Hier noch eine Abschrift von Teil 1 des neusten Andor-Hörstücks, das im Rahmen vom Abenteuer Andor 2022 auf
http://www.tenayas-reise.de veröffentlicht wurde.
Tenayas Reise
von Michael Menzel und Stefanie Schmitt
gelesen von Hans-Peter Stoll
mit Musik von ELANE
Teil 1
"Eigentlich ist Andor nicht viel anders als Hadria", dachte Tenaya, als sie durch den Schnee stapfte. Dann verschnaufte sie einen Augenblick und rieb sich die kalten Hände. Dunkle Wolken rollten über den Himmel. Der Wind nahm zu und zerrte an ihrem hellgrünen Umhang. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend dachte sie, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, bei Lordas Eltern zu übernachten. Der Wind steigerte sich allmählich zu einem richtigen Schneesturm, und als Tenaya missmutig weiterstapfte, entschied sie: Nein, es ist sogar genau so wie Hadria.
Tatsächlich konnte die junge Frau nicht wissen, dass der Frühling im Lande Andor normalerweise zur schönsten Zeit des Jahres gehörte. Dann war die Luft erfüllt vom Duft der Hyazinthen. Auf den Wiesen wuchsen Primeln und Narzissen in allen nur erdenklichen Farben. Dicke Waldhummeln und Bienen summten über die Wiesen und Vögel zwitscherten erwartungsvoll in den Bäumen. Aber nichts war mehr so, wie es war, seit vor einigen Monaten der Winterstein aufgetaucht und die kalte Jahreszeit einfach nicht mehr weichen wollte.
Es schneite beharrlich und die Menschen des Rietlands, deren Vorräte sich dem Ende neigten, zog es zur Rietburg. Genau wie Tenaya. Auch sie hatte die Burg zum Ziel. Denn dort vermutete sie die Zauberin Eara, für die sie noch immer eine Nachricht von Meister Lifornus bei sich trug. Und so gelangte sie bald auf einen Trampfelpfad in Richtung Norden, den sich hunderte von Bauernfüßen seit dem letzten Schneefall gebahnt hatten. Auch hatte sie Gelegenheit, einige Andori auf dem gemeinsamen Weg kennenzulernen.
Lorda, eine hochgewachsene und schöne Bäuerin, floh mit ihrem Mann, einem äußerst kleinwüchsigen Mann mit buschigem silbernem Bart. Während er schweigend und dampfend den Karren mit ihren letzten Vorräten durch den Schnee wuchtete, schritt Lorda neben Tenaya einher.
"Die Burg ist der sicherste Ort in ganz Andor. Dort wird man dich freundlich empfangen", erklärte Lorda gerade und reichte Tenaya ein Stück Dörrfleisch.
"Bist du sicher? Ich bin doch eine Fremde."
Lorda lachte: "Wir sind alle Fremde in diesem Land. Unsere Väter und Mütter kommen aus der Knechtschaft der Krahder, den grausamen Riesen aus dem Süden. Wir sind Geflohene und sind alle hier gelandet. Wir sind die Angekommenen, die Andori."
Beide Frauen ließen den Blick über die weiten Ebenen des Rietlands schweifen. Kalkweiße Flächen und kahle Hügel, soweit das Auge reichte.
"Aber glaube nicht, dass hier in Andor alles zum Besten steht", sagte Lorda ernst, "Das Land wird von dunklen Kreaturen heimgesucht. Und in diesen Tagen spüren sie die unnatürliche Kälte ebenfalls. Ihre Furcht macht sie noch gefährlicher. Darum sind wir froh, in dieser schlimmen Zeit Schutz auf der Rietburg zu finden."
Dann schwiegen die beiden Frauen eine Weile. Tenaya kaute auf dem zähen Dörrfleisch und beobachtete das ungleiche Paar aus dem Augenwinkel. Lorda bemerkte ihren Blick und lächelte.
"Hella ist ein Zwerg. Ein Zwerg aus den Tiefminen. Ein schrecklicher Ort, an dem Zwerge von niedriger Abstammung schuften müssen. Aber er hat die Minen hinter sich gelassen. Genau wie der berühmte Kram."
"Wer?", fragte Tenaya.
"Kram. Ein Held Andors und Träger der Sternblume des Königs. Wenn du Eara auf der Burg antriffst, wirst du vielleicht auch ihm begegnen. Auch er wurde als Zwerg von niedriger Abstammung geboren und arbeitete in den Tiefminen. Aber Brandur ehrte ihn für seine Tapferkeit. Für König Brandur zählt nicht, was du bist, sondern was du tust."
Hella nickte zustimmend und brummte: "Wir sind gleich da. Dort ist die Kate deiner Eltern, Lorda."
"Oh, gut", sagte die Frau erschöpft und strich sich über ihren Bauch, "Ich bin froh, heute nicht mehr weiterlaufen zu müssen."
Erst da bemerkte Tenaya die leichte Wölbung.
"Möchtest du mit uns kommen?"
Freundlich blickte Lorda Tenaya an.
"Meine Eltern würden sich freuen."
Tenaya aber lehnte dankend ab. Es war noch früh am Tage und sie konnte noch einiges an Wegstrecke bewältigen. Sie verabschiedete sich und wünschte den beiden alles Gute.
Stunden später hatte Tenaya den Kopf gesenkt und kämpfte gegen den Sturm. Schritt um Schritt setzte sie ihren Weg fort. Doch im schwindenden Tageslicht war der Pfad vor ihr kaum mehr zu sehen und bald würde sie nicht mehr erkennen können, ob sie noch immer auf dem richtigen Weg war. Dann müsste sie zwangsläufig rasten. Und so hob sie immer wieder den Kopf und blinzelte in das Schneegestöber auf der Suche nach einem Haus, einem Unterschlupf oder irgendetwas, das ihr Schutz bieten konnte.
"Lauf weiter", trieb sie sich an, "Halte deine Augen offen. Verliere nicht den Mut."
Denn Tenaya wusste besser als jeder andere, wie gefährlich es sein konnte, zu verzagen. Sie wusste, dass dies kein gewöhnlicher Winter war. Sie wusste, dass diese Kälte, wenn man sich ihr ergab, ewig dauern konnte. Der eisige Wind kroch ihr in die Glieder und bleierne Müdigkeit ließ ihre Schritte schwer werden. Und als sie irgendwann erneut den Kopf hob, erschrak sie beinahe. Denn wie aus dem Nichts ragte plötzlich ein Turm auf einer kleinen Anhöhe vor ihr auf. Das war die Rettung. Mit der Aussicht auf einen guten Rastplatz nahm sie die Steigung mit großen Schritten. Je näher sie kam, desto deutlicher konnte sie den Turm erkennen. Es war mehr eine Ruine. Kein Dach. Und die Wände waren größtenteils eingefallen. Nun, wenigstens etwas Schutz vor dem schneidenden Wind würde das Gemäuer schon bieten. Vielleicht konnte sie ihren Umhang wie ein Zeltdach spannen. Während sie sich auf diesen Gedanken fokussierte, nahm ihr Unterbewusstsein etwas in ihrem geistigen Augenwinkel wahr. Etwas, das dringend ihre Aufmerksamkeit erforderte. Und endlich schob es sich in die Mitte ihres Bewusstseins. Das Heulen des Windes hatte zugenommen. Aber es hatte sich auch verändert. War das überhaupt noch das Heulen des Windes, oder...
Tenaya hielt abrupt inne. In geduckter Haltung spitzte sie die Ohren. Jetzt vernahm sie noch ein anderes Geräusch. Ein Fauchen? Ein Brüllen? Die Wächterin des Feuers zog ihr Schwert aus der Scheide und setzte ihren Weg fort. Vorsichtig und lautlos, bis sie schließlich auf die Kuppe der Anhöhe trat. Mit einem Mal wurden die Geräusche laut und deutlich. Tenaya blieb wie angewurzelt stehen.
Am Fuß der Anhöhe sah sie eine Gruppe von Reitern. Um sie herum bewegten sich mehrere Kreaturen, raubtierhaft, mit Krallen und Klauen bewehrt. Das waren Gors. In Schach gehalten wurden sie nur von einem großen Mann in wehendem blauen Umhang. Er hatte sich mit gezogenem Schwert schützend vor die Reiter gestellt. Da stürzte eine dieser Kreaturen vor. Doch noch ehe sie den hinteren der Reiter zu fassen bekam, tauchte der Hüne vor ihr auf. Mit einer gekonnten Bewegung versetzte er dem Gor einen Hieb, der ihn zurückweichen ließ. Schon im nächsten Moment gelangte der Mann wieder zur Spitze des Reitertrupps und wehrte eine weitere Kreatur ab. Die Reiter und ihre Pferde hingegen hatten sich noch immer nicht gerührt. Sie standen da wie aus Stein gemeißelt. Da wurde Tenaya klar, was hier geschehen sein musste. Mann und Tier waren dem Eisschlaf anheimgefallen. Und dieser einsame Krieger verteidigte ihre wehrlosen Körper gegen die hungrigen Kreaturen. Doch wie lange konnte er dieser Übermacht standhalten?
Mit einem Mal spürte sie Übelkeit in sich aufsteigen. Dies war der Moment, vor dem sie sich, seit sie aus Hadria aufgebrochen war, gefürchtet hatte. Es war, als wollte das Schicksal ihr eine zweite Chance geben, indem es sie in genau diese Situation geführt hatte. Diese Situation, die wie ein Zerrbild jenes verhängnisvollen Tages wirkte, an dem sie mitansah, wie ihr geliebter Ruden starb. Wieder kämpfte jemand tapfer gegen das Böse. Und wieder stand sie nur da und bewegte sich nicht. Geräuschlos sank die Klinge aus ihrer Hand und ihre Beine gaben nach.
Doch plötzlich drang eine Stimme an ihr Ohr und riss sie aus ihrer Benommenheit: "Ich weiß nicht genau, was du da machst, aber ich könnte hier ein bisschen Hilfe gebrauchen."
Die Stimme des Kämpfers hatte sie völlig unvorbereitet getroffen. Tenaya schüttelte sich. Ihr Blick fokussierte den Mann. War das ein Lächeln auf seinem markanten Gesicht?
"Komm schon!", rief er erneut, während er mit seinem Schwert einen weiteren Bogen schlug und die Klinge pfeifend durch die Luft schnitt, "Ich kann die hier nicht für immer aufhalten. Komm und hilf mir!"
Wie an Fäden gezogen kam Tenaya wieder auf die Füße, das Schwert bereits fest im Griff. Der Mut des Kriegers hatte eine ansteckende Wirkung. Aber noch mehr als sein Mut war es die Unbekümmertheit in seiner Stimme, die wie ein Zauber auf sie wirkte und die Furcht beiseite fegte. Mit einem Mal rannte sie die Anhöhe hinunter. Einmal losgerannt wurde sie immer schneller. Dann sprang sie mitten unter die Kreaturen, die sich im Rücken des Kriegers gesammelt hatten. Ihre Klinge schnitt durch das raue Fleisch der Gors. Blitzschnell hob und senkte sich ihre Waffe. Und ehe die Kreaturen ahnten, wie ihnen geschah, lagen zwei von ihnen verwundet im Schnee. Die Meute stob auseinander, um gleich darauf kehrt zu machen und die junge Frau als neues Ziel zu fixieren. Aber der Krieger hatte die Zeit der Ablenkung genutzt und sich rasch auf die andere Seite der Reitertruppe bewegt. Jetzt sauste sein Schwert auf eine der Kreaturen nieder und spaltete sie glatt in zwei Hälften.
Das war zu viel für die Bestien. Sie liebten es, arglose Bauern zu überfallen, und sie machten auch vor einem bewaffneten Ritter keinen Halt. Doch zwei erfahrene Krieger, die sie von zwei Seiten aus angriffen, das war nicht ihr Spiel. Jaulend nahmen die Kreaturen Reißaus.
Später fiel es Tenaya schwer zu beschreiben, wie sie sich in diesem Moment gefühlt hatte. Es war ein goldener Moment, in dem alle Schuld von ihr abfiel. Als habe sie sich endlich als würdig erwiesen. Als hätte sie ihren Platz in der Welt gefunden. Und dieses Gefühl verband sie von nun an auf ewig mit dem großen Krieger im blauen Umhang. Und ebenjener kam nun lächelnd auf sie zu.
"Hast dir ja ganz schön Zeit gelassen da oben. Aber mach dir nichts draus. Ich kenne das. Wenn du das einmal überwunden hast, dann klappt es fortan immer wieder. Ich bin übrigens Thorn."
"Tenaya", gab sie zurück.
"Freut mich. Komm, ich mache uns ein Feuer im alten Wehrturm. Dann kannst du mir erzählen, wo du herkommst."
Während Tenaya von ihrer bisherigen Reise erzählte, hatte Thorn einen kleinen Kessel und ein paar trockene Zweige hervorgezaubert. Rasch machte er ein Feuer, legte etwas Eis und ein paar Kräuter in den Kessel und hängte ihn über die Flammen. Bald schon duftete es nach würzigen Kräutern und Thorn füllte einen winzigen Krug mit der Flüssigkeit aus dem Kessel.
"Was ist geschehen?", fragte Tenaya und wies auf die Gruppe von Reitern, auf die sie die ganze Zeit ein wachsames Auge gehabt hatten. Erst von hier oben fiel Tenaya das seltsame Detail der Szenerie auf: Inmitten der Reitergruppe schimmerte ein großer blauer Stein und beleuchtete die erstarrten Personen und ihre Pferde um ihn. Einer der Männer hielt ein Schwert hoch erhoben, direkt über dem Stein. Thorn nahm einen Schluck des Kräutertrunks. Dann reichte er Tenaya den Minikrug.
"Siehst du den mit dem Schwert?"
Tenaya nickte.
"Das ist Thorald. Er ist der Sohn des Königs. Und außerdem ein Narr."
Tenaya musste lachen und verschluckte sich prompt an dem heißen Getränk.
"Ehrlich", grinste Thorn und klopfte der Frau neben sich auf den Rücken, "Ein Narr, wie er im Buche steht."
Nach einer Weile fuhr er fort: "Eara und ich brachten dem König den Winterstein. Wir mussten ihm von der Gefahr berichten. Außerdem ist König Brandur weise und mächtig. Er hat schon viel gesehen und es hätte sein können, dass er einen Ausweg weiß. Aber als die Tage länger wurden und sich keine Lösung abzeichnete, kam Thorald auf die Idee, den Stein woanders hinzubringen. Der König machte ihm klar, dass die Empfänger den Stein wohl nicht mit offenen Armen annehmen würden. Aber Thorald ließ sich nicht abbringen. Vor zwei Nächten nahm er den Stein an sich. Ohne die Erlaubnis seines Vaters ritt er mit seinen Getreuen, ebenfalls Narren, Richtung Süden. Ich nahm die Verfolgung auf."
Thorn füllte den Minikrug erneut und reichte ihn Tenaya.
"Tja. Und jetzt siehst du, in welchen Schlamassel er sich gebracht hat. Eara hatte ihn gewarnt. Sie meinte, der Stein ließe sich nicht einfach irgendwohin bringen. Und dass er voll Dunkler Magie sei. Er würde sich zur Wehr setzen."
Wieder ruhten ihre Blicke auf den Reitern. Die Sonne war untergegangen und das Glühen des Wintersteins tauchte die Szenerie in ein unheimliches Licht.
"Wo ist Eara? Ist sie auch hier?", fragte Tenaya, als sie sich plötzlich an die Nachricht von Meister Lifornus erinnerte.
"Nein. Sie verließ die Rietburg schon vor Tagen. Ich glaube, sie war es leid, auf eine Antwort ihres Meisters aus Hadria zu warten. Stattdessen wollte sie selbst nach Antworten suchen. Sie machte sich auf den Weg zum Baum der Lieder. Vermutlich hoffte sie, dort eine Lösung zu finden."
Thorn erhob sich und klopfte sich Schnee vom Umhang.
"Ich muss König Brandur berichten, was hier geschehen ist", sagte Thorn ernst, "Willst du mir erneut helfen?"
Tenaya nickte und stand auf.
"Gut", sagte Thorn, als er den Kessel ausleerte und wieder verstaute, "Ich kenne einen Bauern, der nicht allzu weit von hier lebt. Ich denke, er wird mir den Gefallen tun und gleich morgen zur Burg aufbrechen. Er wird dem König alles erklären. Das heißt aber, dass ich eine Stunde, vielleicht auch etwas länger, fort bin."
Tenaya ahnte, worauf der Krieger hinauswollte, aber es ängstigte sie nicht. Im Gegenteil. Der Trunk hatte sie aufgewärmt und sie fühlte sich gestärkt und kampfbereit.
"Ich passe auf den Prinzen und seine Männer auf", sagte sie mit fester Stimme.
"Das hatte ich gehofft", sagte Thorn lächelnd, "Aber sei vorsichtig. Es ist keine Frage, ob die Kreaturen zurückkehren, sondern nur, wann und wie viele."
Aber Tenayas Entschluss geriet nicht ins Wanken und sie nickte erneut.
"Danke, Thorn", sagte sie schließlich, "Du hast keine Ahnung, wie sehr du mir heute geholfen hast."
Thorn lächelte traurig und brach auf.
Die Wächterin besah sich die Reste von Thorns Feuer. Die kleinen Äste waren bereits verkohlt und gaben kaum mehr Wärme ab. Sie öffnete ihre Handflächen und hielt sie nahe der verlöschenden Flammen. Gierig leckten diese an ihren Fingern, während die Wächterin die leisen Worte eines Zaubers aufsagte. Lange Zeit hatte sie geglaubt, selbst eine Zauberin zu sein. Doch als man ihr sagte, dass ihre Begabung nicht ausreichte, hatte sie es mit Fassung getragen. Das Wissen aber, das man ihr vor dem Abbruch ihrer Ausbildung vermittelt hatte, konnte man ihr nicht nehmen. Und so beherrschte sie immer noch ein, zwei nützliche Zauber. Zauber wie diesen hier, der gerade die Flammen höher steigen und sich zischend in den Schnee fressen ließ.
Dies war ein Schicksalstag. Wen kümmerte es da, dass sie sich geschworen hatte, nie wieder zu zaubern? Und als sie erneut das Heulen der Kreaturen im Wind vernahm, dachte sie: "Ein Schicksalstag. Und vielleicht auch mein letzter Tag."