Varatans Fluch

„Pah, Seemannsgarn!“, sagte König Varatan stets, wenn ihm jemand von den drei Mächten des Meeres berichtete. Er sagte dies, bis zu dem Tag, an dem er auf die gefährlichste von ihnen stieß: Kenvilar, die Tückische.
Mochte der mächtige Oktohan auch ein Schiff mit seinen Tentakeln zum Bersten bringen und Arkteron gefürchtete Stürme entfachen, Kenvilar war die verhängnisvollste  von ihnen. Ihre Tücke paarte sich mit grausamer Weisheit.

Als diese eines Tages dem Schiff des Königs auflauerte und mehrere Seeleute in die Tiefe zog, fiel ihr ein Varatanier am Ruder des Zweimasters auf. Groß und kräftig stand er da. Die Mannschaft versuchte mit Harpunen und Seeschwertern der Gefahr Herr zu werden, aber Kenvilar beachtete sie kaum.
Sie fasste den jungen Steuermann ins Auge, sah in seine Zukunft, sah sein Potential und die schlafende Bosheit in ihm. Kevilar spürte, dass sie mit ein weing Geduld viel mehr Schaden anrichten konnte. Und so zog sie sich zurück.

Der König feierte seinen vermeintlichen Sieg über eine der drei Mächte des Meeres mit allem was dazugehörte. Die Überlebenden wurden geehrt und der Toten wurde gedacht. Wein wurde getrunken und üppig gespeist. Das Fest blieb noch lange in Erinnerung.
Es vergingen Jahre, ehe sich die Wege des Steuermanns und Kenvilars erneut kreuzten.  Der Name des Mannes war Callem. Er hatte mittlerweile das Kommando über ein eigenes Schiff erhalten und segelte zwischen Varatanien oder Werftheim, wie es später genannt wurde, und Klippenwacht, der Seefeste König Varatans.

Auf einer dieser Fahrten verließ er ohne ersichtlichen Grund seine Route und befand sich bald schon in stürmischen Gewässern wieder. Dort tauchte Kenvilar auf und der einstige Steuermann geriet in ihren Bann …

Das Schiff und seine Mannschaft galten bald als verloren und wurden mit allen erdenklichen Ehren betrauert. Callem, ihr Kapitän, war ein bekannter Seekrieger gewesen und sein Tod bedeutete einen schweren Verlust für den König.

Es war jene Zeit, in der Varatan zu grübeln begann, wie man den Mächten des Meeres Herr werden könnte. Wenig später würde ihn sein Weg nach Norden führen, nach Hadria in das Land der Zauberei, wo er mit Orweyn, dem mächtigsten Zauberer, die magischen Waffen entwickeln sollte.

Doch ehe all dies geschah, gingen Gerüchte über ein schwarzes Schiff um. Es tauchte aus dem Nichts auf und verschwand auf die gleiche Weise! Handelsschiffe wurden überfallen und ihrer Waren beraubt. Mal hier und mal dort wurde das schwarze Schiff gesichtet und seine Besatzung …  sie war das Seltsamste, denn an Bord befanden sich nicht nur einfache Seeleute und abtrünnige Seekrieger. Unter ihnen waren auch Hexer und Zauberer, Druiden und andere machtvolle Wesen. Darum gelang es lange Zeit nicht an die schwarze Kogge, wie das Schiff nun allerorts genannt wurde, heranzukommen.

Nach seinem angeblichen Tod hatte Callem sein Schiff vernichtet, denn Kenvilar hatte ihm ein ungleich größeres und stärkeres zum Geschenk gemacht. Eigenhändig tötete er den Großteil seiner Mannschaft. Es war ein Blutbad. Roa, der riesige Raubvogel, mit Klauen, spitz und scharf wie die eines Schwertes und mit seinem rot schimmerndem Gefieder, half ihm dabei. Nur Pero, sein erster Mart und Krumm, ein alter gebeugter Mann, den sie eigentlich nach Varatanien bringen sollten, blieben am Leben.

Der alte Krumm behauptete ein Hexenmeister zu sein und braute zum Beweis einen Trank, der das ganze Schiff in dichten Nebel tauchte. Ihn befand Callem als nützlich. In seiner Kajüte fand der Kapitän des Schiffes ein grünhäutiges Mädchen mit verschlagenem Blick. Ein weiteres Geschenk Kenvilars, denn es war Kentar, ihreTochter. Das Schiff sollte ihre neue Heimat werden.
Und so stachen sie in See und mit beinahe jedem ihrer Raubzüge wuchs die Mannschaft an. Bei einem Überfall nahe Sturmtal schloss sich Thogger, ein Druide der Taren an. Seine Tränke verliehen allen Besatzungsmitgliedern große Kräfte und die Fähigkeit, unter Wasser zu atmen.

Bei einem weiteren Überfall nahmen Sie Ean Quella gefangen. Eine Schülerin aus Hadria die auf Reisen ihre Ausbildung zur Zauberin abschließen wollte. Lange hatte sie sich gegen Callems Einfluss gewehrt. Letztlich gelang es Kentar, Kenvilars Tochter, ihren Geist zu vergiften. Und so stellte auch sie ihre Fähigkeiten in die Dienste des Kapitäns.

Callem strebte nach der Krone der Nordmeere und seine Macht wuchs beständig. Irgendwann wurde die Bedrohung durch die Schwarze Kogge so groß, das König Varatan seinen Kampf gegen die Mächte des Meeres ruhen ließ und sich auf die Suche nach der Schwarzen Kogge machte.
Das verhasste Schiff zu finden und in die Enge zu treiben, bedurfte der gesamten  Seeflotte des Königs. Mit ungeheurer Geschwindigkeit, die nicht allein dem Wind zu zuschreiben war, floh die Schwarze Kogge augenscheinlich Richtung Westen. In der Hoffnung sie einzuholen, verfolgten König Varatan und seine Flotte das Schiff, als plötzlich wie aus dem Nichts die Küste eines unbekannten Landes vor ihnen aufragte. Eine Nebelinsel, dessen Existenz dem König bis dahin unbekannt gewesen war. Dies musste der geheime Schlupfwinkel gewesen sein von wo aus die Schwarze Kogge ihre Raubzüge aus gestartet hatte. Das graue Segel der Kogge wurde gerefft und in Windeseile Boote zu Wasser gelassen. Die Besatzung floh auf die Nebelinsel. Der König überlegte nicht lange und nahm die Verfolgung auf. Als sie die Insel erreichten stürmten die Seekrieger Varatans vor und erschlugen jeden, dem sie habhaft werden konnten.

Steile Bergketten ragten vor ihnen auf und als der König den ersten Gipfel erreichte, stockte ihm der Atem. Hinter dem Gebirge lag ein dunkler kranker Wald. Sein Fäulnisgeruch schlug ihm schon aus der Ferne entgegen. Mit einem Mal erkannte er finstere echsenartige Wesen, die aus Felsvorsprüngen krochen. Es waren Gors oder vielleicht noch Schlimmeres. Dieses Land war ein übler Ort und eine tödliche Falle. Eine Falle, in die er nicht tappen durfte. In Gedanken taufte er die Insel auf den Namen Narkon, denn so nannten die Varatanier eine Falle oder einen Hinterhalt, und er befahl seinen Seekriegern den Rückzug. Einige hörten seinen Ruf nicht und setzten die Verfolgung fort. Unter jenen, die am eifrigsten hinter den Fliehenden herrannten, war auch sein alter Kamarad Ruuf. Ein guter Mann. ‚Sei es drum‘, dachte der König, ‚auch ihm kann ich nicht mehr helfen‘.
Hier stand mehr auf dem Spiel, als das Leben einiger weniger. Und so breitete König Varatan, der Herrscher des Nordmeeres, seine Arme aus und beschwor einen Fluch auf das Land nördlich des Berges. Mochten die Kreaturen und Abtrünnigen diese Insel nie wieder verlassen und auf ewig in Leid und Elend darben. Er verfluchte das Land Narkon und zog sich mit den seinen zurück.

Callem indes, der sich in Hörweite des Königs verborgen hatte, spürte sogleich eine Veränderung an Geist und Körper. Furcht und Zorn durchströmten ihn. Da erblickte er jäh eine geisterhafte Gestalt aus Licht, die eine schimmernde Hand auf seine Schulter legte. Mit einem Mal vergaß er die See und die Schiffe und auf allen Erinnerungen, die fern von dieser Insel lagen, legte sich der schwarze Schatten des Vergessens. Jeder Gedanke an Flucht bedarf einer Vorstellung eines anderen Ortes oder zumindest der Hoffnung auf die Existenz eines Ortes, der anders ist als das Hier. Doch dieser Vorstellung waren alle, die dem Fluch erlagen, für immer beraubt.

Mehr als hundert Jahre vergingen. Jahre, in denen die magischen Waffen in Hadria geschmiedet und wieder verschlossen wurden, weil ihre Kraft zu groß und zu gefährlich war. Jahre, in denen Varatan starb und ein junger Zauberer Namens Varkur, der Varatans Linie entstammte, das Licht der Welt erblickte, um großes Übel bewirken. Jahre, in denen ein Sklave aus dem südlichen Krahd in das Land des Drachens floh,  jenen besiegte und daraufhin das Land namens Andor gründete. Jahre, in denen eine kleine Gruppe von Helden zu Legenden wurde und zwei von ihnen auf der verfluchten Insel Narkon strandeten.

Chada und Thorn. Werden Sie Callem und der verfluchten Mannschaft der Schwarzen Kogge begegnen? Werden auch sie Varatans Fluch erliegen und die Insel nie mehr verlassen?

Autorin: Stefanie Schmitt