„DRACHEE!“
Der verzweifelte Schrei hallte durch den Wachsamen Wald und weit ins Hadrische Meer hinaus. Die Nixen, welche bis eben noch dem Schiff nachgeschwommen waren und der blassen Iril mitleidige Gute-Besserungs-Wünsche zugesprochen hatten, waren auf einmal nirgendwo mehr zu erblicken. Vermutlich hatten sie sich in ihre tief unter der Oberfläche liegenden Behausungen zurückgezogen.
Keine Minute zu früh.
Denn auf einmal waren das Rauschen gewaltiger Schwingen und ein fernes Brüllen zu vernehmen.
„Ein Drache?!“, wiederholte Iril ungläubig, „Einen Drachenangriff gab’s doch nicht mehr seit dem Unterirdischen Krieg! Der ist Jahrhunderte her!“
Damit hatte sie fast recht. Sie konnte das nicht wissen, denn die wenigen, unvollständigen Informationen zum letzten aller Drachen waren verstreut über verbotene Schriftrollen in den Schwarzen Archiven und alte Lieder von Tavernenwirtinnen, die Iril nicht kannte. Doch ein einziger Drache hatte den Unterirdischen Krieg und das nachfolgende Massensterben überlebt.
Tarok. Er hatte sich während Jahrhunderten in seiner Höhle im Grauen Gebirge verschanzt und in unruhigen Träumen seinen Zorn gepflegt. Hin und wieder hatte Tarok nichtsahnende Reisende überfallen, doch seit einem legendären Kampf gegen den zukünftigen König Brandur von Andor hatte er auch das kaum mehr getan. Er hatte sich gefürchtet, geschlafen und gelitten. Während ein, zwei Gelegenheiten, die hier nicht näher behandelt werden sollen, hatte Tarok sich aus unruhigen Träumen reißen lassen und in die Lüfte erhoben, um Feuer und Glut vom Himmel regnen zu lassen und Bewohner der Berge und Steppe an seinem Leid Anteil haben zu lassen. Und um diese widerlichen Krahder in ihre Grenzen zu verwesen.
So kam es, dass hin und wieder in der Bevölkerung das Gerücht umging, dass jemand einen leibhaftigen Drachen gesehen hätte.
Doch davon abgesehen hatte Tarok sich während Jahrzehnten still in seiner Höhle versteckt und Kraft aus Krahal gezogen. Die Schildzwerge und ihre Drachenfallen hatte er gemieden. Brandur hatte er gemieden. Andor hatte er gemieden. Ruhig darauf wartend, dass König Brandur das Zeitliche segnete. Er war ein Drache, theoretisch unsterblich, sofern er nicht dem Fluch des Steins anfiel. Brandur war nur ein Mensch. Mochte die Hexe Reka sein Leben mit Tränkchen und Mitteln unnatürlich in die Länge ziehen: Früher oder später würde die Zeit seinen Erzfeind für ihn erledigen.
Aber das musste nicht heißen, dass Tarok nicht nachhelfen konnte.
Nun war es soweit gewesen. Taroks Kreaturen hatten unter dem Befehl seines Schwarzen Herolds die Rietburg eingenommen und Brandur tödlich verwundet. Während die Helden um die Befreiung der Rietburg gekämpft hatten, war der alte König seinen Verletzungen erlegen. Und Tarok war erwacht. Noch in derselben Stunde hatte er sich aus seiner Knochengrube erhoben und war schnurstracks zum Angriff auf Andor übergegangen.
Auf seinem Weg zur verhassten Rietburg hatte er einen Abstecher zum Baum der Lieder gemacht und die Magie des Landes in sich aufgezogen. Nun, mit erheblich gewachsener Macht, erhob sich der Drache mit mächtigen Flügelschlägen aus dem Wachsamen Wald in die Höhe.
Und wurde unter anderem von einer gefährlich nahe segelnden Handelskogge erspäht.
Iril kniff ihre Augen zusammen. Täuschte sie sich, oder saß tatsächlich ein Reiter auf dem Rücken des Drachen? Zwischen zwei Rückenstacheln eingekeilt, ein langes Schwert hoch in die Luft gereckt, den langen schwarzen Umhang hinter sich flatternd.
Irils Aufmerksamkeit wurde vom mysteriösen Reiter weggerissen, als der Drache sich einmal im Kreis drehte, während er einen gewaltigen Flammenstrahl spie.
Bäume und Büsche entflammten. Beißender Rauch stieg auf vom Wachsamen Wald. Und Iril wurde ihrer prekären Lage gewahr. Sie befand sich auf einem brüchigen Kahn vor einem brennenden Wald, mit einer riesigen Echse hoch über ihr, die sie jeden Augenblick erspähen und für Grillspaß befinden konnte.
„Wir müssen weg von hier, echt schnell!“, rief Kapitän Lunor und kurbelte wild am Steuer herum. Lunor war ein stämmiger, muskulöser Mann, an dessen Körper alle Stellen, deren Anblick man schicklicher Weise Anderen zumuten konnte – und vermutlich auch einige unschickliche Stellen – mit Tätowierungen bedeckt waren. Diese Tradition hatte Kapitän Lunor an seine Mutter angelehnt, der legendären Kapitänin Mondrianne, die der Legende nach einst gar ein Handelsschiff aus Oktohans Schlund gerettet hatte. Im Gegensatz zu Irils Runentattoos hatten Mondriannes und Lunors Tätowierungen eher persönliche als magische Bedeutungen. Und im Gegensatz zu Iril hatten sie keine magische Kraft nötig. Mit purer Muskelkraft zog Lunor am großen Steuer und blinzelte in die Gischt. Die BALENA legte sich gefährlich schief und drehte sich langsam vom Ufer ab, in Richtung des sicheren Nordens. Iril klammerte sich an der Reling fest, um nicht übers Deck zu rutschen. Doch der Wind war nicht mit ihnen. Nur langsam kamen sie voran.
Die meisten Reisenden suchten unter Deck Schutz. Nicht so Iril. Sie öffnete ihre Reisetasche und kramte daraus eine bestimmte kleine Metallscheibe hervor, kaum größer als ihre Handfläche. Es war keine komplexe Runenfolge, die sie jetzt brauchte, aber eine sehr mächtige. Sie griff an ihren Gürtel.
Es fühlte immer noch falsch an, Burmrits Runenhammer selbst zu führen. Sorgfältig strich Iril über die gravierte Oberfläche und über das stumpfe Ende des Hammers. Ein leises Summen ertönte aus seinem metallenen Inneren. Er war bereit, magische Ströme weiterzuleiten. Iril fasste den Runenhammer fest und ließ ihn mit der flachen Seite auf die Runenscheibe niederfahren. Ein Geräusch wie von einem Gong ertönte, gefolgt von einem fernen Donnern. Runenscheibe, Hammer und Irils Augen glühten gelblich auf. Ihr ganzer Körper kribbelte wohlig.
Der Wind nahm zu und bauschte die Segel des kleinen Schiffs. Die BALENA nahm Fahrt auf, so schnell wie möglich weg vom Ufer mit dem wütenden Drachen. Die beiden Seekrieger, die nebst Kapitän Lunor als einzige auf Deck geblieben waren, jubelten und klatschten. Doch dann furchte die eine plötzlich ihre Stirn und schrie an Iril zurück: „Abbremsen! Abbremsen! Da vorne ist der Hirschhuf! Klippe voraus!“
Iril drehte die Runenscheibe in ihren Händen, verzweifelt versuchend, den Wind noch rechtzeitig abzulenken.
Kapitän Lunor drehte ebenso verzweifelt am Steuer und fluchte gegen den aufziehenden Sturm.
Mit voller Fahrt raste das Schiff in die Klippe hinein.
Ein hässliches Knirschen ertönte, als der Rumpf des Schiffes sich öffnete und Wasser hineinströmte.
Mit einem Ruck wurde Iril von der Reling gerissen und taumelte übers Deck.
„Sporndreck!“, fluchte sie. Schuldgefühle übermannten sie. Doch sollte sie sich lieber später damit befassen, wenn sie nicht mehr auf einem sinkenden Schiff stand.
Die Seekriegerin fasste sich als erste und schrie: „Hier sind wir nicht sicher. Wenn ein Drache hier ist, sind seine bösartigen Kreaturen nicht fern! Und das Meer wimmelt nur so von grausamen Meereskreaturen!“
„Wo sollen wir hin?! An Land wütet der Drache!“
Iril warf einen wachsamen Blick ans Land rüber. Der Drache schwebte nicht mehr über dem Wachsamen Wald, sondern hatte sich weiter gen Westen bewegt. Der dunkel gewandte Reiter auf seinem Rücken zeigte mit seinem langen Schwert nach unten. Der lange Hals des Drachen folgte. Und wie ein Seeadler stieß der mächtige Drache auf irgendetwas im Westen herab.
Iril öffnete erneut ihre Reisetasche und zog eine andere Runenscheibe hervor. Diese hier bestand aus einer handgroßen gläsernen Linse, die in einem mit Runen übersäten Steinring eingefasst war. Iril hielt ihren Runenhammer darunter und konzentrierte sich. Licht strömte hervor, schillerte in allen Regenbogenfarben und ließ in der Runenlinse ein verzerrtes, bewegtes Bild erscheinen.
Iril blickte aus der Vogelperspektive auf das Geschehen herab. Ein großer Schatten fiel auf das Rietland. Das goldene Rietgras zerfiel unter einem Flammenstrahl zu schwarzer Asche. Der Drache stieß auf einen alten Wachturm hinab.
Iril kniff ihre Augen zusammen und versuchte, in der Schemen dieser Runenscheibe mehr Einzelheiten zu erkennen.
Das Gemäuer, das sie erblickte, musste der legendäre alte Wehrturm sein. Vor Urzeiten war er einst von den Schildzwergen erbaut worden, doch seitdem er einst in einem Kampf gegen einen riesigen Trollfürsten eingerissen worden war, munkelte man, dass ein Fluch auf ihm läge. Schon so oft hatte jemand versucht, ihn wieder aufzubauen, und so oft war jemand daran gescheitert. Jetzt stand der Turm wieder. Vermutlich hatten mutige Andori ihre Kämpfer mit dem Wiederaufbau des Turms unterstützt, so gut es ging. Iril wäre jede Wette eingegangen, dass er in einigen Monaten schon wieder eine Ruine wäre.
Iril konzentrierte sich stärker. Das magische Bild innerhalb der Runenlinse zoomte hinein und verdeutlichte sich.
Vor dem Wehrturm hatte sich eine Gruppe Krieger zusammengeschart. Kleine Gestalten umringten einen Reiter auf einem schwarzen Pferd. Sie flohen nicht, sondern schienen ihre Waffen bereitzuhalten. Ganz oben auf dem Wehrturm hatte sich gar ein Bogenschütze eingerichtet und verschoss wirkungslos Pfeile auf den auf sie zustürzenden Drachen.
Tapfere Idioten.
Schade um sie.
Der verzerrte Drache in der Runenscheiben-Vision riss seinen Mund zu einem Schrei auf. Kurz darauf schallte ein leises Echo seines animalischen Schlachtrufes an Irils Ohren.
Sie zuckte zusammen, als Kapitän Lunor direkt neben ihr zu erkennen gab, dass er die Scheibe ebenfalls beobachtet hatte. Laut rief er: „Der Drache ist abgelenkt. Das Risiko an Land ist echt geringer, als wenn wir im sinkenden Schiff bleiben. Hier sind wir wie ein Signalfeuer für Nerax. Und für Schlimmeres. Echt, wir müssen an Land rüber. Macht euch bereit“
Mit Blick auf Iril fügte er an: „Kannst du schwimmen?!“ Iril nickte hastig. Technisch gesehen konnte sie schwimmen. Sie hatte es nur schon lange nicht mehr getan. So schwer konnte es ja nicht sein, sich an die Züge zu erinnern.
Während Lunor unter Deck rannte und seine kleine Tochter an Bord rettete, packte Iril ihre Runenscheibe zurück in ihre luftdicht verschließende Tasche und setzte an, ihre Schuhe und sonstige schwere Kleidung zurückzulassen. Da tauchten plötzlich zwei Nixen vor ihr aus dem Wasser auf. Sie blubberten und heulten etwas. Unter Wasser hätte es bestimmt schön geklungen und der Klang wäre weit gedrungen, doch hier, bei der Geräuschkulisse eines Drachenkampfs im fernen Hintergrund, hätte Iril sie wohl nicht einmal verstanden, wenn sie Nixisch sprechen könnte.
Natürlich gäbe es entsprechende Runentattoos, die Iril aktivieren könnte, um die Nixen zu verstehen. Magie war ein wundervolles Allzweckmittel, mithilfe dessen man überraschend schnell Strukturen in gesprochenen Worten erkennen und fremde Sprachen entschlüsseln konnte. Doch soweit musste Iril gar nicht greifen. Die freundlich lächelnden Gesichter der Nixen waren verständlich genug, sodass Iril sich die Bedeutung der fremden Worte vorstellen konnte. „Wir können euch helfen“, sagten sie leise.
Die beiden Seekrieger schlugen das Angebot der Nixen zugunsten weniger schwimmfähiger Passagiere aus und sprangen elegant ins Meer. Es geschah nicht selten, dass ein Schiff in einen Sturm geriet (oder schlimmeres) und seine Passagiere dann irgendwo an Land gespült wurde. Seekrieger mussten das Schwimmen beherrschen, und ihre Schulterplatten waren aus leichtem, auftreibendem Material statt schwerem Metall. Kompliziert war vielmehr, dass der eine Seekrieger während der Überfahrt einen strampelnden Streifenmarder an sich drückte und über Wasser zu halten versuchte
[1]. Aber das Schiffsmaskottchen zurückzulassen kam nicht in Frage.
Lunor weigerte sich, seiner Tochter einer Nixe zu übergeben. „Ich habe echt schon seit meiner Kindheit der See getrotzt! Ich kümmere mich selbst um die Sicherheit meines Töchterleins.“
Er führte seine Tochter sanft in die wogende See und schwamm mit kräftigen Zügen in Richtung Ufer.
Die restlichen Passagiere ließen sich bereitwillig von den Nixen an Land bringen. Iril beobachtete, wie die zwei Seekrieger ans stürmische Ufer traten und sofort ihre langen Naginata bereithielten, als würden diese Stangenwaffen etwas gegen einen angreifenden Drachen ausrichten können.
Dann war Iril an der Reihe. Das Wasser des Hadrischen Meers war kühl und stürmisch. Salz ließ Irils Augen brennen, während sie sich verzweifelt an den glitschigen Körper ihrer Nixe zu klammern versuchte. Sie hustete und prustete und schluckte Seetang. Dann war es vorbei.
Iril schleppte sich an Land und ließ sich aufs sandige Ufer sinken
So hatte sie sich ihre Rückkehr nach Andor nicht vorgestellt.
„Danke.“
Die Nixe blubberte ihr eine unverständliche Abschiedsnachricht zu und sprang dann zurück in die tosende See, um weitere Reisende aus dem Wrack zu retten. Iril wrang ihre nassen Haare aus und betrachtete das Schiffswrack auf dem Hirschhuf, der Klippe vor dem Wachsamen Wald. Sie versuchte nicht an die vielen Waren zu denken, welche nun dort nun entweder verrotten oder von Meereskreaturen gestohlen werden würden. Immerhin waren alle Schiffsbrüchigen in Sicherheit.
Da ertönte ein Schrei direkt neben ihr. Sie wirbelte herum. Kapitän Lunor saß klitschnass neben seiner Tochter. Selbige lag zusammengesunken im seichten Ufergebiet und rang erfolglos nach Luft. Wasser strömte aus ihren Augen und ihrem Mund. Lunor schüttelte seine Tochter panisch. Das half natürlich nicht.
„Lasst mich!“, rief Iril. Sie kniete sich hastig neben die Kleine. Der Runenhammer glitt zu Boden. Iril öffnete ihre Reisetasche und durchsuchte ihre Vorräte an kleinen metallenen Scheiben. Manche Runenfolge war so vielseitig nützlich, dass sie sie permanent auf einer ihrer Scheiben eingraviert hatte und mit sich führte. Iril fand die gesuchte Scheibe, hob sie in die Höhe und ließ sie mit aller Macht auf ihren Runenhammer donnern. Die Scheibe flackerte bläulich auf. Dünne Linien darauf begannen zu schimmern und verschmolzen rasch zu Symbolen. Die Scheibe wurde warm. Ebenso pulsierten Irils Augen und der Runenhammer in blauen Tönen. Ihre gesamte Haut kitzelte wohlig.
Der Sturmwind ebbte ab.
Überall um Iril herum stiegen Wassertropfen aus dem matschigen Boden in die Höhe. Iril selbst fühlte ebenfalls den vertrauten Zug des Wassers in ihrem Körper, auch wenn sie selbst natürlich zu schwer war, um davon in die Höhe gehoben zu werden. Iril bewegte die leuchtende Runenscheibe zur hustenden Tochter und zog sie langsam von ihrem Magen bis zu ihrem Gesicht. Weitere Wasserschwalle brachen aus der Kleinen hervor und sammelten sich als wabbelige Wassermasse um die Schiebe. Ihr Gesicht rot an, ebenso Irils Hand, die die Scheibe hielt. Dann erbrach sich die Kleine und sank schwach in die Arme ihres Vaters. Angeschlagen, doch wieder angemessen atmend.
„Danke. Echt“, hauchte Lunor, seine Tochter eng umarmend.
„Kein Problem. Wasserrunen sind meine Spezialität. Könnte mit der Hintergrundgeschichte dieses Hammers zusammenhänge ... aber nein, die ist jetzt nicht wichtig“, murmelte Iril. Sie tippte so rasch wie möglich auf die Scheibe und brach den Anziehungseffekt ab, ehe sie aus Versehen die Kotze der Kleinen ansaugte.
Erst jetzt konnte Iril sich wirklich auf die Umgebung konzentrieren. Die Nixen hatten sie zu den Anlegestegen der Bewahrer gebracht. An diesem Hafen wurde sonst oft emsig gehandelt. Nicht so heute.
„Hierher. Da lodert es!“
„Eimerkette bilden! Dalli, dalli, der Wald wartet nicht!“
Waldbewohner eilen umher und versuchen, die Brände im Wachsamen Wald einzudämmen.
Der über die restlichen Bäume hinausragende Wipfel des gewaltigen Baums der Lieder war angekokelt. Löschfässer wurden von seinen obersten Ästen gelöst und verschwanden hinter den tiefer liegenden Baumwipfeln, gefolgt von Platschgeräuschen.
Einige Bogenschützen in der Kleidung der Farbe des Sommerlaubes erreichten die leeren Anlegestege. Manche hielten Bögen im Anschlag, andere trugen große Rucksäcke. Sie begleiteten weitere Bewahrer in grauen Gewändern. Ein Bewahrer, in ein weißes Kleid gekleidet, rollte auf einem hölzernen Stuhl mit breiten Rädern an der Seite über den Waldpfad zum Hafen und balancierte mühevoll einen Stapel breiter Bücher und Schriftrollen-Kisten auf seinem Schoß, so hoch, dass er selbst kaum darüber hinwegblicken konnte. Sein kleiner Kopf guckte auf der Seite des Bücherstapels hervor und sank enttäuscht, als er den leeren Hafen erblickte.
„Was nun, Hoher Priester Tion?“, fragte ihn eine Begleiterin.
Tion kratzte sich am Bart. „Unschön. Wenn in den nächsten Tagen keine Schiffe von hier abfahren, müssen wir umgehend kehrt machen und anderswo Asyl suchen. In die Tiefen Caverns oder in die Lande der wilden Völker des Ostens. Nur weit weg vom wütenden Drachen.“
Iril sollte später herausfinden, dass die Bewahrer hier am Hafen auf Boote gehofft hatten. Der oberste Priester der Bewahrer hatte sie weise aufgefordert, das Land zu verlassen. Sie hatten den Auftrag, so viele Pergamente wie möglich vom Baum der Lieder mitzunehmen und nach Sturmtal aufzubrechen. Von dort sollten sie ein Schiff nehmen und weit, weit fortsegeln. Denn Tarok, der Drache, würde den Baum der Lieder bestimmt nicht verschonen, wenn er erst einmal die Rietburg dem Erdboden gleichgemacht hatte.
Und nun lagen nicht einmal mehr Boote zum Fliehen an den Stegen.
Die Bewahrer waren nicht als einzige über die fehlenden Schiffe im Hafen enttäuscht. Garz, ein im gesamten Norden berühmt-berüchtigter Handelszwerg mit einem komödiantisch dicken Rucksack auf dem Rucksack, blickte fassungslos den leeren Steg entlang und murmelte: „Mein Schiff nach Hadria sollte doch schon längst hier am Hafen vor Anker liegen. Bei allen Kreaturen der Tiefe, wo ist mein Schiff nach Hadria?!“
„Auf der Klippe liegt es. Ein Wrack ist es geworden!“, sprach Kapitän Lunor missmutig, immer noch seine Tochter umarmend, „Und es war nicht mal mein eigenes Schiff. Syenna wird mich umbringen.“
Das holte Iril in den Moment zurück.
„Verzeiht mir. Das ist alles meine Schuld“, sprach sie hastig, „Ich weiß nicht, wie ich dafür aufkommen soll. Ich bin nicht reich, habe aber noch einige Goldmünzen ...“
„Nein“, widersprach Lunor, „Es mag dein magischer Wind gewesen sein, der uns auf den Hirschhuf auflaufen ließ. Aber es war auch mein Segel. Und mein Steuer. Ich werde dafür geradestehen. Du hast meine Tochter gerettet. Ich würde sagen, wir sind echt mehr als quitt.“
Iril nickte, doch das Schuldgefühl in ihrem Inneren ließ sie nicht los. Sie war es gewesen, die Lunors Tochter überhaupt erst in Gefahr gebracht hatte. Niemand hätte ihr verziehen, wenn die Kleine ihr Leben verloren hätte.
„Hört ihr das auch?“, unterbrach sie der eine Seekrieger, der immer noch seinen tropfnassen Streifenmarder an sich drückte und streichelte.
„Was meinst du, Stinner?“, fragte die andere Seekriegerin, „Ich höre nichts.“
„Eben.“
Bislang war die ganze Zeit wie in weiter Ferne ein Echo zu vernehmen gewesen. Ein Brüllen und Fauchen, das den Boden leicht erzittern ließ. Der Lärm eines Drachenkampfs. Doch nun war es plötzlich still geworden.
Einen Augenblick lang standen alle Anwesenden wie erstarrt da.
Urplötzlich rumpelte die Erde. Heftig. Vögel stiegen von den Bäumen auf. Laub, Äste, Eichhörnchen und kletternde Streifenmarder wurden gleichermaßen zu Boden geworfen. Sturmwellen platschten mannshoch ans Ufer. In der Ferne hörte man Felsen bersten und Lawinen krachen.
Dann war das Erdbeben auch schon wieder vorbei. Der Wachsame Wald lag wieder ruhig da. Und dennoch konnte Iril das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas grundlegend anders war als noch vor wenigen Minuten.
„Was war das? Seht ihr irgendetwas?“, rief eine Bewahrerin zwei anderen zu, welche mit Ferngläsern in den Himmel starrten.
„Kein Drache in Sicht“, kam die Antwort.
„Ich glaube echt, der Drache ist tot!“, jubelte Lunor ein wenig optimistisch. Die Seekrieger stimmten mit ein. Die Bewahrer vom Baum der Lieder schienen noch skeptisch.
Der Hohe Bewahrer Tion gab den Befehl, man solle ihn und die wertvollen Schriften zurück zum Baum der Lieder befördern. Hier am Hafen waren sie nur ein Ziel für Kreaturen. Und hoffentlich würde bald schon ein Falke mit Neuigkeiten eintreffen.
Iril schloss sich ihnen an.
Sie bot Tion auch an, einen Teil seines gewaltigen Bücherstapels abzunehmen, doch der Hohe Bewahrer winkte entschieden ab. Die Schriften wären sowohl sehr wertvoll als auch potenziell gefährlich und sollten somit lieber nicht von einer dahergelaufenen Kriegerin transportiert werden. Iril versuchte, das nicht persönlich zu nehmen.
Als Tion dann allerdings über eine zu große Astwurzel rollte und sein Schriftenstapel beinahe in sich zusammenfiel, konnte er sich immerhin dazu herablassen, Iril die oberste Schachtel voller Schriftrollen tragen zu lassen.
So reiste die Truppe weiter zum Baum der Lieder.
***
Ein riesiger schwarzer Fleck zeigte an, wo unlängst ein gewaltiger Drache auf dem Baum der Lieder gesessen und den uralten Mammutbaum mit Klauen bearbeitet hatte.
Die Lichtung war übersät von angekokelten Riesenästen und den Leichen von Menschen und Zwergen, Gors und Skralen. Die sonst rötlich-pink schimmernden Schuppen der Kreaturen waren von schwarzen Spuren übersät und die sonst weißen Augen schimmerten tiefschwarz. Hatte der Drache sie mit einem dunkelmagischen Blitz gestärkt?
Auch wenn die aktuelle Gefahr durch das Feuer gebannt sein mochte, herrschte an der Lichtung wie am Hafen emsiges Treiben. Lösch- und Bergungsaktionen wurden durchgeführt. Verletzte sammelten sich an feuchten Stellen und blickten furchtsam in den Himmel.
„Doro, überprüfe bitte, ob bereits Falken eingetroffen sind“, sprach der Hohe Bewahrer Tion zu einer seiner Begleiterinnen, kaum hatten sie den Rand des Dorfes erreicht. „Und magst du auch noch beim Ausguck nach Neuigkeiten vorbeischauen?“
„Bis ganz nach oben?! Oh, Mutter, wie ich mir wünschte, dass es Abkürzungen für so etwas gäbe“, sprach Doro, eilte dann jedoch folgsam davon. Tion drehte sich um, wies einen hammerschwingenden Begleiter auf einen seiner Meinung nach höchst einsturzgefährdeten Ast hin und sprach weiter: „Und Giftknödel, kannst du bitte ... Giftknödel, wo steckst du?!“
Der angesprochene junge Bewahrer eilte zu Tion, um weitere Anweisungen entgegenzunehmen. Allzu dringlich konnten sie jedoch nicht sein. Denn anstatt fortzueilen, nickte Giftknödel nur und kehrte danach wieder an Irils Seite zurück. Er warf weitere interessierte Blicke auf Irils leuchtenden Hammer, wie er es schon auf dem ganzen Weg zum Baum der Lieder getan hatte.
„Das ist ein Runenhammer“, meldete Iril kurz angebunden, „Der Runenhammer von Golja.“
„Runenmagie?“
„Genau! Ihr Bewahrer wisst bestimmt so einiges darüber.“
„Aber nicht über einen solchen Hammer. Die Lücken in unseren Archiven schrumpfen stetig und werden doch nicht weniger. Welch mannigfaltige Fähigkeiten verleiht der Hammer dir?“
„Ich habe lange studiert, um verschiedenste Aspekte der Macht der Runen zu meistern. Der Hammer ist nur ein kleiner Teil davon.“
„Noch bin ich nur ein Novize, doch bald, in weniger als zwei Jahren, werde ich ein vollwertiger Adept des Bewahrerordens werden und mitbestimmen dürfen, welche Berichte ich verfolgen will. Darf ich dich dann aufsuchen und mehr erfahren, eine Lücke unserer Legenden schließen?“
„Wenn du mich dann noch findest, dann sicher.“
„Wo dürfte ich dich denn erwarten?“
„Wenn ich das wüsste. Meine Zukunft ist ungewiss. Cavern. Andor. Irgendwo, wo man mich brauchen kann.“
„Das engt es nicht wirklich ein.“
„Das ist wohl wahr. Vielleicht halte ich einfach nach dir Ausschau, wenn es mich in Zukunft wieder an den Baum der Lieder lenken sollte.“
Die beiden wurden vom emsigen Geschehen auf der Lichtung abgelenkt.
Eine krächzende Stimme tönte über das Stimmengewirr hinaus. „Trinkt das. Der Schleim mag euch grausen, im Nachhinein werdet ihr mir aber danken. Nein, Larissa, jetzt vergeuden wir unsere Zeit sicher nicht damit, übers Geld zu sprechen. Die Verletzten brauchen eine Heilerin.“ Die Urheberin dieser Worte, eine grau gewandte Bucklige, eilte im Dorf umher und verteilte orange leuchtende Tränke, die gegen die Hitze helfen sollen. Auch wenn sie scheußlich schmeckten und ihre Konsistenz an schleimigen Schaum erinnerte, sollte man sie so rasch wie möglich runterschlucken. Eine Bewahrerin in einem langen weißen Gewand – Heilerin Larissa – eilte der Alten hinterher und zischte etwas über zu hohe Preise.
Dann erklang Geschrei aus dem Unterholz. Ein Flötenspieler, dessen verschmutzte Kleidung mit einem hübschen Rautenmuster überdeckt war, unterhielt sich ein wenig abseits im Unterholz aufgebracht mit einer blauhäutigen Kapuzengestalt mit Augenbinde. Gerade intonierte der mutmaßliche Barde: „... lügnerischer Habicht, du, der mir die Sonne vom Himmel zu holen versprach, wenn ich nur deinen Wünschen Folge leiste. Worin auch immer deine weiteren Pläne bestehen mögen, zähle mich absent von ihnen, du kleingeistiger Scharlatan niederster Sorte!“
Die erheblich leiser gesprochene Antwort des Blinden entging Iril, denn in diesem Augenblick kehrte auch schon wieder die von Tion ausgesandte Bewahrerin zurück, ein weiteres Ordensmitglied im Schlepptau. Jenes versuchte vergeblich, eine goldene Mitte zu finden zwischen dem möglichst raschen Laufen zu Tion und der Schonung eines jungen Falken in seinen Armen.
„Keine Neuigkeit von der Rietburg. Gända meldet sich nicht. Tapta meint, dass der einzige kürzlich eingetroffene Falke aus dem Osten kam und keine Nachricht, sondern bloß einen angeknacksten Flügel mit sich mitbrachte.“
„So ist es“, bestätigte Tapta, weiterhin den angeschlagenen Falken stützend, „Keine neue Nachricht über den Drachenangriff oder dieses Erdbeben. Keine Informationen von Gända. Immerhin hat der Ausguck seit letzterem keinen fliegenden Drachen mehr erblickt. Doch muss das nichts heißen. Wir können mit den besten Fernrohren nicht ins Rietland blicken. Der Nebel steht heute hoch über den Wipfeln des Wachsamen Waldes. Es könnte weiterhin weise zu sein, unsere wichtigsten Schriften in Sicherheit zu bringen.“
Dann fiel sein Blick auf Giftknödel, und er führte an: „Aber zumindest steht dein Feigenbaum noch, Phlegon. Kein Funken hat ihn erreicht!“
„Immerhin so viel“, entspannte sich Giftknödel, „Dann darf ich wohl annehmen, dass es um unsere Familie und Freunde auch nicht schlechter steht?“
Tapta nickte. Die zwei jungen Bewahrer schienen weitersprechen zu wollen, doch verstummten sie.
Stille breitete sich allgemein auf der Lichtung vor dem Baum der Lieder aus, als eine herrische Gestalt durch die Portale des Baums trat.
Gekleidet war der Priester in ein edles weißes Gewand mit goldenen Verzierungen, welches einige Rußflecken trug. Die langen braunen Haare trug er offen und waren wild zerzaust. Nichtsdestotrotz strahlte er eine ehrwürdige Aura aus.
Iril hatte schon von ihm gehört.
Der Oberste Priester Melkart.
Der Anführer des Bewahrerordens ließ eine Versammlung einberufen. Als erstes machte er sich daran, zwei Mitglieder seines Ordens zu finden, welche mutig genug waren, ins möglicherweise drachenverseuchte Rietland aufzubrechen.
Eigentlich verließen die Bewahrer so selten wie möglich den grünen Radius, sondern warteten darauf, dass Besucher aus der Umgebung ihre Berichte hierherbrachten. Dies war eine Ausnahme. Ein Drachenangriff war ein unglaublich ungewöhnliches Ereignis. Wieder einmal hatte die Geschichte Andors einen Wendepunkt erreicht. Und es war die Aufgabe der Bewahrer, diese Geschehnisse niederzuschreiben. Damit große Geschichten nicht zu Verschollenen Legenden wurde. Melkart wollte das Risiko nicht eingehen, Berichte aus erster Hand zu verpassen, weil Verletzte bald aus dieser Welt scheiden könnten.
So erlaubte der Oberste Priester zwei jungen Bewahrerinnen, zwei fortgeschrittenen Adeptinnen des Bewahrerordens namens Sanja und Jorna, den grünen Radius zu verlassen. Aufgeregt reisten die beiden bald los. Sie sollten in den Westen aufbrechen und herausfinden, ob der Drache tatsächlich gefallen war. Falls dem so sei, sollen sie Berichte der Überlebenden zu sammeln. Falls nicht ... möge die Mutter ihnen gnädig sein.
***
Sanja und Jornas Ziel, das westliche Rietland, war nicht Irils Ziel. Der Pfad unserer Runenmeisterin führte sie weiter nach Cavern. Dorthin hatte sie eigentlich schon von Beginn an aufbrechen wollen.
Auf dem Weg durch den Wald bis zum nördlichen Mineneingang wurde sie von mehreren Falken überflogen. Die Nachrichtenvögel verbreiteten unzweifelhaft Nachrichten über die aktuelle Lage. Iril wünschte sich, sie zu lesen.
Der nördliche Mineneingang wirkte noch unversehrt. Einzig die große Tanne, deren tief hängende Äste die Pforte verbergen sollte, war ein wenig angekokelt.
Zwei gut gerüstete Zwergenwachen standen davor und schienen ihre Gedanken gerade woanders zu haben. Anstatt ihre Waffen zu heben und Iril nach ihrem Belang fragten, blickten sie wie erstarrt in die Ferne. Der eine, mit einem helleren Hautton, streichelte gedankenverloren eine elegante Eule auf seinem Arm.
„Werte Wachen!“, rief Iril beim Nähertreten, „Mein Name ist Iril von Silberhall, und ich bin hier ...“
„Keine Zeit für lange Vorstellungen. Ich bin Bort“, unterbrach sie der eulenlose Wächter, und zeigte auf seinen eulentragenden Kumpanen, „Und der hier ist Mart. Sprecht, habt Ihr Neuigkeiten vernommen?“
„Ich sah den Drachen aufsteigen und über dem alten Wehrturm niedergehen. Das ist alles.“
Bort ließ seinen Kopf sinken.
„Was ist überhaupt los? Wie ist es möglich, dass nach all dieser Zeit ein Dr...“, setzte Iril an.
„Der König der Andori ist tot“, sprach Mart niedergeschlagen, ohne Iril ausreden zu lassen. „Die Lage ist ernst. Der Prinz von Andor wurde verschleppt. Die Rietburg wurde angegriffen und eingenommen, während die Helden von Andor sich hier in unserer Mine um die Bedürfnisse unseres Fürsten kümmerten. Während die Helden schon wieder den Dunklen Magier aus unserer Mine vertreiben mussten, als wären wir Schildzwerge nicht mehr in der Lage, unsere heiligen Hallen zu Beschützen. Es ist eine Schande. Bei Boords Bart, ich mache mir solche Sorgen.“
„Sei beruhigt, dieser Drache kriegt uns schon nicht klein“, grinste Bort schwach, „Und ganz allein waren die Helden ja auch nicht. Manche unseres Volkes haben bei der Befreiung der Mine und nun auch bei der Befreiung der Rietburg geholfen. Wie schon beim ersten Mal, als die Rietburg erobert wurde. Deine Schwester ist dabei. Brolaf ist ausgerückt. Und natürlich der heroische Kram. Ich hoffe, dass es ihnen gut geht. Nein, ich glaube sogar, dass es ihnen gut geht.“
Mart nickte bedrückt und sah alles andere als überzeugt aus. Bort umarmte ihn beruhigend und streichelte Marts Haarschopf. Iril beachteten die beiden nicht weiter. So viel zu den berüchtigten Sicherheitskontrollen der Schildzwerge. Aber angesichts der aktuellen Umstände war das durchaus zu verstehen, dass sie nicht jeden durchreisenden Zwerg filzten.
***
Iril zog es weiter ins Innere der Mine. Mancherorts herrschte Chaos. Zwerge rannten herum, manche kampfbereit, andere im Nachthemd, als hätte sie das Erdbeben direkt aus ihren Schlafgemächern gerissen. Ein übellauniger Zwerg mit rostbraunem Schnurrbart fluchte beim eingestürzten Tiefen Markt über frische Risse an der Stollendecke. Eine stämmige Kriegerin mit einer unpraktisch großen Kampfaxt und golden glänzenden Zwergenstiefeln raste an Iril vorbei, dicht gefolgt von einigen Zwergenkindern, die sie prompt in eine sichere Nische eines Höhlengangs scheuchte. Zwerge rasten hin und her, begutachteten die Schäden des Bebens und stützten Gänge mit komplizierten Metallstützen ab.
Keiner achtete auf Iril.
Einmal trampelte gar eine Gruppe Gors an ihr vorbei, ohne sich um sie zu kümmern, weitergescheucht durch einen Skral mit einer Augenklappe. Iril langte nach ihrem Hammer, doch der Skral warf ihr kaum mehr als einen raschen Blick zu, ehe er etwas in seiner Sprache fluchte und wieder davonsprang. Nichts außer der Gestank nach Blut und Fäulnis verriet, dass sie hier gewesen waren.
Eine elegante Eule überholte Iril auf ihrem Weg tiefer in die Minen. An ihrem Bein hing eine Nachricht. Neue Neuigkeiten der Wächter Bort und Mart? Ob der Drache wohl wirklich gefallen war?
Iril führte noch einige Handvoll getrockneter Algen aus der Zucht Silberhalls in ihrer zum Glück wassersicheren Reisetasche mit sich. Sie pflanzte sich in eine steinerne Nische, belegte ein Stück würziges Silberbrot mit den Algen und bedachte mampfend ihre nächsten Schritte, während sie ihren krampfenden Bauch zu ignorieren versuchte.
Ihr ursprünglicher Plan hatte schlicht darin bestanden, nach Cavern zurückzukehren, den Kontakt mit ihren Freunden oder ihrer Familie wieder aufzunehmen und dann weiterzugucken, was aus ihrem weiteren Leben werden sollte. Viele Geheimnisse der Runen hatte sie im Norden gelüftet und die erworbenen Fähigkeiten in Silberhall bereits zur Genüge einsetzen können. Doch hatte sie es als moralische Pflicht empfunden, nicht nur ihre außergewöhnlichen Kenntnisse zu mehren und die silberzwergischen Kenntnisse über die Runenmagie weiterzubringen. Nun war die Zeit für einen neuen Lebensabschnitt gekommen. Einen Neuanfang. Nun, wo Irils Runenmeisterin verstorben war und ihr ihren unbezahlbaren Runenhammer vermacht hatte. Nun, wo Iril vernommen hatte, wie in Cavern unzählige Kreaturen ihr Unheil suchten und sich ein Dunkler Magier hier versteckt hatte – gar zweimal in dem letzten Halbdutzend Jahren – hatte sie gedacht, dass ihre Hilfe hier nötiger war als im Norden. Diese Meinung hatten nicht viele geteilt. Und so hatte sie sich schweren Herzens von ihren Freunden bei den Silberzwergen getrennt und war auf Lunors Schiff, der BALENA, in den Süden gestochen.
Jetzt, wo sie hier war, schien es gar möglich, dass die Bewohner des Rietlands ihre Hilfe nötiger hatten als die Schildzwerge. Doch noch bestand ihre erste Priorität darin, Bekannte zu finden. Und dies stellte sich als schwerer hinaus als gedacht.
Iril suchte die Behausungen ihrer Familie nahe der Tiefminen auf. Schon dies kostete sie einige Zeit, denn sie war das Orientieren in diesen teils engen, verwinkelten Gängen nicht mehr gewohnt. In Silberhall waren die Gänge breit, rechtwinklig und blankpoliert. Hier in Cavern, insbesondere vor den Tiefminen, waren die Gänge eng, unförmig und von Ruß überzogen. Auch hier wuselte es nur so von Zwergen, die einander mit Reparaturen aushalfen und die wildesten Gerüchte über die Geschehnisse der Außenwelt herumsprachen. Niemand erkannte Iril, ja, niemand schien überhaupt ihren Namen oder die ihrer Familie zu erkennen. Oder sie wollten sich gerade einfach nicht die Mühe machen, darüber nachzudenken, wo es dringlichere Angelegenheiten hab.
Iril bedauerte wieder einmal ihre Entscheidung, mit ihrer Familie zu brechen. Sie hatten einander nicht mehr viel zu sagen gehabt nach ihren vielen Streiten über Silberhall und die Zukunft des Zwergenreichs. Was hatten sie auch so stur sein müssen! Iril war kein Kind mehr gewesen. Sie hatte ein Recht darauf gehabt, ihren eigenen Pfad einzuschlagen. Die Tiefminen hinter sich zu lassen.
Und nun war sie wieder zurück. Iril hatte die Höhle erreicht, in der sie ihre Kindheit lang gelebt hatte. Der Eingang war von einer schweren Steintür verschlossen, die mit massiven Metallbeschlägen verziert war. Dank eines ausgeklügelten Systems konnte man die schwere Tür dennoch ganz sachte beiseiteschieben. Sofern man den richtigen Schlüssel besaß. Iril tat das nicht. Sanft fuhr sie mit ihrer Hand über die rußige Tür und schluckte einen Kloß in ihrer Kehle herunter.
„Verlaufen?“, fragte eine heisere Stimme hinter ihr. Die Stimme gehörte zu einem Zwerg mit angegrautem blondem Haar, der achtsam einen großen Kessel mit irgendeiner köstlich dampfenden Suppe auf den Boden stellte. Er trug einen Schulterpanzer mit einem schwarzen Zwergenseil darüber. Dies wies ihn als Tiefminen-Arbeiter aus. Er war einer der Entbehrlichen, die für die hohen Fürsten Edelsteine aus den feurig heißen Untiefen der Erde bergen „durften“. Kam ja nicht in Frage, dass ein hochwohlgeborener Schildzwerg mit einer langen Ahnenlinie sein Leben in den brüchigen Lebensadern Caverns aufs Spiel setzte.
Solche Ungerechtigkeiten gab es in Silberhall nicht. Zumindest noch nicht. Die Mine war nicht alt genug, als dass sich Zwerge mit langen Ahnenlinien darauf beruhen könnten und verlangen, dass ihre Untertanen ihnen mehr Reichtum verschafften.
„Hast du dich verlaufen?“, wiederholte der Zwerg etwas lauter.
Iril zuckte zusammen. „Verzeiht, ich wollte nicht stören. Wohnt Ihr hier?“
„Nein, nein, wir wohnen zwei Gänge weiter in Richtung Tiefe“, winkte der Zwerg lächelnd ab, „Aber ich kenne die Familie, die hier haust. Und du siehst ein wenig verloren aus, wenn ich das anmerken darf.“
„Dem ist wohl so. Ich bin Iril. Ich liebte hier einmal, Jahrzehnte ist es her.“
„Drak. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Wenn du hier wohntest, dann hast du früher einmal in den Tiefminen gearbeitet, nicht wahr?“
„So ist es. Wie wohl alle aus meiner Ahnenlinie.“
„Na, na, wir Zwerge sind auch erst von irgendwoher nach Cavern gezogen. Sag, bist du vor oder nach der Ankunft der Flüchtigen aus Krahd von hier weggezogen?“
„Nachher. Silberhall gab es bei der Ankunft der Andori ja noch gar nicht.“
„Ah, du bist eine derjenigen, die sich von Silberlands Versprechen verlocken ließen?“ Drak verzog sein runzeliges Gesicht kurz.
„Schuldig im Sinne der Anklage. Doch nahm mein Leben in Silberhall eine andere Richtung, als ich ursprünglich gedacht hatte.“
Irils Hand ruhte auf ihrem Runenhammer. Drak zuckte er mit den Schultern und meinte: „Tja, was geschehen ist, ist geschehen. Wenn du vor der Gründung Silberhalls noch hier lebtest, habe ich dich vermutlich doch schon getroffen, auch wenn du dich nicht mehr daran erinnern magst.“
„Ich bin das Kind von Graiah und Perith.“
„Ah! Stimmt, die hatten doch vor langer Zeit eine Tochter, die ausgewandert ist. Warst du das, die uns immer die Stollenwände vollgekritzelt hat?!“ Drak kicherte. Dann wurde er ernst. „Tut mir zutiefst leid, Iril, das mit deiner Familie.“ Drak senkte seinen Blick und stampfte zweimal kurz auf, eine Geste des Respekts.
„Was ist mit meiner Familie?“, fragte Iril argwöhnisch.
„Weißt du das nicht?“
„Ich habe schon seit Jahren nicht mehr von ihnen gehört.“
„Oh. Auweia. Ich bin wohl nicht die beste Person, um dir das zu verraten. Doch ist es oft besser, die schlechten Nachrichten rasch zu überbringen, statt lange um den heißen Brei herumzureden. Willst du, dass ich es dir erzähle?“
Iril nickte, während ein drückender Kloß der Furcht sich in ihrem Innern ausbreitete.
„Na dann ...“, seufzte Drak, „Die Sache mit Iolith hat deine Eltern hart getroffen. Perith wurde vom Fieber der Traurigkeit erwischt und erlag ihm. Graiah mochte sich durchaus gegen den Kummer zu wehren, doch hielt sie es kaum mehr in dieser Höhle aus. Oft zog sie sich von ihren Bekannten zurück und stapfte tagelang ziellos in den verlassenen Gängen umher. Eine Horde Gors überraschte sie. Einen dieser scheußlichen Drachendiener riss sie noch mit ins Reich der Toten. Die restlichen ... nun ... wir fanden nur noch Blutspuren ... und ...“
Drak schüttelte seinen Kopf und schloss: „Ich labere schon wieder zu viel. Es tut mir leid, Iril. Du hast hier keine Familie mehr. Deine Eltern sind beide dahingeschieden. Die Mutter der Erde hat sie zu sich geholt.“ Erneut stampfte Drak zweimal auf.
Iril brachte nicht einmal eine kohärente Antwort zustande. Ihr Herz pochte und sank zugleich in ihre Magengegend, welche wild zu rumoren begann. Ihr wurde übel und schwindelig. Ihre Eltern sollten ihr nicht viel bedeuten, nachdem sie so lange nicht mehr mit ihnen interagiert hatten. Und doch erfüllte sie die Nachricht ihres Todes mit einem Gruseln.
Iril lehnte sich an die Höhlenmauer und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Gefühle wallten in ihr auf, die sie nicht richtig zuzuordnen vermochte. Bilder von Graiah und Perith, einander anschreiend. Einander umarmend. Sie ins Bettlein bringend und sanft zudeckend. Auch sie hatte der Tod sich geholt. Zuerst Burmrit, und nun ihre Familie. Iril ließ einige Tränen fließen. Nichtsdestotrotz sprach sie fest:
„Was ... was war diese Sache mit Iolith, die alles auslöste? Wer oder was ist Iolith?“
Drak machte große Augen und schluckte.
„Oh ... öhm ... wie lange warst du denn nicht mehr in Kontakt mit Cavern? Iolith ist ... deine Schwester.“
Das war zu viel für Iril. Zum Glück lehnte sie bereits an der Stollenwand, denn jetzt musste sie sich erst einmal hinsetzen und tief durchatmen.
***
Drak war so lieb, die überwältigte Iril zum Abendessen einzuladen. Er bot ihr sogar an, sie am nächsten Tag zum Grab ihrer Eltern zu führen und ihr mehr von Iolith zu erzählen. Aber zunächst einmal knurrte sein Magen. Und er wollte mehr über die wilden Neuigkeiten aus dem Land erfahren. Auf zu seiner Familie.
Darks Wohnraum war wie diejenigen der meisten Tiefminen-Arbeiter grob in die Wand des eines breiten Querstollens gehauen. Seine Familie hatte daraus ein wirklich heimeliges Reich gemacht. Zahlreiche schmucke Laternen hingen von der Decke und erhellten auch die letzte Ecke des Raumes. Grünlich schimmernde Pflanzen waren in eigens dafür geschaffenen Löchern in den Wänden eingelassen und präsentierten ihre vielfarbigen Blüten. Elegante Wandteppiche schmückten den blanken Stein der Wände. Sie zeigten Menschen und Zwerge im und unter dem Gebirge, beim Fördern von Edelsteinen und Zurücktreiben von Kreaturen. Ein Teppich zeigte gar einen schwarzen Drachen, der von einem hochgewachsenen Helden mit einem blauen Schild konfrontiert wurde. Die sternförmigen Runen auf dem Schild kennzeichnete diesen eindeutig als den Sternenschild, den ersten der vier mächtigen Schilde aus uralter Zeit. Warum Drak wohl einen Menschen auf seinem Wandteppich abbildete?
Iril konnte sich nicht lange auf die Verzierung des Wohnraums konzentrieren, ehe sie auch schon zu Tisch gerufen wurde.
Draks Familie war außergewöhnlich groß, besonders für Zwerge. Zehn Kinder drängelten sich neben Iril, Drak und dessen Gemahlin Bairen an einem überlangen Esstisch, der nahtlos in den Steinboden überging. Wobei der Begriff „Kinder“ irreführend sein könnte. Viele der anwesenden Zwerge waren bereits lange erwachen. Groß, stark und rußverschmiert von der Arbeit in den Tiefminen. Einige sahen auch etwas herausgeputzter aus und legten klappernde Rüstungen ab, ehe sie sich zu Tisch begaben. Nur ein, zwei Anwesende waren wahrlich noch Kinder. Der jüngste musste gar noch mit Lätzchen essen und verschmierte vergnügt sowohl seinen eigenen kleinen Bart als auch das Gesicht einer älteren Schwester, die neben ihm saß, mit dem Essen, das eigentlich in seinen Magen gehörte.
Zu essen gab es den köstlichsten Waldpilz-Eintopf, den Iril je die Ehre hatte zu verspeisen. Doch konnte sie sich irgendwie nicht darauf konzentrieren. Zu sehr kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem zurück, was Drak ihr erzählt hatte. Wie ein Geschwür schlichen sich die Gedanken zu ihrer verlassenen Familie in ihren Geist und hinderten sie daran, das geniale Gericht zur Gänze zu genießen.
Sie hatte eine Schwester. Iolith hieß sie. Geboren war sie offenbar kurz, nachdem Iril nach Silberhall gezogen war. Niemand wusste, wo sie sich im Moment aufhielt. Iolith hatte sich ähnlich wie Iril mit ihren Eltern zerstritten und ihren eigenen Weg gesucht. Scheinbar hatte sie sich im Grauen Gebirge in eine Agren verliebt, welche die Schildzwerge und ihre unterirdischen Grabungen als Schandtaten an der Natur ansah. Ganz ungeachtet dessen, wie sehr die Zwerge bei der Erschaffung ihrer berühmten Bauten stets bemüht waren, im Einklang mit den natürlichen Felsformationen zu sein, wie zu Stein gewordene Echos der Natur.
Graiah und Perith hatten ihre zweite Tochter nicht auch noch verlieren wollen, und leider dadurch umso mehr davongetrieben. Eines Tages war an Ioliths Stelle ein Abschiedsbrief auf ihrem Kopfkissen gelegen. Keiner wusste genau, wo sie nun war. Keiner wollte es mehr so genau wissen.
Ein weiteres Geheimnis, das Iril eines Tages ergründen würde.
Sie liebte schließlich Geheimnisse.
***
Mitten ins Abendessen platzte eine aufgeregte Zwergin, welche ein aufgerissenes Stück Pergament schwang. Sie blieb verheißungsvoll grinsend im Eingang stehen.
„Habt ihr es schon gehört?“, ertönte ihre schallende Stimme. Alle Augen richteten sich auf sie.
„Spann uns nicht auf die Folter, Marun!“, rief einer der vielen Brüder und schlabberte seine Schüssel Waldpilzeintopf mit einem Schluck leer.
„Ein Goldstück darauf, dass der Drache tot ist!“, warf eine Schwester ein.
„Wie geht es Kram?“, fragte Drak angespannt. „Wie steht es um meinen Jungen?“
Iril hatte den Namen Kram schon gehört und konnte ihn nach einiger Überlegung einordnen. Ein Zwerg aus den Tiefminen und Held von Andor. Einer derjenigen, die den Dunklen Magier Varkur in den Tiefen der Mine aufgestöbert hatten, und somit einer der Gründe, weswegen Iril überhaupt erst hierher aufgebrochen war. Doch erst jetzt machte sie die langsam die Verbindung zwischen dieser Familie und Kram. Welch Zufall, dass sie ausgerechnet hier gelandet war. Oder war es etwa mehr als das? Konnte es sein, dass dieselbe Hilfsbereitschaft, mit der Draks Familie Iril zu sich eingeladen hatte, auch dieselbe war, weswegen Kram einer der wenigen Schildzwerge war, die sich um das Schicksal der Menschen kümmerten? Dank der er überhaupt zu einem Helden von Andor geworden war?
Einen Augenblick lang herrschte noch Stille. Dann wurden Irils Gedanken unterbrochen, als Marun freudig herausplatzte: „Der Drache ist tot! Kram hat ihn erlegt! Und gleich noch den verschleppten Prinzen gerettet! Heldenhaft. Es geht ihm gut. Sie feiern draußen im Rietland.“
Einen weiteren Augenblick lang herrschte wieder Stille. Dann brach der gesamte Tisch in Jubel aus. Die Anwesenden klopften einander auf den Rücken, jubelten, und prosteten einander mit Rachenputzer zu.
Schon leicht angetrunken erhob sich Draks Gemahlin Bairen und rief: „Ein Hoch auf unseren Sohn! Auf dass er bald wieder gesund zu uns zurückkehrt und uns von dieser Heldentat berichten kann!“. Marun rannte weiter, wohl, um die nächste Wohnung über die fröhliche Neuigkeit zu informieren. Drak rannte indes in den Lagerraum und holte ein Holzfass heraus, welches mit drei X angeschrieben war.
„Drachenfass Rachenputzer. Enorm starker Zwergenschnaps. Das trinken wir sonst nur zu Geburten und Beerdigungen. Doch welch bessere Gelegenheit gäbe es, das hier anzuzapfen, als einen Sieg über einen verfluchten Drachen zu feiern! Möge er der letzte gewesen sein!“
Erneut ertönte allgemeiner Jubel. Iril stimmte mit ein. Doch fühlte sie auch ein Stechen in ihrem Herzen. So fühlte es sich in einer Familie an. Und eine Familie hatte sie hier nicht mehr. Cavern war nicht mehr ihr Zuhause.