Tulgor

“Nach Osten?!” Saro lachte, im tiefsten Inneren seines Herzens jedoch sorgte er sich mehr als er zugeben mochte. Er selbst war alt, und Eforas war längst zu einem Mann herangewachsen. Doch er war noch immer sein Sohn.
“Wir brechen im Morgengrauen auf”, sagte Eforas, ohne auf den Spott im Lachen seines Vaters weiter zu achten.
“Wir? Du und… Haamun?”
“Nicht nur. Es werden noch mehr mit uns gehen…”, begann Eforas, doch Saro unterbrach ihn.
“Niemand hat jemals den Kuolema überquert, und auch euch erwartet dort nur der Tod. Denkst du noch manchmal an deinen Bruder?!” Viele Tulgori hatten Jahr für Jahr versucht, einen Weg über die Berge zu finden. Niemand kehrte je wieder, und wenn die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings den Schnee an den felsigen Hängen schmolzen, gab ihnen das Gebirge die Toten zurück. Oft sprachen die Alten von Geistern und Dämonen, die in den Bergen hausten. Saro hielt das nur für Geschwätz, doch die Angst blieb, seinen Erstgeborenen auch noch an den Berg zu verlieren.
“Wir werden ihn nicht überqueren”, sagte Eforas. “Haamun kennt den Weg, der durch den Berg führt…”
“Es gibt keinen Weg durch den Berg!”
“Doch, Vater! Seit ewigen Zeiten bauen die Tulgori schon Mera-Steine ab und schlagen dabei tiefe Stollen in den Fels. Durch sie führt unser Weg.”
Die beiden Männer schwiegen eine Zeit lang als schien alles gesagt zu sein. Dann wandte Eforas sich ab und verließ das kleine Bauernhaus.
Saro sah noch lange schweigend die Tür an, durch die sein Sohn zum letzten Mal gegangen war.

Ein dünner Nebelschleier lag noch über Tulgor, als das Schwarz der Nacht einem grauen Morgen wich. Es war kühl. Haamun stand vor seiner kleinen Hütte und schaute über das weite Land.
Es waren sieben, vielleicht acht Jahre vergangen, seit er über das Fahle Gebirge hierher gelangt war. Die  Tulgori nannten es “Kuolema” – Berge in den Wolken, und niemand vermochte zu sagen, wie hoch sie wirklich waren. Haamun wusste es, denn er war auf dem Gipfel gewesen, und er kannte die Wahrheit über die Geister und Dämonen…
Die Menschen in Tulgor hatten ihn freundlich aufgenommen und ihn Haamun genannt, was so viel bedeutete wie „Licht des Morgens“. Hier hatte er eine neue Heimat gefunden, auch wenn ihm kaum jemand seine Geschichte glaubte.

Die erste Zeit war er noch ziellos durch das unbekannte Land gezogen. Weite Felder mit goldenem Getreide breiteten sich vom Fuße des Kuolema aus. Hier und da gab es kleine Häuser mit strohgedeckten Dächern und schwarzen Schornsteinen, aus denen im Winter dicker Rauch quoll. Die Bauern waren fleißig und der Boden fruchtbar.
Weiter im Westen wurde die Landschaft karger. Die Steppen schienen endlos, doch es gab viele Dörfer, und die Menschen lebten von den Schafen und Ziegen, die sie in kleinen Herden über das flache Land trieben.

Später schloss sich Haamun einer Gruppe von Händlern an, reiste mit ihnen nordwärts, durch immer größere Ansiedlungen und vorbei an Häusern, Brücken und Burgen, die ihresgleichen suchten. Die Tulgori waren geschickte Baumeister.
Im späten Herbst erreichte Haamun eine steile, felsige Küste, an der es keine Häfen gab, und so beschloss er, wieder zum Gebirge zurückzukehren. Dort verdingte er sich bei den Bergleuten, die Silber, Gold und Eisen förderten und wie schon seit Jahrhunderten die kostbaren Mera-Steine abbauten. Mera – das Leuchten des Roten Mondes, dessen Licht nur an wenigen Tagen des Jahres auf die Stolleneingänge der Berge schien. Über die Zeiten hinweg hatten die Tulgori die Kunst ihres Bergbaus weiter entwickelt, sodass das Licht von den Felswänden reflektiert und immer tiefer in den Berg hinein getragen wurde. Doch nur an wenigen Stellen begann das Gestein auch tatsächlich zu erstrahlen, wenn das Licht des Mondes es berührte. Dann musste der Mera-Stein schnell aus dem Felsen geschlagen werden, ehe der Mond weiterzog. Die Jahre gingen ins Land. Haamun sammelte viele der seltenen und oft unbekannten Kräuter der Steppe, braute Tränke und stellte die verschiedensten Salben, Pulver und Gifte her. Doch wenn er in den Stollen tief im Berg seiner Arbeit nachging, dachte er immer öfter darüber nach, ob vor ihm nicht der Weg lag, der ihn wieder auf die andere Seite des Gebirges brachte.

Er stand noch immer im dünnen Nebelschleier des aufziehenden Morgens vor seiner Hütte und sah zum Kuolema hinauf. Vor nicht einmal zwei Tagen hatten sich die Wolken gelichtet, und die schneebedeckten Gipfel der Berge waren sichtbar geworden. Als der Himmel jenseits des Gebirges in rotem Licht erglühte, wusste Haamun, dass der alte König tot und auch der Drache besiegt worden war. Es war Zeit, nach Hause zurückzukehren.
Mit den ersten Sonnenstrahlen des Tages brachen sie auf. Haamun, Eforas und ein Dutzend anderer Tulgori – Händler, Baumeister und Kartographen, deren Neugier stärker war als die Furcht vor den Geistern der Berge.
Als Haamun in den Bergstollen trat und ihn die fahle Dunkelheit umgab, lächelte er. Endlich würde er in das Land zurückkehren, das er einst im Zorn verlassen hatte, und wo er nicht länger Haamun war sondern Meres, der Hexer aus Andor.

Autoren: Matthias Miller und Dorothea Michels