Aćh hatte den Hüter der Zeit noch nie persönlich gesehen, bloß von ihm gehört. Auf den ersten Blick sah er wie ein ganz gewöhnlicher Temm aus, ein kleines buckliges Männchen halt. Er trug einen hohen Turban, der seinen ohnehin schon überproportionierten Kopf noch viel größer erschienen lässt. Darunter lugten zwei verschmitzte Augen hervor. Der Blick aus diesen Augen wirkte auf Aćh, als würde der Hüter direkt in ihre Seele blicken.
„Wir sind uns noch nicht begegnet und doch kenne ich euch bereits“, sagte der Hüter mit krächzender Stimme. „Man nennt mich den Hüter der Zeit und dieser Aufgabe gehe ich nach. Und ich spüre, dass ich durch euch beide die Zeitlinie ganz besonders hüten kann.“
Aćh machte große Augen. Sie und Barz, sie beide waren besonders relevant für den Verlauf der Zeitlinie?!
Der Hüter der Zeit, vielleicht im Glauben, Aćh wolle seiner Aussage widersprechen, fuhr fort: „Da wirst du mir einfach glauben müssen. Ich nehme die Zeit anders war als ihr euch vorstellen könnt.“
Das hatte Aćh bereits gewusst und gedacht. Nichts läge ihr ferner, als dem Hüter nicht zu glauben. Dass er das nicht erkannte, bedeutete, dass er nicht allwissend war, ja, nicht einmal unfehlbar. Aber das hatte sie eigentlich schon gewusst. Der Hüter der Zeit erinnerte sich an die Zukunft, und sorgte dafür, dass sich die Zeitlinie möglichst wünschenswert entwickelte. Nicht mehr, nicht weniger.
„Verzeiht, dass wir Eure Zeit in Anspruch nehmen, und danke, dass Ihr...“, setzte Aćh an, doch der Hüter unterbrach sie.
„Verzeih mir, aber diese Unterredung wird kürzer dauern als diejenige mit der edlen Fürstin, und ist von ähnlicher Relevanz. Lassen wir das höfische Geplapper sein und fallen wir mit der Tür ins Haus. Was ist Euer Belangen?“
Aćh legte ihren Kopf schief: „Wisst Ihr das nicht bereits?“
Der Hüter gluckste: „Nun, selbst wenn mein Geist sich meiner Antwort bereits bewusst wäre, müsste die Frage nicht immer noch gestellt werden, damit ich mich an sie erinnern konnte, nicht?“
Was sollte denn das nun heißen? Nun, der Appell zur Eile fiel nicht auf taube Ohren. So sprach Aćh:
„Nun, wir sind auf der Suche nach meinen verschwundenen Feuertakuri, Turr. Barz hier... komm her, Barz! ... Barz hier hat sich irgendwie nach Tulgor teleportiert, von einem fernen Land namens... Andor? Seit seiner Ankunft hier ist Turr verschwunden, und wir wollten um Rat fragen kommen. Wo hält er sich auf?“
Ganz entgegen seiner ursprünglichen Bitte, ihre Unterredung kurz zu halten, lehnte sich der Hüter der Zeit zurück, schloss seine Augen und bewegte seine Lippen leise.
„Andor... Andor... ja, das sagt mir etwas. Andor, das Königreich hinter dem Kuolema. Ja, ich war sogar schon mal da.“
Aćh stockte: „Aber der Kuolema ist unüberquerbar. Die ganzen Geister und Dämonen. Keiner...“
„Ich sagte auch nichts davon, dass ich über die Berge gereist wäre. Die Dämonen der Berge wurden vor Urzeiten von den Temm ins Gestein zurückgetrieben und in die Täler des ewigen Eises verbannt. Wir wissen es besser, als dass wir es wagen würden, dort einzudringen. Doch es gibt andere Pfade zwischen Tulgor und Andor. Uralte, brüchige Stollen, die tief unter dem Kuolema hindurchführen. Die Wege wandeln sich stetig, und immer mehr schließen sich, doch hin und wieder öffnet sich eine Gelegenheit zur Durchreise. Früher schloss ich mich einst den reisenden Temm an. Wir unterquerten das Kuolema-Gebirge und gelangten in dieses fremde Land namens Andor. Ich half, wo ich konnte, und ich holte einen kleinen Feuertakuri ab, der sich im Land verirrt hatte. Wenn ich mich nicht irre, könnte dies gar derjenige Takuri sein, wegen dessen Verschollenheit ihr mich hier und heute aufsuchen kamt. Auf jeden Fall kehrte ich mit dem Takuri wieder hierhin zurück, und nahm meine Rolle als Hüter der Zeit auf der roten Pyramide wieder auf. Eine kurze Zeit danach erschütterte ein Beben den Kuolema und verschloss den Gang, den ich begangen hatte. Einer meiner Begleiter, Wrort, steckt sich heute immer noch in Andor fest. Doch bleiben solche unterirdischen Gänge nie bis in alle Ewigkeit verschlossen.“
Der Hüter der Zeit zwinkerte Aćh zu, welcher aktuell keine Antwort in den Sinn kommen wollte. Zu viele Informationen auf einmal hatte der Hüter ihr zu vermitteln versucht.
So wandte sich der Hüter der Zeit Barz zu, der wie üblich mit leerem Blick nebenan gestanden und an seiner neuen tulgorischen Kleidung herumgefingert hatte.
„Ronda tatt Hieron“, sprach der Hüter der Zeit. Während Aćh die Stirn runzelte und die fremden Worte zu verstehen versuchte, glänzten Barz‘ Augen auf.
***
„Du sprichst die Sprache der Bewahrer?!“, rief Barz freudig auf. Er war kein Meister der andorischen Sprache, doch waren die Bewahrer die engsten Handelspartner der Barbaren und so wurde ihre Sprache jedem reisenden Nomaden zumindest im Ansatz beigebracht.
Während kaum ein Bewahrer sich darum kümmerte, die Sprache der Barbarenstämme zu erlernen, die für sie nur die „wilden Völker des Ostens“ waren. Barz wusste, dass das Wort der Bewahrer für die Barbarenvölker eine negative Konnotation hatte. Und dass „barbarisch” dort beinahe eine Beleidigung war und für „roh“, „grausam“ und „unkultiviert“ stand. Barz hatte schon seit jeher seinen Kopf schütteln müssen über diese Tatsache. Er war ein stolzer Barbar. Ihre Kultur mochte anders sein als die der Bewahrer. Auf Thakkum wurde nur selten mit Gold gehandelt, öfters in Gütern und Dienstleistungen, was Handel mit den Bewahrern schwierig machten. Und die Barbaren mochten nicht so tief in die Vergangenheit zurückblicken können wie die Bewahrer. Doch sagte dies doch nichts aus über ihre Kultiviertheit, ja, ihren Wert als Personen.
Doch all dies brauchte ihn nun wahrlich nichts zu kümmern. Er konnte sich mit diesem mysteriösen Hüter der Zeit unterhalten. Endlich! Er räusperte sich eilig. Seine Sprache war ganz eingerostet in den letzten Tagen.
Barz hatte schon vor einigen Tagen am Stand der Sonne ablesen können, wo Osten und Westen, Norden und Süden lagen. Nun konnte dieser bucklige Wichtel ihm vielleicht auch verraten, in welcher Richtung Andor lag. Wo Nabib sich aufhielt. Und wie Barz in seine Heimat zurückkehren könnte.
Der Wichtel grinste und sprach schnell: „Ich spreche die Sprache der Bewahrer vermutlich besser als du. Man nennt mich den Hüter der Zeit, weil ich einen besonderen Blick auf die Zeitlinie habe. Ich erinnere mich nicht an das, was bereits geschehen ist, sondern an das, was erst noch kommt. Ich weiß, weil man es mir sagen wir, dass ich mich schon mal in Gesellschaft der Bewahrer befand, einige Jahrzehnte ist es her. Und ich sehe, dass ich mich erneut in der Gesellschaft der Bewahrer befinden werde.“
Barz schluckte seine Freude darüber hinunter, sich endlich wieder mit jemandem austauschen zu können. Aćh hatte ihm trotz der limitierten Kommunikationsmöglichkeiten eintrichtern können, was für eine wichtige Person dieser Hüter war. Und wenn er sich tatsächlich an die Zukunft zu erinnern vermochte, dann war das auch berechtigt. Ohne seine Gedanken lange zu sortieren, schwafelte Barz dutzende Fragen herunter:
„Oh, die Götter seien gepriesen! Wo sind wir hier? Wo liegt die große Steppe meiner Heimat von hier aus? Wo liegt Andor? Wo liegen die Grenzen Eures Wissens? Wie geht es Nabib? Werde ich meine Familie wiedersehen?“
„Immer mit der Ruhe!“, lachte der Hüter der Zeit, „Dann gucken wir uns doch mal diese Fragen eine nach der anderen an. Wo sind wir hier? Wir befinden uns hier in einem Land, das von seinen Einwohnern Tulgor genannt wird. Und es wird auch von den Andori so genannt werden, wenn sie erst einmal von seiner Existenz erfahren. Andor liegt im Osten von hier, gleich hinter dem riesigen Gebirge, deren Gipfel stets in den Wolken liegen. Und deine große Steppe liegt noch weitaus weiter östlich.“
Der Hüter der Zeit schloss seine Augen und runzelte seine Stirn, als versuche er angestrengt, sich an etwas zu erinnern.
„Ich glaube, die Andori nannten dieses Gebirge ‚Fahles Gebirge‘. Sagt dir das etwas?“
Das sagte Barz tatsächlich etwas. In den Briefen aus Andor hatten die invadierenden Barbaren etwas von den unglaublich hohen Bergen im Westen berichtet, dem Fahlen Gebirge eben. Und Barz erinnerte sich auch an die Geschichte, die dieser Feuerzauberer aus dem fernen Hadria ihm damals in Thakkum erzählt hatte:
„Dieser Phoenix war angeblich vor Generationen von einer Einsiedlerin gefunden worden, welche versucht hatte, ein unüberwindbares hohes Gebirge im Westen zu überwinden, dessen Gipfel stets in Wolken gehüllt waren. Manche munkelten gar, das Gebirge sei unendlich hoch, obwohl diese These anhand der endlichen Länge des Schattens des Gebirges natürlich unzweifelhaft widerlegt werden kann.“
Damit war es klar. Das Kuolema-Gebirge war das hohe Gebirge im Westen Andors. Als Barz versucht hatte, sich nach Andor zu teleportieren, hatte er sein Ziel um einiges überschossen. Und das vermutlich, weil dieser Takuri, Turr, gar nicht aus Andor gekommen war, sondern eben vom Nestbaum! Nun ergab alles Sinn.
Doch, ehe Barz sich vollständig darüber freuen konnte, dass er nun wusste, wo seine Heimat lag, fuhr der Hüter schon mit gerunzelter Stirn fort:
„Und wie geht es Nabib? Wer ist denn... Nabib... Nabib... lass mich überlegen... ja, ja, ihr beide werdet euch wiedersehen, nachdem du Andor erreicht hast. Es geht ihm gut. Er war krank? Eine Wunde. Ich glaube, da wird eine entzündete Wunde sein. Oder da war eine. Doch sie heilt gut, er verbrachte nur einige Zeit lang ohne Bewusstsein.“
„Ich werde ihn wiedersehen? Wann? Wie?“
„Oh, mit Zeitangaben war ich noch nie gut“, brummelte der Hüter der Zeit und kratzte sich an seiner breiten Nase.
„Viele Monate werden vergehen... Ein... zwei... ja, mehr als zwei Jahre.“
Der Hüter der Zeit streckte seine Hand mit zweieinhalb von vier Fingern ausgetreckt vor.
„Zwischen zwei und drei Jahren, dann wird etwas geschehen, was dir erlaubt, nach Andor zu reisen. Dort wird dich Nabib wiederfinden.“
Die Erleichterung ob Nabibs Überleben wich einem dumpfen Schrecken.
Zwei bis drei Jahre, bis er Nabib wiedersehen konnte?! Zwei bis drei Jahre, die er noch hier verbringen müsste?! Nicht, dass er es in Tulgor nicht mochte, aber das war einfach zu viel Zeit weit weg von seinen Geliebten und Bekannten. Barz langte sich an den Kopf und sank zu Boden.
Wie hatte er nur so unüberlegt sein können?! Mit einem Experimentierpulver umherzureisen, statt einfach mit den restlichen Barbaren nach Andor auszuziehen! Mit Mächten zu spielen, von denen er weniger verstand. Mit einer Pulvermischung, die er nun nicht mehr reproduzieren konnte, und die ihm vielleicht nicht mal nützte, selbst wenn er es könnte. Denn es gab keine Takuri mehr in Andor, zu denen er sich teleportieren könnte. Er saß hier fest.
***
Aćh sah Barz zu Boden sinken. Besorgt schielte sie zu ihm.
„Was habt Ihr ihm gesagt?“
„Das ist wohl an ihm, dir mitzuteilen, wenn er es denn will“, sprach der Hüter entschuldigend.
Verständnisvoll nickte Aćh und fragte:
„Was ist denn nun mit Turr? Was ist mit ihm geschehen? Können wir ihn finden? Wo können wir ihn finden?“
Sich am Kopf kratzend überlegte der Hüter der Zeit eine Zeit lang mit geschlossenen Augen. Dann hüpfte sein Kopf heftig auf und ab, als er endlich die erlösenden Worte sprach:
„Ja, ich glaube, mich zu erinnern. Du hast mir davon erzählt, wie ihr Turr wiedergefunden habt. Der Takuri verirrte sich wohl auf seinem Rückweg von Barz‘ Heimat nach Tulgor. Er landete dort, wo kein feuriges Wesen je sein sollte. Ihr beide werdet ihn finden in einer Schlucht hoch oben im Kuolema-Gebirge. Im ewigen Eis gleich hinter dem uralten Felsentor. Ihr Takuri-Hüter solltet irgendwo Aufzeichnungen haben darüber, wo sich das befindet.“
Aćh verpasste die Implikation, dass sie und der Hüter der Zeit sich eines Tages wiedersehen und ausgiebig unterhalten würden. Eine Vielzahl von Emotionen durchströmte sie, sowohl Freude über die Information als auch vor allem Sorge um Turr. Der Arme saß nun schon seit mehreren Tagen im ewigen Eis fest. Welche Tortur hatte er erlitten? Wie oft war er bereits erfroren?
Barz am Arm packend sprach Aćh: „Wir müssen zurück! Wir müssen sofort zurück – ins Kuolema-Gebirge!“
***
Die Rückreise von Agarb zum Nestbaum verlief ereignislos. Kein Sturmgeist überfiel das Hängeschiff. Das Wetter war großartig. Das Essen war gut. Die Aussicht war bombastisch.
So rasch wie möglich hatte Aćh Falken ausgesandt, damit die anderen Hüter bei ihrer Ankunft bereits alle bekannten Notizen und Karten zu den Schluchten des ewigen Eises und dem uralten Felsentor zusammengesucht hatten. Diesen Aufzeichnungen nach befand sich das Felsentor in der Nähe eines Waldes, am oberen Ende eines geschlängelten Pfades durch ein Meer aus Steinen den Berg hinauf. Diesem Pfad würden sie folgen.
Das Küken von Saarćhan wurde gemeinsam mit der kleinen Sabri am Nestbaum in Obhut gegeben. Barz trennte sich nur äußerst schweren Herzens von seiner Echse, doch meinte er, dass die Kälte der Berge der Kleinen alles andere als guttun würde. Sie würde ohnehin nur in eine Winterstarre fallen, wenn sie sie mitnähmen.
Aćh war zwar nicht überrascht, doch erfreut darüber, dass Barz sie bereitwillig auf ihrer Reise in den Kuolema begleiten würde. Klar, Turrs Verschwinden war seine Schuld, doch hätte er sich geradesogut von dieser Verantwortung drücken können wie alle anderen Takuri-Hüter am Nestbaum.
„Wenn der Hüter der Zeit meinte, dass ihr beide den Takuri zurückholen werdet, dann werdet ihr beide das tun müssen“, hatte Oma Òkôkó bestimmend gesprochen, „Der Kuolema ist tödlich, und wir können nicht für die Sicherheit weiterer Begleiter garantieren. Doch unsere Wünsche und Hoffnungen werden bei euch sein. Und die beste Bergsteigerausrüstung diesseits des Ozeans.“
Der Weg begann, wie so oft im Gebirge, mit einem weiten offenen Pfad, der mit zunehmender Höhe schmaler wurde. Es folgten steile Passagen und schmale Schluchten. Die beiden kamen gut voran und die Laune war den Umständen entsprechend prächtig. Je höher sie kamen, desto kühler und windiger wurde es. Jetzt waren sie froh um die schneefeste Ausrüstung, die sie am Nestbaum erhalten hatten. Aćh und Barz schlossen ihre Kleidung, so gut es ging, und zogen die Kapuzen ihrer Umhänge über ihre Köpfe.
Im Laufe des Aufstiegs nahm der Wind noch zu und die Temperatur sank stark ab. Sie waren an der Schneegrenze angekommen. Jetzt hieß es noch vorsichtiger sein, denn der Pfad war unter der Schneedecke nur zu erahnen. Während einer Rast setzte Schneefall ein. Mit noch enger zusammengebundenen Kapuzen bahnten sie sich ihren weiteren Weg durch den knietiefen Schnee, bis sie endlich das Felsentor erreichten.
Das legendäre Felsentor, hinter dem der Legende nach die Eis-Dämonen und Geister des Gebirges ihr Unheil trieben.
Bereits aus der Ferne sah das Tor gigantisch aus. Wie ein Torbogen spannte es sich über den Weg.
„Schau her, wir haben es geschafft!“, rief Aćh freudig und zeigte auf das Felsentor. Barz schüttelte nur seinen Kopf und deutete an eine Stelle zwischen ihrem Pfad und dem Tor, wo selbst durch das dichte Schneetreiben hindurch eine dunklere Stelle zu erkennen war.
Ein tiefer, gezackter, breiter Spalt trennte Aćh und Barz von dem Felsentor, hinter dem sich Turr laut dem Hüter der Zeit befand. So ein Spalt war auf keiner Karte eingezeichnet gewesen. Würden sie ihn überqueren können?
„Was tun?“, fragte Barz. Er zückte ein Seil und blickte Aćh fragend an.
„Wo willst du das befestigen?“
„Nicht. Springen. Tod. Gefahr.“
Aćh nickte ergeben.
„Gehen wir mal näher heran. Vielleicht finden wir irgendeinen Ort, an dem wir hinübersteigen können. Schlimmstenfalls nutzen wir dein Bannpulver, um ein bisschen Schnee in der Luft schweben zu lassen und darüberzusteigen...“
„Bannpulver nicht viel. Nicht so machen. Rutschen. Fallen. Tod.“
„Es funktioniert nicht so? Tja, du musst es wissen. Lass uns dennoch mal näher treten.“
Aćh und Barz schritten durch den tiefen Schnee so nahe an die Schlucht vor dem Felsentor, wie sie konnten. Von nahe sah das Tor noch beeindruckender aus. Es war nicht natürlichen Ursprungs. Auch wenn es auf den ersten Blick wie eine zufällige Felsenformation wirken mochte, erkannte Aćh von nahe zwei mächtige Säulen, die das Tor stützten.
Durch das Tor hindurch erblickten sie eine riesige glatte Eisfläche dahinter. Schimmerndes Weiß und kaltes Blau, soweit das Auge reichte. Das ewige Eis. Einst war es vielleicht ein See in einem komplexen System von tiefen Schluchten gewesen, doch nun war es eine legendäre Eismasse, die sich quer durch den Kuolema zog.
Während Jahrhunderte alte, verbleichte Karten noch angaben, dass das ewige Eis am Grunde des großflächigen Tals und tief hinter dem Felsentor lag, reichte die Eisfläche nun bis direkt ans Felsentor. Als hätte sie sich in den vergangenen Jahrhunderten stetig die Talhänge entlang ausgebreitet und wäre nur vom Felsentor aufgehalten worden.
Jahr um Jahr zogen wagemutige Jugendliche aus, um Wege durch die Berge zu finden. Niemand, der das ewige Eis erreicht hatte und weitergezogen war, kehrte je wieder zurück, um davon zu berichten. Und wenn die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings den Schnee an den felsigen Hängen schmolzen, gab ihnen das Gebirge die Toten zurück. Oft sprachen die Alten von Geistern und Dämonen, die in den Bergen hausten. Und auch Aćh, die eigentlich nicht viel von solchen Gruselgeschichten hielt, langte beinahe unbewusst an ihren Schwertgriff.
„Da!“, rief Barz, aufs Felsentor zeigend. Seine nackte Hand war bereits bläulich angelaufen. Er hätte Handschuhe anziehen sollen.
Aćh kniff ihre Augen zusammen und hatte ziemlich Mühe damit, durch die Schwaden fallender Schneeflocken hindurch zu erspähen, was Barz‘ Augen erkannt hatten.
Vor einer der beiden imposanten Säulen des Felsentors stand eine über und über mit Schnee und Eis bedeckte Statue einer Frau mit einem Schwert. Wie ein Wachposten wirkte sie. Es hätte Aćh nicht gewundert, wenn sie sich aus der Säule gelöst hätte und mit gezücktem Schwert auf sie und Barz zugekommen wäre.
Da löste sich die Frau aus der Säule, schüttelte ein wenig Schnee von sich und trat zwei Schritte zur Seite, doch stand sie immer noch auf der anderen Seite des Felsentors. Ihr Schwert hielt sie hingegen locker an ihrer Seite. Es war ebenso eisblau wie ihr Körper und ihre Kleidung. Was für ein Material war das?
Die Frau war tatsächlich keine Statue. Aber auch kein Mensch. Sie wirkte, aus wäre sie aus purem Schnee geformt. Aus ihren pupillenlosen Augen glühte ein weißes Licht. Und unter ihrem langen Haarschopf lugten zwei kurze Geweihe hervor.
„Ängstigt euch nicht, ich will euch kein Unheil“, sprach die Frau mit einer klirrenden Stimme. Sie zückte aus dem Schnee hinter sich einen mächtigen Eisblitz und warf ihn in die Schlucht zwischen ihr und den beiden Neuankömmlingen. Unter lautem Getöse wie von berstendem Eis wuchs unter Aćhs und Barz‘ staunenden Blicken ein Steg aus Eis. Ihr Weg zum Felsentor.
„Seid ihr hier, um diesen Feuervogel abzuholen?“, fragte die seltsame Frau
Aćh nickte, immer noch misstrauisch.
„Dann kommt und nehmt das elende Vieh mit!“, rief die Schneefrau, „Es schmilzt uns schon seit Tagen ein Loch ins ewige Eis!“
„Wer sein?“, fragte Barz nun, der von Aćh unbemerkt seinen Bogen gezückt hatte und ihn locker an seiner Seite hielt.
„Hui, jetzt macht mir mal keine Angst!“, rief die Schneefrau überspitzt, „Wir Eis-Dämonen halten nicht so viel aus, wie ihr wagemutigen Menschen immer meint.“
„Wer bist du?“, wiederholte Aćh Barz‘ Frage.
„Mein Name ist Nesdora, und ich bin eine einsame Bewohnerin des ewigen Eises. Eine der wenigen. Und möglicherweise die Einzige, die noch bei klarem Verstand ist. Die lange Zeit im Eis tut den wenigsten langfristig gut. Auch mir wird es nicht auf ewig guttun.“
Aćh ging in Gedanken die Geschichten über die Eis-Dämonen des Kuolema durch, die sie schon seit ihrer Kindheit vernommen hatte. Sie glaubte, sich daran zu erinnern, dass vor einem Jahrzehnt eine Tulgori namens Nes im Gebirge verschollen gegangen war. Und dass im Gegensatz zu den Leichen ihrer Begleiter die von Nes nie gefunden worden war.
Vorsichtig marschierte Aćh über die Eisbrücke auf die Fremde zu. Hinter ihr hörte sie Barz zunächst einen protestierenden Laut produzieren, ehe er ihr folgte.
Vorsichtig trat Aćh näher zum Felsentor. Nun konnte sie auch die kleinen Runenkritzeleien erkennen, die auf den Torsäulen zu sehen waren. Faszinierend.
„Sieh her, da hinten sitzt er, der elende Feuervogel“, zischte Nesdora und zeigte aufs ewige Eis hinaus. Kaum hundert Meter vom Felsentor entfernt war eine kleine Senke im Eis zu erkennen, in der etwas brannte.
Ja, das musste Turr sein! Von hier aus konnte sie nur eine kleine Gestalt in einer Wasserlache erkennen, die vor sich hin flackerte, doch passte dies so gut zur Prophezeiung des Hüters der Zeit. Der Arme! Nun war seine Rettung nur noch Schritte entfernt. Aćh setzte an, zu ihm zu rennen.
„Wartet!“, rief Nesdora, „Wenn ihr einfach so durch das Felsentor zu schreiten versucht, werdet ihr unsägliche Schmerzen erleiden. Es wurde einst von den Temm geschaffen, um unsere beiden Völker zu trennen. Hier, zieht diese Eiskristall-Ketten an. Sie gewähren euch Durchgang.“
Nesdora zog wie aus dem Nichts zwei durchscheinende Halsketten hinter ihrem Rücken hervor. An beiden hingen jeweils drei rautenförmige Eiskristalle, ähnlich zu den kleinen Aschedöschen, die Aćh an ihrer eigenen Halskette trug. Und als Aćhs Blick Nesdoras Hals streifte, erkannte sie, dass der dünne Umgang der Eis-Dämonin von einer identischen Eiskristallkette zusammengehalten wurde.
Nesdora holte aus und warf ihnen beiden je eine Eiskristallkette zu. Während Aćh die ihre mit einem Handschuh fing, fasste Barz die seine geschickt in einer nackten Hand auf.
„Huch! Kalt. Viel kalt.“, beschwerte er sich.
Nesdora verdrehte die Augen, doch wirkte die Geste irgendwie unnatürlich. Oder zumindest ungewohnt.
Mit klirrender Stimme fuhr sie fort: „Zieht die Ketten über euren Nacken, so, dass sie direkten Kontakt mit eurer Haut haben. Sonst hält die Magie im Tor euch für Eindringlinge und hält euch zurück. Oder Schlimmeres. Ich habe es zum Glück noch nie miterlebt.“
Barz tat wie geboten, öffnete seinen Wintermantel so weit, dass sein Hals entblößt wurde, und legte sich seine Eiskristallkette um. Oder besser gesagt, er versuchte es. Er trug bereits eine Kette mit zwei klobigen Ringen um seinen Hals, und diese kollidierten nun mit den Eiskristallen von Nesdoras Kette, welche deswegen nicht schön anliegen wollte. Frustriert riss Barz sich die Ringkette von seinem Hals und ließ selbige achtlos zu Boden fallen.
„Du auch“, mahnte Nesdora Aćh. Diese hatte bislang ihre Kette nur in ihrem Handschuh gehalten und tat nichts dergleichen. Ihr war die Situation nicht geheuer, auch wenn sie nicht in Worte zu fassen vermochte, warum.
Aćh warf einen Blick auf Nesdora, welche sie aus ausdruckslosen Augen anstarrte. Zurück zu Barz, welcher die Eiskristallkette an seinem Hals gerade rückte. Zurück zum Felsentor, dessen Säulen von zahlreichen Runen übersät waren. Zu Turr, welcher kaum hundert Meter davon entfernt am Boden saß und litt.
Dann schloss sie ihre Augen, und schritt energisch durchs Felsentor.
Keine unsäglichen Schmerzen überfielen sie.
Keine Magie hielt sie davon ab, hindurchzumarschieren.
Obwohl ihre Kette keinen Kontakt zu ihrer Haut hatte, hatte das Tor sie nicht aufgehalten.
Nesdora hatte gelogen.
Anschuldigend blickte Aćh die Eis-Dämonin an und schleuderte ihre Eiskristallkette demonstrativ zu Boden.
„Okay, das sieht jetzt böse aus...”, begann Nesdora, beschwichtigend ihre Hände hebend.
„Barz, zieh deine Kette aus!”, bellte Aćh, den Blick weiterhin auf Nesdora gerichtet.
Nesdora versuchte es erneut: „Es gibt eine ganz logische Erklärung. Ich habe euch nicht ganz angelogen. Und ich will euch nichts Böses.”
„Barz, deine Kette!”, rief Aćh erneut. Barz stand weiterhin reglos auf der anderen Seite des Felsentors und blickte sie an. Dann legte er seinen Kopf schief und sprach in gebrochenem Tulgor ganz unschuldig: „Nicht abnehmen wollen.”
Jetzt hatte Aćh aber genug. Sie langte zum goldenen Schwert, welches immer noch in seiner Scheide an ihrer Seite steckte.
Gleichzeitig geschahen zwei Dinge: Zum einen langte Barz hastig nach seinem Pulvergürtel. Zum anderen sprang Nesdora Aćh an und hinderte sie mit einem eiskalten Griff am Ziehen ihres goldenen Schwertes.
Nesdora hauchte aus. Eisiger Dampf schwallte aus ihrem Mund auf Aćhs Kleidung herunter und überzog sie mit einem Reif aus Forst. Aćh schrie verärgert auf, doch war ihre Kleidung natürlich am Nestbaum mit feuerfestem Sufarsaft überzogen worden. Was gegen das Feuer der Takuri isolierte, half auch gegen die Eiskälte des Kuolema.
Von Nesdoras Kälteangriff unbetroffen, ließ sich Aćh nach vorne fallen. Nesdora, welche darauf nicht vorbereitet gewesen war, stürzte in den Schnee und ließ Aćh los. Diese verpasste ihr einen Faustschlag und stolperte von ihr weg.
Erneut machte sich Aćh daran, ihr goldenes Schwert zu ziehen. Mit Blick auf Barz bemerkte sie jedoch, dass ihr kaum die Zeit dafür blieb. Barz hatte seinen grünen Bannpulversack ergriffen und rieb nun eine Prise des gefährlichen Materials in seiner Handfläche warm. Dabei blickte er starr auf Aćh. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Gleich würde er das Pulver werfen.
Mit einem mächtigen Schritt hopste Aćh zurück durchs Felsentor, weg von Nesdora und hin zu Barz, und packte dessen Faust mit ihren Handschuhen.
„Lass los, Barz“, redete sie ruhig auf ihn ein, „Ich bin es, Aćh! Ich bin nicht dein Feind. Diese Dämonin hat etwas mit dir gemacht, doch du kannst stärker sein als ihre Zauber!“
„Kenne dich. Aćh, Takuri-Hüterin“, keuchte Barz, „Nicht wünschen Kampf. Eis Hilfe. Siantari Hilfe.“
„Barz! Lass das Pulver fallen! Was soll das überhaupt heißen?“
„Bald. Bald verstehen.“
Einen Augenblick lang rangelten Aćh und Barz noch um das Bannpulver in seiner Faust. Im Geschüttel lösten sich einige Körnchen und gelangten in Aćhs Nase. Aćh kannte die Anzeichen ihrer Niesreizattacken gut genug, um zu wissen, was nun folgte, doch wusste nicht, wie sie hier und jetzt darauf reagieren sollte.
Nieser um Nieser schüttelte ihren Körper durch, und da sie Barz‘ Hand festzuhalten versuchte, auch diese. Aćh fühlte, wie ihr Barz‘ Pulverfaust entglitt, ja, wie sie selbige gar durch den Schwung eines Niesers schwungvoll irgendwohin stieß. Sie stolperte ängstlich zurück, während sie das inzwischen vertraute magische Knattern des sich entfaltenden Bannpulvers hörte.
Nachdem das letzte „Hatschi“ Aćhs Kopf durchgeschüttelt hatte, öffnete sie ihre Augen, in der Hoffnung, das Bannpulver möge sie selbst verfehlt haben.
Es hatte.
Vor ihre drehte und wand sich Barz und versuchte, vom Fleck zu gelangen. Doch seine Faust, welche vorhin eine Prise Bannpulver gehalten hatte, steckte wie angegossen in der Luft fest, die Finger weit gespreizt, von einem grünlichen Glühen umgeben. Egal, wie sehr sich Barz bemühte und den Rest seines Körpers bewegte, seine gebannte Faust regte sich kein bisschen und hielt ihn zurück.
Freilich konnte sich Aćh nicht lange darüber freuen. Barz war ihr noch nahe genug, dass er sie am Umgang packen und nach vorne ziehen konnte.
Ihr Kämpferinstinkt erwachte. Aćh ließ sich von Barz‘ Schwung mitziehen und stieß sich gerade rechtzeitig vom Boden ab, sodass ein gewöhnlicher Gegner von ihr mitgerissen und zu Boden geworfen worden wäre. Leider war Barz‘ gebannte Faust kein gewöhnlicher Gegner.
Sie stieß sich im richtigen Moment vom Boden ab und rollte über Barz hinweg, doch statt dass dieser zu Boden ging, ertönte ein grausiges Knirschgeräusch und Aćh wurde allein in den Schnee geschleudert.
Als sie hinter sich blickte, drehte sich ihr Magen um. Barz‘ Faust, weiterhin vom grünlichen Glühen des Bannpulvers umgeben, steckte weiterhin in der genau selben Position in der Luft fest. Der Rest von Barz‘ Körper befand sich nun allerdings in einem sehr unnatürlichen Winkel dazu. Barz‘ Unterarm sah aus, als hätte er neben seinem Ellbogen plötzlich ein zweites Gelenk entwickelt.
Es schmerzte Aćh bereits, Barz’ gebrochenen Arm so zu sehen. Dieser biss hingegen nur seine klappernden Zähne zusammen und ließ keinen Schmerzenslaut vernehmen.
Jetzt hatte Aćh endlich die Zeit, ihr goldenes Schwert zücken und auf Barz richten. Nicht, dass dies nun noch viel nützen würde. Sie blickte zurück zum Felsentor und erkannte mit Freude, dass Nesdora auf der anderen Seite stand und ihr bloß einen eisigen Blick zuwarf. Offenbar konnte die Eis-Dämonin das Felsentor nicht durchschreiten. Turr mochte noch nicht gerettet sein, doch die akute Gefahr war gebannt.
Da ertönte ein Ächzen hinter ihr. Aćh drehte sich zurück und erblickte, wie Barz mit seiner gesunden Hand einen violetten Stein in seinen Mund schob und darauf biss. Weiß der Himmel, woher er diesen Stein gezogen hatte. Es knackte, und als Barz seinen Mund wieder öffnete und den Stein ausspuckte, war dieser in mehrere spitze Splitter zerfallen. Von ihnen allen ging ein immer heller werdendes Licht aus, welches Aćh in den Augen schmerzte. Und wo diese Lichtstrahlen auf das hellgrüne Leuchten des Bannpulvers trafen, verschwand das grünliche Glimmen in der Luft. Das Bannpulver löste sich!
Barz‘ gebrochener Arm wurde nicht länger in der Luft gehalten, sondern fiel an seine Seite. Er war wieder frei. Und schon wieder griff er in ein Pulversäcklein. Was sollte sie tun? Sie konnte Barz doch nicht einfach abstechen!
Da dachte Aćh zurück an den Nixenstaub, das Barz ihr geschenkt hatte. Gegen einen starken Feind solle sie es einsetzen, um ihn zu schwächen, hatte Barz gesagt. Die Gelegenheit schien unglaublich passend. Sein eigenes Geschenk würde den von irgendeiner dämonischen Magie belegten Nomaden schwächen, auf dass Aćh ihm hoffentlich helfen konnte. Wie poetisch.
Sie griff an ihren Wintermantel und zückte das weiße Nixenstaub-Säcklein. Die Schnur war schnell geöffnet, und ebenso eine Prise des Pulvers ergriffen.
Barz blieb einfach nur stehen und blickte sie regungslos an.
Aćh pustete ihm den Nixenstaub ins Gesicht.
Barz grinste.
Urplötzlich knackte es in Aćhs Arm. Unsägliche Schmerzen strahlten ihn entlang. Das goldene Schwert entglitt ihr und stürzte – wie Aćh – selbst in den Schnee. Verkrampft hielt sie ihren Unterarm an ihren Körper, während es darin knirschte und schmerzte, als pulverisierten sich all ihre Armknochen. Ihr Gesichtsfeld verengte sich. Als sie zurück zu Barz blickte, erkannte sie, dass dessen gebrochener Arm auf einmal wieder ganz gerade und gesund aussah.
Bei den sieben Feuern des Himmels, was war soeben geschehen?!
Barz fackelte nicht lange, sondern stürzte sich auf Aćh und drückte sie zu Boden. Er ergriff Aćhs gesunden Arm, zerrte ihren Handschuh zur Seite und führte ihre Finger mit seinen eiskalten Händen zu seinem Hals. Dann presste er Aćhs Hand auf seine Eiskristallkette.
Sie war eiskalt.
Und noch so viel mehr.
***
Alle Wut und alle Sorgen, ja, sogar aller Schmerz aus ihrem gebrochenen Arm flossen aus Aćhdora wie aus einem löchrigen Sieb. Barzdur blickte ihr in die Augen. Sie verstanden einander.
Aćhdora fühlte, wie starke Magie aus den Eiskristallen von Barzdurs Kette seinen und ihren Körper einhüllten. Die magischen Kristalle waren der Ursprung von Barzdurs aktuellen Gedanken und seines Willens. Und nun waren sie auch der Ursprung von Aćhdoras Gedanken und Willen.
Plötzlich wurde Aćhdora bewusst, dass sie beobachtet wurde. Aus weiter Ferne spürte sie einen forschenden Geist auf sie blicken. Wie etwas Fremdes ihre Erinnerungen durchforschte und selbst welche mit ihr teilte.
Vor ihrem inneren Auge sah sie das Antlitz einer Frau, weiß und durchscheinend, langhaarig und gehörnt. Die Eis-Dämonin sprach, ohne ihren Mund zu öffnen, und ihre klirrende Stimme bohrte sich tief in Aćhdoras Geist.
„Ich bin Siantari. In den tiefen Schluchten des Kuolema scheint niemals die Sonne auf das ewige Eis, und dort ist mein Reich.“
Ihr wurde bewusst, als hätte sie es schon lange gewusst und sich erst jetzt wieder daran erinnert, dass Siantari nun schon seit beinahe 500 Jahren die Dämonin des ewigen Eises war, die über die schattigen Täler hinter dem Felsentor herrschte und das ewige Eis nährte. Und ihr wurde bewusst, dass das schlecht war. Sie wurde wie das ewige Eis im Kuolema eingesperrt, während es sich doch eigentlich über die gesamte Welt ausbreiten sollte. Glücklicherweise gab es nun sie und Barzdur.
Ja, Aćhdora und Barzdur befanden sich auf der anderen Seite des Felsentors. Sie waren frei. Wenn sie einige Stunden warteten, würden die Eiskristallketten auch ihre Körper erfrieren lassen und ihnen ein Leben als Eis-Dämonen schenken. 500 Jahre lang könnten sie so bestehen, bis auch ihre Schneekörper nicht mehr halten würden und sie einen Nachfolger für ihre Ketten zu finden hätten.
Aber das war in weiter Zukunft. Siantari hatte ein dringlicheres Problem. Ihr eigener Schneekörper war schon beinahe 500 Jahre alt. Lange würde er nicht mehr halten. Sie musste einen Nachfolger finden. Und Siantari wusste, dass die abenteuerlustigen Tulgori, die immer wieder dieses Gebirge zu erklimmen versuchen, nicht als Nachfolger taugten. Schwächliche Jungen, die meinten, das Eis der Berge würde sie zu Männern formen…
Glücklicherweise war es Siantari als erster Eis-Dämonin des Kuolema gelungen, Eiskristallketten zu formen und ihre Kräfte so auf weitere Menschen zu übertragen, ohne selbst zu vergehen. Leider hielt der schwächere Geist dieser neuen Eis-Dämonen die Einsamkeit des Gebirges kaum aus, und mit der Zeit wurden sie alle von einem Wahn befallen.
Doch Aćhdora und Barzdur befanden sich im Gegensatz zu den anderen Durs und Doras außerhalb des Felsentors. Sie konnten nach Tulgor zurückkehren und einen würdigen Nachfolger für Siantari finden. Vielleicht gar einen Temm, der wusste, wie man das Felsentor öffnete. Dann wäre es endlich soweit. Das Felsentor könnte sich öffnen. Siantari könnte wieder frei sein. Das ewige Eis könnte sich weiter ausbreiten. Die gesamten umliegenden Lande könnten in eine Eiswüste verwandelt werden.
Ja, Aćhdora und Barzdur waren bereit, in Siantaris Dienst zu treten. Vielleicht, wer weiß, würde ihnen außerhalb des Felsentors auch das Schicksal aller anderen Durs und Doras des Gebirges erspart blieben. Und selbst wenn sie eines Tages der Wahn befallen sollte, würde es das wert gewesen sein.
Alles war gut.
***
In diesem Augenblick wurde Aćh an ihrem langen roten Umhang nach hinten gerissen. Ihr Gesichtsfeld verfärbte sich schneeweiß, als sie über den verschneiten Boden rutschte und ihre Kapuze sich mit kaltem Nass füllte. Ihr Geist wurde wieder klar. Leider kehrten auch die pochenden Schmerzen in ihrem Arm zurück. Sie hatte Mühe, die Eindrücke der letzten Augenblicke einzusortieren. Und die Zeit drängte.
Nesdora rupfte weiterhin an Aćhs Umhang und näherte sich ihr langsam. Die Eis-Dämonin hatte die zweite Eiskristallkette in den Händen, die für Aćh bestimmt war. Offenbar hatte sie sie eingesammelt und hatte nun vor, sie Aćh aufzuzwingen. Doch hatte sie wohl nicht erkannt, dass Barz Aćh bereits erwischt hatte, und ihr nun ungewollt einen Moment der Klarheit geschenkt. Einen Moment, um sich zu wehren. Ihre Gedanken rasten.
Aćh lag gerade mitten unter dem Felsentor, ein bösartiger Barz zu ihrer Linken und eine nicht nette Nesdora zu ihrer Rechten. Doch war sie nicht allein. Sie hatte Turr! Noch mochte der Takuri keine Ahnung haben, dass sie hier war, doch würde er ihr sicherlich zu Hilfe kommen, wenn sie ihn rief. Warum hatte sie nicht früher an ihn gedacht?!
„Herjo! Turr, Herjo!“, brüllte Aćh aus voller Kehle. Irgendwie schaffte sie es, ihr Schwert zu packen und von Barz zurückzustolpern. Sie wankte durchs Felsentor auf Nesdoras Seite. Zum ewigen Eis hin. Und zu Turr. Mit Nesdora konnte sie es vielleicht selbst in diesem geschwächten Zustand aufnehmen, wenn sie nur die andere Eiskristallkette zerstören konnte. Um Barz würde sie sich später kümmern müssen.
Ein lautes Knattern ertönte hinter ihr. Als sie zurückblickte, sah sie, wie dutzender weiße Lichtkugeln vor Barz herumwirbelten und ihn zurückdrängten, während er unter großer Anstrengung vergeblich versuchte, das Felsentor zu durchschreiten. Wie vermutet ließ das Tor keine Eis-Dämonen durch, auch keine Angehenden.
Das hieß, dass sie nur noch mit Nesdora zu kämpfen hatte. Und sie war nicht allein.
Ein melodisches Kreischen kündigte Turrs Ankunft an. Der Takuri war schwach, und er schlidderte mehr übers Eis, als dass er darüber flog, doch bewegte er sich stetig auf Aćh und Nesdora zu.
Aćh und Nesdora hatten beide ihre jeweiligen Schwerter erhoben und hielten sie vorsichtig vor sich. Aćh versuchte, sich an die Kunst des Schwerttanzes zurückzuerinnern, doch sie war erschöpft und ihr dominanter Arm war gebrochen. So musste sie sich mit einigen uneleganten Schwüngen ihres Schwerts begnügen. Hauptsache, sie hielten Nesdora noch einige Momente von sich selbst weg. Einige Momente, bis...
Jetzt!
„Turr?! Advaria! Advaria meza!”
Aćh wartete nicht ab, zu sehen, ob Turr sie verstanden hatte. Sie drehte sich ab. Ein lautes Klatschen von goldenen Flügeln war zu hören. Eine Hitzewelle rauschte über Aćh hinweg. Als sie sich wieder zurückdrehte, drehte Turr stolz Kreise über einer am Boden zusammengekugelten, reglosen Eis-Dämonin. Turr sah größer und kräftiger aus als vor dem Kampf. Stichflammen flackerten über sein wunderschönes Gefieder.
Nesdora war vorerst ausgeknockt. Zeit, sich um Barz zu kümmern.
„Turr?! Kurjo!“, rief Aćh, und zeigte mit ihrem gesunden Arm auf Barz. Dieser hatte aufgehört, sich durchs Felsentor zu kämpfen versuchen, und starrte ausdruckslos auf Aćh. Sein Problem hatte mit diesen Eiskristallketten zu tun. Da war doch vernünftig, anzunehmen, dass man mit genügend Hitze Abhilfe schaffen konnte.
Turr ließ nicht lange auf sich warten, sondern stieß einen melodischen Ruf aus, breitete seine Schwingen aus und hielt rasend schnell auf Barz zu. Aćh humpelte ein wenig langsamer hinterher.
Doch auch Barz war nicht untätig. In Windeseile hatte er seinen Bogen erhoben, einen Pfeil aus seinem Köcher gezückt und angelegt. Dann zielte er. Aćh ließ sich zu Boden fallen und duckte sich hinter eine Schneewehe. Dann blickte sie panisch wieder auf, als ihr bewusst wurde, dass vermutlich nicht sie das Ziel war.
„Turr! Herjo! Nepom...“
Ein lautes Kreischen unterbrach ihren Ruf. Barz hatte seine Bogensehne losgelassen und den Pfeil abgeschossen. Turr, der nur noch weniger Meter von ihm entfernt gewesen war und sich wie ein Seeadler mit ausgestreckten Krallen auf ihn gestürzt hatte, wurde von Barz‘ Pfeil mitten in der Brust getroffen. Der Feuervogel schrie. Sein Schrei wurde von einem Knistern und Brodeln überdeckt. Rund um den Pfeil in seiner Brust brachen Flammen hervor und verzehrten seinen Körper. Doch während Turr starb und zu Asche verglühte, stürzte sein sich wild umherdrehender Körper weiterhin auf Barz zu.
Der Steppennomade blinzelte nicht einmal, während der sterbende Takuri ihm mit Höchstgeschwindigkeit ins Gesicht klatschte und es in einen Feuerball tauchte.
Aćh zwang ihren protestierenden Körper, sich aufzurichten und zu Barz zu stolpern. Ihren gebrochenen Arm an die Seite gepresst, humpelte sie so schnell sie konnte durchs Felsentor auf ihn zu.
Barz hatte seinen Bogen losgelassen und war zu Boden gestürzt. Sein Bart war angekokelt und seine Miene eine Maske der Furcht. Neben ihm lag ein halb geschmolzener Pfeil und ein unversehrtes, zitterndes Takuri-Küken in einem Häufchen Takuri-Asche, welches langsam ein Loch in den Schnee schmolz.
Aćh kniete auf Barz Brust nieder und hinderte den zappelnden Nomaden so am Aufstehen. Barz‘ Wintermantel war oben weiterhin so weit geöffnet, dass sie gut auf seinen Hals sehen konnte. Es sah alles andere als gut aus. Die Eiskristallkette klebte weiterhin wie angeleimt auf seiner Haut, und schlimmer noch, rund um die Kette hatte sich sein Hals bläulich-weiß verfärbt, als wäre er aus Eis geformt.
„Weg!“, hauchte Barz schwach, „Feuer... nicht Feuer... Takuri... weg!“
Sein Knie traf Aćhs Rücken, doch so leicht ließ sie sich nicht von ihm schubsen. Aćh langte neben Barz, unter das Turr-Küken, und ergriff mit ihrem Handschuh eine Handvoll glühender Takuri-Asche. Dann presste sie den feurigen Mischmasch auf Barz‘ Hals. Barz schrie auf und strampelte noch heftiger, doch sie ließ sie nicht ab.
Endlich wurde Barz still. Etwas knirschte. Als Aćh ihre Hand von seinem Hals ließ, war von der Eiskristallkette nichts mehr übrig außer dahinschmelzende Eissplitter. Barz‘ Hals sah übel aus, ein Mischmasch aus eisblauen Flecken und rötlichen Verbrennungen, doch seine Augen blickten wacher drein als zuvor.
„Geht es wieder?“, fragte Aćh vorsichtig. Barz murmelte etwas Unverständliches. Dass er sich nicht mehr wehrte, wertete Aćh als gutes Zeichen. Ihre eigene Ergebenheit gegenüber Siantari hatte ja auch aufgehört, sobald sie keinen direkten Kontakt mehr zur Eiskristallkette gehabt hatte. Alles war wieder gut.
Ächzend rollte Aćh von Barz runter, heulte auf vor lauter Schmerzen in ihrem gebrochenen Arm und tastete nach dem kleinen Turr. Mit großen Kugelaugen blickte das Küken sie an und wimmerte leise. Aćh steckte ihn in eine Tasche ihres Mantels, streichelte sein Gefieder und redete ihm gut zu.
„Gefahr!“, rief Barz.
Aćh blickte seinem ausgestreckten Finger entlang und erblickte Nesdora, die Eis-Dämonin, welche sich wieder aufgerichtet hatte und auf sie beide zuhumpelte. In einer Hand hielt sie ihr bläulich schimmerndes Eisschwert, die andere war leer.
Noch befanden sie sich auf der anderen Seite des Felsentors. Nesdora konnte sie technisch gesehen nicht erreichen. Sollten sie versuchen zu fliehen? Da manifestierte Nesdora wie aus dem Nichts einen gewaltigen Eisblitz in ihrer leeren Hand und hob diese, als wolle sie den Blitz auf Aćh und Barz schleudern. Davor konnten sie nicht wegrennen.
Doch das war auch nicht nötig. Barz, Wut in seinen Augen, griff in eine seiner Manteltaschen und zückte einen dunkelbraunen Beutel. Noch während Nesdora zum Wurf ausholte, öffnete er es und pustete Nesdora eine Wolke von etwas Goldenem entgegen, was für Aćh verdächtig nach zusammengescharrtem Sand der Temm aussah. Wie viel Sand hatte Barz am Nestbaum gesammelt?!
Auf jeden Fall schien es zu wirken, denn die Eis-Dämonin nieste, stolperte und rutschte auf der glatten Fläche des ewigen Eises nach vorne. Ihr Eisblitz fiel ihr aus der Hand und verdampfte, als hätte er nie existiert. Ihr Eisschwert schlidderte durchs Felsentor zu Aćh. Diese fackelte nicht lange, sondern packte das Schwert mit ihrer nichtdominanten Hand, schritt durchs Felsentor nach vorne und ließ das Schwert auf die Eis-Dämonin niedergehen.
Es schnitt glatt durch die Dämonin, wie ein warmes Messer durch Butter. Nur an der Eiskristallkette um ihren Hals blieb es kurz stecken, doch nach einem Ruck zersplitterte auch die Kette. Während der Kopf der Dämonin zur Seite rollte und mit dem Geweih an einer Säule des Felsentors stecken blieb, löste sich der Körper der Eis-Dämonin langsam in viele einzelne Eiskristalle auf. Fast schien es, als versinke sie im ewigen Eis.
Aćh verharrte noch einen Augenblick, um sicherzugehen, dass Nesdora sich nicht irgendwo um sich erneut manifestierte. Wer konnte schon so genau wissen, über welche Fähigkeiten diese Dämonen verfügte. Dann traf sie die Realisation.
„Ich... ich habe sie getötet“, flüsterte sie, „Sie... sie war doch nur...“
Barz hob Aćhs Schwert auf und verpasste Nesdoras Kopf einen verächtlichen Tritt, sodass auch dieser aufs ewige Eis rollte und sich darin auflöste. Er betastete mit einer Hand sorgfältig seinen wunden Hals, während er ihr mit der anderen Aćhs goldenes Schwert überreichte. Noch immer war dessen Oberfläche unzerkratzt.
Aćh fuhr mit einem zitternden Daumen über die Mondsichel über dem Schwertgriff und schob das Schwert dann wieder in seine Scheide.
Sie schaute ein weiteres Mal sorgsam nach dem kleinen Turr-Küken und stolperte dann aus dem Felsentor hinaus, dicht gefolgt von Barz. Nur weg von hier.
Als sie einen vorsichtigen Blick zurück auf die ewige Eisfläche warf, erstarrte sie. Eine großgewachsene Gestalt kam rasch auf sie zu. Sie lief nicht über das ewige Eis, sondern schwebte in einem Wirbel aus Nebel und Schnee, die Arme auf beiden Seiten ausgestreckt. Noch war nur ihre Silhouette am Horizont zu erkennen. Doch kam die Eis-Dämonin rasend schnell näher. Bald würde man ihren Kopf genau erkennen können, und Aćh hätte sich stark gewundert, wenn dort kein Geweih zu sehen wäre. Und ein Blick, so kalt, dass man meinte, sofort zu Eis zu erstarren.
Siantari. Die oberste Dämonin des ewigen Eises.
Eine Eiseskälte befiel ihre Glieder. In ihr breitete sich ein Gefühl zunehmender Erstarrung aus.
Ein Ruck fuhr durch Aćhs Körper, als Barz sie packte, umdrehte und weiterzog.
„Turr hier. Gehen, gehen, gehen, jetzt!“, intonierte er panisch.
Mit zusammengebissenen Zähnen drehte sich Aćh um und stolperte ebenfalls den Weg die Berge hinab.
Als sie einen letzten Blick zurückwarf, sah sie mit Erleichterung, dass auch Siantari vom Felsentor zurückgehalten wurde. Noch immer hatte diese ihre Arme ausgebreitet und gebot dem Sturm um sie herum, zu wüten. Eine Wolke aus Schnee und Kälte jagte den Berg hinab auf Aćh und Barz zu und hatte sie rasch eingehüllt. Hätte Barz nicht schon so Aćh gestützt, hätten sie einander verloren.
Dann brachen sie aus dem Sturm heraus ins Freie. Noch immer war es bitterkalt, doch jagte ihnen kein peitschender Wind mehr ins Gesicht. Siantaris Macht schien ihre Grenzen zu haben. Sie hatten es geschafft.
***
Etwas langsamer setzen Aćh und Barz ihren Weg zum Nestbaum zurück fort. Erleichtert, dass Aćhdora und Barzdur nun doch keine Realität würden.
„Verzeihung“, war alles, was Barz hervorbrachte, immer und immer wieder, „Verzeihung.“
Er tastete immer wieder nach seinem Hals und nach seinen Pulversäckchen, schien mit dem Ergebnis allerdings nicht zufrieden. Insbesondere hatte er keinen weiteren Nixenstaub mehr übrig.
„Nicht Nixenstaub geben sollen. Doch Gefahr. Viel Gefahr. Pulver Gefahr. Dumm. Dumm! Verzeihung.“
Aćh sah schon kommen, dass Barz sie nie wieder in die Nähe seiner Pulver lassen kommen würde. Nun, eigentlich störte sie das auch nicht zwingend. Ohnehin war nun vor allem wichtig, dass sie beide zum Nestbaum zurückkehrten, ehe sie erfroren. Und ehe ihnen die Nahrungsvorräte ausgingen.
Einmal blieb Barz abrupt stehen, als er nach seinem verletzten Hals langte und wohl erkannte, dass seine Ringkette immer noch fehlte. Die war nun wohl in Siantaris Gewahrsam. Er verzog sein Gesicht, schritt dann aber hastig weiter.
So humpelten Aćh und Barz den Berg hinunter. Die untergehende Sonne warf nur noch ein schwaches Licht auf das Aćh so wohlbekannte Land Tulgor. Sie betrachtete Turr in der Dämmerung. Noch immer kuschelte er sich schwach an ihre Seite, und nur ein leichtes Glimmen schimmerte über sein Gefieder. Nichtsdestotrotz wusste Aćh, dass das Leuchten seiner Federn ihr Licht sein würde in den dunklen Stunden, die vor ihnen lagen.
Bis zurück an den Nestbaum der Takuri schafften sie es vor dem Einbruch der Nacht nicht, und so suchten sie Schutz im erstbesten verlassenen Mineneingang. Barz fand eine kleine Holzkonstruktion, welche früher wohl mal einen Spiegel in sich verankert gehabt hatte, um das Licht des roten Mondes tiefer ins Gebirge zu lenken.
Mithilfe von Turrs Federn gelang es Aćh, das Konstrukt in Brand zu setzen. Dann ließ sie sich ächzend zu Boden sinken und umklammerte ihren gebrochenen Arm.
Barz blickte sie schuldbewusst an.
„Ich Wächter. Du Ruhe. Zukunft Baum Heiler“, sprach er ruhig, auch wenn Aćh nicht ganz klar war, ob er eher sie oder sich selbst beruhigen wollte. Es war egal. Schon bald hatte sich ihr unterkühlter Körper am Lagerfeuer etwas aufwärmen können, und trotz der stechenden Schmerzen in ihrem Arm sank sie bald darauf in einen unruhigen Schlaf.
***
„Nicht Gute Nacht! Nicht Gute Nacht! Gefahr!“, erklang Barz Stimme viel zu laut. Aćh schlug ihre Augen auf. Sie fröstelte. Ihr Arm pochte höllisch. Das Lagerfeuer war erloschen und ihre Decke war zur Seite gerutscht. Barz stand ein wenig von ihr entfernt und blickte angespannt ins Dunkel der Mine hinein. Laute Geräusche waren von dort zu hören, ein Schlurfen und Stampfen, ein Brabbeln und Lärmen. Lebewesen. Waren das Arpachen, Sporne, etwa gar Lumiwürmer? Das wäre alles NICHT gut!
Aćh stemmte sich in die Höhe und zückte ihre Steinflöte. Eine rasche Melodie und das Kommando „Kurjo!“ genügte, und schon schwirrte der kleine Turr den Gang entlang, tiefer in die Mine hinein.
Im schwachen goldenen Licht, das von seinem Gefieder ausging, erkannte Aćh eine Vielzahl bleicher Gestalten in rudimentärer Kleidung. Unter ihren langen Kapuzen lugten breitnasige Gesichter hervor. Höhlenwichte! Mindestens vier! Sie grabschten mit klammen Klauen nach dem vorbeifliegenden Turr, bekamen ihn aber nicht zu fassen.
„Menschenfresser! Mensch essen!“, rief Aćh.
Barz verstand, machte große Augen, zückte seinen Bogen und legte einen Pfeil an.
„Weg! Husch!“ rief er den Höhlenwichten zu. Turr war inzwischen wieder bei Aćh angelangt, weswegen die Wichte aktuell nur an ihren glänzenden Augen im Schatten zu erkennen waren.
Ein Schrei erklang hinter Aćh. Sie wirbelte herum und erblickte, wie Barz von zwei weiteren Höhlenwichten angesprungen und umgeworfen wurde. Vor dem Mineneingang befanden sich weitere Wichte. Ihr Ausgang war versperrt!
Während Barz mit den beiden Wichten auf ihm rang, schlidderte sein Bogen hinüber zu Aćh. Doch selbst mit zwei gesunden Armen hätte sie diesen nicht beherrscht. Fluchend zückte sie ihr goldenes Schwert und fuchtelte damit in Richtung der vier Höhlenwichte tiefer in der Mine. Diese sollten bloß nicht näherkommen.
Ein Höhlenwicht saß frech auf Barz‘ Brust, während ein anderer ihm nach den Augen klaubte. Barz wehrte sich vehement, doch ohne großen Erfolg. Die Wichte waren überraschend kräftig für ihr Aussehen.
Aćh humpelte näher und zog ihr goldenes Schwert dem einen Höhlenwicht über den Schädel. Dieser klappte zusammen, rollte von Barz runter und ein schwaches magisches Glitzern breitete sich über seinen Körper aus.
Ehe Aćh sich dem zweiten Höhlenwicht auf Barz zuwenden konnte, kündigte ein Schlurfen und wirres Brabbeln hinter ihr von der Ankunft der restlichen Höhlenwichte. Sie wandte sich ihnen zu und schwang ihr Schwert, trotz ihres protestierenden Arms.
Sie blickte Turr an. War er schon stark genug, wieder einen Angriff auszuführen?
Ehe sie Turr rufen konnte, wurde auch sie von kalten, feuchten Händen gepackt. Ein Höhlenwicht rang Aćh zu Boden. Sie schrie, sowohl wegen der Schmerzen als auch, um die Wichte zurückzuscheuchen. Mit aller Kraft versuchte sie, sich dem Griff zu entziehen. Erfolglos.
Ein einzelner Höhlenwicht schob sein grimmig grinsendes grün-graues Gesicht vor Aćhs und brabbelte etwas vor sich hin, das bei genauem Hinhören Wortfetzen sein könnten. Dann biss der Wicht ihr in die Nase.
Neben sich hörte sie Barz erneut verzweifelt aufschreien.
Sie waren geliefert.
Da erklang eine tonlose aber nicht unfreundliche Stimme in einem fremden Akzent: „Das Besetzen unserer Minen ist in diesen Landen nicht gern gesehen. Und nächtliche Überfälle erst recht nicht. Ich muss euch bitten, euch unverzüglich zu ergeben, Unruhestifter!“
Ein grünlicher Blitz zuckte durch den dunklen Stollen. Aćhs Gesichtsfeld wurde von blendend hellem Grün geblendet. Ein Hitzeschwall rauschte über sie hinweg. Der Höhlenwicht kreischte auf und ließ von ihrer Nase ab. Als ihre Sicht langsam wieder zurückkehrte, erkannte Aćh die Silhouette eines Menschen vor dem Höhleneingang. In seiner Hand glühte etwas Grünliches, von dem immer wieder Strahlen in Richtung der ins Dunkel der Mine zurückweichenden Höhlenwichte ausschlugen. Nur der von Aćh ausgeknockte Höhlenwicht blieb liegen, sowie der über Barz zappelnde, der sich immer noch labernd an sein Opfer klammerte.
Grünes Feuer.
Magisches Feuer.
Ein Hexer.
Der Hexer griff an seinen Gürtel, zückte ein Säcklein, öffnete es und streute ein hellblaues Pulver daraus über den strampelnden Höhlenwicht.
Der Höhlenwicht wankte und stöhnte, rollte von Barz runter und wandelte seine Gestalt, während magisches grünes Feuer rund um ihn herum aus dem Boden brach und sich um seine Gliedmaßen wand. Als das Feuer verschwand, lag da nicht mehr ein Höhlenwicht, sondern eine hässliche kleine Schuppenkreatur mit zwei Köpfen und Flossen anstelle von Gliedmaßen. Sie erinnerte an einen Sumpffisch. Und offenbar brauchte sie wie ein Fisch Wasser zum Atmen. Der verwandelte Höhlenwicht japste einige Male vergeblich nach Luft. Dann wurde sein Körper totenstill.
Barz hörte auch auf zu strampeln und hielt sich stöhnend seinen Magen. Zugleich blickte er jedoch staunend zum Hexer und dessen blauen Pulversäckchen hoch.
„In der Steppe Tulgors wächst ein besonderes Kraut, welches im Licht der aufgehenden Sonne in hellem Blau erstrahlt. Dessen getrocknete Blüten können zu einem Pulver zermahlen werden, welches neuen Mut verleiht und Feinde verwandeln kann“, erklärte der Hexer mit einer gelassenen Selbstverständlichkeit. Als wäre dies in der aktuellen Lage die wichtigste Information.
„Doch müssen wir Acht geben. Der Einsatz des Pulvers kann auch dafür sorgen, dass mehr Kreaturen auftauchen. Hexerei ist nun mal nicht komplett kontrollierbar, und jeder Einsatz kann ungewollte Konsequenzen zur Folge haben.“
Dann blickte der Hexer zum kleinen Takuri und meinte: „Nun, der wäre natürlich noch praktischer. Aus der Asche von Feuertakuri lässt sich ein Pulver erstellen, welches Kreaturen völlig verschwinden lassen kann. Zumindest eine Zeit lang.“
Barz blickte noch interessierter zu ihm hoch, auch wenn er wohl nur die Wörter „Takuri“ und natürlich „Pulver“ verstanden hatte.
Der Hexer blickte hinter sich und rief laut: „He, Leute, kommt euch ansehen, was ich gefunden habe.“
Rufe von anderen Menschen außerhalb der Mine wurden laut.
Dann streckte der Hexer Aćh und Barz seine Hände entgegen und half ihnen auf.
„Los, nichts wie ins Freie mit uns. Dieser Gegend wimmelt ohnehin nur so von Wichten. Wir haben schon vor Wochen den Stollen hier aufgegeben. Wir graben jetzt weiter westlich.“
„Danke. Vielen Dank, o Fremder“, war alles, was die beiden als Antwort herausbrachten.
„Ich bin doch kein Fremder“, grinste der Fremde schwach, „Mein Name ist Haamun und ich bin meines Zeichens Minenarbeiter in den hiesigen Mera-Minen.“
„Aćh, Takuri-Hüterin vom Nestbaum.“
„Letzteres hätte ich mir doch fast denken können, wenn ich mir den Takuri so ansehe.“
„Das ergibt natürlich Sinn! Nun, was tut Ihr hier, ‚Haamun‘? ‚Licht des Morgens‘, hä? Da können wir doch von Glück reden, dass Ihr nicht erst zum Sonnenaufgang erschienen seid, sonst wären wir beide wohl Geschichte.“
Haamun gluckste leise: „Das war kein Glück und auch kein Zufall. Zufälle sind sehr unwahrscheinlich. Nein, wir haben euer Lagerfeuer von weiter unten aus gesehen und gedacht, dass das Wichte anlocken könnte. Einfach so in einem Minengang zu nächtigen, ohne auf Gefahren zu achten, ist schon fahrlässig.“
Sein tadelnder Ton verschwand, als Haamun Aćhs gebrochenen Arm sah.
„Was suchtet ihr überhaupt hier? Alles in Ordnung mit euch?“
„Es könnte schlimmer sein“, meinte Aćh, „Wir suchten diesen Takuri, und wollen nun nur noch zurück an den Nestbaum. Das hier ist übrigens Barz, ein Fremder aus einem weit entfernten Land. Er spricht unsere Sprache kaum.“
Haamun nickte Barz höflich zu. Dieser starrte weiterhin fasziniert auf das Pulversäcklein an Haamuns Gürtel.
Während Haamun sie ins Freie geleitete, stießen weitere Minenarbeiter zu ihnen, die wissen wollten, was diese hirnverbrannten Reisenden denn in dieser Mine zu suchen hatten. Als der Suchtrupp vollständig war, begaben sie sich alle gemeinsam zum Lager der Minenarbeiter weiter westlich. Dort wurden Aćh und Barz verpflegt und verarztet, ehe sich alle Arbeiter um ein Lagerfeuer versammelten. Der Morgen war bald da, und manchmal war kein Schlaf bekanntlich besser als gar kein Schlaf.
Haamun entzündete das Lagerfeuer mit magischen Mitteln, doch brauchte er einige Versuche. Immer wieder schnippte er seine Hand gegen die Scheite und murmelte etwas vor sich hin, bis endlich ein grüner Funke übersprang. Erschöpfte sich seine Kraft mit der Zeit?
Barz rückte näher an Haamun und fragte interessiert: „Alle Minenarbeiter. Magie?“
Allgemeines Gelächter von den Arbeitern war zu vernehmen.
„Ich wünschte, es wäre so!“, rief eine Arbeiterin, „Stell dir vor, wir alle könnten derartig Kräfte führen. Aber unser Haamun hier ist etwas Besonderes. Seine Fähigkeiten sind so vielseitig wie unberechenbar. Und das ist nicht alles. Aus einem fernen fremden Land will er kommen, ja, gar den Kuolema allein überquert haben! Erzähl ihnen davon, Haamun!“
Haamun schüttelte seinen Kopf und meinte leise: „Das ist eine Geschichte für ein andermal. Ich denke nicht gerne daran zurück. Damals war ich noch nicht Haamun. Und ihr glaubt mir doch ohnehin nicht.“
„Vielleicht glauben wir dir schon“, warf Aćh ein, „Wir haben kürzlich einiges erlebt, was aus Legenden kommen könnte. Eine Eis-Dämonin wollte uns rekrutieren und Sturmgeist hat unser Hängeschiff angegriffen.“
Haamun grinste schief: „Ah, mit diesen Geistern kann ich auch nichts anfangen. Sie mögen meine Hexerei nicht. Glaubt mir, wegen ihres langen Lebens liegt ihnen Vergebung sehr lange fern.“
„Barz hier will auch aus einem weit entfernten Land stammen. Und wir haben soeben den Kuolema erklommen und das ewige Eis hinter dem Felsentor mit eigenen Augen gesehen. Wir würden dir vermutlich einige verrückte Geschichten glauben.“
„Ihr habt das Felsentor gesehen?“, fragte Haamun erstaunt, „Ich spürte damals bei meiner Überquerung des ewigen Eises einen dunklen Dämon, der mich aus seinem Versteck beobachtete. Und ich spürte mächtige Magie über dem Felsentor liegen, als ich daran vorbeischritt. Es schien irgendetwas dahinter einzusperren. Und die Wolken, die das ewige Eis stets in Schatten hüllen, werden von einer Magie festgehalten, an der die Spuren der Drachen hing. Ich war froh darüber, das ewige Eis hinter mir gelassen zu haben. Magische Flammen an meiner Seite hin oder her, diese Schluchten jagen mir einen Schauer ein.“
Barz murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann, als wäre ihm plötzlich ein Licht aufgegangen, wandte er sich erneut an Haamun: „Du sagen was Land du kommen?”
Haamuns vom grünlichen Licht gruselig beleuchtetes Grinsen erstarb, als der Hexer tonlos flüsterte: „Ich stamme aus Andor.”
Barz klatschte triumphierend in seine Hände.
Aćh zog ihre Augenbraue hoch.
Turr gurrte.