Siantari

Najuk sah die weiße Gestalt, die sich aus den nebelverhangenen Bergen des Fahlen Gebirges löste. Eine Wolke aus Schnee und Eis wirbelte um sie herum, und es schien, als würde sie darauf schweben. Die Erscheinung trug das Antlitz einer Frau. Sie hatte etwas Faszinierendes an sich, und Najuk konnte sich ihrem Bann kaum entziehen. Sie strahlte eine solche Eiseskälte aus, dass er spürte, wie seine Glieder langsam erstarrten. Bewegungslos sah er die durchscheinend anmutende Gestalt auf sich zukommen, und das Letzte was er hörte, bevor ihn die Sinne verließen, war: „Ich bin Siantari. In den tiefen Schluchten des Kuolema scheint niemals die Sonne auf das ewige Eis, und dort ist mein Reich.“
Langsam bewegte sich Siantari auf die Rietburg zu. Ein boshaftes Lächeln umspielte ihre frostigen Lippen. Ihre eiskalten Augen umfassten die weiten Felder des Rietlandes, sahen die Bauernhäuser, die den träge dahinfließenden Fluss säumten, und erblickten fern am Horizont die Ausläufer eines Gebirges. „Bald wird all das hier unter dickem Eis verschwunden sein“, dachte sie triumphierend und fühlte beinahe so etwas wie Glück.
Sie lächelte und war fast schon verwundert über dieses doch so menschliche Gefühl. „Bin ich das?“, hörte sie die Frage in ihrem Kopf. „Sian… tari? Bin ich ein Mensch?“
Ihr Lächeln verschwand. Sie hielt inne und dachte zurück, zurück an die Zeit, die nun fast 500 Jahre hinter ihr lag …

Sian verließ das Haus ihrer Eltern noch vor dem Morgengrauen. Der Pfad, dem sie folgte, schlängelte sich durch ein Meer aus Steinen den Berg hinauf. Oben angekommen, schritt sie durch einen Felsen, der sich wie ein Torbogen über den Weg spannte und den Blick freigab auf ein großflächiges Tal. Ihr Weg führte Sian tief in das Tal hinab. Sie drehte sich um. Die Sonne hatte sich hinter den Felsen versteckt, ganz so, als ob sie sich fürchtete, dem Mädchen weiter zu folgen.
Sians nackte Füße spürten die Kälte des Bodens, als sie ihr Ziel erreichte – das ewige Eis. Endlos breitete es sich vor ihr aus. Schimmerndes Weiß und kaltes Blau soweit das Auge reichte, und ein wohliges Gefühl durchströmte sie, als sie sich niederließ. „Hier bin ich zu Hause“, dachte sie. Für ihre Eltern hatte Sian nie so etwas wie liebevolle Gefühle entwickelt. Für sie empfand sie nur Gleichgültigkeit.

Schon immer hatte Sian gewusst, dass sie anders war. Sie lebte mit ihren Eltern in einer armseligen Hütte am Fuße der Berge von dem, was die karge Natur ihnen hier zu bieten hatte. Sie sammelten Holz und Beeren und jagten Rehe oder Kaninchen. Kontakt zu anderen Menschen gab es nie, wenn man von den wenigen Wanderern absah, die sich zu ihnen verirrten.
Als Sian sechs oder sieben Jahre alt war, hatte sie zum ersten Mal diesen starken Drang verspürt, auf das Eis zu gehen. Seitdem war sie jeden Tag hierhergekommen – jahraus, jahrein – hatte sich auf das Eis gelegt und diese Momente tiefer Zufriedenheit genossen. Natürlich hatte sie sich gewundert; jeder andere Mensch erfror, noch ehe er wusste, wie ihm geschah, das hatte sie selbst gesehen. Doch Sian lebte. Das Eis schien sie zu lieben und konnte ihr nichts anhaben.
Wieder und wieder hatte sie ihre Mutter danach gefragt, doch diese hatte sie immer nur mit traurigen Augen angesehen. Vor wenigen Tagen jedoch hatte sich der Blick ihrer Mutter verändert. Sie hatte sich zu ihr gesetzt und eine Ewigkeit lang geschwiegen, ehe sie leise und bedächtig zu erzählen begann.
„In den Tälern hoch oben im Kuolema haust seit fast 500 Jahren der Dämon des ewigen Eises. Vieles von dem, was wir wissen, ist kaum mehr als eine Legende. Er sei einmal ein Mensch gewesen, ein Tulgori wie wir, heißt es in den alten Geschichten. Niemand, der den Eisdämon sah, ist jemals lebend aus dem Gebirge zurückgekehrt, doch dein Vater und ich sind ihm begegnet. Und auch du.“

Sian schwieg, und es war das Einzige, das sie mit ihrer Mutter einen Augenblick lang verband.
„Die Nacht, in der du geboren wurdest, war ungewöhnlich kalt“, fuhr Sians Mutter fort. „Wir waren weit hinauf in die Wälder gegangen, um Holz zu sammeln und bemerkten zu spät, dass die Sonne unterging. Die Dunkelheit kam schnell, wir gerieten vom Weg ab und fanden uns plötzlich auf dem ewigen Eis wieder. In uns machte sich ein Gefühl breit, als würden wir erstarren, doch du wolltest nicht mit mir zusammen erfrieren. Die Geburt setzte ein. Wir glaubten uns schon verloren, als Rakurtari erschien, der Eisdämon. Er verschonte unser Leben, und er schenkte uns das deine.“

Noch einmal schwiegen Sian und ihre Mutter gemeinsam. „Der Preis für unser aller Leben war hoch. Eines Tages wird Rakurtari dich rufen, und du wirst seinem Ruf folgen.“
Sian lag noch immer mit ausgebreiteten Armen auf dem Eis.

Der Tag war gekommen, die Schuld zu begleichen. Sie hatte die Stimme des Eisdämons in ihrem Kopf gehört und war ihr gefolgt. Hier lag sie nun und spürte die Kälte an sich hochkriechen. Spürte, wie ihr Körper langsam eins wurde mit dem Eis, wie Rakurtari diese Welt verließ und sie seinen Platz einnahm.
Sian genoss das überwältigende Gefühl höchsten Glückes, doch jäh wurde ihr bewusst, dass sie nun niemals wieder den Pfad entlanglaufen, niemals mehr durch das Felsentor gehen und niemals die steilen Hänge des Berges überwinden würde. Eine Gefangene im ewigen Eis, dazu verdammt, 500 Jahre lang das Eis zu nähren, um am Ende einen neuen Eisdämon zu erschaffen und dann für immer im Eis zu versinken. Eine wilde Entschlossenheit machte sich in ihr breit. Sie würde einen Weg finden, diesem Schicksal zu entkommen. Eines Tages würde sie den Kuolema verlassen und frei sein.

Mit diesen Gedanken starb Sian, und mit ausgebreiteten Armen und eisigem Blick erhob sich Siantari.
Die Zeitalter vergingen, und allmählich spürte Siantari, dass die Zeit reif war, einen neuen Dämon des Eises zu erwählen. Doch die wenigen Tulgori, die sich noch in die entlegenen Hochtäler vorwagten, taugten nichts. Schwächliche Jungen, die meinten, das Eis der Berge würde sie zu Männern formen…
Eines Tages jedoch betrat von der anderen Seite der Berge aus ein Mann das Eis. Er war kein Tulgori, und Siantari fühlte, dass er der Richtige sein konnte. Sie hielt sich vor ihm verborgen und wartete darauf, dass ihn die Kälte schwächte. Dann war es ein Leichtes, ihm das Leben zu schenken, um das er sie anflehen würde, – und ihm dieses Leben dennoch gleich wieder nehmen.

Aber dieser Mann war anders. Er war nicht schwach. Er wärmte sich an Feuern, die er aus dem Nichts entfachte. Er schien ihre Anwesenheit zu spüren und sie zu beobachten, doch schon bald hatte er die Berge überquert, ohne dass Siantari ihr Versteck verlassen hatte.
Wieder gingen die Jahre ins Land. Für Siantari waren sie kaum mehr als ein Wimpernschlag, und dann fühlte sie, dass der Fremde zurückkehrte. Er überquerte den Kuolema nicht. Er ging unter den Bergen hindurch, und er war nicht allein. Und die Männer, die ihn begleiteten, trugen Mera-Steine bei sich, diese Narren!
Die Temm hatten die Tulgori gelehrt, die Steine aus dem Berg zu schlagen und einen Teil ihrer Kraft zu nutzen. Doch sie hatten ihnen nicht alle Geheimnisse verraten. Sie hätten die Tulgori warnen sollen, dass es ihre Steine waren und ihr Berg, dachte Siantari, der Berg von Elor und Avin und Rakur und Sian und aller Tari, die vor ihnen das Eis nährten und es noch nach ihnen für alle Zeiten am Leben erhalten würden.

Doch nun hatten sie ihr einen Weg gezeigt. „Sie haben das Tor geöffnet“, dachte Siantari und lächelte kurz, „mein Felsentor.“
Dann wandte sie sich nach Osten und verließ das ewige Eis und das Fahle Gebirge.

„Autoren: Matthias Miller und Dorothea Michels“