Halle des Ältestenrats, 61 a.Z.„Der Ältestenrat versinkt doch ohnehin im Chaos!“, warf der grantige Kord ein, welcher sich einen Hut mit Krempe über die Stirn gezogen hatte und locker auf einem Stuhl in der Ecke fläzte. Nun saß er auf und sprach mürrisch. „Ihr redet und redet, dabei habt ihr schon längst eine Entscheidung getroffen. Trieest ist in den Augen des Ältestenrats schuldig. Als Strafe wird er so lange von Danwar verbannt, bis er einen Prozess des Wandels hinter sich gebracht hat. Durch diesen Prozess wird ihn ein Lavastein der Feuerkrieger leiten, den Trieest stets als Bürde mit sich tragen soll.“
Die aufmüpfige Freiga setzte zum Sprechen an, wurde aber prompt von Kord unterbrochen: „Das ist keine Belohnung, du rachesüchtige Huschel, es wird sich für ihn jedenfalls nicht so anfühlen. Jeder Lavastein ist eine schwere Bürde, selbst wenn er nur halb so groß ist wie das Glühende Herz des Flammenden Gottes. Und nicht alle Feuerkrieger klagen so selten wie die stoischen Glutträger.“
Die Älteste Rowinda versuchte das Wort an sich zu reißen, wurde aber ebenfalls von Kord unterbrochen: „Ich habe es vorausgesehen. Der Orden der Feuerkrieger wird Trieest nur allzu gerne mit Schwert und Rüstung ausstatten. Kein Vergleich damit, was es kosten würde, ihn weiterhin durchzufüttern. Und zumindest die Rüstung braucht es, damit der Lavastein halten kann. Oder ist dem etwa nicht so?“
Kord blickte vielsagend zur Leiterin der Feuerkrieger. Diese machte sich nicht einmal die Mühe, zu nicken. Der grantige Kord war mit dem zweiten Gesicht ausgestattet. Wenn er etwas sagte, so stimmte es immer. Oder zumindest meistens.
***
Sieben Jahre später.Es war warm, als Jarid langsam wieder zu Bewusstsein kam. Als sich ihr Drachengewand aus dem Brunnenwasser schälte und ihr Körper sich darin rematerialisierte. Wie üblich fühlte Jarid die große Erschöpfung durch die Unmenge an Konzentration, die sie hatte aufwenden müssen, um durch die Wasserfläche zu tunneln – nur noch erschwert durch ihren lädierten Zustand und die Tatsache, dass das Regenwasser, das sich in der Tiefe der Zeltkuhle gesammelt hatte, kaum vom matschigen Untergrund hatte unterscheiden lassen. Sie versuchte, so viel Energie wie möglich aus dem Wasser zu ziehen, ehe sie mit ihm uneins wurde, aber anders als üblich konnte sie ihren Körper dadurch kaum sinnvoll stärken.
Um Jarid herum brodelte und dampfte es, als sie sich aus dem Brunnen hievte und zu Boden fallen ließ. Sie hatte sich bloß darauf konzentriert, möglichst weit weg vom Lager der Skrale zu landen ... verflixt, wo lag sie denn nun?
Langsam erkannte Jarid, dass sie sich auf einem Dorfplatz befand. Eine Reihe von Bauernhütten umgaben den dampfenden Brunnen. Die meisten Bauernkaten waren neu gebaut und in ganz passablem Zustand. Einige andere waren verfallen, bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Hier war ein großes Unglück vorgefallen, doch sah es aus, als wäre dies schon ein Jahrzehnt her.
Ein kleiner Junge rannte über den Platz und starrte sie mit großen Augen an, wie Jarid zitternd neben dem immer noch dampfenden und zischenden Brunnen zu Boden sank. Jetzt war es ihre Brust und nicht wie üblich Trieests, die schmerzte, als würde sie in Flammen stehen. Sie griff sich daran und tastete die Wunde ab, die das Rankenschwert verursacht hatte.
„Heiler“, krächzte Jarid zum Jungen, „Ich brauche einen Heiler!“
Der kleine Junge stand immer noch da und starrte sie mit großen Augen an.
„Ich bin verletzt!“, hauchte sie, „Bitte, hole Hilfe. Wo sind deine Eltern?“
Endlich drehte sich der Junge auf und rannte davon, in den nächstgelegenen Schuppen hinein. Jarid konnte nur hoffen, dass er tatsächlich Hilfe holte.
Als der Junge zurückkehrte, hatte er leider keinen Heiler im Schlepptau. Und auch keinen Erwachsenen. Wo befanden sich denn alle? Feldarbeit, Ratsversammlungen, die kommende Gedenkfeier an der Rietburg? Immerhin trug der Junge nun eine kleine Schiefertafel bei sich. In deren Oberfläche eingeritzt erkannte Jarid die Schriftzeichen der andorischen Sprache.
Der Junge deutete kopfschüttelnd auf seine Ohren, dann hielt er Jarid die Tafel hin. Jarid vermochte es, die ersten sieben Buchstaben des Wortes ‚Hilfe‘ zu buchstabieren und auf die blutige Stichwunde in ihrem Unterleib zu deuten, die sich schon wieder geöffnet hatte und den dunklen Fleck auf ihrem Kleid vergrößerte.
Verständig leuchteten die Augen des Jungen kurz auf, ehe sie gleich wieder von Sorge verdunkelt wurden. Er packte Jarid an der Hand und führte sie stolpernd mit sich mit. Weg von dem Brunnen, aus dem sie gekommen war, weg aus dem kleinen Dörfchen. Gemeinsam streiften Junge und Jarid durch goldenes Rietgras.
Diese Gegend kam Jarid bekannt vor. In der Ferne sah sie Rauch am Himmel aufsteigen, und darunter erkannte sie die sichere Taverne zum Trunkenen Troll, wie sie vor dem Südlichen Wald stand. Erleichterung machte sich in Jarid breit. Sie wusste nun, wo sie sich befand. Als sie allerdings strikt auf die Taverne zuzuhalten versuchte, schüttelte der taube Junge entschieden den Kopf und zog sie nach Westen, in den Südlichen Wald hinein. Verwirrt folgte Jarid ihm.
Hin und wieder blieb der kleine Andori stehen und blickte sich angestrengt im Wald um. Dann erkannte er wohl plötzlich das, wonach er gesucht hatte, und zog Jarid weiter mit sich. Diese vermochte nicht zu erkennen, ob er einer Art Wegweisern oder einer willkürlichen Laune folgte, und war somit alles andere als glücklich. Ihre Bauchwunde pochte immer stärker und sich im Südlichen Wald zu verlaufen würde ihr sicher nicht helfen. Einzig für die Kräuterhexe Reka oder jemand mit ähnlich geschickten Kräuterkenntnissen würde sie bereitwillig einen solchen Umweg machen, aber Reka hielt sich eigentlich so gut wie nie in diesem Wald auf. Ein unbekannter Schrecken lauere hier, hatte Reka beide Male erwidert, als Jarid sie danach gefragt hatte.
Schon war Jarid kurz davor, sich einfach weiterzugehen zu weigern und den Jungen zu bitten, sie zur sicheren Taverne zurückzuführen, oder schlichtweg den Jungen stehen zu lassen und selbst diese Richtung einzuschlagen, da erkannte sie zwischen zwei Bäumen etwas, das das Ziel des Jungen sein könnte: Eine kleine Hütte in einer vom Sonnenlicht beschienenen Waldlichtung. Wahrlich wundersam, führte doch kein Weg durchs Unterholz zu ihr. Ein großer Apfelbaum schien gar in die Hütte eingewachsen zu sein – oder die Hütte um ihn herum gebaut. Wer hier wohl lebte?
Der Junge trat an die Tür, nickte Jarid beruhigend zu und hob seine Hand.
Klopf. Klopfklopf. Klopf. Eine ganz bestimmte Reihenfolge. Vielleicht ein Signal?
Stille.
Dann ... Schritte.
Die Tür zur Hütte wurde aufgerissen. Im Türrahmen stand ein Mensch mit einer langen Nase, einer längeren Zipfelmütze und einem noch längeren blauen Mantel. In seiner Hand hielt er ein seltsames gläsernes Gefäß mit einer grünlich dampfenden Flüssigkeit darin. Sie roch süßlich.
Der Mensch sah überraschend lang relativ verdattert drein, winkte dann dem Jungen zu und meinte dann: „Hallo, Soraf. Hallo, mysteriöse Blaugewandte.“
Er verstummte wieder und stellte sein gläsernes Gefäß auf ein kleines Brettchen neben der Tür, auf irgendeine Reaktion wartend.
Der Junge blickte fordernd zu Jarid zurück. Diese verstand den Wink und meinte: „Grün sind die Wogen ... ich meine, guten Tag, werter Herr. Ich wurde von einem Schwert am Bauch verwundet und brauche einen Heiler. Dieser Junge hat mich hierher gebracht. Könnt ihr mir helfen?“
„Grün sind die Wogen der Wellen“, meinte der Mensch, ehe er überrascht und mehr an sich selbst als an Jarid gewandt anhängte: „Eine Danware? Eine danwarische Wassermagierin, so weit weg von der Insel? Ungewöhnlich, äußerst ungewöhnlich.“
Jarids Bauch meldete sich mit einem stechenden Schmerz, und Jarid stöhnte auf. Der Mensch zuckte zusammen und meinte: „Verzeiht. Ich weiß auch nicht, warum Soraf meint, ich könnte Euch behilflich sein. Heilkunde ist wirklich nicht mein Ding, ich bin eigentlich eher im Geschäft von ... explosiveren Tränken.“
Ein leises kicherndes „Hihihihihihihihihihihihihihihihihihihihihihihi“ entschlüpfte ihm, ehe er sich wieder fing und Jarid beruhigender zusprach: „Ich kann auch ganz passable Gegengifte brauen. Ihr wurdet nicht zufälligerweise von einer Vypera gebissen? Nein, nein, ist schon gut, das ist besser so. Nur die Bauchwunde? Ach, ich werde sicherlich sehen, was ich für Euch tun kann. Kommt herein, kommt herein, Ihr solltet Euch hinlegen. Es ist gefährlich, im Stehen das Bewusstsein zu verlieren.“
Der Fremde wandte sich Soraf zu und warf ihm eine Goldmünze entgegen, ehe er rasch einige Handzeichen mit ihm austauschte. Soraf nahm die Münze entgegen und spazierte wieder davon.
Und Jarid betrat wie angeleitet die eigenartige Hütte. Die Wände waren überstellt mit Regalen voller Tränke und Salben, Basteleien und Zeichnungen und Skizzen, so vieles angefangen, so wenig fertig gestellt. Der Trankmeister eilte umher, hantierte indes fahrig an einigen Phiolen in einer Kiste herum, ließ die Kiste dann zufallen und rannte zu Jarid zurück:
„Wartet, lasst mich kurz diesen Tisch frei räumen, und dann könnt Ihr Euch darauf hinlegen. Ja, genau da. Bequem? Nein, natürlich nicht. Ich hole gleich ein Kissen. Ich muss vorher nur kurz in mein Kämmerchen, einige Kräutersäfte holen. Soll ich ein Glas Wasser bringen? Ich weiß ja nie, was ihr Wassermagier damit so anstellen könnt. Nein? Sicher nicht? Wäre auch zum Trinken sehr gut, das kann die Lebensgeister ungemein erfrischen. Oder wollt Ihr etwas Tee? Ich danke tagtäglich meinen TeeSIEBEN, dass sie mich mit wundervollen Getränken beschenken. Ach herrje, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Naraven ist mein Name. Was meint Ihr, wirke ich wie ein Gelehrter oder Alchemist oder aber gehöre ich einem geheimen Orden von Hexern an? Mittleres stimmt, ich bin meines Zeichens danwarischer Alchemist. Mein Name lautet Naraven. Und wie lautet Eurer?“
„Jarid Morgentau, Wassermagierin des ...“
Naraven rauschte so schnell aus dem Raum, dass Jarid sich nicht sicher war, ob er ihre Antwort überhaupt mitgekriegt hatte. Ächzend ließ sie sich wieder auf den Holztisch niedersinken. Der Raum begann bereits damit, sich leicht um sie zu drehen. Sie unterdrückte den Schwindel und konzentrierte sich auf ihre Umgebung.
Das Innere von Naravens Hütte war von einem warmen Kaminfeuer erleuchtet und sah unglaublich gemütlich aus. Am Boden vor dem Kamin erkannte sie einen waschechten tulgorischen Teppich – wertvolle Ware war das!
Zahlreiche Papiere und Pergamente waren über die sie umgebenden Regale und Tische verteilt. Das waren aber nicht alle Schriftstücke in diesem Raum. Besonders auffällig waren verschiedene schwarze Schiefertafeln mit eingeritzten Schriftzeichen, die zum Teil an die Wände gehängt waren und zum Teil in instabil hohen Stapeln in die Regale gequetscht worden waren. Solche Tafeln würde Jarid im Schlaf wiedererkennen, das waren danwarische Schriftzeichen auf feuersicheren danwarischen Steintafeln. Eine davon konnte sie gerade noch entziffern, sie handelte von ... wackeren Bauern, die Gorfleisch vertilgten? Etwas daran kam Jarid bekannt vor, doch konnte sie es in ihren müden Zustand nicht einordnen.
Die danwarischen Schriftzeichen verschwammen vor ihren Augen, doch ihr Inhalt war auch nicht so relevant. Wichtiger war, dass dieser Naraven war also wirklich ein danwarischer Alchemist zu sein schien. Es war natürlich ungewöhnlich, dass ein Danware von Zuhause aufbrach, aber längst nicht so ungewöhnlich für gewöhnliche Bewohner, wie es für Feuerkrieger oder Wassermagier war. Vielleicht hatte er in der weiten Welt nach Abenteuern gesucht und sich dann hier niedergelassen? An Kundschaft würde es ihm nicht mangeln, aber warum hätte er seine Hütte dann so abgelegen im Wald gebaut? Einen großen Ruf konnte er nicht haben, sonst hätte Jarid ihn doch sicherlich bereits vernommen.
„Da bin ich wieder“, erklang die quiekende Stimme des Alchemisten. Er stolperte zur Tür hinein und verteilte eine Vielzahl an Kräutern, Döschen, Säckchen und einem einzelnen großen Kissen vor sich. Das Kissen schob er unter Jarids Kopf – es duftete nach nassem Fell, vielleicht von einem Hund? – und den Rest hievte Naraven unzeremoniell neben die liegende Jarid, ehe er sich die Hände rieb und verkündete: „So! Zeit, sich diese Wunde anzuschauen! Auweia, da ist ein Austrittsloch auf der anderen Seite. Das ist schon einmal ganz schlecht. Das wird keine RoutiNEUNtersuchung. Doch fürchtet Euch nicht, “
Naraven mochte ein quirliger Kerl sein, und er strahlte ganz und gar nicht die Selbstsicherheit aus, die Jarid von Reka oder Larissa gewöhnt war, aber nach kurzer Zeit fühlte sich Jarid auch in seiner Behandlung relativ sicher. Das, oder die Erlebnisse der vergangenen Tage holten sie endlich gemeinsam mit der Müdigkeit ein. Es fiel ihr immer schwerer, ihre Augen offen zu halten.
Naraven versicherte ihr, dass er vermutete, dass das kein schlechtes Zeichen war. Sie war schließlich müde, und die Kräuter und Pulver konnten im Schlafe ohnehin eine stärkere Wirkung entfalten. So schlug Jarid ihre Augen zu und ließ sich völlig erschöpft in die Dunkelheit sinken. Hin und wieder vernahm sie, wie aus weiter Ferne, ein Klirren eines Glasbehälters oder der stechende Geruch eines Krätuersuds. Dann holte sie der Schlaf wieder ein.
Und mit dem Schlaf kamen Träume aus ihrer Vergangenheit.
***
Unruhig tigerte Jarid vor dem Steinkreis auf und ab. Trieest lag auf einem verwitterten Steinquader und atmete flach. Links und rechts von ihn standen Meister Lifornus, ein sehr mächtiger Zauberer des Feuers, sowie dessen ehemalige Schülerin Tenaya, eine Wächterin des Feuers, die sehr deutlich ausgedrückt hatte, dass nicht mehr einem Zauberorden angehörte. Der kleine Flederfuchs Flaps flatterte fröhlich um sie herum. Trieest atmete immer unregelmäßiger. Jarid haderte mit sich selbst, ob sie die Untersuchung unterbrechen sollte.
Dies war die Stätte der heiligen Flammen, und Mitglieder aller drei Barbaren-Stämme versammelten sich zu bestimmten Zeiten hier, um in die Bruderfeuer zu vereinen und in den Flammen Visionen der Zukunft zu erhalten. Doch ob sie hier wirklich mehr über Trieests Lavastein erfahren konnten? Lifornus war doch vor allem hier, weil er die Stätte untersuchen wollte, und half ihnen bloß, weil Tenaya ihn darum gebeten hatte.
Trieest brüllte kurz auf. Der Lavastein in seiner Brust brüllte flammend mit und sandte einen kreisrunden Reif aus Feuer um Trieest herum. Tenaya lenkte den Feuerstrom sicher ab. Meister Lifornus schnalzte kopfschüttelnd mit seiner Zunge und legte Trieest beruhigend die Hand auf die Schulter.
Dies war ein totes Ende. Trieest würde auch hier nicht seinen Prozess des Wandels beenden können, das wusste Jarid. Und diese Feuerzauberer waren ratlos. Oh, wenn sie nur Trieest beruhigen könnte, was seine Zukunft anging. Doch wusste sie nicht, was diese beinhielt. Wenn nicht einmal die Feuerzauberer aushelfen konnten, musste dieser elende unzerstörbare Stein in seiner Brust davon überzeugt werden, Trieest sein zu lassen. Und der Stein ließ nicht mit sich sprechen. Jarid fluchte.
Der Traum wandelte sich.
Jarid quetschte sich an einer großen Türsteherin mit dunkelgrüner Haut vorbei in den schummrigen Schankraum. Ihre Informantin wiederholte besorgt ihre Anweisungen: „Blicke ihr nicht ins Gesicht. Mache keine hastigen Bewegungen. Trage ruhig und deutlich deine Wünsche vor. Nimm ihren Preis an oder nicht. Dann gehe wieder. Keine unnötigen Konversationen, keine Fragen. So kommst du unversehrt davon.“
Jarid versicherte ihr, dass sie wisse, was sie tue. Sie tat es nicht. So oft musste sie Leuten versichern, dass sie wüsste, was abging, obwohl sie es nicht tat, insbesondere Trieest gegenüber. Trieest, der aktuell in irgendeiner Düne in der Roten Wüste Tulgors verdurstete.
Sorgsam trat Jarid vor die kleine Temm. Diese hatte ihren kahlen Kopf unter einer Kapuze verborgen und saß in einer dunklen Ecke des Schankraumes, neben ihr eine großgewachsene Temm in einem langen Mantel, die die Arme verschränkt hielt. Eine Wache?
Die kleine Temm war nur unter dem Decknamen Trortra bekannt. Wenige Jahrzehnte alt, beinahe noch ein Kind für eine Temm, und doch bereits eine legendäre Schmugglerin. Sie konnte angeblich jede Information beschaffen. Da der tulgorische Hüter der Zeit aus Tulgor fortgereist war, war Trortra laut Jarids Informantin ihre beste Hoffnung. Jarid hoffte, dass sie übernatürliche Wege hatte, ihr Wissen zu erlangen. Ein zweites Gesicht oder so. Nur so konnte sie darauf hoffen, Trieest rechtzeitig wiederzufinden.
Jarid trat an ihren Tisch und räusperte sich. Keine Reaktion, weder von Trortra noch von der Wache. Sie senkte ihren Blick und sprach leise, doch betont:
„Ich suche meinen Begleiter. Trieest. Ein danwarischer Feuerkrieger mit einem magischen Lavastein in seiner Brust. Wir sind hier, um die tyrannische Goldene Fürstin zu stürzen. Wir wurden in einem Sandsturm in der Roten Wüste getrennt. Man sagte mir, Ihr könntet aushelfen.“
„Was ist dein Wunsch, konkret?“, fragte die Wache ungehalten.
„Ich wünsche mir, zu erfahren, wie ich Trieest wiederfinden kann.“
Stille. Nach einer gefühlten Ewigkeit griff die kleine Trortra nach einem Zettel, kritzelte etwas darauf und reichte es ihrer Wache. Diese las deutlich vor: „Der Preis sind zwei Monde in unseren Diensten, für dich und deinen Feuerkrieger.“
Jarid verengte ihre Augen. Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. „Was bedeutet dies? Welche Art von Diensten?“
Die Wache antwortete nicht.
Jarid starrte unmutig von der Wache zu Trortra. Trieest hatte keine Zeit für solche Spielchen!
Die Wache verschränkte ihre Arme und sprach: „Wenn du den Preis nicht zahlen willst, dann gehe. Jetzt.“
Jarid schluckte schwer. Sie ging die Warnungen ihrer Informantin im Kopf durch und wandte sich niedergeschlagen zum Weggehen. Dann schüttelte sie ihren Kopf, drahte sich abrupt zurück und griff über den Tisch nach Trortras Handgelenk. Die Wache sprang vor, doch Jarid lenkte mit ihrer freien Hand ein Rinnsal an Bier in ihre Augen. Nur genug, um sie einen Moment abzulenken.
„Bitte, hilf mir“, sprach Jarid zur Temm, „Trieest und ich können Euch allen hier helfen. Wenn die die Goldene Fürstin erst einmal gefallen ist, werdet ihr ...“
Die Kapuze der kleinen Trortra fiel zurück. Ihre Lippen zitterten, ihre Augen blickten furchterfüllt zu Jarid hoch. Die kleine Trortra hatte Todesangst, und Jarid bedachte, dass sie diese Situation vielleicht falsch eingeschätzt hatte.
Lautlos formte der Mund der Kleinen Worte, die Jarid nicht verstand. Dann kritzelte sie mit ihrem Federkiel etwas auf Jarids Handgelenk. Jarid nickte ihr dankbar zu und ließ sie los.
„Ich gehe, ich gehe. Verzeiht mir.“
Die großgewachsene Temm-Wache scheuchte sie zurück. Kurz schien sie zu bedenken, ob sie Jarid mit ihren Fäusten bekannt machen sollte, dann allerdings eilte sie stattdessen zu Trortra zurück und streichelte diese beruhigend.
„Herrjemine, was hat sie gesagt? Hat sie dir etwas angetan? Wie geht es dir?“
Der Traum wandelte sich.
Verzweifelt schöpfte Jarid mit ihrer Magie Wasser aus den Fluten der Narne und lenkte sie auf den Mann, der zappelnd vor ihr lag. Wilselm, der alte Wolfskrieger, der seinen Arm schon vor Jahren im Kampf gegen den Schwarzen Herold verloren hatte. Ein begabter Schildzwerg hatte ihm eine raffinierte Prothese aus einem seltenen Erz geschaffen, doch selbige schien zu malfunktionieren. Ätzende Flüssigkeiten drangen aus seinem metallenen Arm hervor und gruben sich zischende Bahnen seine Schulter entlang. Erneut brüllte Wilselm auf und wälzte sich auf dem Boden. Sein Metallarm zuckte und streifte Trieest, welcher den Schlag kaum registrierte.
„Fixiere ihn!“, sprach Jarid selbstsicherer, als sie sich fühlte, „Wir müssen das Konstrukt abtrennen!“
Trieest grunzte bestätigend, zog mit einem wohlklingenden SLING sein Rankenschwert und ließ die Ranken wie tänzelnde Flammen über Wilselms Schulter züngeln, sich an ihr festsetzen. Wilselms metallener Arm schlug aus, traf sein Ziel und schleuderte Trieest rückwärts. Dann, ehe sie reagieren konnte, hatte er auch schon nach Jarids Kehle gegriffen. Und zugedrückt.
Jarid japste vergeblich nach Luft, schlug vergeblich auf den Metallarm ein, schrie vergeblich nach Trieest ... ***
Jarid schlug ihre Augen auf und sog gierig Atemluft ein. Ein Geruch nach vielseitigsten Kräutern und Suden lag in der Luft, doch konnte diese den Gestank nach nassem Fell nicht ganz überdecken. Es war dunkel.
Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Jarid befand sich nicht in Tulgor, nicht im Steppenland, und auch nicht an Trieests Seite in Andor. Sie befand sich beim Alchemisten Naraven, in einer versteckten Hütte mitten im Südlichen Wald. Sie war verletzt. Und ... Trieest war mit einer verdammten Skral-Horde allein!
Jarid schreckte in die Höhe.
Neben ihr schreckte Naraven ebenso schnell von seinem Tisch auf, sah sich wild um und brauchte eine ganze Weile, um sich wieder einzukriegen. „Bei der heiligen Mutter, habt Ihr mich aber erschreckt!“
Er atmete durch und ratterte los: „Willkommen zurück in der Welt der Wachen, Jarid. Ihr wart etwas fiebrig. Wisst Ihr noch, wo Ihr seid? Wisst Ihr noch, wer ich bin? Ich bin Naraven, der Alchemist aus dem Südlichen Wald, und Ihr befindet Euch in meiner Hütte.“
Er verharrte kurz. „So allein und verletzt in der Hütte eines Fremden in einem fremden Land zu sein, ist wohl nicht allzu beruhigend. Ich will Euch versichern, dass ihr hier sicher seid und jederzeit gehen könnt, ohne Euch erklären zu müssen. Die Tür steht offen und die Taverne ist nahe. Ich holte bei Gilda sogar Heilmittel, frisches Brot und gut gezapften Met für Euch. Die gute Gilda erzählte mir ja so einiges über Euch. Kennt alle Gerüchte der Gegend so gut wie ein Kind seinen SchNULLer. Eine Heldin von Andor seid Ihr? Eine Danware in den ehrenwerten Diensten dieses Reichs, die den eitlen König Thorald in bessere Bahnen zu lenken vermag? Wie großartig! Doch rede ich schon wieder zu viel. Sagt, Jarid, wie fühlt Ihr Euch?“
Jarid wollte zu einer positiven Antwort anstimmen, aber Naraven fuhr gleich fort: „Ganze drei Tage habt Ihr im Reich der Träume verbracht. Ich habe mein Bestes gegeben, die Bauchwunde zu reinigen und Euch zu stärken. Aber dass Ihr so lange nicht mehr aufgewacht seid, hat mich schon besorgt. Wie viele Finger halte ich hoch?“
Naraven hob eine Hand mit drei ausgestreckten Fingern in die Höhe, was Jarid ihm mitteilte. Zufrieden nickte Naraven und redete dann gleich weiter:
„Ich musste Euch eine Rippenspitze entnehmen. Das Ding war abgebrochen und hätte für schlimmste Entzündungen gesorgt.“
Naraven griff zielsicher auf ein silbernes Tablett mitten im ganzen Sammelsurium und hielt eine kleine, gelblich-weiße Knochenspitze herum, welche Jarid gar nicht so recht anschauen wollte. Knochen gehörten innerhalb eines Körpers, nicht außerhalb.
„Ihr habt im Schlaf gemurmelt. Scheint einige Abenteuer erlebt zu haben“, fuhr Naraven eifrig fort, „Gestattet Ihr mir, mithilfe dieser Knochenspitze in Eure Vergangenheit zu spähen und diese Abenteuer zu dokumentieren, falls ich die Zeit finden sollte? Ihr werdet davon nichts spüren, geht alles über den Knochen. Viel zu wenig Erlebnisse aus dieser und vergangenen Zeiten wurden bislang auf danwarischen Steintafeln für die Nachwelt verwahrt. Ein einziger Feuersturm könnte das Wissen der Bewahrer vom Baum der Lieder auf einen Schlag vernichten. Das wollen wir doch verhindern. Erst recht in Bezug auf die Abenteuer der Helden von Andor. Erst recht, wenn Danware dabei sind.“
Jarids Kopf schwamm. „In meine Vergangenheit blicken? Das könnt Ihr?“
„Oh, nicht ich allein“, grinste Naraven, „Aber sehr wohl ein gewisser magischer Spiegel aus Cavern, ersteigert aus der Krimskramskammer von Fürst Hallwort, deren Inhalt vor einiger Zeit endlich versteigert wurde. Ich erzähle sehr gerne mehr davon, habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass nicht alle den Enthusiasmus dafür teilen.“ Naraven deutete auf einen großen Rundspiegel, welcher achtlos in eine Ecke der überfüllten Stube gestellt worden war. Ein schlichtes Ding, dessen silberner Rand mit komplizierten Runen versehen war, welche Jarid nicht verstand. Seltsamerweise zeigte das Spiegelbild nicht eine Reflektion der Stube, in der Jarid und Naraven sich soeben befanden, sondern eine verschwommene gehörnte Gestalt, welche an einen großen Troll erinnerte, mit einem winzig wirkenden Rundschild in ihrer groben Hand.
Sie beschloss, dass dies nicht ihre Priorität war, und murmelte bloß: „Tut mit meinen Knochen, was Ihr wollt, haltet sie bitte bloß aus meinem Blickfeld.“
Naraven bedeckte Jarids Rippenspitze rasch mit einem Stück Stoff. Dann schlug er sich an die Stirn und rief: „Ah, wie konnte ich das vergessen? Da schwebt schon seit Stunden so eine komische blaue Blume um meine Hütte herum. Ich habe sie nur aus der Ferne gesehen, doch sie scheint aus Wasser zu bestehen. Eine fliegende wässrige Blume, in der Form einer Wasserlilie, welch Wunder der Wassermagie! Habt Ihr etwas damit zu tun?“
„Eine Brieflilie?!“, rief Jarid, „Die muss für mich sein. Seltsam, dass sie mich nicht sofort gefunden hat, eigentlich sollten Brieflilien ihre Zielperson direkt ansteuern können.“
Naraven schien nachfragen zu wollen, was eine Brieflilie sei, unterbrach sich dann und meinte: „Es ist schon seltsam genug, dass dieses Wesen überhaupt in diese Nähe fand. Ein Tarnzauber liegt über meiner Hütte. Es ist äußerst schwer, sie zu finden.“
„Eine Brieflilie ist doch kein Wesen, sondern nur eine Botschaft! Eine Botschaft eines anderen Wassermagiers. Sie muss meiner Spur gefolgt sein, bis ich in die Reichweite des Tarnzaubers gelangte. Was ist das überhaupt für ein Tarnzauber? Dieser Junge hatte doch kein Problem damit, die Hütte zu finden.“
„Ah, ja. Der kleine Soraf ist einer der wenigen, die diese Hütte auf natürlichem Wege zu finden vermögen. Könnte etwas mit seinem fehlenden Sinn zu tun haben? Oder er hat einen besonderen Blick auf magische Ströme und dergleichen, das gibt es manchmal auch bei Menschen. Bei manch anderen Tieren kann dies ebenfalls auftreten. Ich selbst halte mir eine Schar verschiedenster Haustierchen, die mich im Notfall hierher zurückbegleiten könnten. Ohne Hilfe finde ich sie selbst nicht.“
Jarid zog eine Augenbraue hoch. „Welche Sorte Magier verhängt einen Tarnzauber über seine Hütte und braucht danach die Hilfe von Haustieren, um sie wiederzufinden?“
Naraven gluckste, doch seine Augen lachten nicht mit. „Für einen Magier haltet Ihr mich? Nein, ich bin nur ein Pechvogel, der sich einmal zu viel dazwischen gestellt hatte, als sich an dieser Stelle ein paar launige Waldgeister mit ein paar Feen angelegt hatten. Ich meine, gut für sie, die Waldgeister und Feen dieser Gegend verstehen sich seit diesem Vorfall wieder prächtig. Aber nur, weil sie ihre Wut an mir ausgelassen hatten. Die ‚Späßchen‘, die die sich erlauben ... ‚In einigen Jahrhunderten können wir wieder darüber reden, ob du dein Haus wieder finden darfst. Bis dahin bedenke, was für ein böser Bube du warst!‘ Feen! Keine Vorstellung davon, wie lange ein Mensch lebt. Vielleicht haben sie einfach gar keine Vorstellung davon, was Zeit ist.“
„Und Ihr habt nie etwas dagegen unternommen?“
Naraven gluckste. „Waldgeist- und Feenzauber zu lösen? Sehe ich aus wie jemand, der Problemen hinterherläuft? Nein, nein, es ist schon in Ordnung so, wie es ist. Für mich allein hier in diesen Gemäuern zu forschen ist alles, was ich brauche. Nebst Nahrung natürlich. Aber auch davon wächst hier im Wald jede Menge. Ich habe meinen eigenen Gemüsegarten. Die Erde hier ist so viel nahrhafter als der trockene Boden Danwars. Dort mussten wir von glitschigem Seetang und glitschigeren Fischen leben, hier gibt es hingegen saftige Möhren und Unmengen an Apfelnüssen. Von denen kann ich gar nicht genug kriegen!“
Naraven plapperte noch eine Weile so fröhlich vor sich hin, und Jarid hörte ihm weiterhin mit einem Ohr zu, doch gleichzeitig probierte sie auch, sich von ihrem Tisch zu erheben.
Sie stolperte, doch blieb schwankend stehen. Naraven unterbrach sich und eilte geschwind mit einer klappernden Schüssel voller Apfelnüssen und einer zweiten mit einer orangenen Suppe – Möhrensuppe? – zu ihr.
„Sachte, sACHTe, Ihr müsst euch stärken, ehe Ihr Euch erhebt. Wollt Ihr gleich wieder kollabieren? Und achtet bitte auf den Verband!“
Jarid blickte auf den fleckigen Verband, der ihren Bauch umwickelte. Darunter saftete irgendeine milchig-grünliche Flüssigkeit hervor. Ihr wurde schwindlig und sie stützte sich wieder auf den Tisch.
Sie schüttelte ihren Kopf: „Schön und gut, dass ich auf mich achten muss, aber mein Begleiter steckt in Lebensgefahr und da ist eine Brieflilie mit meinem Namen drauf, die diese Hütte umschwebt. Gleich nachdem ich mich gestärkt habe, würde ich gerne nach draußen und mir diese ansehen.“
***
Es war gar nicht Nacht, wie Jarid ob der dunklen Stube gedacht hatte. Sobald sie die Türe zu Naravens Hütte öffnete, strahlte gleißendes Sonnenlicht herein.
Naraven erklärte: „Entschuldigt die Dunkelheit im Innern. Manche Tränke werden durch Sonnenlicht verdorben. Und es ist manchmal schwer zu denken, wenn einem zu viel Licht entgegenströmt. Wie manche Pflanzen in der Nacht am besten wachsen, so gedeiht auch manches Wissen in Finsternis am besten.“
Tatsächlich umschwirrte eine wässrige Wasserlilie die Hütte in unregelmäßigen Schleifen. Sie war vielleicht so groß wie Jarids Kopf und fast durchscheinend. Kaum war Jarid einige Schritte vor Naravens Hütte gestolpert, rieselte die durchscheinende Erscheinung vom Himmel herab und blieb knapp über Jarids Kopf stehen. Jarid griff mit ihrer Magie danach und die Lilie entrollte langsam ihre Blütenblätter, bis Jarid den blassen Text darauf erkennen konnte:
Liebe Jarid,
Ein Falke der Gastwirtin Gilda erreichte mich und besorgte mich ganz gewaltig. Du seist verletzt im südlichen Rietland aufgetaucht, von Trieest keine Spur. Ich setzte bereits an, in deine Nähe zu tunneln, doch anscheinend ist der Brunnen in Thorns Dorf geleert? Ach, was habt ihr beide nur wieder angestellt? Eara meinte, der Heldenorden hätte von euch zuletzt auf der Jagd nach dem wilden Hraak im östlichen Rietland gehört. Geht es dir gut? Wie kann man dir helfen?
Ich hatte ja gehofft, euch bei der neunten Gedenkfeier zum Andenken der heroischen Gefallenen der ersten Befreiung der Rietburg zu treffen. Die Vorbereitungen sind in vollem Gange. Der Stein der Erinnerungen ist bereits geschmückt. Es sieht leider so aus, als würde der Schnee dieses Jahr erst später fallen. Dafür gibt es wundervolle Neuigkeiten. Rate mal, auf wen Kar éVarin und ich während den Vorbereitungen stießen: Pyros! Pyros, den legendären Glutträger, den du so bewunderst! Er wird bei der Gedenkfeier anwesend sein, um sich mit den tulgorischen Diplomatinnen auszutauschen, ob das Land der tausend Flammen weit im Westen liegen können.
Wir können kaum erwarten, welche Plattitüden König Thorald dieses Jahr den heroisch Gefallenen auftischen wird. Wir hoffen sehr, dass ihr kommen könnt! Wenn nicht, und wenn ihr Hilfe braucht, melde dich bitte blütenwended! Fast alle anderen Helden werden anwesend sein, wir können helfen!
Mögen deine Wasser frisch bleiben!
Deine Base JiridJarids Gedanken rasten, während sich die Brieflilie in kleine Tröpfchen auflöste.
Jirid hatte also die Rietburg aufgesucht, gemeinsam mit
Kar éVarin, diesem Feuerdämon, dieser „Lebenden Flamme“ aus der Hadrischen Unterwelt, die Jirid einzudämmen und zugleich zu nähren ersuchte, schon seit sie eine Novizin gewesen war und ihn in eine gestohlene Feuerkrieger-Rüstung gepackt hatte. Riesig war dieser Kar, vernarbt und mit einer kratzigen Stimme, aber mit einem weichen Kern. Er war stark, sehr stark, aber seine wahre Stärke lag im Heilen, nicht im Verletzen. Jirid musste ihm helfen, seine Wut zu bezwingen, seine Stärken auszunutzen und ihn von seinem Rachedurst abzulenken. Eine Beziehung, nicht ungleich jener, die Jarid und Trieest hatten. Letztere hatten Kar bei der Kontrolle seiner flammenden Wut zu helfen versucht. Im Gegenzug hatten Jirid und Kar Trieest beim Ablegen seiner Bürde zu helfen versucht. Doch weit waren sie allesamt nicht gekommen.
Jirid war zu wagemutig. Eines Tages würde sie das teuer zu stehen kommen, befürchtete Jarid. Andererseits hatte Jirid dasselbe zu ihr über ihre Reisen ins Land der drei Brüder und nach Tulgor gesagt. Wer konnte schon wissen, was die Zukunft brachte?
Und nun waren die beiden offenbar auf
Pyros gestoßen. Pyros, den legendären Glutträger des Glühenden Herzens des Flammenden Gottes, des größten und reinsten Lavasteins Danwars. Pyros hatte wie alle Glutträger dreizehn Jahre Zeit, um das sagenumwobene Land der Tausend Feuer zu finden, ehe sein Körper zu Asche zerfallen und das Glühende Herz zurück ins Weiße Feuer Danwars springen würde. Jarid rechnete kurz durch. Fünf Jahre mussten bereits vergangen sein seit Pyros‘ Ernennung, und er war dem Land der Tausend Feuer wohl noch keinen Schritt näher gekommen. Dennoch hatte er die Hoffnung nie aufgegeben. Solche an Obsession grenzende Aufopferungsgabe hatte Jarid stets bewundert.
Sie fühlte sich auf einmal ein wenig erleichtert. Welche Bürde Trieest auch zu tragen hatte, Pyros ging es umso schlimmer. Dreizehn Jahre hatte er, keinen Moment mehr, ehe das Glühende Herz des Flammenden Gottes ihn auslöschen würde, weil er eine vermutlich unlösbare Aufgabe nicht zu bewältigen vermochte. Doch Pyros haderte nicht damit.
Die Rote Prophezeiung, die Worte des Lichts, die den Uralten vor Jahrhunderten in der Roten Grotte mitgegeben worden waren, sie waren längst nicht mehr eindeutig zu interpretieren, zu verwaschen durch vielfache Tradierung und Debatten über ihre Bedeutung. Jarids Prophezeiung der Roten Grotte war immerhin ein konkreter Appell gewesen. Konnte sie hoffen, dass dies alles bald hinter ihr läge?
Jarid hatte in ihrer Zeit in Danwar so einige Feuerkrieger einen Lavastein als Bürde der Schuld tragen, die Schuld begleichen und den Lavastein wieder ablegen sehen. Trieest Lavastein hingegen war nie glücklich mit ihm, quälte ihn stets weiter. Was war anders in Trieests Fall?
Vielleicht lag es daran, dass Trieest jemanden ... ja, sie musste es eingestehen, er ihn beinahe umgebracht. Jormudd. Dieser arme Junge. Die Ältesten hätten es kommen sehen sollen, Trieest hatte sich schon die ganze Woche seltsam verhalten, und als dieser Junge sich mit ihm verstritten hatte, da war Trieests Instinkt aus ihm herausgebrochen, und er hatte sich auf den Jungen gestürzt, hungrig Zähne und Klauen in ihn gegraben. Erst als man ihn von Jormudds Körper weggezogen hatte, hatte Trieest sich mit einem erschreckten Blick in seinen weißen Augen beruhigt und zu weinen begonnen. Jormudd hatte auch geweint. Sein Ohr hatte man bis zum heutigen Tag nicht mehr gefunden.
Einmal halbe Kreatur, immer halbe Kreatur, so sagten die Ältesten. Diese sturen Böcke!
Trieest war damals doch selbst noch mehr Kind als Erwachsener gewesen, und für das Blut in seinen Adern konnte er wahrlich nichts. Dennoch war das Urteil des Rats eindeutig: Trieest musste einen Lavastein als Bürde tragen, bis seine Schuld bereinigt war (soweit ein ganz gewöhnliches danwarisches Verfahren). Und bis Trieest seine Schuld beglichen hatte, wäre er aus Danwar verbannt. Das war einzigartig. Nebst Glutträgern verließ sonst so gut wie nie ein Feuerkrieger seine Heimatinsel.
Jarid war neben Trieests Mutter Talemma die einzige gewesen, die mit dem kleine Trieest Mitleid gehabt hatte. Bei Mutter Natur, sie waren Wassermagier! Ein Orden, der für die Armen und Schwachen einstehen sollte, sich nicht gegen sie richten!
Oft war sie für Trieest eingestanden, und sie würde es wieder tun!
Jirid hatte recht, die Gedenkfeier an der Rietburg war tatsächlich ein passender Ort, um andere Helden zusammenzutrommeln und zu Trieests Rettung aufzubrechen. Während Jarid Naraven dazu ausfragte, wurde rasch klar, dass die Zeit drängte: Die diesjährige Gedenkfeier fand heute Abend statt!
Die jährliche Gedenkfeier an die bei der ersten Befreiung der Rietburg aus Varkurs Klauen gefallenen Krieger. Dort würden nicht nur Jirid, Kar und Pyros anwesend sein, nein, dort befanden sich vermutlich sogar die meisten anderen Helden, um ihre jährlichen Lobpreisungen einzuheimsen. Wenn Jarid bis zur Rietburg reisen könnte, könnte sie Hilfe für Trieest holen. Bestimmt war dort jemand, der den Lavastein anpeilen konnte. Der Trieest finden und hoffentlich rechtzeitig retten könnte.
Entschlossen sprach Jarid: „Naraven, ich werde Sie verlassen. Mein Gold musste ich leider weiter weg zurücklassen, als ich hierher getunnelt bin. Aber ich werde zurückkommen. Ich werde meine Schuld abbezahlen. Wenn das alles vorbei ist, werde ich wiederkehren und mich für Eure Dienste revanchieren.“
„Abgesehen davon, dass das nicht nötig wäre, habt Ihr Euch doch schon längst revanchiert“, grinste Naraven und deutete auf das Stück Stoff, unter dem wohl immer noch Jarids Rippenspitze lag. „Damit werde ich zahlreiche Aufzeichnungen für die Nachwelt festhalten können.“
Jarid zuckte mit den Schultern. „Wie Ihr wollt. Dann könnt Ihr mir noch ein letztes Mal helfen? Sagt, wo liegt von hier aus die nächste Wasserquelle?“
„Ich habe ja schon einmal einen Becher Wasser angeboten“, meinte Naraven verschmitzt.
Jarid lächelte schief. „Ich benötige leider nicht bloß einen kleinen Becher von Wasser. Meine Kapazität ist zu erschöpft für große Wunder. Ich brauche eine große Ansammlung von Wasser, idealerweise mit Verbindung zum Grundwasser. Ein Brunnen oder etwas Vergleichbares. Der einzige mir bekannte Brunnen hier in der Nähe wurde zu einem großen Teil verdampft, als ich hier aufgetaucht bin. Es wird bestimmt noch einen ganzen Tag gehen, bis er wieder zur Genüge gefüllt ist.“
„Euer Zeitgefühl unterschätzt die Dauer Eurer Ohnmacht. Ihr seid doch schon mehrere Tage hier. VerZWEIfelt nicht, dieser Brunnen ist schon längst wieder gefüllt. Oder ... wartet mal, er wäre es zumindest. Heute ist ja die diesjährige Gedenkfeier an die Toten, die vor neun Jahren ihr Leben für so viele heute Lebende gaben. Ich nehme an, dass einige andere Helden von Andor wie üblich auf dem Weg dorthin beim Brunnen durchgekommen, sind, und die Helden lassen bekanntlich keinen Brunnen ungeleert. Aber verzagt nicht“, grinste Naraven, „Ich hätte da vielleicht etwas, das den Brunnen wieder auffrischen könnte.“
Rasch rannte er in ein Hinterzimmer. Jarid hörte es für einige Minuten rumoren, bis der kleine Alchemist reemergierte und triumphierend einen grünlich schimmernden Meißel präsentierte.
„Den habe ich aus dem Nachlass von Runenmeisterin Burmrit der Silberzwerge ersteigert“, meinte er stolz. „Hat mich ein Vermögen gekostet, doch ich dachte, dass es eines Tages nützlich sein könnte. Los, auf zum Dorf!“
***
„Lasst es mich ein letztes Mal überprüfen.“
Zum dritten Mal in den letzten zehn Minuten raschelte Naraven durch den Stapel loser Pergamente, den er mitgebracht hatte. Sie zeigten verschiedenste Runen unterschiedlicher Komplexität mit kleinen Erklärungen zu ihrer Bedeutung.
„‚Wasser‘“, murmelte Naraven, „Ja, diese Rune für ‚Wasser‘ sollte doch genügen. So nutzten sie bereits die Urahnen der Schildzwerge für manche wässrigen Zwergentüren. Natürlich für ganz andere Zwecke, doch die Runen selbst sollten dieselben sein.“
Naraven kniete sich neben dem leeren Brunnen hin und haute mit dem grünlich schimmernden Meißel drei gerade Striche in den staubigen Bogen: Zwei Striche parallel zueinander, den dritten quer über die anderen.
„So. Nun brauchen wir nur noch eine Kraftquelle. Eine Zauberin könnte der Rune mit einem Spruch Kraft verleihen, oder eine Runenmeisterin natürlich mit einer Runenquelle. Ein Artefakt, in dem einige Runenmagie durch Mondlicht festgehalten wurde, würde auch gehen. Oder etwas, dass die hier immer noch allgegenwärtige uralte Drachenmagie des Landes anzapft. Aber da wir das alles nicht haben ... holde Jarid, habt Ihr schon jemals versucht, eine Wasserrune auszulösen?“
Jarid schüttelte bloß den Kopf.
„Versucht es. Als Wassermagierin solltet Ihr eigentlich leicht dazu in der Lage sein.“
„Wie Ihr wollt. Doch bin ich nicht zuversichtlich.“
Jarid schloss ihre Augen und hörte in sich hinein, versuchte, sich das Rauschen des danwarischen Meeres in den Sinn zu rufen. Sie versenkte sich im Geiste in den Boden, spürte das Wasser, das ihn durchsickerte, ebenso wie der Tau auf dem darüber liegenden Gras.
Überrascht bemerkte sie, dass sie auch die Rune spürte, die Naraven in den Boden gehauen hatte. Unglaublich stark, sogar. Sanft befühlte sie mit ihrem Geiste das fremdartige Objekt, spürte, dass etwas fehlte, nein, etwas nur leicht am falschen Ort war. Sie übte Druck auf die ungleiche Stelle aus, etwas klickte, und ...
„Wasser“, sprach Jarid.
Die Rune glühte blau auf und eine drei Meter hohe Fontäne reinen Wassers schoss aus dem Brunnen hervor.
Naraven quiekte vor Vergnügen.
Jarid leitete das Wasser sanft in die Höhe, bis ein halbwegs ordentlicher Wasserstrudel neben dem Brunnen schwebte und stetig flacher wurde. Naravens Augen leuchteten.
Jarid spreizte ihre Finger und versenkte ihre Hand bis zum Ellbogen in der Fläche. Sie trat nicht wieder auf der anderen Seite aus. Dafür verspürte Jarid eine angenehme Wärme ihren Arm entlangströmen. Die goldenen Linien auf ihrem Gewand leuchteten auf.
Einen letzten Blick auf Naraven werfend, sagte Jarid:
„Ich kann Euch nicht genug für Eure Hilfe danken. Gehabt Euch wohl, Naraven. Lila blühen die Blumen auf der Asche.“
„Lila glühen die Augen der Knochen in der Asche“, entgegnete Naraven geistesabwesend. Er starrte weiterhin mit großen Augen auf das Wasserportal. Jarid wandte sich auch ebenfalls diesem zu. Der Strudel hatte sich inzwischen gelegt und die Fläche lag ruhig wie eine stille Teichoberfläche da, einfach senkrecht statt waagrecht. Jarid dirigierte die Scheibe zu Boden und gebot ihr, ein Tor zu formen Dessen Ränder begannen bereits, einzufrieren. Rasch trat Jarid einen Schritt nach vorne und spürte die vertraute Wärme, die sie durchströmte, als ihr Körper und ihr Gewand sich verwässerten und davontragen ließen, während das Tor hinter ihr vereiste.
Ein leiser Plumps ertönte, als ihr blutiger Verband durchnässt neben den eisigen Torbogen fiel. Diesen konnte sie natürlich nicht mitnehmen durch das Portal, dachte Jarid. Sie musste zugleich schmunzeln als auch sich über sich ärgern, dass sie das vergessen hatte.
Dan(n) war sie eins mit dem Wasser.
***
Wasser dachte anders als Menschen. Wasser dachte auch anders als Zwerge und Riesen, Temm und Taren. Manche behaupteten, dass es ganz und gar nicht dachte. Diejenigen, die dies denken, haben noch nie einen Wassergeist getroffen. Aber das ist Nebensache.
Jarid dachte immer anders, wenn sie eins mit dem Wasser war. Nicht wie ein Mensch, aber auch nicht wie ein Wassergeist. Wie Wasser, halt.
Als Mensch war es manchmal schwierig, komplizierte Entscheidungen zu treffen, überwältigende Emotionen zu spüren und nie zu wissen, wohin alles hinführte. Im Wasser war alles klarer. Alles war einfacher in dieser Wassergestalt, alles war im Gleichgewicht. Alles hatte ein klares Ziel, und alles folgte diesem Ziel, diesem einen Ziel. Alles floss dorthin, wo es sollte, und es war gut so. Und Jarid floss mit allem dahin, zufrieden und glücklich. Sie wusste, wo sie hinwollte, sie wusste, wo sie hinsollte, und dorthin würde sie gehen, fließen, plätschern, und das war gut. Alles war gut.
Der Brunnen vor der Rietburg war so nahe, sie konnte ihn buchstäblich spüren. Sie vernahm, wie das Wasser in seinem Innern zu dampfen begann und erste Blasen sich daraus hochlösten, ja, sie war eins mit dem brodelnden Wasser im Brunnen, als die vertraute Kälte durch das Wasser floss, das sie ja war, und das war nicht unangenehm oder angenehm, es war einfach. Und das war gut. Sie würde dort ankommen, wo sie hatte ankommen wollen.
Doch plötzlich war das nicht mehr alles, was da war. Ihr Fluss, der eigentlich zur Rietburg hätte strömen sollen, änderte seine Richtung. Das war nicht so geplant. Aber Jarid, die eins mit dem Wasser war, brauchte das nicht zu kümmern. Wenn der Fels sich verschob, so ging das Wasser einen neuen Weg. Und so floss Jarid halt sorglos davon, weg von dem Brunnen, weg von der Narne gar. Jarid war Teil des Grundwassers unter der andorischen Erde, Teil der Wassertröpfchen in der Luft und Teil des gigantischen Ozeans, der nördlich von hier lag. Und dorthin floss sie nun, zu diesem gigantischen Ozean zog es sie, denn dorthin wurde sie gezogen, und wie alles Wasser floss sie dorthin, wo der Sog sie hinzog.
Weg von der Küste Sidra und dem Kontinent, weg von den Brunnen des Südens, auf, in den Nordosten.
Jarid wusste von den Gefahren, die darin lagen, durch das offene Meer zu tunneln. Nicht wenige Wassermagier waren dort schon verschollen gegangen. Es war schwer genug, sich einen geistigen Pfad durch das Wasser bis zum Zielort zu schaffen, denn wenn man zu lange durch das Wasser reiste, so wurde man endgültig Teil des Wassers und konnte sich nicht mehr von allein daraus lösen. Doch Jarid kümmerte das nicht. Sie war Teil des Wassers und floss dorthin, wo sie gezogen wurde. Und das war gut.
Langsam spürte sie ihren neuen Zielort näher kommen, ein kleines Felsmassiv inmitten des kalten Ozeans, unter dem es brodelte und sprudelte. Als Mensch hätte sie sich wohl Sorgen gemacht, wer hier an ihr zog, wäre vielleicht gespannt gewesen, wen sie treffen würde, hätte sich dem eventuell gar widersetzt. Doch sie war eins mit dem Wasser und sie floss, wie der Fels ihr gebot.
Und der Fels zog sie nach Danwar.
Danwar, die Insel der widerstreitenden Elemente, ragte wie eine steingewordene Flutwelle aus der stürmischen See. Die aufbrausenden Wellen schlugen selbst in das geschützte Becken unter dem Fels und brachten die kleinen Fischerboote ins Schaukeln. Regen verdampfte auf dem heißen Gestein und peitschte gegen die windschiefen Hütten auf dem hochgelegenen Plateau des Eilands. Die Siedlung auf dem Plateau des Gipfels lag zur Hälfte auf einem Felsüberhang, der aussah, als müsse er jeden Moment unter der Last des Steins zusammenbrechen.
Schon bald konnte Jarid das große Becken von Quodlon am Rückgrat Danwars spüren, zu dem sie gezogen wurde. Jarid fühlte ein vertrautes Kribbeln in ihrem liquidierten Körper, das sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Etwas Fremdes brodelte unter Danwar. Der schwarze Fels, aus dem der Kern Danwars bestand, stammte nicht von dieser Welt. Zumindest sagten das die Ordensmeister des Nachthimmels, die mussten solche Dinge doch wissen. Und als Danwar damals in den Urzeiten vom roten Mond gefallen war, war das Massiv laut ihnen noch ein einziger steinerner Klotz gewesen. Nun saß dieser schwarze Kern Danwars nicht nur tief verankert im Meeresgrund, sondern war auch umgeben von dicken Schichten Lavagesteins, welches der durch den Einschlag ausgelöste Vulkan über Jahrtausende und Abertausende angesammelt hatte. Dieses Gestein und der schwarze Kern Danwars waren beide durchzogen von verschiedenen Höhlen und Gängen. So kamen unter anderem die beliebten Quellbäder Danwars zustande. Und das große Becken von Quodlon war das größte dieser Quellbäder, welches am unteren Ende der ‚Wirbelsäule‘ Danwars lag.
Fünf Wassermagier hatten sich hier und heute in regelmäßigen Abständen um das Becken versammelt und tanzten rhythmisch um es herum, während das Wasser im Becken nach ihren Geboten wogte und Jarid zu sich rief.
Für einen kurzen Moment war Jarid die Schweißtropfen auf den Stirnen der Magier und hätte sich beinahe gefragt, warum sie schwitzten. Es war warm nahe der Quelle, ja, aber konzentrierte Wassermagier hatten andere Wege, sich abzukühlen. Der Schweiß zeugte vielmehr davon, dass sie aufgeregt waren, abgelenkt, ja, gar ängstlich.
Die warme Quelle kochte auf. Jarids Körper und Kleid materialisierten sich, schossen aus dem Becken von Quodlon in die Höhe und wurden von den erleichtert aufatmenden Wassermagiern ans Ufer geleitet.
Zitternd vor Kälte sackte Jarid auf dem warmen Felsen zusammen, während ihr Körper verzweifelt protestierte. Er wollte zurück ins Wasser, wollte weiterfließen. Das hier war ein Widerstand gegen den natürlichen Fluss, das hier war
falsch. Dann war auch schon die erste Wassermagierin bei Jarid. Sie verjagte alle Nässe aus Jarids Gewand und gebot dünnen Wasserbändern, sich um Jarid Handgelenke und Ohren zu schlingen. Wärmebänder. Es zischte und gluckerte, als die Bänder sich erhitzen und die wohlige Wärme sich in Jarids Körper ausbreitete.
Jarids aufgewühlter Geist konnte sich aber nur für einen kurzen Augenblick beruhigen, denn nun traten gewöhnliche, nicht-wässerige Sorgen an ihr Bewusstsein.
Wer hatte es gewagt, ihre Wasserreise durch Andor aus der Ferne zu unterbrechen? Wer hatte es gewagt, sie hierher umzulenken? Wer hatte es gewagt, sie durch den Ozean zu zerren?! Die Tat war nicht nur verantwortungslos gefährlich gewesen, sondern auch ein unanständiger Bruch ihrer Privatsphäre. Wassermagier sollten das verstehen!
Protestierend erhob sich Jarid, nur um gleich wieder zusammenzusacken, als ein stechender Schmerz in ihrer Seite von der unverheilten Wunde aus dem Kampf gegen Finster-Trieest zeugte.
„Nicht, Jarid!“, rief eine helle Stimme, die Jarid nur allzu gut kannte, auch wenn sie sie schon seit Jahren nicht mehr vernommen hatte. Gemurmel erklang, dann wieder deutlich: „Sie blutet, lass mich sie doch ansehen!“
Jarid drehte ihren Kopf zur Seite und erblickte ihre Mutter Rowinda, stolze Wassermagierin des fünften Zirkels und oberste Streitschlichterin des Ältestenrats, wie sie einige Schritte entfernt stand. Sie hatte einige Falten mehr und ihr schlohweißes Haar war schütterer geworden, doch redete die alte Rowinda soeben ebenso energisch auf eine kleingewachsene Wassermagierin ein, wie Jarid sie in Erinnerung hatte. Die kleine Wassermagierin wiederum hielt Rowinda ebenso energisch davon ab, näher zu Jarid zu treten.
Die drei restlichen Wassermagier, welche Jarid in das Becken von Quodlon gelotst hatten, standen abseits als kleines Grüppchen zusammen und blickten sehr betreten drein. Der hibbeligste von ihnen war ein großgewachsener blonder Bursche, dessen größtenteils helle Haut teils von großen blauen Flecken geziert war. Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Weiter hinten erspähte Jarid drei auf einem Felsen sitzende Feuerkrieger, welche aus dem Schatten reglos das Geschehen vor ihnen betrachten. Es war im ganzen Dampf, der aus dem Becken von Quodlon stieg, schwer zu erkennen, doch schienen sie alle drei ihre Rankenschwerter gezogen zu haben und die drei Wassermagier ganz genau im Auge zu behalten.
Das mulmige Gefühl in Jarids Magen verstärkte sich. Erneut versuchte sie, sich aufzurichten. Diesmal schmerze ihr verletzter Torso nicht zu stark. Sie stemmte sich breitbeinig in die Höhe und unterdrückte einen Anfall von Schwindel, indem sie sich auf das wohlige Gefühl der warmen Wasserbänder an ihren Handgelenken konzentrierte.
Ihre Mutter blickte zurück zu Jarid. Rowindas Augen wurden groß. Mit wütendem Blick setzte sie an: „Jivin, das ist doch unter aller Würde! Du kannst doch nicht ...“
Ehe sie vorfahren konnte, boxte die kleine Wassermagierin – Jivin – Rowinda in den Bauch und schleuderte sie einige Schritte von sich. Rowinda schlidderte mehr oder minder elegant in das Becken von Quodlon hinein und schaffte es knapp, auf der unruhigen Wasseroberfläche zum Stehen zu kommen. Sie starrte ungläubig auf Jivin, als könnte sie es kaum glauben, dass die Kleine sich das getraut hatte. Doch wehrte sie sich nicht.
Die kleine Wassermagierin drehte sich zu Jarid um und starrte ihr hasserfüllt ins Gesicht. Sie verschloss ihre Hände zu Fäusten und führte sie auseinander. Sofort gefroren die Wasserbänder um Jarids Handgelenke und zerrten ihre Arme auseinander, ja, hoben Jarid gar in die Höhe. Jarid strampelte und fokussierte sich geistig auf ihre Fesseln, aber diese bewegten sich kaum von der Stelle. Von einer solchen starken Kontrolle über das Wasser konnte selbst Jarid nur träumen. Jivin musste mindestens im fünften Zirkel des Ordens sein!
Sie trat näher. Erst jetzt erkannte Jarid, wie alt die kleine Jivin schon war.
Ein leiser Schrei ließ ihren Blick rüber zum Becken von Quodlon wandern, wo eine großgewachsene Feuerkriegerin ihre Mutter gerade unsanft an den Boden presste. Weiter hinten war zwischen zwei Dampfschwaden gerade noch knapp zu erkennen, wie die zwei restlichen Feuerkrieger die drei anderen Wassermagier in Schach hielten.
Das hier war offensichtlich kein Auftrag des Ältestenrats gewesen, Jarid hierher zu holen, um über sie zu richten. Das hier war ein Auftrag dieser drei Feuerkrieger und der kleinen Wassermagierin gewesen, Jarid hierher zu holen, um ...
Ehe Jarid sich genaue Gedanken dazu machen konnte, warum rebellierende Feuerkrieger sie hierher holen wollen könnten, schweifte sie ab. Denn soeben war ihr aufgefallen, dass etwas die drei feindlich gesinnten Feuerkrieger von den ihr altbekannten unterschied: Die Lavasteine in ihrer Rüstung leuchtete nicht hell in orangeroten Tönen, nein. Die Lavasteine waren alle fahl, und in ihrem Innern wirbelten schwarze Schwaden herum.
Jarid hatte erst dieses Phänomen erst vor wenigen Tagen erlebt: Als Trieest den bösen Kristall aus dem Schädel des Hraaks in seiner Faust gehalten hatte. Als das Böse Trieests Körper kontrolliert hatte.
Jarids Blick fiel zurück auf die kleine Wassermagierin. Diese legte ihren Kopf schief und verzog die runzelige Miene zu einem grimmigen Grinsen.
„Grün ist der Seetang, der das Boot an der Weiterfahrt hindert, werte Jarid aus dem fernen Danwar“, sprach sie gehässig. Sie präsentierte Jarid theatralisch ihren linken Unterarm, zog den Ärmel ihres zeremoniellen Kleids zurück und enthüllte einen dünnen, tiefschwarzen Kristallsplitter, der knapp zur Hälfte in ihrem Arm versenkt war.
„Willkommen zurück in Danwar, liebe Jarid. Ist ja erst einige Tage her, dass wir uns gesehen haben, aber dein letzter Besuch in Danwar muss Jahre her sein. Hoffentlich bereitete die Reise keine Unannehmlichkeiten. Du wirst mir sicher sehr hilfreich sein.“
***
Das Böse ließ die kleine Wassermagierin Jivin mehr Wasser aus dem Becken von Quodlon leiten und Jarid mit einer dicken Schicht Eis bedecken. Zeitgleich ließ es Jarids Mutter und die drei restlichen Wassermagier von den Feuerkriegern fesseln. Es war erheblich anstrengender als gedacht, mehrere Körper auf einmal zu steuern, und einmal entschlüpfte die willensstärkste Kriegerin seiner Kontrolle beinahe. Dann aber hatte es sich gefasst und das Bewusstsein der Feuerkriegerin wieder schlafen gelegt.
Und dann war es endlich soweit.
Es war enttäuscht gewesen, als es den ersten Lavastein einer Feuerkriegerin hier in Danwar kontrolliert hatte. Keine Stimmen aus seiner Vergangenheit hatten es abzulenken versucht. Der Stein war stumm geblieben. Hoch erfreut hatte es jedoch herausgefunden, dass sein Geist in den Lavasteinen der Feuerkrieger nachhallen konnte, und so keinen konstanten Kontakt zu ihnen brauchte, um ihre Körper weiterhin zu kontrollieren. Nachdem es einige weitere Danware übernommen und ihre Erinnerungen durchsiebt hatte, sah es seine These bestätigt, dass es das Echo, dass das Böse vernommen hatte, mit Trieests Lavastein zusammenhängen musste. Schade, dann würde es wohl noch etwas warten müssen, ehe es dieses Kapitel seines Daseins endgültig abschließen konnte. Die flugs hierhergerufene Jarid würde Trieest aber sicherlich bald zu ihm führen können.
Und vielleicht war Jarids Anwesenheit ja nicht einmal nötig, außer, um ihm Genugtuung verschaffen zu können. Denn in den Erinnerungen der Danware hatte das Böse nicht nur vom Becken von Quodlon erfahren, sondern auch von einem anderen besonderen Ort.
Abseits von diesem ganzen Geschehen am Becken von Quodlon stapfte eine vierte vom Bösen kontrollierte Feuerkriegerin durch karge Felsen auf einen verdeckten Höhleneingang zu. Es fuhr mit der Hand über warmen Stein und erhob die viel zu hohe, fremde Stimme der Feuerkriegerin:
„Oh, ihr Echos der Roten Grotte! Sprecht, auf dass ich hören kann. Ich bin hier, um mit einem Toten zu sprechen!“