von TroII » 28. November 2021, 19:30
V – Ausgebrannt
Abenddämmerung, 25. Wintertag 77 A.Z.
Thronsaal in Roteisenstein, Cavern
„Das Fürstenpaar wünscht euch zu empfangen.“, grummelte der magere Wächter durch seinen schwarzen Bart. Er war selbst für einen Zwerg klein, und der Blick, den er ihnen zuwarf, während sie an ihm vorbeitraten, war derart grimmig, dass Eara Mühe hatte, sich ihn mit anderer Miene vorzustellen. Dann warfen er und seine drei Kollegen das Portal mit einem lauten Knall hinter ihnen zu und sie standen im prächtigen Thronsaal von Cavern.
Große Feuerschalen und Fackeln brannten in der Halle und erleuchteten die hohen Säulen, die in die Wände gravierten Runen, die protzigen Verzierungen aus Gold und Edelsteinen und die riesenhaften Statuen der vergangenen Zwergenfürsten, die die Wände säumten.
Der Thronsaal war nicht flach, sondern bestand aus drei terassenartig ansteigenden Ebenen. Am anderen Ende, ganz oben, standen zwei erhöhte Throne aus Marmor und überblickten den ganzen Saal. Doch die Sitzflächen waren leer.
Kram und Marun saßen nebeneinander, zusammen mit einigen anderen Zwergen, von denen Eara keinen erkannte, auf steinernen Bänken an einem reich mit Ornamenten verzierten Steintisch. Möbelstücke direkt aus dem Berg selbst zu schlagen hatte bei den Schildzwergen eine lange Tradition, die auch ein Fürst nicht einfach zugunsten von Bequemlichkeit opfern konnte.
„Willkommen, Freunde!“, sagte Kram herzlich. „Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, dass ihr noch pünktlich kommen würdet. Nehmt Platz!“ Er deutete großzügig auf die harten Steinbänke. Während Eara noch damit beschäftigt war, ihre Beine unter den niedrigen Tisch zu zwängen, brachten zwei Diener reichhaltige Speisen auf goldenen Platten und nahmen danach die Taschen mit sich. Sie hatten ihren alten Freund nach ihrem Weg einmal quer durch Cavern nicht noch länger hatten warten lassen wollen.
„Also, berichtet: Wie ist es euch ergangen?“, fragte Kram neugierig, nachdem er die Diener und die Zwerge, mit denen er sich zuvor besprochen hatte, fortgeschickt hatte. „Wie kommt es, dass von den Fünfen, die aufgebrochen sind, nur noch zwei zurückkehren, dafür mit Eara im Schlepptau? Und habt ihr den Samen erfolgreich aufgespürt?“
Wortlos legte Eara die tote Frucht auf den Tisch. Sie bemerkte, dass Krams Blick erst eine Weile an ihrer Hand aus Schatten klebte, ehe er sich davon lösen konnte und sich stattdessen auf die Frucht selbst konzentrierte. Unscheinbar lag sie zwischen Broten und dampfenden Schüsseln. Kaum sichtbar über das Licht der Laternen drang aus den feinen Rissen in ihrer verschrumpelten schwarzen Schale ein gebrochener grüner Schimmer, ansonsten hätte sie auch ein Essensrest sein können.
„Ihr habt das Herz also vor den Mächten des Meeres gefunden.“, nickte Marun erleichtert.
„Nicht ganz…“, korrigierte Thorn müde, dann berichteten er und Chada von ihren Erlebnissen. Von dem Treffen mit Kenvilar an der Himmelssäule. Von Leanders Übersetzung und dem dritten Herzen, das irgendwo versteckt sein musste. Vom zerstörten Klippenwacht. Von ihrer Jagd durch die Gänge Silberhalls und dem verschwundenen Drachenauge. Vom Angriff auf Sturmtal, von Meres, von ihren Doppelgängern und von Bragors Tod und Leanders Entscheidung. Von Ken Dorrs Plan, den Baum der Lieder zu opfern, um die Macht des Anbeginns in die unscheinbare Frucht auf dem Tisch zu konzentrieren, und von Drukil, der auf den Dieb aufpassen wollte. Eara ließ die beiden reden.
„Wenn Ken Dorr eingesehen hat, dass die Bewahrer ihre Heimat nicht zerstören werden, werden die beiden auch nach Cavern reisen.“, schloss Thorn. „Wenn wir bis dahin schon auf dem Weg nach Krahalzar sind, kommen sie hinterher.“
„Kram, wann genau müssen wir überhaupt los?“, hakte Chada nach. „Wie lange dauert der Weg zum Sternentor?“
Kram seufzte schwer. „Was das betrifft…“, murmelte er ernst. „Ich fürchte, ich muss euch mitteilen, dass Mart noch nicht mit der Krone zurück ist. Wir haben seit zwei Tagen nichts mehr von ihm gehört.“
Eara starrte Kram lange an und legte eine gewisse Schärfe in ihre Stimme: „Sicher wäre er nicht so leichtsinnig, die Sicherheit der Rietgraskrone leichtfertig aufs Spiel zu setzen.“
Kram zuckte ratlos mit den Schultern. „Nach unseren letzten Berichten stand es nicht gut um die Rietburg. Keine Vorräte mehr, immer mehr Verluste…“ Chada und Thorn erbleichten mit jedem Wort mehr. „Wenn Mart zu dem Schluss kam, dass nur der direkte Kampf die Rietburg noch retten könnte, dann will ich nicht ausschließen, dass er zu diesem Mittel griff. Aber er weiß, was von der Krone abhängt. Er wird vorsichtig gewesen sein. Wahrscheinlich ist er längst auf dem Rückweg und wir zerbrechen uns hier unnötig den Kopf.“
„Eine Einheit ist zur Sicherheit bereits unterwegs, um der Sache auf den Grund zu gehen.“, ergänzte Marun.
Kram nickte. „Wir können es uns noch leisten, drei Tage zu warten. Danach bleibt euch keine Wahl, als zum Sternentor aufzubrechen, ob mit Krone oder ohne.“
„Euch?“, wiederholte Eara. „Begleitest du uns nicht?“
Kram wechselte einen langen Blick mit Marun. „Es tut mir leid.“, verkündete er. „Aber ich habe versprochen, nicht mehr von dem Platz zu weichen, an den ich gehöre. Und dieser Platz ist hier. Als Fürst von Cavern. Als Mann meiner Fürstin. Als Vater meiner Kinder.“
Die letzten Worte hingen schwer im Thronsaal.
„Kram, heißt das …“, fragte Thorn stockend.
Sanft legte Kram eine Hand auf Maruns Bauch. Die Fürstin lächelte und legte ihre eigene darüber.
Eara unterdrückte ein Seufzen und wartete die unzähligen begeisterten Glückwünsche ab, mit denen Chada und Thorn das Fürstenpaar überschütteten.
„Könnten wir zu drängenderen Problemen zurückkommen?“, fragte sie nach mindestens dem zehnten Teil einer Stunde.
Kram erwiderte leicht verlegen ihren kühlen Blick. „Ich werde nicht dabei sein, aber ich schicke euch meine besten Krieger mit.“, versprach er.
„Du selbst bist dein bester Krieger.“, meinte Eara.
Kram seufzte. „Dann eben meine besten bis auf einen. Die alte Mralla wird euch natürlich auch begleiten, sie ist unsere kundigste Runenmeisterin. Und“, bei diesem Wort hob er mahnend den Zeigefinger, „ich gebe euch die vier Mächtigen Schilde mit.“
„Kannst du das?“, fragte Chada sichtlich erstaunt. „Du hast seit Jahren versucht, die Schilde wieder zu vereinen. Was hält dein Volk davon, wenn du sie uns jetzt wieder zur Verfügung stellst?“
„Nicht viel.“, lächelte Kram. Seine Augen funkelten. „Deshalb gebe ich die Schilde auch nicht euch, sondern meinen besten Kriegern, dagegen kann niemand etwas sagen – und zufälligerweise werden die euch allesamt begleiten und haben die Vollmacht, sie im Kampf zu verwenden, wie auch immer es ihnen sinnvoll erscheint.“
„Wir werden dafür Sorge tragen, dass sie alle heil zurückkommen.“, versprach Chada.
„Am wichtigsten ist, dass ihr heil zurückkommt.“, seufzte Kram. „Der Ewige Rat muss fallen!“
Marun ergänzte leise: „Wenn die Krone in drei Tagen immer noch nicht da ist, könntet ihr auch Runenmeisterin Mralla vorausschicken, damit sie das Sternentor öffnet. Fornurs Flamme ist nur in einer einzigen Nacht zu sehen, die nächste Gelegenheit bietet sich erst in zwanzig Jahren wieder. Im schlimmsten Fall öffnet sie den Zugang nach Krahalzar und ihr sucht währenddessen weiter nach der Krone.“
„Aber jeder Tag, den wir verlieren, bedeutet, dass der Ewige Rat mehr Unheil anrichtet!“, protestierte Chada. „Und wenn die Krone in die Hände des Feindes gefallen ist…“
Sie beendete ihren Satz nicht.
„Wir wollen hoffen, dass es dazu nicht kam.“, meinte Eara kühl.
Kram seufzte schwer. „Das tun wir längst, Eara. Das tun wir längst.“
Morgendämmerung, 26. Wintertag 77 A.Z.
Gästekammern in Roteisenstein, Cavern
Eara schlug die Augen auf und verdichtete im Bruchteil eines Herzschlags ihre Schatten zur Verteidigung um sich. Mit angehaltenem Atem starrte sie in die vollkommen lichtlose Kammer, in der sie übernachtet hatte, und lauschte auf das ohrenbetäubende Grollen und Rumpeln von allen Seiten. Mit einem einzigen Gedanken entzündete sie die Feuerschale neben der Tür und betrachtete den heftig zitternden Boden. Um sicherzugehen, dass nicht nur das wild flackernde Feuer ihren Augen einen Streich spielte, legte sie ihre gesunde Hand an eine der Wände ihrer Kammer: Ja, unzweifelhaft. Der Fels bebte.
Nach kurzer Zeit ließ das Getöse nach und Eara konnte auf der anderen Seite ihrer eisenbeschlagenen Tür bereits schwere Schritte und laute Rufe auf zwergisch hören.
Woher war das Beben gekommen? Ein Einsturz in der Nähe ihrer Kammer, ausgelöst durch schlampige Arbeit oder Sabotage? Ein ganz natürliches Beben?
Erst, als ihr Blick auf den Beutel fiel, den sie zur Sicherheit in ihrer Reichweite gelassen hatte, begriff sie. Ruhig öffnete sie die Schnüre und lugte hinein. Die tote Frucht hatte sich von außen kaum verändert. Das grüne Glühen aus ihrem Inneren hatte vielleicht etwas an Intensität dazugewonnen, doch nicht einmal da war Eara sich sicher. Sobald sie jedoch eine Hand auf die trockene Schale legte, spürte sie sofort die gewaltige Macht, die in der Frucht brodelte. Die Macht, Leben aus dem Nichts zu erschaffen, aus Willen Schöpfung werden zu lassen, die Fesseln der Natur zurückzulassen und ins Leben zu rufen, was immer vorstellbar war. Eine Macht, ebenso grenzenlos wie die Fantasie, konzentriert in eine unscheinbare kleine Frucht. Dies war wahrhaftig das Herz der Geburt, der Baum des Anbeginns. Und das hieß…
„Ken Dorr hat es tatsächlich geschafft.“, erklärte Eara, während sie die tote Frucht auf die glatte hölzerne Tischplatte legte. Die Einrichtung in den Gemächern des Fürstenpaars war deutlich schlichter als im Thronsaal – und deutlich gemütlicher. Nacheinander sah sie Kram, Marun, Thorn und Chada in die geweiteten Augen. „Ich spüre die Macht in diesem Samenkorn, wann immer ich es berühre.“
Kram senkte den Blick und rückte die silbern glänzende Schildkrone auf seinem Kopf zurecht. Irgendwie hatte er es geschafft, in der kurzen Zeit, die seit dem Beben vergangen war, seine komplette Rüstung anzulegen, nur die Krone wollte nicht ordentlich auf seinem Haupt bleiben. „Also, dieses Beben…“, begann er unbehaglich.
„War der Puls der Mutter.“, bestätigte Eara. „Die Bewahrer müssen tatsächlich den Baum der Lieder geopfert haben, damit wir seine Macht nutzen können.“
Sie sah, wie Chadas Unterkiefer sich bei diesen Worten ein kleines Stück nach vorne schob. Doch die Bogenschützin hatte sich unter Kontrolle. Ihre Stimme zitterte nur leicht, als sie hervorpresste: „Dann wollten wir das meiste aus diesem Opfer machen. Diese Macht ist der des Schwarzen Herolds ebenbürtig. Wir brauchen die Rietgraskrone vielleicht gar nicht. Wir werden ihn hiermit besiegen – und danach einen neuen Baum der Lieder pflanzen!“
Langsam streckte sie die Hand aus, wartete, ob irgendjemand Einspruch erhob, und nahm dann ehrfürchtig die Frucht zwischen ihre Hände. Konzentriert starrten ihre grünen Augen ins Licht aus den schmalen Rissen, ihre Stirn legte sich Falten, sie hielt die Luft an … und nichts geschah. Das Herz der Geburt glomm unbeeindruckt vor sich hin, bis Chada die Frucht deprimiert an Thorn weiterreichte. „Es funktioniert nicht!“, flüsterte sie tonlos. „Das ist nichts als ein Stück totes Holz.“
Thorn schloss die Augen, atmete tief und gleichmäßig und regte sich genau so wenig wie die Frucht in seiner Hand. Nach bestimmt über fünfhundert Herzschlägen des bangen Wartens verlor Fürstin Marun die Geduld, nahm die Frucht einfach aus seiner Hand und versuchte es selbst – ebenso erfolglos. Nachdem auch ihr Gemahl vergeblich probiert hatte, der Frucht irgendeine Reaktion zu entlocken, hefteten sich alle Augen auf Eara, die langsam aufstand, ihren dunklen Stab mit der gesunden Hand umfasste und die Frucht mit der anderen entgegennahm.
Augenblicklich spürte sie wieder die ungezügelten Energien hinter der dunklen Schale brennen. Behutsam spürte sie sich hinein, versuchte die unsichtbaren Ströme umzulenken und in Form zu gießen. Diese Macht wollte ausgeschöpft werden, das war ein Teil ihrer inneren Ordnung. Es sollte ein Leichtes sein, diese Ordnung zu verstärken.
Doch etwas war im Weg. Eine verborgene Barriere. Ein Hindernis, schwerer zu durchbrechen als die rissige Schale. Irgendetwas versperrte ihr den Zugang zur Macht des Anbeginns, blockte all ihre Versuche ab, etwas daraus zu formen.
Eara schloss die Augen. Die Ordnung des Herzens zu verstärken brachte nichts. Sie zu zerstören hingegen…
In ihrer linken Schulter kribbelte es unangenehm, während die Dunkle Magie sich weiter durch ihren Körper brannte. Doch Eara kümmerte sich nicht darum. Sie sandte ihre Schatten gegen das unsichtbare Bollwerk. Was wäre ihr nicht alles möglich, wenn sie dieses Hindernis erst aus dem Weg geräumt hätte! Der Ewige Rat und alles Leid, das er über die Welt bringen wollte, ließe sich verhindern. Und dann … dann könnte sie eine neue Ordnung errichten. Wie kleingeistig nahmen sich ihre Überlegungen zu einer Welt ohne Tod aus im Vergleich zu dem, was hiermit möglich wäre! Sie könnte Wesen schaffen, klein und sparsam, zu keinem anderen Gefühl als reiner Freude fähig, zu keinem anderen Zweck geboren, als zu existieren! Und grauenhafte Bestien, mit der Aufgabe, diese Wesen zu versorgen und alles zu zerfleischen, was ihnen gefährlich werden konnte. Mit der Macht des Todes ließen sich die Leben von Menschen, Zwergen und Taren verlängern – doch mit der Macht der Geburt wären sie alle überflüssig geworden. Sie könnte etwas Besseres erschaffen! Eine Welt frei von allem Leid!
„Eara, was tust du? Du zerstörst sie!“
Thorns Stimme unterbrach ihre Gedanken. Ihre eigenen Überlegungen kamen ihr mit einem Mal schrecklich fremd vor. Eara schlug die Augen auf und sah zur Frucht hinunter. Ihre schwarzen Finger hatten sich so tief in die trockene Schale gebohrt, dass weitere Risse erschienen. Und jetzt, wo ihre Aufmerksamkeit sich wieder auf die Frucht richtete, bemerkte sie auch, wie brüchig ihre innere Ordnung geworden war. Eara begriff, dass auch die Dunkle Magie ihr hier nicht helfen konnte. Sie würde das Herz zerstören, noch bevor die Macht darin erreichbar war. Und wenn das geschah…
denn wenn die macht eynes hertzens vernichtet ist, wird die welt aufhoeren zu seyn.
Sie wollte ihre Versuche einstellen, doch ehe sie dazu kam, ergriff sie ein anderer Gedanke: Die Macht des Herzens war ihnen verschlossen. Die Rietgraskrone verschollen. Wie sollten sie den Ewigen Rat noch aufhalten? Wenn die Krone sich nicht wiederfinden ließ, hatten sie ihre letzte Waffe verloren. Der Schwarze Herold würde alle freien Völker versklaven und peinigen, um seine Rache zu vollenden – und das bis in alle Ewigkeit. Oder genauer: Solange diese Welt bestand. Lag es nicht an ihnen, dies zu verhindern? Um jeden Preis? Eine Welt, die der Ewige Rat regierte … War das wirklich besser als keine Welt? War ein rasches Ende dem endlosen Schmerz nicht vorzuziehen?
Tausende, Millionen, Milliarden von Leben würden verstreichen, angefüllt mit Schmerz. All die Menschen, Zwerge, und Taren ließen sich vielleicht nur durch ihren Tod schützen. Und nicht nur sie. Was war denn mit dem Vieh, all den Ziegen und Ochsen, die ihr ganzes Leben in Gefangenschaft gehalten wurden, zu niederen Arbeiten gezwungen und ermordet, sobald sie keinen anderen Nutzen mehr brachten? Was mit den unzähligen Tieren, die ihr elendes Leben in Freiheit verbringen mussten, stetem Hunger, Kälte, Verletzungen, Krankheiten und Fressfeinden ausgesetzt, bis sie schließlich eines qualvollen Todes starben?
Sie spürte, wie ihre Schatten fast wie von selbst den Druck auf die Frucht verstärkten, anstatt davon abzulassen. Gleich wäre alles vergangen. Kein Schmerz mehr. Keine Welt mehr, in der ihre Dunkelheit allen um sie herum zur Gefahr werden könnte, in der ein unschuldiges Mädchen am Grunde eines Vulkans Jahrhunderte der Qual erdulden musste, in der ihr alter Mentor …
Eara keuchte auf. Was geschah hier? Alles, was sie in Hadria geopfert hatte, hatte Orweyns Prophezeiung und Qurun, das Ende der Welt, aufhalten sollen! Wie konnte sie jetzt versuchen, genau das herbeizuführen?
Sie wankte und gab ihrer Hand den Befehl, die Frucht loszulassen. Doch die Schatten weigerten sich, drückten unerbittlich weiter zu. Die Dunkle Magie widersetzte sich ihr!
„Eara! Hör auf! Sofort!“, rief Chada. In ihrer Stimme lag eine solche Kraft, dass Eara spürte, wie auch ihr eigener Kampfgeist gestärkt wurde. Mühsam kämpfte sie gegen ihre eigene Magie an, bis der gesamte Arm aus Dunkelheit sich schließlich zu einem durchlässigen Schatten auflöste und die tote Frucht zu Boden fiel und davonkullerte.
Eara spürte die besorgten Blicke ihrer alten Freunde auf sich, doch sie vermochte nicht zu sagen, ob diese Sorge ihr oder dem Herzen galt. „Nehmt die Frucht!“, keuchte sie. „Lasst mich nicht mehr in ihre Nähe!“
Ohne weitere Erklärung drehte sie sich um und hastete taumelnd aus den Gemächern des Fürstenpaars. Als die Steintür gewaltsam aufschlug, griff der grimmige Wächter, der scheinbar zu Krams oder Maruns persönlicher Leibwache gehörte, kurz zu seiner Axt, doch Eara stürmte einfach an ihm vorbei und ließ ihn schnell hinter sich. In ihrer Schulter brannte es, während die Dunkle Magie sich durch ihre Adern fraß und den Preis forderte, um den sie betrogen worden war. Eara fühlte sich leer und ausgebrannt. Und obwohl auch das nur ein Gefühl war, konnte sie es nicht ganz zum Verlöschen bringen.
Früher Vormittag, 27. Wintertag 77 A.Z.
Gästekammern in Roteisenstein, Cavern
„Herrin, der Fürst schickt mich! Ihr sollt zu seinen Gemächern kommen.“, rief eine raue Stimme durch die Tür ihrer Kammer. Eara konnte Furcht darin hören. Ihre Dunkelheit schüchterte Menschen und Zwerge gleichermaßen ein. Gut. Es war richtig, sie zu fürchten. Sie war in der Tat gefährlich.
„Ich komme!“, antwortete sie laut, um es dem verängstigten Boten zu ersparen, ihr persönlich gegenübertreten zu müssen. Was wollte Kram? Hoffentlich nicht über die Ereignisse von gestern sprechen. Sie hatte ihn seit ihrer Flucht aus den Gemächern nicht mehr gesehen, hauptsächlich weil sie Thorn aus dem Weg ging, der die Frucht jetzt an ihrer Stelle verwahrte. Doch es war klar gewesen, dass das nicht auf Dauer so bleiben konnte. Eara hatte die Zeit genutzt, um ihre Magie genauer zu ergründen und unter ihre Kontrolle zu zwingen. Sie war bereit.
Vor der Tür warteten – neben dem grimmigen Wächter natürlich – Chada und Thorn. Als Eara sich zu ihnen stellte, warfen sie erst einander und dann ihr vielsagende Blicke zu, die sie zu ignorieren beschloss. „Worauf warten wir?“, fragte sie.
„Darauf, dass wir eingelassen werden.“, antwortete Thorn mit einem müden Nicken in Richtung des mageren Wächters.
„Der Fürst hat ausdrücklich verlangt, von niemandem gestört zu werden.“, grummelte der Zwerg.
„Das ist Unsinn.“, erwiderte Eara kühl. „Er hat uns selbst herbestellt.“
Der Zwerg stellte sich ihr tapfer in den Weg, doch den Schatten, die ihn mühelos beiseite schoben, konnte eine Axt nichts anhaben. Ohne anzuklopfen öffnete Eara die Tür und erstarrte, als sie neben dem Fürstenpaar noch zwei andere vertraute Gesichter sah.
Ken Dorr und Drukil sahen beide erschöpft aus. Gleichwohl erstattete der Dieb soeben ausführlich Bericht und schien ganz in seinem Element. Drukil hingegen saß mit angespannten Schultern auf dem zu kleinen Stuhl und musterte unruhig die Decke der Kammer, als hätte er Angst, dass sie jeden Moment einstürzen konnte.
„Gut, ihr seid da!“, rief Kram. Dann runzelte er die Stirn. „Eara, bitte lass Casax los. Und Casax, bitte lass meine Gäste ein.“
Als ihre Schatten den Wächter wieder absetzten, bedachte er Eara mit einem beleidigten Blick, ehe er auch Chada und Thorn Platz machte und die Tür schloss.
„Drukil!“, riefen Thorn und Chada fast gleichzeitig und liefen zu ihrem Freund. Der Hautwandler sprang erschrocken auf und stieß sich fast den Kopf an der niedrigen Decke. Scheinbar verunsichert ließ er zwei Umarmungen über sich ergehen und er breitete sogar für Eara die Arme aus, auch wenn sie den Abscheu in seinen Zügen lesen konnte. „Nicht nötig.“, sagte sie knapp und Drukil ließ seine Arme sichtlich erleichtert wieder fallen und setzte sich, ohne ein Wort gesprochen zu haben.
Ken Dorr erhielt keine Umarmungen, dafür einen eisigen Blick von Chada. „Du hast die Bewahrer überzeugen können?“, zischte sie.
Ken Dorr verzog das Gesicht. „Nicht alle, aber den Obersten Priester. Selbst ich war erstaunt, wie schnell er bereit war, seine Heimat zu … erneuern, wie er es nannte. Die Schriften wurden natürlich in Sicherheit gebracht, bevor der Baum verbrannte.“
Ein hartes Funkeln trat in Chadas Blick, doch falls Ken Dorr es bemerkte, zeigte er keine Reaktion. Stattdessen fragte er gierig: „Was konntet Ihr erreichen? Welche Macht besitzt das Herz der Geburt? Habt ihr es schon ausprobiert?“
„Ja, und zwar vergeblich!“, stieß Thorn mürrisch hervor, während er die Frucht aus seiner Tasche zog. Eara spürte, wie ihre Dunkle Magie sofort reagierte und sich am liebsten darauf gestürzt hätte, doch sie war vorbereitet und bezähmte den Drang nach Zerstörung. Thorn warf sie dem überraschten Drukil zu. „Probier du es, vielleicht hast du Erfolg, wo wir versagten.“
Drukil fing den schwarzen Klumpen auf und starrte verwirrt darauf. Ob er irgendwelche Anstrengungen unternahm, die Macht darin zu wecken, ließ sich nicht beurteilen, jedenfalls geschah nichts.
„Ken Dorr, wie macht es der Schwarze Herold?“, fragte Eara schließlich.
Der Angesprochene kniff die Augen zusammen. „Ich weiß nicht …beiläufig…“ Nachdenklich beugte er sich zu Drukil hinüber und streckte langsam die Hand aus.
„Nein, Ken Dorr!“, befahl Chada eisig. Der Dieb blinzelte verwirrt, sah die Bogenschützin fragend an und folgte ihrem Blick zu seiner ausgestreckten Hand. Dann lächelte er gequält und zog den Arm behutsam wieder zurück.
„Der Herold flüstert keine Zauberformel oder dergleichen, er … macht es einfach.“, fügte er achselzuckend hinzu. Ratlos sah er auf, wand sich eine Weile unter Earas starrem Blick und ergänzte zuletzt: „Manchmal reckt er seine Faust empor…“
Eara nickte Drukil zu, doch der schien der Unterhaltung längst nicht mehr zu folgen. Sorgfältig betastete er die glatten Intarsienarbeiten aus glänzendem Stein, die in die hölzerne Tischplatte eingelassen waren, und schenkte dem Rest seiner Umgebung keine Aufmerksamkeit.
„Drukil!“, rief Kram. Der Hautwandler sah erschrocken auf und erwiderte reglos und mit leicht offenstehendem Mund Krams auffordernden Blick. Der Fürst der Schildzwerge streckte Drukil seine Faust entgegen und hob sie andeutungsweise. „Heb´ die Faust.“, erklärte er.
Drukil streckte den Arm aus, griff nach Krams Handgelenk und zog es so weit nach oben, wie das bei einem sitzenden Zwerg eben möglich war.
„Deine eigene Faust. Mit dem Herzen darin. Und dann versuche erneut, seine Macht anzuzapfen.“, erklärte Chada geduldig.
Drukil ließ Krams Hand wieder los und hob stattdessen die eigene. Das Herz reagierte noch immer nicht, doch Drukils Blick war derart teilnahmslos, dass Eara sich nicht sicher war, ob der Hautwandler auch nur versuchte, das zu ändern. Was war nur mit Drukil los? Forschend sah sie ihn an, bis er ihren Blick bemerkte und schnell die Augen niederschlug. Das wiederum war typisch für ihn. Wahrscheinlich machte sie sich nur unnötig Gedanken.
„Das wird nichts.“, murmelte Thorn schließlich, und Drukil senkte den Arm wieder.
„Wir werden es weiter versuchen.“, entschied Chada verbissen. „Solange die Rietgraskrone nicht wieder auftaucht, ist das Herz unsere einzige Waffe gegen den Schwarzen Herold. Drukil, du wirst es weiterhin verwahren und …“
„Wie bitte?“, rief Ken Dorr schrill. „Die Krone ist noch nicht wieder hier?!“ Fassungslos starrte der Dieb sie der Reihe nach an.
„Wir … warten noch auf Kommandant Mart.“, gestand Kram zerknirscht.
Zorn verzerrte Ken Dorrs Züge. „Ich habe gesagt, dass es eine schlechte Idee ist, die Krone wegzugeben!“, zischte er. „Wieso hört nie jemand auch mich? Und wieso hielt es niemand für nötig, mir davon zu …“
Ein lautes Pochen an die Tür unterbrach ihn. „Herein!“, bat Kram stirnrunzelnd.
Eine Zwergin in leichter Rüstung öffnete die Tür. Ihre Wangen waren gerötet und ihr Atem ging schwer. „Dringende Botschaft für den Fürsten!“, hechelte sie.
Kram musterte sie aufmerksam. „Brasa, nicht wahr? Du warst bei dem Spähtrupp, den ich zur Rietburg gesendet habe.“
Die Augen der Botin leuchteten stolz, als sie ihren Namen hörte. „Ja, mein Fürst!“
Er warf Ken Dorr einen schnellen Blick zu und meinte dann: „Komm zu mir und erzähl!“
Die Botin schlängelte sich an den anderen vorbei und flüsterte Kram ihre Nachricht ins Ohr. Brasa war gut, Eara konnte kein Wort verstehen. Sie sah nur, wie Krams Gesicht sich mehr und mehr verfinsterte.
„Danke, Brasa.“, murmelte er schließlich, und sie entfernte sich respektvoll.
Fürst Kram seufzte schwer und verkündete ernst: „Keine Spur von Mart, aber das ist noch nicht das Schlimmste. Meine Freunde…“ Er stockte und berichtete ohne weitere Umschweife: „Die Rietburg ist gefallen.“
Chada und Thorn schrien gleichzeitig auf, und Marun fluchte auf zwergisch. Kram gemahnte mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Viel kann ich euch nicht sagen, meine Späher sind frühzeitig umgekehrt, um mir schnellstmöglich zu berichten. Die ganze Nacht hindurch brannte ein riesiges Feuer und die Rauchwolke ist bis Cavern zu sehen, mehr weiß ich nicht.“
Ein bleiernes Schweigen flutete die Kammer. Eara hörte die Stimme der Schwäche über den Verlust klagen, doch sie zwängte sie schnell nieder.
„Deine Vergangenheit wird in Flammen vergehen, deine Zukunft wird in Flammen vergehen.“, flüsterte plötzlich Chada mit bleichem Gesicht. „Der Baum der Lieder und die Rietburg, der Ort, der meine Heimat war, und der, der sie hätte werden sollen, beide wurden ein Raub der Flammen.“ Mit weiten Augen sah sie in die Runde. „Lassen die Drohungen der Drei Schwestern sich wirklich nicht aufhalten?“
„Wir schreiben uns unser eigenes Schicksal.“, erwiderte ausgerechnet Ken Dorr.
„Sei du bloß still!“, schrie Chada wütend. „Deinetwegen wurde der Baum der Lieder zerstört, und wir haben nichts dadurch gewonnen! Wir werden weiter versuchen, die Macht der Geburt zu wecken, aber ich warne dich, Ken Dorr: Wenn wir den Schwarzen Herold am Ende ohne ihre Hilfe besiegen, dann werde ich nicht vergessen, wem dieses nutzlose Opfer zu verdanken ist!“
Ken Dorr hob abwehrend die Hände und setzte zu einer Erwiderung an, doch Chadas Blick belehrte ihn eines Besseren. Wortlos stand er auf, nickte ihnen allen mitfühlend zu und verließ die Kammer.
„Ich schicke ihm ein paar Wächter hinterher.“, teilte Marun leise mit.
„Nein!“, meldete sich überraschend Drukil zu Wort. „Es … Ich … Hinterher!“ Er sprang auf, steckte das Herz der Geburt ein und folgte Ken Dorr. „Frische Luft!“, hörte Eara ihn noch murmeln, dann war er ebenfalls verschwunden.
„Ich schätze, damit sind wir für den Moment fertig.“, sagte Kram leise. „Spätestens morgen Abend brecht ihr auf, hoffentlich ist bis dahin Mart mit der Krone wieder hier. Nutzt die Zeit, um euch zu erholen und zu trauern.“
Eara nickte knapp und verließ ebenfalls die Kammer, während Chada und Thorn sich noch gegenseitig aufhalfen. Selbst der grimmige Casax vor der Tür warf ihr einen bekümmerten Blick zu, als sie an ihm vorbeiging, dabei war sie vollkommen ruhig. Wie viele waren in der Burg gewesen? Fünfhundert vielleicht? Bedauerlich, gewiss, aber unbedeutend im Vergleich zu dem, was noch auf dem Spiel stand. Der Ewige Rat musste geschlagen werden, nur darauf kam es an. Viele Verluste türmten sich schon am Wegesrand, doch sie zu betrauern wäre nichts als eine Ablenkung. Der Weg war nur der Weg. Hauptsache, er führte zum Ziel.
„Eara!“, hörte sie Chadas Stimme hinter sich. Sie blieb stehen und wartete, bis die andere ein paar leise Worte mit Thorn gewechselt und der Krieger sich verabschiedet hatte. „Wir müssen reden.“, sagte Chada anschließend leise.
Eara holte tief Luft. „Wenn es um den Vorfall von gestern Morgen geht, dann spar dir die Worte; ich werde die Frucht nicht…“
„Das ist es nicht.“, unterbrach Chada gereizt. Eara sah ihr an, wie aufgebracht sie noch war, doch ihre Stimme war kontrolliert. „Normalerweise würde ich so etwas mit Leander besprechen, aber…“ Chada seufzte. „Du kanntest ihn von uns allen am besten. Abgesehen vielleicht von Drukil, und der könnte mir hier kaum weiterhelfen, zumal er sich so merkwürdig …“ Sie verstummte und schüttelte leicht den Kopf, wie um ihre Gedanken zu ordnen.
Eara musterte sie unbewegt an und erwiderte: „Niemand von uns hat ihn wirklich gekannt. Jetzt sprich.“
Chada nickte schwach. „Es geht um den Text des Themauras.“
„Die alte Tafel? Leander wurde mit seiner Übersetzung nicht fertig.“
„Nicht die Tafel. Der erste Text. Der, den du in Hadria gefunden hast.“
Eara schwieg. Sie konnte kaum fassen, dass seither nur drei Monde vergangen waren.
„Themauras hat vom Höchsten Propheten geschrieben, dem Auserwählten, der die Macht der Herzen vereint und … und der nur die vereinte Macht beherrschen kann. Nachdem wir mit einem Herzen allein nichts erreicht haben habe ich mich gefragt…“
„Ob du die Friedensbringerin bist?“, fragte Eara skeptisch.
„Nicht unbedingt ich…“
„Chada, dir ist bewusst, dass es drei Herzen gibt? Wenn wir den Ewigen Rat zerschlagen, werden wir danach das Herz der Geburt und das des Todes haben, aber das Herz der Ewigkeit kann noch immer am anderen Ende der Welt stehen. Und selbst wenn wir durch irgendeinen Zufall daran kommen sollten – wenn wir schon daran scheitern, die Macht eines Herzens zu nutzen, wieso sollte es dann besser sein, wenn wir es bei drei gleichzeitig versuchen?“
„Ich weiß nicht.“, gab Chada eingeknickt zu. „Du kennst dich mit so etwas am besten aus.“
„Verabschiede dich von dem Gedanken.“, sagte Eara. „Und überhaupt, warst du nicht dagegen, die Macht der Herzen auch nach dem Ende des Ewigen Rates noch zu nutzen?“
Mit offenem Mund sah Chada sie an, in ihren grünen Augen sah Eara den Konflikt toben. Die Verlockung von all der Macht, die zum Wohle der Völker dieser Welt benutzt werden könnte – und die Angst, was diese Macht aus ihr machen würde.
Schließlich schlug Chada die Augen nieder und ging ohne ein weiteres Wort.
Und erst am späten Abend, als Eara bereits in ihrem Bett lag, ihre Ziele analysierte und reflektierte, welches ihre heutigen Fehler und Unzulänglichkeiten gewesen waren, erinnerte sie sich an die Analyse der Runensteine, die Mechanicus Hedal ihr präsentiert hatte. Drei Objekte, deren Macht unerreichbar war, es sei denn, alle drei waren vereint.
Summarische Trinität.
In dieser Nacht träumte Eara, zum ersten Mal seit langer Zeit. Sie träumte von Chada, die alle drei Herzen vereinte und der Welt Frieden schenkte. Es war ein schöner Traum.
Früher Nachmittag, 28. Wintertag 77 A.Z.
Gästekammern in Roteisenstein, Cavern
Vorsichtig rollte Eara ihren linken Ärmel Stück für Stück nach oben, bis schließlich anstatt der kalten Schatten weiches Fleisch zum Vorschein kam. Die Dunkelheit hatte inzwischen ihren ganze Arm verschlungen, kroch bereits ihr Schlüsselbein entlang und fraß sich bis zum Brustansatz herunter.
Eara setzte sich auf ihrem Bett etwas um, fixierte den hochgeschobenen Ärmel mit ihrem Kinn, legte die gesunde Hand auf den schwarzen Arm und konzentrierte sich. Nach einigen Herzschlägen glitten ihre Finger hindurch und die Schwärze verblasste, bis sie nur noch als seltsam körperlicher Schatten an ihrer Seite hing.
Eara hatte ihre Hand knapp über dem Handgelenk abgetrennt, doch die Dunkle Magie hatte ihren Arm nach und nach zersetzt. Fleisch, Blut und Knochen waren aufgelöst, nur pure Finsternis war zurückgeblieben. An ihrer Schulter, wo der Prozess noch nicht abgeschlossen war, wurde jetzt eine unregelmäßige Struktur aus durchlöchertem Fleisch und halb zersetzter Haut aus dem Schutz der Dunkelheit gerissen. Die Spuren der Dunklen Magie sahen aus wie die Fraßgänge winziger Maden, in denen sich jetzt, da nur noch gestaltlose Schatten sie ausfüllten, an manchen Stellen langsam Blut und Wundflüssigkeit sammelten. Doch Eara spürte keinerlei Schmerz, selbst wenn sie ihre Finger in die Wunden grub. Die Verwandlung ging langsam, lautlos und unauffällig vonstatten. Nur wenn sie viel Dunkle Magie in kurzer Zeit beschwor, verriet ihr ein Stechen in der Schulter, dass sie einen Teil ihrer Selbst verlor.
Nachdenklich betrachtete Eara ihre entstellte Schulter. Wo andere Ekel verspürt hätten, erfüllte sie nichts als kühle Konzentration. Ruhig kalkulierte sie, wie viel Zeit ihr noch blieb, je nachdem wie sparsam sie mit ihren Kräften umging. Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, dann wären sie noch spätestens heute Abend nach Krahalzar aufgebrochen, wären pünktlich in der Nacht auf den 31. Wintertag am Sternentor angekommen und am folgenden Tag in der Halle des Hohen Rates, wo der Schwarze Herold residierte. Doch Mart war noch immer nicht mit der Krone zurück, und inzwischen glaubte auch niemand mehr daran, dass er noch kommen würde. Sie hatten beschlossen, heute Abend nur die Schildzwerge zum Sternentor zu senden, die sie zum Kampf gegen den Ewigen Rat hatten begleiten sollen. Der Trupp sollte die Passage öffnen, die Helden von Andor und Ken Dorr hingegen würden in Richtung der zerstörten Rietburg ziehen und nach der verschollenen Rietgraskrone suchen. Und dieser zusätzliche Aufschub warf Earas gesamte Berechnung über den Haufen.
Eara wankte nicht in ihrem Entschluss, ihr Leben zu beenden, bevor die Dunkelheit sich bis zu lebenswichtigen Organen ausgebreitet hatte. Doch wenn sie zu verschwenderisch mit ihrer Dunklen Magie umging, würde das geschehen, noch ehe sie den Schwarzen Herold stellen konnten. Wenn sie sich dagegen zu sehr einschränkte, musste sie auf einen Teil ihrer Fähigkeiten verzichten, die vielleicht für die Suche nach der Krone von entscheidender Bedeutung waren. Es war vertrackt.
Gedämpfte Geräusche rissen sie aus ihren Überlegungen. Durch die dicken Balken ihrer niedrigen Tür drang ein schwaches Gurgeln, dann ein dumpfer Aufprall. Kampflärm?
Sie sprang auf und griff nach ihrem Stab. Da ihre Konzentration durchbrochen war, strömte die Dunkle Magie von selbst an ihren Platz zurück und formte rasch wieder ihren tiefschwarzen Arm.
Jeder Vorsatz, keine Dunkle Magie zu verwenden, war ausgelöscht. Sie beschleunigte magisch ihre Schritte und bereitete einen Schild aus Schatten vor. Dann stieß sie ihre Tür auf.
Ein toter Schildzwerg lag in einer sich langsam ausbreitenden Blutlache. Er trug ein dickes Kettenhemd und hatte eine Axt im Gürtel, beides hatte ihn nicht vor dem tiefen Stich in den Hals gerettet. Neben der Leiche kauerte Drukil über einer schmalen Gestalt in rußverschmierter Kleidung, zu lang für einen Zwerg und zu klein für einen Menschen.
„Was ist hier geschehen?“, fragte Eara scharf.
Drukil hob langsam den Kopf, wie üblich ohne ihr in die Augen zu blicken. „Da waren Geräusche. War zu langsam … auch gerade erst angekommen.“
Eara sah den Flur hinunter. „Die Tat kann noch keine fünfzig Herzschläge her sein. Du musst zumindest gehört haben, wie der Angreifer davongelaufen ist.“
Drukil nickte zögernd und deutete den Gang hinunter.
„Warum sitzt du dann hier?“
„Sie retten … vielleicht…“
Eara, die bereits die ersten Schritte in Richtung von Drukils ausgestrecktem Arm geeilt war, hielt inne und schenkte der zweiten Gestalt mehr Aufmerksamkeit. Sie war doch ein Mensch, allerdings noch nicht erwachsen. Ein Mädchen von vielleicht fünfzehn Sommern, mit blondem Haar und ungewöhnlichen schwarzen Augen. Und sie lebte noch.
Eara ließ sich neben Drukil nieder und sah sie aufmerksam an. Ihr Atem ging schwach, und ihre Lider flatterten, obwohl Eara keinerlei Verletzungen bemerkte. Ein rascher Heilzauber brachte keinerlei Besserung.
„Was hast du?“, fragte Eara deutlich. Das Mädchen hob schwach die Hand, aber anstatt eine Antwort zu geben, deutete sie nur mit dem Zeigefinger auf Drukil.
„Das hier lag auf dem Boden.“, erklärte der Hautwandler und hob ein kleines Glasröhrchen, in dem sich ein paar Tropfen einer klaren Flüssigkeit befanden.
„Gift?“, vermutete Eara. Dann wandte sie sich wieder an das Mädchen: „Weißt du etwas über das Gift? Wer hat dir das angetan?“
Die einzige Antwort war ein Zucken ihres Fingers, der noch immer auf Drukil gerichtet war. Was sie eigentlich hatte zeigen wollen, war unmöglich zu bestimmen. Anscheinend verließen sie ihre Kräfte.
„Bleib bei mir.“, bat Eara. “Sieh mich an.“
Eara benötigte Blickkontakt für die mentale Verbindung, durch die sie fremde Gedanken und Erinnerungen auslesen konnte. Sie sah dem Mädchen tief in die mühsam offen gehaltenen Augen. Irgendetwas war merkwürdig in ihnen. Hatte die Iris vorhin noch schwarz gewirkt, tanzten jetzt blau, violett und golden schillernde Schatten darin. Einen kostbaren Moment ließ Eara sich ablenken, ehe sie sich losriss und endlich mit dem eigentlichen Zauber begann. Quälend langsam baute sich die unsichtbare Brücke zwischen ihnen auf, und Eara war bereit, auf die andere Seite zu wechseln und nach dem Angriff zu suchen …
… doch nichts hatte sie auf das vorbereitet, was sie erwartete, kaum dass die Verbindung vollendet war. Dutzende Überlegungen, die sich parallel weiterentwickelten, zu schnell, als dass Eara auch nur einer hätte folgen können. Hunderte Eindrücke, die von allen Seiten aufgenommen, ausgewertet und abgespeichert wurden. Tausende und Abertausende von Erinnerungen, die in rascher Folge auf sie einströmten, so viele, dass keine einzige klar auszumachen war.
Eara musste innehalten. Dies war ein Geist wie eine Kathedrale; mit hohen Säulen, lichtdurchflutet und ehrfurchtgebietend. Eara stand eben erst auf der Schwelle und war bereits jetzt überwältigt. Niemals hatte sie etwas Vergleichbares angetroffen. Mehr Erinnerungen strömten ungebrochen auf sie ein, als sie bei einem so jungen Menschen für möglich gehalten hätte. Und doch war das nur die Oberfläche. Von dem, was sich darunter verbarg, erlangte Eara nur eine ungefähre Vorstellung. Verborgene Muster, die ihr niemals zuvor aufgefallen waren. Die Spielregeln der Welt, die sich sonst nur in Erscheinungen äußerten und die plötzlich klar zu Tage traten.
Und dann, auf einen Schlag, erlosch das alles. Benommen blinzelte Eara und sah auf das Gesicht des Mädchens herunter. Die seltsamen bunten Augen waren geschlossen, die Verbindung war durchtrennt. Und Eara hatte nichts herausgefunden.
Langsam schüttelte Eara den Kopf. Das Mädchen atmete noch immer, wenn auch schwach, und auch das Herz pochte noch. Was auch immer das für eine Flüssigkeit war, sie war nicht sofort tödlich.
Eara erhob sich. „Hol Hilfe.“, wies sie Drukil an. „Wachen, die die benachbarten Gänge durchkämmen können, und einen Heiler.“
Drukil nickte steif. „Und … du?“
„Ich warte. Wer auch immer hierfür verantwortlich ist, könnte zurückkommen. Wir wissen nicht, was er wollte.“
Drukil blinzelte. „Doch.“, murmelte er.
Eara bedachte Drukil mit einem fragenden Blick.
„Sie hatte etwas dabei.“, flüsterte er, dann zog er zwei Gegenstände hervor.
Eara erstarrte. In der Hand hielt Drukil die Rietgraskrone. Einer ihrer gewellten Zacken war verbogen, doch ansonsten war sie unbeschädigt. Ungläubig strich sie über das kühle Gold, ehe sie sich dem zweiten Objekt widmete. Ein Stück Stoff war an die Krone gebunden, auf das mit Kohle einige Sätze geschmiert waren, die Eara lange studierte:
Bringt dies unverzüglich zu den Helden von Andor!
Es gibt zu viel zu sagen, doch ich beschränke mich auf dreierlei:
1. Traut Ken Dorr nicht! Lasst ihn nicht an eure Sachen!
2. Der fehlende Satz lautet: „Dieser Kreislauf wird bewacht durch den schlafenden Träumer der Zeit und Hirten der drei Herzen.“
3. Es tut mir leid.
„Leander.“, flüsterte sie. Was hatte er mit diesem Mädchen zu schaffen? Wie war er an die Rietgraskrone gekommen? Eara verspürte eine gewisse Neugierde, und sie ließ dieses Gefühl zu, um all die anderen zu übertönen.
„Vergiss, was ich gesagt habe.“, meinte Eara, während sie Drukil die beiden Objekte zurückgab. „Begib dich auf direktem Wege zu Fürst Kram.“
Später Nachmittag, 28. Wintertag 77 A.Z.
Flüsternde Kammern in Roteisenstein, Cavern
„Ein seltenes Schlafgift aus Tulgor.“, erklärte Kram, während er das Glasröhrchen hochhielt. „In geringer Dosis ein Mittel gegen Schlaflosigkeit, in hoher tödlich. Die Menge, die dieses arme Kind wohl schluckte, lag irgendwo dazwischen. Sie wird die nächsten drei oder vier Tage schlafen und, wenn wir ihr währenddessen genug Flüssigkeit einflößen, danach unbeschadet aufwachen.“
„Diese Zeit haben wir nicht.“, stellte Eara fest. „Jetzt, wo wir die Krone haben, müssen wir noch heute Abend zum Sternentor aufbrechen. Gibt es einen Weg, sie früher aufzuwecken?“
„Meine Heiler wissen keinen.“, seufzte Kram.
Schweigend blickten sie auf das Mädchen in ihrem zu kleinen Bett herunter. Nur Chada, Thorn, Drukil, Kram und Eara waren anwesend, die Heiler und Runenmeister hatten sich respektvoll in die Haupthallen zurückgezogen und die Tür der kleinen Seitenkammer geschlossen, sodass sie sich in Ruhe besprechen konnten. Oder zumindest dem, was Ruhe hier unten am nächsten kam – damit die Heiler immer frisches Wasser zur Verfügung hatten, lagen ihre Kammern direkt über dem unterirdischen Fluss Tatru, wodurch von allen Wänden ein stetes, unheimliches Flüstern echote. Gerüchten zufolge mischten sich darunter die letzten Worte all derer, die in diesen Kammern ihr Leben ausgehaucht hatten.
„Dann müssen wir anderweitig herausfinden, was das Ganze zu bedeuten hat.“, meinte Chada nachdenklich. „Weiß jemand mehr über sie? Ihre Verbindung zu Leander? Oder warum der Seher nicht selbst kam?“
Geh, und komme nicht zurück. Wenn ich dich noch einmal sehen muss, werde ich keine Gnade mehr walten lassen.
Eara schwieg, und Kram antwortete: „Vielleicht finden ihn die Zwerge, die ich losgeschickt habe, dann kann er es uns selbst erzählen.“
Thorn beugte sich stirnrunzelnd näher über ihr Lager. „Sie kommt mir entfernt bekannt vor. Sie … könnte unter den Befreiten gewesen sein?“ Er ließ es wie eine Frage klingen, deren einzige Antwort ein ratloses Schweigen und das Wispern aus den Wänden war.
„Ihr wurde die Zunge herausgerissen.“, berichtete Kram schließlich.
Reglos betrachtete Eara das schlafende Gesicht. Deshalb also hatte sie nicht versucht, mit ihr zu sprechen. „Irgendjemand wollte sie wirklich zum Schweigen bringen.“, stellte sie fest. „Ich frage mich, weshalb er sie nicht einfach getötet hat.“
„Die Zunge fehlt schon lange, die Verletzung ist längst ausgeheilt.“, beeilte sich Kram zu sagen und ergänzte mit nachdenklicher Miene: „Aber die Frage, weshalb der Angreifer sie nicht ebenso ermordet hat wie den armen Brodil, ist berechtigt…“
„Könnte sie es selbst gewesen sein?“, überlegte Thorn. Auf die verblüfften Blicke von allen Seiten hin erklärte er schnell: „Der Zwerg hat nicht einmal seine Waffe gezogen, er hat also nicht mit einem Angriff gerechnet. Und es würde erklären, wie der Angreifer so schnell entkommen konnte, und weshalb er sie nicht getötet hat.“
Eara schüttelte knapp den Kopf. „Wo ist dann die Waffe geblieben, mit der Brodil getötet wurde? Von wem stammen die Schritte, die Drukil gehört hat? Und wenn sie wirklich im Auftrag des Ewigen Rates hier wäre, weshalb sollte sie uns dann die Krone bringen?“
Thorn senkte beschämt den Blick, obwohl Eara es eigentlich schätzte, dass er seine Gedanken so freimütig äußerte, selbst wenn sie nicht zu Ende gedacht waren.
„Nein, der Mörder ist nicht sie.“, fasste Eara zusammen. „Wir haben es mit einem Diener des Ewigen Rates zu tun, der bewaffnet ist, der ein seltenes Gift bei sich trägt, der nicht vor Mord zurückschreckt, der vermutlich um die Bedeutung der Krone weiß, der sich ohne Verdacht zu erregen bei unseren Quartieren herumtreiben kann und mit dessen Angriff Brodil nicht gerechnet hat.“ Sie warf einen langen Blick in die Runde. „Seien wir doch ehrlich: Wir denken alle an die selbe Person.“
Traut Ken Dorr nicht! Lasst ihn nicht an eure Sachen!
„Drukil, du hast Ken Dorr im Auge behalten. Wann hattest du ihn zuletzt gesehen?“
Drukil verzog unbehaglich das Gesicht. „Stunde vorher, dann verloren.“, murmelte er nach einem kurzen Zögern. „War gerade auf der Suche nach ihm.“
Chada stieß vernehmlich Luft aus. „Das heißt, er könnte tatsächlich …“
„Nein.“, unterbrach Kram müde. „Das Mädchen ist vor knapp einer Stunde am Haupteingang aufgetaucht, hat den Wächtern dort ihre an die Helden von Andor adressierte Botschaft gezeigt und sich vom bedauernswerten Brodil zu euch führen lassen. Ken Dorr ist die gesamte Zeit über verdächtig vor meinem Thronsaal herumgeschlichen, meine Wachen haben ihn nicht aus den Augen gelassen. Es schien, als würde er auf etwas warten. Doch was auch immer es war, er kann es nicht gewesen sein.“
Eara überlegte, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht war. Einerseits hatten sie damit keine Ahnung mehr, wer es dann gewesen war. Andererseits jedoch … wenn Ken Dorr sie tatsächlich hinterging…
Traut Ken Dorr nicht! Lasst ihn nicht an eure Sachen!
Plötzlich klopfte es lautstark an die Tür, und Fürst Kram wurde herausgerufen. Der Rest blieb schweigend zurück und lauschte dem ruhigen Atem der Schlafenden und dem steten Flüstern aus den Wänden.
„Du hast die Krone noch, Drukil?“, fragte Chada schließlich. Wortlos holte der Hautwandler sie hervor. Ihr Gold schimmerte im Licht der Feuerschalen. Leanders Botschaft war noch immer daran gebunden, und irgendjemand hatte sich sogar die Mühe gemacht, den verbogenen Zacken wieder zu richten.
„Danke.“, murmelte Chada und nahm die Krone an sich. In ihren grünen Augen lag eine Wehmut, deren Ursprung sich Eara nicht erschloss.
Im nächsten Moment öffnete sich die Tür und Kram war zurück. „Freunde“, sagte er schwer, „wir haben Leander gefunden. Er war kaum hundert Schritt vom Eingang entfernt hinter einem Hügel.“
Drukil schloss die Augen und legte schwer atmend den Kopf auf die Brust. In den Blicken von Chada und Thorn sah Eara die widersprüchlichen Gefühle um die Vorherrschaft streiten, die auch in ihr selbst loderten, eingeschlossen in einen brüchigen Panzer aus Eis. Die Stimme der Schwäche mischte sich ins Flüstern der Wände, und Eara verdrängte sie.
Dann holte Kram tief Luft, und die Art, wie er dabei die Zähne aufeinanderpresste und sichtlich nach Worten suchte, verriet Eara genug. Sie wusste schon, was er sagen würde, noch bevor er es tat, und trotzdem ließen die Worte das Eis in ihr noch weiter zerbrechen.
„Er … lag dort mindestens zwei Stunden mit aufgeschnittener Kehle. Es tut mir leid. Er ist tot.“
Abenddämmerung, 28. Wintertag 77 A.Z.
Halle der Gefallenen in Schwarzeisenstein, Cavern
Leander lag halb unter schwarzem Tuch auf einer Bahre aus dunklem Stein. Seine blauen Hände waren über der Brust gefaltet, sein knorriger Stab lag neben ihm. Ein schmales Tuch bedeckte seinen Hals wie eine verrutschte zweite Augenbinde. Um seine Lippen spielte ein erstarrtes Lächeln.
Die drei schwarz gewandeten Zwerge, die soeben noch das schwarze Laken zurechtrückten und kleine Quarze und Onyxe in einem Halbkreis um Leanders Kopf platzierten, machten lautlos Platz und ließen sie allein. Hier unten war das Sprechen nur den Trauernden erlaubt.
Die kleine Trauergemeinschaft bestand nur aus der Gruppe, die vor einer Stunde noch am Lager des schlafenden Mädchens versammelt gewesen war. Die letzten Helden von Andor. Vielleicht wäre unter anderen Umständen eine größere Zeremonie vorbereitet worden, sicher gab es auch unter den Zwergen viele, die Leander dankbar waren für seine Hilfe in Krahd. Doch es blieb keine Zeit. Sie mussten noch in dieser Nacht zum Sternentor aufbrechen, wenn sie Fornurs Flamme nicht verpassen wollten. Eara hielt es für Zeitverschwendung, überhaupt hier zu sein.
„Leander.“, begann Kram gedämpft. „Ich danke dir. Du hast uns unterstützt auf unserem beschwerlichen Weg nach Krahd. Mit welchen Motiven du uns ursprünglich auch begleitet hast, am Ende halfst du uns, die Tyrannei der Krahder zu beenden. Du hast gegen Kreaturen und Skelette gekämpft, gegen die Krahder und den Ewigen Rat. Du hast uns die Rietgraskrone zurückgebracht, und mit ihr die Hoffnung.
Wir werden dein Wissen vermissen, deine Gabe der Voraussicht, deinen Scharfsinn, deine klugen Ratschläge und deine Geduld. Wir werden dich vermissen, Leander. Möge deine Ruhe so tief sein wie der Fels.“
Kram trat zurück und Thorn nahm dessen Platz ein. Der Krieger räusperte sich und sagte mit brüchiger Stimme: „Tja, was soll ich da noch hinzufügen? Du warst ein guter Freund, und ich hoffe, dass ich das ebenfalls war. Du bist zu uns gekommen, um uns zu verraten, doch du bist geblieben, um zu helfen. Du hast uns für deinen Bruder verlassen, und bist doch zurückgekehrt, um uns den Sieg zu ermöglichen. Ich wünschte, du hättest nicht mit dem Leben dafür bezahlt. Ich wünschte, wir hätten noch einmal miteinander sprechen können. Du wusstest immer mehr als wir anderen. Obwohl du blind warst, konntest du von uns allen am meisten sehen.
Wenn dies wirklich meine letzten Worte an dich sind, dann lass mich dir sagen, dass ich deinen Tod nicht einfach nur hinnehmen werde. Ich werde tun, was immer ich kann. Um deinen Mörder zu finden und zu betrafen. Um den Ewigen Rat zu besiegen, damit dein Opfer nicht umsonst war. Und vielleicht auch … um das alles ungeschehen zu machen.“ Thorn trat mit gesenktem Blick zurück. Seine rechte Faust zitterte. Eara wusste, dass er eine Phiole darin trug, in der sich etwas des blutigen Schnees befand, in dem Leander gefunden worden war.
Bei Thorns letzten Worten war eine steile Falte auf Chadas Stirn erschienen. Doch jetzt glättete sie sich wieder. Mit ausdruckslosem Gesicht starrte Chada auf Leanders Leichnam.
„Du hast meine Mutter ermordet.“, sagte sie gepresst. „Du hast gewaltiges Leid vorhergesehen, und du hast es zugelassen. Du hast uns über Monde hinweg nichts als Lügen erzählt. Du trägst die Schuld am Tod von Bragor. Und für all das hasse ich dich.“
Chada blinzelte und atmete tief durch. „Aber du hast auch an unserer Seite gestanden, als es darauf ankam. Du hast uns alle deine Untaten gestanden, und obgleich wir dich im Zorn verließen, bist du zurückgekehrt. Weil wir und alle, die unter dem Ewigen Rat zu leiden haben, dir trotz allem wichtig waren. Weil du ein wahrer Held Andors warst, auch ohne je die Sternblume zu tragen. Du warst der Beweis dafür, dass wir uns auch nach Jahrhunderten noch immer ändern können, und ich kann kaum ermessen, wie schwer dieser Schritt für dich war. Was ich sagen will ist … Ich verzeihe dir.“
Chada blieb lange neben Leander stehen, ohne einen Muskel zu rühren. Dann drehte sie sich abrupt um und stellte sich zu Thorn. Ihr Blick war starr ins Leere gerichtet.
Drukil holte tief Luft und setzte nur einen winzigen Schritt in Richtung von Leander. Ohne den Toten anzublicken brummte er: „Es tut … mir … leid.“
Diese schlichten Worte schienen seine ganze Kraft aufgebraucht zu haben. Mit hängenden Schultern stand er da, in einer engen Kammer, umgeben von seinen Freunden, und doch irgendwie verloren.
„Können wir dann?“, fragte Eara kühl.
„Du … willst nichts sagen?“, vergewisserte sich Chada. Ihr mitfühlender Blick glitt an Earas kalter Fassade ab.
„Warum sollte ich? Er ist tot. Sein Blut ist draußen im Schnee verteilt. Sein Hirn beginnt bereits zu verfaulen. Er hört uns nicht mehr. Ich werde meinen Atem nicht mit sinnlosen Worten verschwenden.“
„Ach, Eara.“, seufzte Kram leise. Seine dunklen Augen musterten sie schwer. „Die Worte der Trauer mögen wir an Leander gerichtet haben, doch gesprochen haben wir sie nicht für ihn, sondern für uns selbst. Wenn du ihren Sinn nicht mehr begreifst, bist du noch blinder als er.“
Der Fürst straffte sich. „Packt eure Sachen und bereitet euch vor. In zwei Stunden verabschiede ich euch am Tiefen Hafen. Seid pünktlich, wir können uns keine weiteren Verzögerungen mehr erlauben.“
Mit diesen Worten verließ er sie. Drukil eilte hinterher, er schien diesen bedrückenden Ort nicht schnell genug verlassen zu können. Chada und Thorn blieben noch eine Weile schweigend stehen, dann gingen auch sie. Eara blieb alleine in der Kammer zurück. Sie war längst bereit; alles, was sie brauchte, trug sie bei sich. Sie wusste nicht, wohin sie sollte, also blieb sie einfach stehen. Stille breitete sich aus, und auch wenn Leander nie davon erzählt hatte, wusste sie, er hätte diese Stille geliebt. Also störte sie die Stille nicht. Die Worte, die in ihr aufsteigen wollten, die die Stimme der Schwäche ihr zuflüsterten, wurden verdrängt und weggeschlossen. Sie brauchte keine nutzlosen Worte, um irgendwelche Gefühle zu verarbeiten, denn sie hatte beschlossen, nichts zu fühlen. Gefühle entstanden nur im Geist. Sie zeigten sich nicht in der äußeren Welt. Sie ließen sich nicht präzise fassen. Sie waren unscharf und verschwommen. Um fühlen zu können, hätte Eara erst bestimmen müssen, was Gefühle waren, und eine solche Bestimmung gab es nicht. Also fühlte sie nichts.
Du unterdrückst mit deinen Emotionen auch alles, was deinen Zielen Bedeutung verleiht. Deinen wichtigsten Antrieb.
Eara zuckte zusammen. Verwirrt blinzelnd sah sie sich in der einsamen Kammer um. Schmerzhaft fest schloss sie die gesunde Hand um ihren schwarzen Stab. Leander war tot. Er würde sie nicht mehr mit seinen klugen Sprüchen quälen. Er würde ihre Gefühle nicht mehr befreien können. Fast war sie erleichtert. Aber natürlich nur fast.
Sie betrachtete Leanders erstarrtes Antlitz, während noch andere Gesichter vor ihren Augen vorbeizogen. Der alte Koraph. Ihr Mentor Torven. Der liebenswerte Hedal. Die unschuldige Kimbu. Sie alle sprangen aus ihrem Gedächtnis hervor und ließen sich nicht wieder einsperren. Die Stimme der Schwäche flüsterte unaufhörlich. Nagte und nagte an ihr und dem Eis, mit dem sie sich umgab. Unablässig. Egal, was sie tat, die Stimme der Schwäche ließ sich nicht vertreiben. Sie kehrte zurück und nagte weiter. Kleine, knirschende Zähne in ihrem Verstand. Ein fernes Wispern, das nie verstummte. Und jetzt gesellte sich auch noch Leander dazu.
Ich bin euer Freund. Trotz all der Lügen.
Sie keuchte. Ein bohrender Kopfschmerz hämmerte hinter ihrer Stirn, und Eara ertrug ihn schweigend. Nur ein Gefühl.
Erst Gefühle sind ein Anreiz dafür, die eigene Vernunft auch anzuwenden. Ohne sie wärest du nur ein kompliziertes Uhrwerk ohne Gewicht, eine Mühle auf dem Trockenen.
Sie starrte reglos auf das schmale Band um seinen Hals, das die tödliche Wunde verbarg, und holte zitternd Luft. Vergeblich versuchte sie, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Leander lag still vor ihr, und sein starres Lächeln sah schrecklich unvertraut aus.
Vertraust du mir?
Laut kreischte sie auf. Ihr Schrei war kalt und ohne jede Menschlichkeit, aber er übertönte die Stimme der Schwäche und die Erinnerungen. Das schallende Echo vertrieb den Schmerz und die Stille.
Flammen brachen um sie her aus dem nackten Fels, hüllten sie ein, verschlangen Leanders Körper unter dem schwarzen Tuch und das starre, tote Lächeln, das zuletzt endlich heruntergebrannt wurde. Doch nichts davon verschaffte ihr Erleichterung. Nur ihre linke Schulter schmerzte, während die Dunkle Magie sich weiter durch ihren Körper fraß. Obwohl das Feuer Eara von allen Seiten einhüllte, glitten die Flammen harmlos über sie hinweg. Es hatte nichts mehr zu holen. Denn auch wenn ihr Fleisch unversehrt sein mochte – innerlich war Eara längst ausgebrannt.
Und an der tiefsten Stelle von Hadrias Unterwelt fraßen sich Risse durch den Boden, das Bersten des Steins überdeckt von einem lautlosen Brausen, und ungedachte Formen stiegen auf in schillernder Dunkelheit.