ernannt wurde. Nicht verhindern, dass Radan verbannt wurde. Eine Schande war das! Wenn die Geschichte feststand, konnte Kjall geradesogut gar nicht erst versuchen, das Schicksal zum Guten zu wenden. Aber... Moment mal, er konnte das Ende der Geschichte herausfinden. Ja, er konnte die Zukunft Caverns erfahren, hier, in diesem Augenblick! Hier in dieser Bibliothek lagerten die Aufzeichnungen aller Jahrhunderte, die zwischen Kjalls Zeit und dieser Zukunft liegen mögen, und Kjall konnte sie studieren. Wobei, wenn er darüber nachdachte, dann gab es sogar noch einen schnelleren Weg. Einen visuelleren Weg.
Von neuem Tatendrang erfüllt, sprang Kjall auf. Er verließ die große Bibliothek und hetzte die Wendeltreppe mit den viel zu hohen Stufen hoch. Er wollte ganz oben an die Spitze. Dort, am höchsten Punkt des Baums der Lieder, befand sich eine kleine Aussichtsplattform, von der aus man den gesamten Wachsamen Wald und das Rietland überblicken konnte – und natürlich die Ausläufer des Grauen Gebirges, unter denen ein Teil des Zwergenreichs Cavern lag.
Kühle Winterluft schlug Kjall entgegen, als er das Ende des Wendeltreppe erreichte und die Tür zur Aussichtsplattform des Baums der Lieder erreichte. Er rutschte beinahe auf der dünnen Schneeschicht aus, die sich hier angelagert hatte, konnte sich gerade noch fassen und rannte dann nach vorne zur Balustrade, wo er sich auf die Zehenspitzen stellte, um knapp darüberzusehen. Der Silberschild fiel klappernd zu Boden. Kjall riss ihn an sich und bemerkte kaum, dass der kalte Wind um ihn herum sich legte und Wärme in seine Glieder strömte. Er war zu beeindruckt von der Aussicht, die sich ihm zeigte. Beeindruckt – und erschrocken.
Die Nacht lag über Andor, nur der rote Mond und einige Sterne standen am Himmel. Dennoch erglühte das Rietland in einer Lichterpracht. In der Ferne leuchteten die Fenster der Rietburg, dieses verhassten Gebäudes, als säße im Innern der Häuser und Türme immer noch der Tag gefangen. Seltsame, golden glitzernde Seile führten von den Türmen und Zinnen der Burg zu Masten und von da ins weitere Rietland... aber wo war denn das Rietland? Wo früher nichts als trockenes Gras im Wind geweht hatte, standen nun Häuser dicht an Häusern, von der Rietburg bis hin zum Südlichen Wald. Der südliche Wald hatte sogar etwas an Größe eingebüßt, um Platz für weitere Siedlungen zu lassen. Das waren keine einfachen Bauernkaten, jedes einzelne dieser Häuser ragte mehrstöckig in den Himmeln und hatte Anbauten, die die Taverne zum Trunkenen Troll vor Neid erblassen lassen würden. Noch dazu schien bei all diesen Häusern Licht aus den Fenstern hinaus, als hielte man Gevatter Tag höchstpersönlich gefangen! Es war absurd. Wo einst der freie Markt gelegen hatte, stand nun ein breiter Turm – zwergische Machart, das erkannte Kjall sofort. Immerhin schien die Taverne zum Trunkenen Troll, dieser winzige Punkt am Rande des Lichtermeeres, noch so auszusehen, wie Kjall sie kannte – aber auch zu diesem Gebäude führten eigenartige hängende Seile, an denen hin und wieder ein bläulicher Blitz entlangraste, und auch aus den Fenstern der Taverne glühte goldenes Tageslicht, wie es selbst die Fackeln von Cavern nicht zustande brachten.
Kjall wurde Angst und Bange, als ihm bewusst wurde, wie viele Menschen in einem einzelnen Haus leben konnten. Diese Unmengen an Behausungen im Rietland waren bestimmt noch nichts im Vergleich mit der schieren Anzahl an Menschen, die sich dort versammelt haben mussten und taten, was Menschen eben so tun.
Mit Schaudern erkannte Kjall, dass selbst das Fahle Gebirge, dessen Gipfel immer in den Wolken zu stecken schienen, von diesen seltsamen, golden leuchtenden Seilen überspannt war... und waren das etwa Häuser? Häuser auf dem Fahlen Gebirge?! Kjall rieb sich die Augen. Jawohl, da schienen tatsächlich noch weitere Hütten zu stehen. Der warme Schein aus ihren Fenstern beleuchtete den dunklen Smog, der aus ihren Schornsteinen dampfte und den Hang des Fahlen Gebirges entlang zog um sich in einer Schwarzen Wolke am Gipfel zu sammeln, die sich mit dem allgegenwärtigen Weiß des Schnees biss.
Das Gebiet südlich der Rietstadt und des Südlichen Waldes lag im Dunkeln der Nacht. Immerhin hatten die Menschen nicht auch dort noch Häuser hingepflanzt. Vermutlich mussten sie Felder anlegen. Kjall wurde schwindelig, als er sich überlegte, was dieser Moloch einer Stadt für Nahrungsbedürfnisse haben musste. Sein Blick schweifte zur Narne, auf der er... waren das Boote? Das konnten doch unmöglich Boote sein, die waren ja viel zu groß! Und was war dieser golden leuchtende Dampf, den sie ausstießen? Konnte es sein, dass sie von derselben Technologie angetrieben wurde, die diese goldenen Leitungen im Rietland verteilten?
Kjalls Blick folgte dem Lauf der Narne in Richtung des Hadrischen Meeres, und erstarrte erneut. Die Nebelinseln, so wenig er von ihnen auf diese Distanz auch erkennen konnte, waren ebenfalls von farbigem Licht erfüllt, das den Nebel und kleine Teile des umliegenden Meeres erglühen ließen. Ein weiteres Glühen erhellte eine unförmige dunkle Erhebung im Hadrischen Meer in der Mitte zwischen Sidra und Silberland. Kjall konnte sie nicht näher einordnen. Es sah fast aus, als hätte man einen verdammten Riesenkraken versteinert.
Kjall senkte seinen Blick auf den Wachsamen Wald, und auch hier, zwischen den immergrünen Bäumen, waren hier und da golden glänzende Leitungen gespannt worden, die immer wieder kurz aufglühten und dann wieder dunkler wurden. Immerhin lag der Wald abgesehen davon im Dunkeln. Die Bewahrer und Dorfbewohner schienen zumindest die Ruhe der Nacht zu achten.
Einen letzten Ort in diesem Panorama gab es, den Kjall noch nicht betrachtet hatte, weil er sich davor fürchtete, was er sehen würde. Cavern, die Heimat der Schildzwerge. Sein Heimat. Wie hatte das Zwergenreich den Zahn der Zeit überstanden? Kjall schlich vorsichtig zum anderen Ende der Balustrade und hievte sich hoch.
Das Graue Gebirge stand schwarz vor dem Sternenhimmel, und keinerlei goldene Leitungen überzogen die Berge. Licht brach dennoch aus ihm hervor, aus dutzenden Türmen und Turmgruppen, die scheinbar zufällig über die Berge verteilt waren. Meisterwerke der zwergischen Handwerkskunst, die zu Kjalls Zeiten noch nicht existiert hatten. Selbst der Verlassene Turm strahlte aus seinen Fenstern, und die bröckelige Treppe, die vom Fuße des Gebirges zum Turm führte, wirkte blitzblank, so gut wie neu geschaffen! Der südliche Eingang nach Cavern war besonders hell erleuchtet, und nicht nur im erwarteten Gelb, nein, da schwebten grüne, blaue und rote Sphären voller Licht, die den Eingang nach Cavern beleuchteten und die Dutzenden von Zwergen beschienen, die sich dort aufhielten. Sie bewegten sich rhythmisch und schienen eine Art Zeremonie abzuhalten. Der Wind trug von Zeit zu Zeit kurze Fetzen ihres Gegröles an Kjalls Ohr. Dessen Aufmerksamkeit schweifte aber schnell wieder zurück zu den eleganten Bauten, die das Graue Gebirge überzogen. Wenn es schon von außen so aussah, wie musste es dann erst innen sein? Oder auf der anderen Seite des Grauen Gebirges, das hier waren ja sogar nur die nördlichen Ausläufer!
Es gab keinen Zweifel: Das Cavern war aufs Neue erblüht und erstarkt, trotz aller Widrigkeiten, die sich ihm in den Weg gestellt hatten. Kjall konnte kaum genug kriegen vom Anblick der leuchtenden zwergischen Handwerkskunst unter dem Sternenhimmel. Er wischte sich eine Träne aus dem Auge. Die Zukunft Caverns... sie war gut.