Vermutlich ist es völlig unnötig, das zu sagen, aber weil in der Vergangenheit manchmal Rücksicht genommen wurde auf Fan-Projekte: Ich würde mich sehr freuen über eine offizielle Hintergrundgeschichte, unabhängig davon, wie stark sie dieser Fan-Geschichte widerspricht.
EDIT: Inzwischen wissen wir natürlich, dass der Lifornus aus BdR nicht erst 62 a.Z. zu einer Ausbildungsabschlussreise ins Barbarenland aufbrach, sondern schon rund 30 Jahre zuvor bereits ein Meister der Zauberer des Feuers gewesen war. Vielleicht gibt es ja auch mehrere Feuerzauberer dieses Namens. Da kommt mir zugute, dass ich oft auf genaue Figurenbeschreibungen verzichte. Und mein Lifornus war einfach so eitel, dass er auf die Begleitung von Wächtern des Feuers auf seiner Ausbildungsabschlussreise verzichtete?
EDIT 2: Seit der Erscheinung der Ewigen Kälte wissen wir natürlich, dass der dritte Barbaren-Stamm Grehon heißt, nicht Jpaxo, und dass sie eher Greifen als Drachen anbeten. Ein einfacher Namenswechsel würde jedoch genügen, damit dieses Fanfic dem Kanon nicht mehr widerspricht: Die Grehon leben offiziell tatsächlich in den Gebirgsausläufern, wie meine Jpaxo es hier tun. Und Drachenkultisten als eine Untergruppe des Grehon-Stamms könnte ich mir immer noch vorstellen.
Sonnenaufgang, 42 Tage vor dem großen Unheil.
Barz rupfte das Büschel Mondbeeren sorgfältig aus dem Boden und verstaute es in einem kleinen Beutel an seiner Kleidung, in dem sich bereits einige weitere getrocknete Mondbeeren neben einigen Heilkräutern aufhielten. In der Ferne konnte er den großen See immer deutlicher erkennen. Ava. Seine Heimat. Ruhig und still lag der See vor hohen Berggipfeln und glitzerte – wie die Mondbeeren – verheißungsvoll im Licht der aufgehenden Sonne.
„Guten Morgen und nichts wie raus aus den Federn! Die frühe Echse fängt den Fisch! Wenn wir uns beeilen, sind wir noch vor Sonnenhoch zuhause“, rief Barz und rüttelte Nabib beinahe sanft wach. Nabib rieb sein Gesicht und nuschelte ungehalten etwas von unterbrochenen Abenteuern im Reich der Träume. Doch auch Nabib konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er müde blinzelnd die Silhouette das Avas am Horizont erspähte. Lautstark gähnend reckte und streckte er sich und wurde dafür von Barz mit einem Kuss belohnt.
Jirisa war erheblich schwerer in die Gänge zu kriegen. Barz‘ treue, aber auch träge Steppenechse hatte sich ein wenig unterhalb der Anhöhe zum Schlafen niedergelassen und weigerte sich vehement, sich auch nur um eine Handbreit zu verschieben.
„Komm schon, Jirisa, die Zeit für deine Winterstarre ist noch nicht gekommen!“, protestierte Barz und kraulte Jirisas ledrige Haut an einer ganz bestimmten Stelle hinter einem Ohr. Die Beine der Echse zuckten wohlig und ein dumpfes Brummen drang aus ihrem Hals. Als Barz mit Kraulen aufhörte, öffnete Jirisa eines ihrer Augen und schielte empört nach ihm. Ihre lange blaue Zunge schlängelte sich an einem schief aus ihrem Unterkiefer ragenden Fangzahn vorbei und leckte nach Barz. Als dieser stoisch nicht darauf reagierte, hievte die Steppenechse widerwillig ihren massigen Körper auf ihre stämmigen Beine, woraufhin Barz sie brav weiterkraulte.
„Na also, geht doch. Wenn wir vor der Mittagshitze den Ava erreichen, besorge ich dir eine Extraladung Fische zum Abendessen. Das ganze Gras muss dir doch schon lange zum Halse raushängen.“
„Wenn du Jirisa fertig geliebkost hast, kannst du mir dann helfen, das Lager zusammenzuräumen?“, ertönte Nabibs Stimme vom Lagerplatz.
„Spüre ich da Eifersucht?“, erwiderte Barz lachend und kehrte zu seinem Freund zurück. Nach allerlei Liebkosungen und einem kurzen Frühstück aus faden, doch nahrhaften Sträuchern (mit einem rötlichen Pulver aus Barz‘ Gewürztasche schmackhaft gewürzt) kamen Barz und Nabib tatsächlich dazu, ihr Gepäck auf Jirisas Rücken zu verstauen und mit Jirisa im Schlepptau in Richtung des großen Sees Ava aufzubrechen.
Sie alle waren erschöpft von der langen Reise, die hinter ihnen lag, doch zumindest die beiden Menschen blickten zufrieden zurück auf einige Monate voller aufregender Abenteuer und fantastischer Entdeckungen. Barz hatte Proben von allerlei ihm unbekannten Substanzen gesammelt und konnte es kaum erwarten, diese gemeinsam mit seiner Schamanin zu untersuchen. Nabib hatte einen ganzen Rucksack mit Skizzen der Landschaft und ihrer Bewohner gefüllt und hatte vor, dieses Wissen in den kommenden Winterwochen an die nächste Generation weiterzugeben versuchen, ehe Barz und Nabib im Frühjahr zu ihrer nächsten Reise aufbrechen würden. Vielleicht wäre dann sogar Yafka wieder einmal mit von der Partie.
Dieses Jahr hatten Barz und Nabib es auf ihrer Reise bis an einen salzigen See im Norden geschafft, der so groß war, dass sie dessen anderes Ufer mit ihrem besten Fernrohr nicht hatten erspähen können. Wollten sie beim nächsten Mal vielleicht das südliche Gebirge zu erklimmen versuchen? Nun, sofern die Lage dies dann überhaupt noch erlauben würde. Die Gerüchte von verlustreichen Schlachten des Yetohe-Stammes gegen grausame Skelettarmeen aus dem Süden gelangten bereits seit einigen Jahren bis an den friedlichen Ava... und die Gerüchte wurden tendenziell immer düsterer.
Barz hatte keine Ahnung, wie die Lage im südlichen Gebirge im Moment aktuell aussah. Schuld daran waren wie so oft die elenden Krarks. Barz ließ seinen Blick über die weite Steppe schweifen. Es kreisten gleich zwei dieser riesigen Raubvögel majestätisch im Aufwind über der Ebene. Nicht sonderlich verwunderlich, aber doch ärgerlich. Krarks waren schon seit jeher eine Plage für die Bewohner dieses Landes gewesen, doch in diesem Jahr war ihre Population wie aus dem Nichts in die Höhe geschossen. Und mit diesen Bestien war nicht zu spaßen, falls sie der Hunger überkam.
Einen einzelnen Falken hatten Barz und Nabib zum Antritt ihrer Reise aus Thakkum mitgenommen. Dieser war, mit einer schönen Nachricht an ihre Heimat im Gepäck, kaum außer Sichtweite geflogen, da hatte das triumphierende Jagdgeheul eines Krarks ihnen schon verraten, dass ihr Brief nie den Ava erreichen würde. Und kein einziger Falke hatte Barz und Nabib während ihrer ganzen Reise erreicht, obwohl sie sonst förmlich mit solchen überschüttet wurden. Was das bedeutete, war ihnen klar: Der ganze Himmel war zu einem Jagdrevier für Krarks geworden und kein Falke war mehr sicher. Immerhin konnte Barz die nun fast allgegenwärtig zu findenden schwertschneidescharfen Krarkfedern verbrennen und das daraus entstehende Pulver kauen, um seinen Geist in einen meditativen Zustand bringen, in welchen es ihn nicht störte, dass keiner am Ava mit ihnen in Kontakt treten konnte. Manchmal schien es ihm gar, als würde er unter dem Einfluss dieses Meditationspulvers wie durch einen Nebel hindurch Schemen seiner Bekannten und seiner Familie erhaschen, und bis er seine Augen wieder öffnete, schien ihm jegliches Zeitgefühl abhandengekommen zu sein. Faszinierende Effekte, die er zurück in Thakkum gerne weiter untersuchen würde.
Doch früher oder später musste Barz seine Augen immer wieder öffnen. Und dann störten ihn die Krarks wieder, und Jirisas Sturheit, und Nabibs Schnarchen. Dann störte es ihn wieder, den Kontakt zum Ava verloren zu haben, und dass sie erst mit zwei Wochen Verspätung zurückkehren würden. Doch nun würde es kaum mehr einige Stunden dauern, bis Barz seinen lange vermissten Familienmitgliedern wieder in die Arme fallen konnte. Seine Schritte beschleunigten sich.
Nabib grinste und tat es ihm nach.
Jirisa trotte gemächlich hinter den beiden her und wurde keinen Deut schneller.
Sonnenhoch. 42 Tage vor dem großen Unheil.
Die Holzdielen knarrten wie eh und je unter Barz Stiefeln, als er einen ersten Fuß vom kleinen Böötchen auf die Pfahlbausiedlung Thakkum inmitten des großen Sees Ava setzte. Die Wasseroberfläche plätscherte ruhig und verheißungsvoll. Der große See! Seine Heimat! Nach seinen langen Reisen kehrte er immer wieder gerne an diesen Ort zurück. Er gab ihm neue Kraft. Und nicht nur ihm. Hier, auf der Pfahlbausiedlung Thakkum siedelte der Iquar-Stamm schon seit Jahrhunderten. Genauer gesagt, seitdem die drei legendären Barbaren-Brüder Yetohe, Iquar und Jpaxo sich miteinander verstritten und ihre Stämme allesamt andere Gebiete des Landes für sich beansprucht hatten: Yetohe die weite Steppe, Iquar den großen See und Jpaxo das hohe Plateau im südwestlichen Gebirge. Der Iquar-Stamm war längst nicht so zahlreich, wie der Jpaxo-Stamm es einst gewesen und der Yetohe-Stamm es immer noch waren. Doch im Gegensatz zu den anderen beiden Stämmen lebten die Iquar in einer Pfahlbausiedlung auf dem großen See, und so mussten sie weder Hunger noch Furcht vor Raubtieren oder feindlichen Armeen erleiden.
Das einzige Manko war der begrenzte Platz auf den Pfahlbauten. Barz und Nabib hatten die Steppenechse Jirisa bei den Echsenstallungen neben einer Weide mit ihren Artgenossen gleich außerhalb des Sees zurücklassen müssen. Glücklicherweise hatten sie rasch einige unbeschäftigte Burschen gefunden, die ihnen bereitwillig beim Transport all ihres Gepäcks von Jirisas Rücken ins Innere der Siedlung ausgeholfen hatten.
Tatsächlich hatten sich außergewöhnlich viele unbeschäftigte Menschen am Seeufer getummelt. Viel mehr Steppenechsen als sonst waren in und um die Stallungen gestanden, die meisten von ihnen mit schön verzierten Gurten und Sätteln bestückt. Und gleich dutzende schlichte Jurten waren daneben aufgestellt worden, zwischen denen es von Menschen nur so wimmelte. Durch die Öffnung einer Jurte hatte Nabib in deren Innerem eine hölzerne Statue erkannt und Barz darauf aufmerksam gemacht. Die Statue stellte wohl eine Art Rind dar, einen Büffel – auch wenn es dem Schnitzer an Talent zu mangeln schien. Barz und Nabib sahen sie nicht zum ersten Mal und wussten um ihre Bedeutung. Offenbar war sogar der Häuptling der Büffel-Sippe höchstpersönlich hier anwesend. Wenn sie es nicht besser wüssten, hätten Barz und Nabib anhand der schieren Anzahl Anwesender angenommen, dass der halbe Yetohe-Stamm auf Besuch in Thakkum war.
Nun trennte sich der Weg der beiden Freunde. Nabib konnte es kaum erwarten, seine Familie wiederzusehen. Die zahlreichen Zeichnungen, die er auf seiner Reise angefertigt hatte, würde er erst nach ausgiebigen Plaudereien mit seinen Eltern bei den Hütern des Wissens abliefern. Barz wollte hingegen lieber sofort seine Substanzproben ins Haus seiner Schamanin bringen und sich danach voll und ganz aufs Wiedersehen mit seiner Freundin Yafka konzentrieren können, mit der er auf dieser Reise wegen der Krarks nicht einmal Briefkontakt hatte halten können.
Beim Gedanken an Yafka tastete Barz unbewusst nach seiner Halskette, die er stets unter seiner wärmenden Kleidung trug. Zwei Ringe hingen daran: Ein geschnitzter Ring aus Holz, zu dem ein identischer auf Yafkas Halskette aufgefädelt war, und ein gehauener Ring aus Stein, zu dem Nabib einen identischen um seinen Hals trug.
„Heute Abend sehe ich dich wieder, zur sechsten Glocke vor dem großen Versammlungssaal“, versprach Nabib nach einer letzten Umarmung. Ganz gemäß Tradition würden heute Abend viele Iquar draußen rund um den Versammlungssaal speisen, und Nabib und Barz würden der Stammesleiterin Naquila und den versammelten Stammesmitgliedern vom abenteuerlichen Verlauf ihrer langen Reise berichten. Barz freute sich bereits ungemein auf den Anlass.
Die Pfahlbausiedlung Thakkum war auf Pfählen inmitten des großen Sees Ava gebaut worden, an einer Stelle, wo der Seegrund vergleichsweise nahe unter der Wasseroberfläche lag. Barz hatte natürlich schon von mehrstöckigen Häusern gehört und auf einer Reise in die nördlichen Ausläufer des Grauen Gebirges tatsächlich bereits einige mehrstöckige Steintürme der Zwerge zu sehen gekriegt, doch verfügte Thakkum selbst bloß über ein einziges hohes Gebilde: Der dünne Zeitturm hinter dem Versammlungssaal, an dem die treuen Zeitmeister der Iquar zu jeder Stunde eine andersfarbige Fahne hissten. So konnte man von überallher in Thakkum in die Höhe sehen und die Zeit erkennen, auch wenn die Sonne gerade nicht mitspielte.
An diesem Zeitturm konnte sich Barz auch im üblichen Gewusel auf den Planken Thakkums gut orientieren und sein Haus rasch finden. Nabib wohnte gleich gegenüber, vermutlich war er schon lange eingetroffen. Barz atmete tief durch, zügelte seine Vorfreude und schritt näher.
Barz‘ und Yafkas Heim hatte aus der Ferne wie immer ausgesehen. Beim Nähertreten bemerkte Barz nun wie üblich einige Veränderungen, die in seiner Abwesenheit stattgefunden hatten. Hier war ein Fensterrahmen angeknackst, dort drüben wuchsen frische farbige Blumen aus einem Topf und die Haustür war neu bemalt worden, mit einer hübschen Rune, die vermutlich für Frieden oder Gesundheit stand. Runen waren noch nie Barz‘ Spezialität gewesen.
Die Tür schwang unter seinem sanften Druck auf und gab überraschenderweise den Blick frei auf ein kleines Kind, welches im Eingangsbereich saß und mit einem umherhüpfenden Ball spielte. Es warf Barz einen trotzigen Blick zu und fragte: „Wer bist du denn?“
„Dasselbe könnte ich dich fragen“, gluckste Barz und betrat sein Zuhause. Er verstaute seinen Bogen in einem Fach neben der Tür und hängte seinen langen Mantel mit den vielen Pulvertaschen daneben an die Wand.
„Mama! Mamaaaaa! Mama Yafka! Da ist ein Mann einfach so reingekommen!“, schrie das kleine Kind und rannte davon.
„Barz! Na endlich! Ich wusste doch, dass ich aus dem Fenster einen heimkehrenden Nabib erspäht habe“, rief eine Barz wohlbekannte Stimme von weiter hinten, und Barz wurde warm ums Herz. Yafka trat ins Licht, wischte sich ihre Hände an ihrer Schürze ab und beugte sich zum kleinen Kind herunter.
„Karyz, das ist Barz. Mein Freund, der auf Entdeckungsreise im ganzen Land war. Der mit der mächtigen Steppenechse Jirisa, ich habe dir doch Bilder von ihnen gezeigt.“
Während das Kind nickte und umgehend seinem Springball in ein anderes Zimmer nachhechtete, wandte Yafka sich Barz zu und erdrückte ihn fast in ihrer herzlichen Umarmung: „Endlich bist du zurück! Wir hatten uns schon solche Sorgen gemacht, als ihr nicht wie geplant vor zwei Wochen den Ava erreicht hattet. Mein tapferer Steppennomade. Komm her, lass dich herzen!“
„Papperlapapp, die richtigen Steppennomaden sind die Yetohe, die auch den Winter in der Kälte da draußen verbringen. Nabib und ich konnten viel von ihnen lernen, doch ist der Ava noch immer unsere feste Heimat, und per Definition muss ein No...“
Barz wurde von einem herzlichen Willkommenskuss unterbrochen.
„Ach, rede dich nicht runter. Willkommen zuhause! Schön, dass du es doch noch geschafft hast! Wegen dieser Krarks konnten wir nicht einmal Falken zu euch aussenden, um zu hören, ob es euch gut geht. Die alte Resi hat großspurig geweissagt, dass du und Nabib endlich in ein fremdes Land durchgebrannt wärt.“
„Ich würde dich nie freiwillig hier sitzen lassen. Ich hoffe, das weißt du.“
„Natürlich weiß ich das. Wie ist es euch ergangen?“
„Wir haben den großen Salzsee im Norden berührt!“, berichtete Barz mit leuchtenden Augen, „Selbst der Ava ist nichts als ein kleiner Tropfen dagegen.“
Yafka machte selbst große Augen und ratterte dann in beachtlichem Tempo herunter: „Ach, wirklich? Unglaublich! Kannst du mir alles erzählen? Bist du erschöpft? Magst du mir noch in der Küche helfen? Ich muss bis Sonnenhoch zwei Dutzend Rüben rüsten.“
Barz bejahte alle ihre Fragen und folgte Yafka in die Küche, wo ein beträchtlicher Stapel Goldrüben auf ihre Zubereitung warteten.
„Ich habe ein Geschenk für dich“, flüstere Barz verschwörerisch, „Sieh her!“
Er griff in eine seiner unzähligen Manteltaschen und warf daraus eine Prise glitzernden Staubs in die Höhe, welcher ohne Effekt zu Boden rieselte.
„Hübsch. Was war das?“, fragte Yafka, immer noch dem glitzernden Pulver nachsehend.
„Ein Ablenkungspulver!“, grinste Barz. Er hatte urplötzlich eine silbern schimmernde Blume in der Hand.
„Und das hier ist eine äußerst seltene Silberblume. Sie wächst am Ufer des großen Salzsees und ist ungenießbar, aber spür nur mal ihre Struktur. Überraschend robust für ein Gewächs, aber auch sehr selten. Ah, das Funkeln des roten Mondlichts auf ihren Blättern... ich musste sofort an deine Augen denken. Ich habe noch einige mehr gepflückt. Wenn irgendjemand es schafft, daraus Ableger zu ziehen, dann...“
„...dann wäre das meine Mutter selig gewesen.“
„Willst du zumindest versuchen, in ihre Fußstapfen zu treten? Die Wassermänner an der Küste schworen bei der Sauberkeit ihrer Schuppen, dass man die Zukunft schmecken kann, wenn man sich ein Blatt dieser Blume unter die Zunge legt.“
„Na, selbstverständlich. Ich kümmere mich gern darum. Sofern deine andere Schwiegermutter sie mir nicht abknöpft, sobald sie davon erfährt. Vielen Dank, Barz. Es ist schön, dass du wieder hier bist.“
Die beiden fielen sich erneut in die Arme.
„Apropos Mütter: ‚Mama‘?“, ahmte Barz die Stimme des kleinen Kindes belustigt nach, „Na, so lange bin ich aber nicht fortgeblieben, oder?“
Yafka gluckste und zog als Antwort ihre Halskette unter ihrem Kleid hervor. Neben Barz‘ Holzring baumelte nun ein zweiter, dünner Ring daran, der nach hellem Metall ansah.
„Oh Yafka, hast du wieder jemanden gefunden? Mein Glückwunsch! Wer kann sich denn so glücklich schätzen?“
„Ihr Name ist Zanyitaz und sie ist eine Fischerin vom Süddock. Du hast sie sicher auch schon gesehen. Karyz ist ihr Kind. Die beiden haben frisch das Gästezimmer bezogen. Zanyitaz ist gerade am Markt, doch sie wollte zum Mittagsmahl wieder hier sein. Ich kann es kaum erwarten, euch einander vorzustellen. Es würde mich sehr wundern, wenn ihr euch nicht verstündet.“
Yafka beäugte Barz ein bisschen besorgt, vermutlich auf seine Reaktion wartend. Sie ergänzte:
„Verzeih, wir wollten mit Austausch der Ringe und ihrem Einzug hier mindestens warten, bis du wieder hier bist. Oder zumindest bis du deinen Segen geben kannst. Aber dann konnten wir uns wegen der Krarks nicht mit euch austauschen und dann hattet du und Nabib solche Verspätung und dann musste Zanyitaz ihr Haus aufgeben – das ist eine spannende Geschichte für ein anderes Mal – und da dachten wir, wenn die Götter ihren Willen wollen, so sollen sie den halt kriegen. Du meintest doch immer wieder, dass dieses Haus zu groß sei für uns beide und dass ich, wenn du fort bist...“
Yafkas Stimme verlor sich. Barz, in dem plötzlich wieder ein Gefühl unglaublicher Zuneigung anschwoll, lächelte ihr zu, drückte sie fest an sich und küsste sie auf die Stirn.
„Keine Sorge, du kennst mich doch. Wir werden suchen, und wir werden Wege finden, mit denen wir allesamt zufrieden sind. Ich freue mich sehr für dich. Und bin natürlich gespannt darauf, diese Zanyitaz kennenzulernen. Und Karyz. Bei den Göttern, ein Kind in diesem Haushalt, wer hätte es für möglich gehalten!“
Yafka entspannte sich etwas und widmete sich wieder ihren Rüben. Barz folgte ihrem Vorbild und setzte nach: „Und da wirst du von Karyz bereits Mama genannt?“
Yafka grinste.
„Das wäre nicht meine erste Entscheidung gewesen, aber es hat sich so ergeben und.... ich mag’s irgendwie doch. Magst du mir jetzt vom riesigen Salzsee im Norden erzählen?“
„Klar, könnte ich, aber noch nicht zu viel. Sonst birgt der Reisebericht bei der Versammlung heute Abend ja gar keine Überraschungen mehr für dich.“
Yafka versteifte sich abrupt: „Oh, Barz, hast du es noch nicht vernommen? Die Versammlung heute Abend wird sich leider nicht um eure Rückkehr drehen können.“
„Ach? Ist etwas vorgefallen?“
„Hah! So könnte man es ausdrücken. Der König kommt zu Besuch.“
Sonnentief. 42 Tage vor dem großen Unheil.
Wie es bei Feiern üblich war, räumten an diesem Abend dutzende von Familien ihre Tische und Bänke nach draußen und verteilten Unmengen an schmackhaften Esswaren darauf. Als wollten sie sich alle gegenseitig dabei überbieten, die kreativsten Kreationen zum Konsumieren zu kredenzen, die man aus den kargen Pflanzen der Steppe und dem, was der See ihnen schenkte, kreieren konnte.
Ein einzelner Feuerzauberer aus einer fernen Eisinsel (Hadda? Harda? Der Name wollte Barz gerade nicht mehr in den Sinn kommen, es war jedenfalls diejenige Insel, von der er sich das seltene magische Cantharis-Pulver zusenden ließ) war während Barz‘ und Nabibs Abwesenheit an den Ava gelangt. Offenbar gehörte es zur Ausbildung der Zauberer, eine lange Reise in ein weit entferntes Reich zu machen, mit ihrer Magie zu helfen und Erfahrungen zu sammeln. Eine Einstellung, die die reiselustigen Barz und Nabib nur allzu gut nachvollziehen konnten. Dieser Feuerzauberer war möglicherweise ein wenig eitel (er nannte sich selbst stolz „den großen Lifornus“, ein Name, der nicht zuletzt mit seinem großen spitzen Zaubererhut zusammenhing, ohne den er nur selten gesehen wurde) verfügte aber auch über außergewöhnliche besondere Fähigkeiten, deren Demonstrationen ihn besonders beim Nachwuchs der Iquar eine begeisterte Beliebtheit verschaffte. Sobald Barz mit seiner Familie zur Versammlung trat, rannte Karyz zu Lifornus und bat ihn, Feuer zu spucken. Lifornus winkte lächelnd ab, doch während er sich abwandte, ging plötzlich sein Bart in Flammen auf, bloß für einen Augenblick. Karyz machte große Augen und Lifornus schlenderte davon, als wäre nichts geschehen.
Barz hatte einen wundervollen Nachmittag im Kreise seiner neu erweiterten Familie verbracht. Zanyitaz hatte sich als etwas schüchterne, aber gewitzte Person herausgestellt. Die Frauen hatten Barz in ein altes Strategiespiel eingeweiht, das im Süddock offenbar gerade der letzte Schrei war. Dann war Karyz dazugekommen und die Spielrunde war durch einen Spaziergang durch die Pfahlbausiedlung ersetzt worden. Barz hatte endlich wieder das Gefühl überkommen, zuhause zu sein. Ganz melancholisch war ihm geworden. Karyz hingegen war aufgedreht gewesen und war fröhlich den unter den Holzplanken hindurchschwimmenden Nixenkindern nachgerannt.
Nun, gegen Abend, floss Barz‘ Hochstimmung in einen düsteren Mischmasch aus Enttäuschung und Sorge über. Üblicherweise durften von Reisen zurückkehrende Iquar am Langtisch der Stammesleiterin Naquila neben dem Versammlungssaal speisen und von ihren Erlebnissen berichten, während die Nahestehenden aufmerksam lauschten und die Erzählungen nur leicht verfälscht an die weiter weg stehenden Tische weitergaben. Nun allerdings mussten Barz, Nabib und ihre jeweiligen Familien weiter weg Platz nehmen, der Versammlungssaal gerade noch knapp in Sichtweite. An ihrer statt saß neben der Stammesleiterin ein groß gewachsener Mann mit dichtem schwarzem Bart und einer imposanten goldenen Krone auf dem Kopf, deren breite Zacken selbst aus der Ferne noch stark glitzerten. Der Barbarenkönig. Begleitet wurde der König von gleich vier Häuptlingen aus verschiedenen Yetohe-Sippen. Je zwei Häuptlinge hatten links und zwei rechts des Königs Platz genommen hatten. Wenn Barz und Nabib näher säßen, könnten sie bestimmt die geschnitzten Büffel, Einhörner und dergleichen ausmachen, die die Kleidung der Häuptlinge zierten und ihre Clan-Mitgliedschaft deklarierten.
„Ich habe noch nie so viele Häuptlinge auf einmal gesehen“, raunte Yafka.
„Die Lage muss ernst sein“, nickte Zanyitaz.
„Wir waren einmal bei einem Treffen des Rats der Häuptlinge anwesend. Selbst da waren nur vier von denen dort, oder?“, flüsterte Nabib zu Barz. An die anderen gewandt führte er aus: „‚Anwesend‘ soll heißen, dass Barz und ich planlos in der Nähe der Zelte herumstanden, in denen die wichtigen Gespräche stattfanden. Die Yetohe sind bei politischen Diskussionen erheblich weniger offen als wir.“
Barz beendete seinen Gedankengang nachdenklich: „Mit der Anwesenheit seiner Häuptlinge will der König mächtig wirken, aber dass er überhaupt zugestimmt hat, sein Anliegen so öffentlich vorzutragen, zeugt von seiner Verzweiflung. Er ist auf die Iquar angewiesen. Ich werde reißen wie eine Bogensehne vor Spannung, wenn er nicht bald spricht. Will jemand noch Goldrüben?“
„Jaaa, ich will!“, rief Karyz und langte zu.
Sonnenuntergang. 42 Tage for dem großen Unheil.
„Hochverehrte Stammesleiterin, ich kann Euch nicht genug danken für die Gastfreundschaft, die die Iquar ihrem König entgegengebracht haben“, erscholl die tiefe, theatralische Stimme des Barbarenkönigs, woraufhin die in der Nähe sitzenden allesamt hastig von ihrem Geschirr aufsahen. Der große Lifornus verschluckte sich theatralisch und hustete zur großen Freude der umstehenden Jugendlichen einige Flämmchen hervor, ehe er ihnen zuzwinkerte und sich ebenfalls aufmerksam dem Barbarenkönig zuwandte.
„Es ist uns Ehre und Freude zugleich“, antwortete Stammesleiterin Naquila mit einem betont gelangweilten Unterton, der verriet, dass sie endlich zum Geschäftlichen kommen wollte.
„Euer König kommt mit schlechten Neuigkeiten aus dem Reich“, kam der König brav auf den Punkt, „Die Gefechte des Yetohe-Stammes gegen die dunkle Armee aus dem Gebirge im Süden verliefen lange Zeit triumphierend, und weiterhin kann blanker Knochen wenig gegen guten Stahl ausrichten. Doch scheinen die Reserven des Feinds wahrlich unerschöpflich, und mit jedem unserer gefallenen Krieger schenken wir seiner Sache einen weiteren tapferen Kämpfer.“
„Na, wenn der weitere tapfere Kämpfer für diesen Krieg anheuern will, dann wählt er die falschen Worte“, brummelte Nabib und füllte seinen Metkrug wieder bis zum Rand auf. Bereits zum zu vielten Mal, wie Barz an Nabibs leicht lallender Aussprache zu erkennen glaubte.
Der König ließ sich vom Getuschel nicht unterbrechen und verkündete mit von Bitterkeit triefender Stimme: „Es schmerzt mich, euch mitteilen zu müssen, dass wir das südliche Gebirge nicht bis in alle Ewigkeit werden halten können. Wir werden diese Lande verlassen und uns ein neues Zuhause suchen müssen. Häuptling Absorak von der Büffel-Sippe hat seine besten Krieger dem Wind Frais in den Westen folgen und das Königreich Andor hinter den Bergen ausspionieren lassen. Mit den zahlreichen Informationen, die Absorak nun zur Verfügung stehen, werden wir ihre kleinen Bauerndörfer im Nu überrennen, ihre baufällige Burg erstürmen und unseren Anspruch auf ihr fruchtbares Land geltend machen.“
Der Barbarenkönig schlug dem rechts neben ihm sitzenden Häuptling, vermutlich war das Absorak, wohlwollend auf den Rücken. Dieser verschluckte sich an seinem Eintopf, hustete heftig und blickte betreten zu Boden. Barz fragte sich, ob hinter seinem Blick mehr steckte als nur Scham über die verschüttete Suppe. Der Barbarenkönig ließ sich davon jedenfalls nicht den Wind aus den Segeln nehmen und fuhr schallend fort:
„Höre, o Stamm des Iquar! Dein König ruft dich an, sich den Yetohe beim Aufbruch in ein fremdes Land anzuschließen! Lange habt ihr Stämme zweier Brüder einander ignoriert, doch möget ihr nun wieder gemeinsame Sache machen. Mögen deine Krieger an vorderster Front bei der Eroberung unseres zukünftigen Reichs mitkämpfen! Denn die Gefahr aus dem Süden betrifft uns alle.“
Stille herrschte, nur unterbrochen vom Plätschern des großen Sees. Die unausgesprochene Warnung des Barbarenkönigs war unüberhörbar. Hätten sich die Yetohe erst einmal von der Front im südlichen Gebirge zurückgezogen, würde es nicht mehr lange dauern, bis die Skelette und Riesen aus dem Süden das Barbarenland gestürmt hätten. Der König glaubte offenbar nicht, dass die Pfahlbausiedlung Thakkum auf sich alleine gestellt dem Ansturm standhalten könnte. Oder er wollte sie das zumindest glauben lassen, damit die Krieger der Iquar ihn bei seiner Eroberung dieses Königreichs Andor unterstützen würden.
Der Appell des Königs war gleichzeitig als heroischer Aufruf und als Befehl formuliert gewesen. Doch schon die reine Anwesenheit des Königs und seiner Häuptlinge hier strafte seine selbstsicheren Worte Lügen. Wäre der Angriff auf Andor eine längst so sichere Sache, wie er das gerne den Anschein lassen wollte, so hätte er bloß einen Boten geschickt und sich nicht groß um die Antwort der Iquar geschert. Dass er hier war, zeigte doch, dass er verzweifelt auf Unterstützung hoffte. War der König auch bereits beim dritten Stamm, den Drachenkultisten der Jpaxo im westlichen Gebirge, vorstellig geworden? Hatten sie ihn abgewiesen? Technisch gesehen hatte der König Befehlsgewalt über alle drei Barbaren-Stämme, doch in der Realität folgten ihm nur die Sippen der Yetohe beim Wort, während die anderen beiden sich in allem außer dem Namen von seiner Regentschaft losgelöst hatten.
Dies wurde umso deutlicher, als Stammesleiterin Naquila das Wort ergriff und mit unverhohlener Abneigung sprach: „Dieses fremde Königreich, von dem ihr sprecht, dieses Andor... erinnere ich mich falsch, oder haben unsere Vorfahren nicht mit den dortigen Bewahrern einen Friedenspakt eingegangen?“
Der Barbarenkönig brummelte etwas in seinen Bart und antwortete gereizt: „Pakte sind ehrenhaft, ja, doch auch alte Pakte müssen manchmal gebrochen werden, wenn es ums reine Überleben geht. Das war den Bewahrern ebenso klar wie unseren Vorfahren, als sie damals den Frieden schlossen.“
„Und wie sieht es um die Landschaft in Andor aus? Selbst wenn Euer kühner Eroberungsplan aufgeht: Kann das Land nicht nur ein, sondern gleich zwei zusätzliche Völker ernähren? Sollen wir Iquar unsere sichere Heimat von Jahrhunderten einfach aufgeben, für eine unsichere Zukunft voller Kriege und Gefahren?“
„Kriege und Gefahren stehen den Iquar bevor, ganz gleich, wie der Stamm handelt. Die Yetohe ziehen Bauerngesindel und friedliche Bewahrer als Gegner einer Armee von Skeletten und Riesen vor. Wenn sie erst einmal vor euren Stegen stehen, würdet ihr euch nicht wünschen, andere Prioritäten gesetzt zu haben?“
„Mit diesem Krieg, den die Yetohe durch ihren unvorsichtigen Feldzug ins Land der Riesen begannen, haben wir Iquar nichts zu tun. Wir spüren keinen Druck durch diese Armee. Der große See ernährt uns, und er wird uns beschützen, wie er schon seit Anbeginn tat.“
„Wollt ihr euch etwa eurem König widersetzen?!“, brüllte Häuptling Absorak ungehalten auf, ehe er unter dem strengen Blick seines Königs verstummte.
Wildes Getuschel waberte durch die Reihen der Zuhörer. Selten wurde die Autorität des Barbarenkönigs und des Rats der Häuptlinge offen angezweifelt, und auch der König selbst schien diese Möglichkeit lieber nicht offen angesprochen zu haben.
Stammesleiterin Naquila richtete sich auf und alle Augen auf sie. Sie blickte die restlichen hochrangigen Tiere der Iquar der Reihe nach an. Barz konnte deren Gesichter nicht genau erkennen, vermutete aber kalte Entschlossenheit auf ihnen. Naquila nickte und sprach langsam, deutlich und bedacht, aber nicht ohne einen gewissen genüsslichen Unterton in ihrer Stimme: „Die Iquar kennen keinen König. Wir folgen einzig dem Gebot der Götter. Und die Götter haben nicht gesprochen. Wir sind mitfühlend gegenüber der hoffnungsarmen Lage der Yetohe und wünschen ihnen den Segen der Götter bei der Eroberung Andors. Doch wir werden keinen Teil daran haben.“
Die Herausforderung in ihren Worten konnte Barz nur schwer übersehen. Der König hatte keine Befehlsgewalt über die Iquar, solange sie die seine nicht anerkannten, und er konnte es sich nicht leisten, in einem offenen Gefecht gegen die Iquar seine Macht zu demonstrieren. Nicht, solange er alle seine Krieger fit für eine Invasion brauchte.
Häuptling Absorak schlug mit seiner Faust auf den Tisch und verteilte gute Suppe über seine Nachbarn. Der Barbarenkönig hingegen nickte ergeben. Als er wieder aufstand, schien alle Hochmütigkeit von ihm abzufallen. Leise sagte er:
„Dann bleibt mir bloß noch, eine Bitte an den Stamm der Iquar zu richten. So rasch wie möglich werden wir mit der Invasion Andors beginnen, doch nicht alle Mitglieder der Sippen können oder sollen in der ersten Welle mitreisen. Es gibt Alte und Schwache in unseren Reihen. Bitte, gestattet ihnen, ihre Jurten neben dem Ava aufzuschlagen, bis die Lage in Andor nicht mehr so gefährlich für sie ist. Unterstützt sie mit Nahrung und Heilmitteln. Und falls die Armee der Skelette zuvor bereits den Ava erreicht, mögen uns die Götter davor bewahren, so weist sie bitte nicht ab, sondern bietet ihnen Zuflucht auf den sicheren Pfählen von Thakkum.“
Stammesleiterin Naquila trat einige Schritte zurück und beriet sich mit den hochrangigen Tieren des Stammes. Dann verkündete sie kalt: „Ihre Jurten mögen die Zurückbleibenden in der Steppe aufschlagen, wo sie wollen. Falls dies neben dem Ava sein soll, so sei es so. Doch unsere Vorräte und unser Platz sind begrenzt. Falls es zu einer Belagerung durch diese Armee der Untoten kommen sollte, so werden die Iquar zwei Dutzend Mitglieder Yetohe in die Pfahlbausiedlung lassen, ehe wir die Stege kappen.“
„Zwei Dutzend?!“, schrie Absorak ungehalten, „Das reicht nicht im Geringsten! Wollt ihr uns etwa ausrotten?“
Der Barbarenkönig zischte ihm etwas zu und bedankte sich beinahe unterwürfig bei den Iquar für ihre Unterstützung in den düsteren Zeiten, die da kamen. Weiteres Getuschel ertönte in den Reihen der Iquar. Hier und da sah man Kopfschütteln. Auch Häuptling Absorak schüttelte entschieden seinen Kopf. Er richtete sich auf und richtete sein Wort an die gesamte Versammlung:
„O Iquar! Lasst ihr etwa zu, dass eure Stammesleiterin eure Geschwister so behandelt? Mir scheint, es wird hier über euren Kopf hinweg entschieden. Es ist nicht möglich, dass ihr alle wie sie gleichsam feige und egoistisch seid. Es geht hier ums Überleben eines ganzen Volkes!“
Zwei weitere Häuptlinge johlten Beistimmung. Der Barbarenkönig, obschon er seinen Kopf noch gesenkt hielt, beobachtete die Lage aus wachsamen Augen. Stammesleiterin Naquila versuchte, Absorak das Wort abzuschneiden, doch Absorak schrie nur noch lauter:
„Macht euch nichts vor in eurer ‚sicheren‘ Siedlung! Nicht nur unser Überleben steht auf der Kippe, sondern auch das eure. Ich habe die Riesen mit eigenen Augen gesehen. Das sind keine moralischen Wesen, es sind Monster. Sie werden diesen See überrennen, und alle, die sich bis dann noch hier aufhalten, werden Teil ihrer untoten Armee werden. Denkt an eure Geliebten und eure Kinder. Seht dieses Mädchen da vorne, wie es unbedacht mit seinem Essen spielt. Wenn ihr uns nicht auf der Suche nach einer neuen Heimat unterstützt, wird sein Skelett in wenigen Monden mit dem Feind marschieren, einen rostigen Säbel in der kleinen Hand!“
Rufe von Seiten der Zuhörer wurden laut, Absorak solle gefälligst seine Klappe halten. Stammesleiterin Naquila blickte sich hilflos um. Auch Barz blickte besorgt um sich. Er zweifelte nicht daran, dass die Iquar auf ihren Pfahlbauten sicher waren vor einer Armee aus dem Süden, die nicht einmal Boote besaß. Doch konnte es keine guten Folgen haben, wenn Absorak die Angelegenheit persönlich machte und Ängste weiter schürte. Die Yetohe waren verzweifelt und im Gegensatz zu den Iquar mussten sie jetzt handeln, also war ihr Verhalten durchaus verständlich. Doch der Plan des Barbarenkönigs war hirnrissig. Barz war noch nie selbst in Andor gewesen, doch hatte er genug über dieses Königreich gehört, um die Unwahrscheinlichkeit dieses Vorhabens abzuschätzen. Die Andori hatten fast die gesamte Trollpopulation des Landes ausgemetzelt. Trolle! Selbst eine gepanzerte Steppenechse konnte einem Troll nicht das Wasser reichen. Sich den Yetohe in diesem Kriegszug anzuschließen, glich Selbstmord.
„Gibt es denn niemanden unter euch, der sich noch um seine Familie kümmert?! Gibt es keinen, in dessen Adern noch das ehrbare Blut der ersten Brüder fließt? Wir Yetohe brechen morgen auf nach Andor. Zeigt, dass ihr besser seid als eure feige Stammesleiterin. Jeder, der sich uns bei der Invasion anschließt, wird fürstlich belohnt werden!“, beendete Absorak seine Tirade.
Hier und da ertönte zustimmendes Gejohle aus dem Publikum. Einige Iquar standen gar auf und hoben ihre Metkrüge. Am nächsten Morgen würden diese sich wohl den Yetohe anschließen und ihre Leben im Kampf gegen einen überlegenen Gegner riskieren. Barz schüttelte bloß seinen Kopf.
Dann drehte er sich um und sein Herz hüpfte in seine Hose. Nabib war auch aufgestanden, hatte seine Hand zur Faust geballt und klopfte sich damit auf die Brust.
„Setz dich wieder hin!“, zischte Nabibs Schwester ihm zu und zupfte an seinem Umhang, doch Nabib blieb standhaft stehen und johlte gemeinsam mit den übrigen aufgerichteten Iquar. Immer mehr erhoben sich, doch Barz kümmerte sich nicht mehr darum.
„Nabib! Du bist angetrunken, jetzt solltest du lieber keine wichtigen Entscheidungen treffen!“
In diesem Moment verkündete die tiefe Stimme des Barbarenkönigs: „Yetohe! Iquar! Im Morgengrauen ziehen wir los. Wer so tapfer ist, sich den Invasoren Andors anzuschließen, möge sich dann vor dem Steg versammeln. Ich danke jedem von euch bereits jetzt. Eure Kinder und Kindeskinder werden das in der Zukunft dann auch tun.“
Nabib nickte Barz mit einem traurigen Grinsen zu: „Du siehst: Es heißt jetzt oder nie.“
Sternenhoch. 42 Tage vor dem großen Unheil.
Erst nachdem die Nacht schon lange eingebrochen war und das Sternenband sich über den Himmel gelegt hatte, löste sich die Versammlung auf. Tische und Stühle wurden zurück ins Innere der Häuser verfrachtet und die Yetohe zogen sich wieder in ihre Jurten draußen auf dem festen Steppenboden zurück.
Barz hatte Nabib den Großteil des Abends sich selbst überlassen. Nun bewegte Nabib sich von seiner Schwester geleitet in Richtung seines Zuhauses und Barz fühlte, dass dies seine letzte Chance werden würde, ihn umzustimmen. Er langte hinter seinem Rücken nach einem Pulvergürtel.
„Nabib! So warte doch!“, rief Barz. Er erreichte ihn gerade noch, ehe er im Inneren seines Hauses verschwunden wäre.
„Ich hab’s ihm schon den ganzen Heimweg auszureden versucht“, sprach Nabibs Schwester, „Tu, was du nicht lassen kannst, aber lass ihm lieber seinen Willen, als dass ihr euch im Zwiste voneinander verabschiedet.“
Mit diesen Worten wurde Nabib stehen gelassen. Sofort legte Barz auf:
„Nabib, bitte, halte ein und sinniere nach über das, was du tun willst. Du hast Familie hier. Willst du sie wirklich im Stich lassen?“
„Oh, Barz, wenn ich hier dringend gebraucht würde, wäre ich doch gar nicht erst auf so lange Reisen aufgebrochen. Das gilt auch für dich, Barz. Du könntest mitkommen nach Andor.“
Barz hielt für einen Augenblick inne.
„Wir sind doch gerade erst heimgekommen. Ich will Yafka nicht gleich wieder verlassen.“
„Ich doch auch niemanden hier zurücklassen. Aber im Gegensatz zu dir sehe ich über meine aktuellen Wünsche hinweg und sehe, dass die einzige Art, wie ich meiner Familie und meinen Freunden tatsächlich helfen kann, darin besteht, dafür zu sorgen, dass für sie eine Zukunft... garantiert... ooh, dieser Satz ist zu lange für meinen müden Schädel. Jedenfalls ist es das, was ein wahrer Held tun würde.“
„Dann bin ich offensichtlich kein wahrer Held. Doch ist euer Vorgehen doch nichts als eine Verzweiflungstat.“
„Es ist zweifelsohne heldenhaft, für eine sichere Zukunft seiner Geliebten zu sorgen.“
„In ein fremdes Land einzudringen und einen aussichtslosen Kampf anzufangen, das nennst du eine sichere Zukunft?“
„Sicherer, als wenn wir hier bleiben und nichts tun, während eine finstere Armee aus dem Süden anrückt.“
„Das kannst du nicht mit Sicherheit wissen! Der Ava hat uns schon seit Jahrhunderten vor allen möglichen Gegnern bewahrt und kann es wieder tun.“
„Das kannst du ebensowenig mit Sicherheit wissen. Diese Skelettarmee ist nicht wie die Gegner, mit denen die Barbaren zuvor bereits zu kämpfen hatten. “
Stille machte sich zwischen den beiden breit. Dann...
„Nabib, ich werde dich vermissen. Ich werde mir solche Sorgen um dich machen. Wir waren noch nie so lange getrennt...“
Barz zog mit seiner freien Hand aus einem der dutzend kleinen Täschchen in seinem Mantel ein reich verziertes Amulett hervor. Seine Großmutter hatte es ihm zu seiner Volljährigkeit geschenkt. Nun führte er es zu Nabibs warmer Hand und legte es sanft hinein.
„Nimm dieses Amulett, auf dass es dich beschützen möge. Und dass du mich nicht vergisst.“
„Oh, Barz, du alter Romantiker. Wenn du mir einen Antrag machen willst... nicht jetzt. Glaub mir, es ist schon so schwer genug. Ich habe mich entschieden, und ich werde diese Entscheidung durchziehen. Und glaube ja nicht, dass du mir nicht fehlen wirst.“
Nabibs Stimme zitterte leicht, als seine Finger sich von Barz‘ lösten und er das reich verzierte Amulett an sich nahm. Im Dunkeln war sein Gesicht nur schwer zu erkennen, aber Barz glaubte, Tränenspuren glitzern zu sehen.
„Na, komm schon her, du sturer Hornbär“, brachte Barz hervor. Dann fielen die beiden Steppennomaden einander in die Arme. Barz drückte Nabib fest an sich und ließ für Minuten nicht mehr los. Nabib erwiderte die Umarmung. Barz atmete Nabibs Geruch ein letztes Mal ein. Dann ließ er ihn los. Nabib winkte ihm ein letztes Mal zu, betrat sein Haus und machte sich vermutlich umgehend ans Packen.
Barz trat einige Schritte zurück und betrachtete das Sternenband über dem klaren Himmel, die glitzernden Sterne vor dem schwarzen Hintergrund.
Dann öffnete er seine Hand und die Prise Bannpulver, die er darin bereitgehalten hatte, verstreute sich grünlich glitzernd im Wind, rieselte durch die Holzplanken und versank im schwarzen Ava. Barz‘ Hand kribbelte magisch, als er den letzten Rest des schimmernden Pulvers davon abrieb.
Es war eine gute Entscheidung gewesen, das Pulver nicht zu benutzen, sprach er zu sich. Es war gut, Nabib seinen eigenen Weg gehen zu lassen, statt ihn entgegen seines unbrechbaren Willens hier zu behalten. Doch glaubte Barz das noch nicht wirklich.