Tenaya, die Wächterin des Feuers

Es war der zweitschlimmste Tag in Tenayas jungem Leben, als sie erfuhr, dass sie nie eine Zauberin werden würde. Ihr Mentor, Meister Lifornus, erklärte in ruhigem Ton, dass es ihr an Ausdauer und Aufmerksamkeit mangele. Außerdem fehle ihr die Begeisterung für die Schönheit und Komplexität der Zauberei.

Tenaya war Lifornus nicht böse. Tatsächlich hasste sie die Ausbildung. Sie gehörte dem Orden des Feuers an, und das viele Lesen über allerlei längst verstorbene Zauberer, wie den mächtigen Orweyn, die bösen Magischen Waffen und den ewigen Wunsch nach Dunkler Magie langweilte sie nur. Und sie hasste es sogar noch mehr, in den düsteren Kammern der Schule von Nordhom eingesperrt zu sein, während draußen der Wind heulte und die Möwen sangen.

Und doch, als sie der kleinen Zaubererschule von Nordhom verwiesen wurde, war dies ein harter Schlag. Und das lag an dem rothaarigen Jungen, der stets nur wenige Meter weiter auf der Schulbank neben ihr saß. Sie selbst hätte nicht erklären können, was sie so sehr an ihm faszinierte und warum sie stets an seiner Seite sein wollte. Noch dazu, wo er sie überhaupt nicht zu bemerken schien. Nie hatte sie ihn ihren Namen sagen hören. Aber an jedem Abend galt ihr letzter Gedanke, ehe sie einschlief, diesem rothaarigen Jungen. Und jeden Abend sagte sie seinen Namen: Ruden.

Als ihre Ausbildung zur Zauberin ein jähes Ende fand, tat sie, was viele gescheiterte Zauberschüler taten. Sie wurde eine Wächterin. Denn anders, als die Zauberer des Turms, die ihre Zauberschüler am Ende ihrer Ausbildung allein auf eine gefahrvolle Reise schickten, gaben die Zauberer des Feuers ihren Zöglingen zwei oder auch mehr Beschützer mit auf die Reise. Manche nannten sie die Niederen Zauberer. Aber andere, die mehr Respekt vor ihrer aufopferungsvollen Aufgabe hatten, nannten sie die Wächter des Feuers.

Und diese Wächter waren tatsächlich mächtige Beschützer. Aufgrund ihrer Zaubererausbildung hatten sie durchaus Wissen um die Zauberei erlangt und beherrschten jene unterschiedlich gut. Und was das Überleben in der Wildnis, das Fährtenlesen, Fischen und Jagen betraf, machte ihnen kein Zauberer etwas vor. Sie wurden erzogen den Zauberern des Feuers zu dienen.

In diesem neuen Leben, blühte die junge Tenaya endlich auf. Das Kämpfen und Jagen lagen ihr. Jetzt verbrachte sie auch kaum mehr Zeit in feuchten Kammern und modrigen Türmen, sondern sie trainierte an den Klippen und im ewigen Schnee Hadrias.

Insgeheim loderte in ihr noch immer die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit Ruden. Denn sie würde alles dafür tun, den guten Meister Lifornus davon zu überzeugen, dass sie Rudens Wächterin sein würde. Wenn er dann eines fernen Tages auf seine große Reise ginge, wären sie endlich wieder vereint. Vielleicht würde sie dann zum ersten Mal ihren Namen aus seinem Munde hören?

Doch alles kam anders, als der schlimmste Tag Tenayas anbrach. Es war jener verheerende Morgen, als Zauberer von nah und fern zum Eisernen Turm gerufen wurden. Denn die Zauberer der Feste von Yra waren überfordert mit einem der ihren. Ein Schüler, der völlig von Sinnen schien und damit drohte, sich Zugang zum Eisernen Turm zu verschaffen.

Lifornus brach augenblicklich auf, um zu helfen. Zwar herrschte keine Freundschaft zwischen den beiden Orden, doch lieber würde er einen wilden Arrog reiten, als einen Schüler in den Eisernen Turm zu lassen. Dem Ort, an dem die heiligsten und mächtigsten Relikte der Zauberer verborgen lagen.

Aber noch bevor Lifornus die Schule von Nordhom verließ, befahl er allen Zauberschülern dort zu bleiben. Zur Sicherheit versiegelte er das Tor hinter sich. Als er bald darauf auf Tenaya traf, die ihn pflichtschuldig begleiten wollte, wies er sie ebenfalls an, in der Schule zu bleiben.

Wie magisch angezogen steuerte Tenaya auf das versiegelte Tor zu. Vielleicht, um einen verstohlenen Blick auf Ruden werfen zu können? Um in dieser dramatischen Situation bei ihm zu sein? Sie wusste es später selbst nicht mehr. Doch als sie das Tor erreichte, da erfüllte sich endlich ihr so langgehegter Traum. Endlich hörte sie Ruden ihren Namen sagen.

„Tenaya! Öffne das Tor!“

Seine Worte klangen in ihren Ohren so süß und sie hätte in diesem stillen Moment alles getan, was er ihr befahl. Später sagte sie, sie habe an dieser Stelle das Bewusstsein verloren. Vielleicht hatte Ruden sie auch einem Zauber unterworfen. Jedenfalls war das Tor geöffnet, als sie irgendwann wieder zu sich kam. Und die Zauberschüler waren fort.

Tenaya wusste, was Ruden vorhatte. Sie wusste um sein Verlangen sich zu beweisen, sich als der talentierte Zauberer zu präsentieren, der er war. Die anderen Schüler folgten ihm sicherlich. Immer schon hatten sie ihn als ihren Anführer akzeptiert.

Mühelos nahm sie die Verfolgung auf und entdeckte bald schon die Spuren der Schüler im Schnee. Je weiter sie ihnen folgte, desto bedrückender wurde die Gewissheit um Rudens Ziel: Der Eiserne Turm! Doch noch lange bevor sie dieses mächtige Bauwerk erreichten, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Denn der außer Kontrolle geratene Schüler, der noch immer in den Turm einzudringen versuchte, verfügte offenbar über unheimliche Kräfte. Lange Zeit hatte er sie verborgen, doch nun ließ er ihnen freien Lauf. Tenaya selbst, die diesen blassen und stets zurückhaltenden jungen Zauberer namens Varkur, mehrere Duzend Male gesehen hatte, hätte ihm eine solche Kraft niemals zu getraut.

Während dieser Varkur sich einen erbitterten Kampf mit gleich mehreren, erfahrenen Zauberern lieferte, besaß er noch immer genügend Macht, um einer Gruppe bösartiger Nerax und einem riesigen Meerestroll seinen Willen aufzuzwingen. Wie ein Schutzwall umgaben sie den Eisernen Turm und hielten die Verstärkung durch weitere Zauberer auf. Es war unfassbar!
Und als Tenaya diesen viele Meter hohen Meerestroll mit eigenen Augen sah, da wurden ihr die Knie weich. Sie sank in den Schnee und alle Gedanken an Kampf oder List, fielen von ihr ab. Nichts in ihrer Ausbildung, weder zur Zauberin noch zur Wächterin, hatte sie auf so etwas vorbereitet. Unfähig sich zu rühren, sah sie zu wie der Meerestroll einen Zauberer nach dem anderen niederwarf. Und als sie den roten Haarschopf seines nächsten Opfers erkannte, da wurde es erneut dunkel um sie, und sie sank bewusstlos in den Schnee.

Terrek war ein hartgesottener Eisbauer. Er lebte davon der kargen und gefrorenen Erde Hadrias ein wenig Essbares abzuringen. Besondere Samen, mit guten Zaubern belegt und äußerst widerstandsfähig, trotzen der Ewigen Kälte Hadrias.
Auch an diesem Tag stocherte er im Schnee seiner Parzelle, doch plötzlich stieß er auf etwas Weiches. Vorsichtig grub er mit den Händen weiter. Dann erkannte er, dass es sich um ein menschliches Bein handelte.

Lifornus hatte nicht zum ersten Mal beobachtet, wie ein Mensch aus dem Schnee Hadrias befreit und langsam ins Leben zurückgeführt wurde. Doch noch nie war er so aufgeregt gewesen. Komplizierte Zauber und Salben, Tränke und Kräuter aus fernen Ländern waren nötig, damit das Leben zurückkehrte und der magische Schlaf der Ewigen Kälte wich.

Als Tenaya schließlich wieder zu atmen begann, verspürte Lifornus sowohl große Erleichterung als auch eine tonnenschwere Last. Denn Tenaya kehrte ins Leben zurück. Doch wie sollte er ihr erklären, was an jenem Tag, an dem der junge Varkur den Verstand verlor, geschah? Wie sollte er ihr erklären, dass sie dem gefürchteten Eisschlaf der Ewigen Kälte anheimgefallen war? Und wie sollte er ihr sagen, dass Ruden an diesem Tag, der nun mehr als 30 Jahre zurücklag, gestorben war. Für einen flüchtigen Moment dachte er daran, dass er zumindest diese letzte Wahrheit eine Weile für sich behalten könnte. Doch als Tenaya endlich die Augen öffnete, war das erste, dass sie fragte: „Wo ist Ruden?“

Monate später

Tenaya blickte auf. Vor dem kleinen Fenster ihrer Zellentür bewegte sich ein Schatten. Sie beobachtete reglos das Geschehen. Sie hoffte nicht darauf befreit zu werden. Seit dem schrecklichen Tag, an dem der Meerestroll so viele Zauberer tötete, hoffte sie auf überhaupt nichts mehr.

Die Oberen des Ordens des Feuers hatten sie weggesperrt, weil sie ihre Pflicht als Wächterin nicht erfüllt hatte. Schlimmer noch, sie hatte die jungen Zauberschüler überhaupt erst befreit. Nur Lifornus, ihr ehemaliger Mentor, hatte für sie Partei ergriffen. Er sah tiefer als andere und wusste längst um Tenayas stille Liebe zu Ruden. Und er hatte den wilden und tollkühnen Ruden gut genug gekannt, um zu wissen, dass er die treibende Kraft in all dem gewesen sein musste. Seit Monaten versuchte er Tenayas Schuldgefühle zu mindern, aber es gelang ihm nicht.

Das Schloss der Zellentür klickte leise. Dann wurde sie einen Spaltbreit aufgeschoben.

Lifornus Kopf tauchte in der Öffnung auf.

„Tenaya!“, zischte er. „Tenaya, wir haben wenig Zeit darum hör mir jetzt genau zu. Tenaya, hörst du mich?“

Die junge Frau sah den Zauberer ausdruckslos an.

„Tenaya, ich weiß, dich quält dein Gewissen noch immer. Aber glaube mir endlich, nicht du hast Rudens Tod verschuldet, sondern dieser Varkur. Du hättest nichts, aber auch gar nichts daran ändern können und wärest nur ein weiteres Opfer dieser Bestie geworden.“

Immer noch regte sich die junge Frau nicht.

„Aber ganz gleich, ob du mir glaubst oder nicht, das ist nun einerlei. Ich brauche deine Hilfe!“

Die junge Wächterin legte den Kopf schief.

„Ich fürchte es sind noch viel mehr Leben in Gefahr!“, fuhr Lifornus fort. „Wenn wir nicht schnell handeln, wird andere das gleiche Schicksal treffen, wie Ruden und seine Mitschüler. Bitte Tenaya, ich kann mich in dieser Angelegenheit niemand anderem anvertrauen. Du bist die Einzige, die der Aufgabe gewachsen ist!“

Tenaya stand langsam auf. Lifornus Worte schenkten ihr eine Wärme, diesie seit Langem nicht mehr gespürt hatte. Seine Worte bargen Hoffnung. Hoffnung auf Wiedergutmachung. Ihre Muskeln kribbelten. Schwankend streckte sie die Hände zu beiden Seiten aus und berührte die feuchten Zellenwände.

„Ich habe Nachricht aus einem weit entfernten Land bekommen“, hob Lifornus erneut an. Es muss Zufall oder Schicksal gewesen sein, das den Falken mit dieser Nachricht an mein Turmfenster klopfen ließ. Die Nachricht kam von einer Schülerin namens Eara. Sie ist auf Reisen im Süden. In einem fernen Lande namens Andor. Und dort stieß sie auf etwas, dass dort gar nicht sein dürfte. Sie hat eine vage Ahnung, doch weiß sie gar nicht, in welcher Gefahr sie und das ganze Land schweben. Du musst ihr helfen. Du musst nach Andor reisen und ihr diese Nachricht übergeben!“

Tenaya streckte die Hand aus und ergriff das eingerollte Pergament.

„Gut so!“, seufzte Lifornus. „Nun komm. Atme wieder die frische Luft. Deine Reise beginnt!“

Und so machte sich die Wächterin des Feuers auf die gefahrvolle Reise nach Andor. Sie war froh, um einen Neuanfang. Und was sie auch erwartete: alles war besser als in Hadria zu bleiben. Sie war froh dessen Ewige Kälte, die verdammten Zauberer-Orden und die Schreckenskreaturen hinter sich zu lassen. Und vor allen Dingen war sie froh, ihre Schuld hinter sich zu lassen.

Auf ihrer Fahrt, so sagt die Legende, passierte sie den mächtigen Leuchtturm des Seekönigs Varatans. Auch über den hatte sie damals viel lesen müssen und sie musste lächeln, als sie erkannte, dass ihr der Name des Zauberers, der mit Varatan gemeinsame Sache gemacht hatte, nicht einmal mehr einfiel. Und es fühlte sich an, wie das erste Lächeln seit hundert Jahren. Sie hoffte auf mehr davon und darauf, dass ihr die Menschen in Andor wohlgesonnen sein mochten.

Nun, wie alle Historiker Andors wissen, wurde Tenaya natürlich herzlichst empfangen, als sie an einem kalten Abend im März über die Schwelle der Taverne trat und ihr eigentliches Abenteuer erst begann …

Text und Zeichnungen: Michael Menzel