Der Sturmschild

Fürst Hallwort, der Wahnwitzige, stand inmitten seiner Waffenkammer und machte seinem erst kürzlich erworbenen Beinamen alle Ehre. Er lachte laut auf, als er sein Spiegelbild in dem Schild in seinen Händen sah, wie es grotesk in die Länge gezogen wurde und ihm entgegengrinste. Sein graues, langes Haar war zu einem zotteligen Zopf gebunden und seine blauen Augen blitzten vor Freude auf.

Eigentlich war er in die Waffenkammer gekommen um sich zu rüsten, denn schon morgen sollte seine große Reise beginnen. Seine Getreuen hatten ihn fassungslos angesehen, als er ihnen vor wenigen Tagen von der Reise und seinem  Entschluss Cavern zu verlassen berichtete.

Seither war viel geschehen. Es hatte Streit gegeben. Wahnwitz sei dies! Ein Fürst durfte Cavern nicht verlassen, riefen seine Hauptleute. Dieses eherne Gesetz durfte nicht gebrochen werden. Doch Hallwort, der bis dahin den Beinamen „der Große“ trug, hatte sich nicht beirren lassen.

Hallwort war bekannt als ruhmreicher Kämpfer und mächtiger Herrscher, doch seine Unrast machte ihn zuweilen unwirsch und ungerecht. Man munkelte, ihm wurde sogar sein riesiges, unterirdisches Reich zu klein. Seine Neugier über die Welt außerhalb von Cavern, hatte er bisher damit gestillt, Kundschafter auszusenden, die ihm berichteten, was dort draußen geschah. Sie erzählten von den Bewahrern am Baum der Lieder und von fremden Menschen, den Andori, die aus dem Sklavenland geflohen waren und nun im Rietland siedelten. Jede Information war kostbar für ihn, denn er war immer darum bemüht, den Wohlstand der Schildzwerge zu mehren. Er war es auch, der den Bau der Marktbrücke befahl, um fortan Handel mit den Menschen im Rietland treiben zu können.

Doch seine Neugier kannte kein Maß und nun hatte er beschlossen, Cavern zu verlassen und Andor und danach sogar das Hadrische Meer zu erkunden. Es ist nicht überliefert, wie der Fürst auf diese Idee kam. Vielleicht hatte ihm ein fahrender Händler vom Meer berichtet. Gewiss ist aber, dass Hallwort eines Tages von Nebelinseln, von Taren und Zauberern aus Hadria, von Seeburgen und Flammenschwertern zu sprechen begann.

Hallwort wusste, dass er mit seinem Aufbruch die Gesetze der Schildzwerge brach, doch es war ihm einerlei. Er legte für die Zeit seiner Abwesenheit die Regentschaft in die Hände seines Sohnes, den jungen Hallgard. Und auch dies sorgte für viel Ärger unter den Zwergen, denn Hallgard war nicht weniger impulsiv als sein Vater, zudem aber noch keine 80 Jahre alt und damit ein viel zu junger Zwerg um vor ihm das Knie zu beugen.

Als Hallwort an jenem eingangs erwähnten Morgen in die Waffenkammer ging und das feingearbeitete Kettenhemd, den goldenen Brustpanzer angelegt und den großen kantigen Helm aufgesetzt hatte, fiel sein Blick auf einen Schild in der Ecke. Der Fürst nahm ihn auf und betrachtete die reichen Verzierungen und dachte an Nehal, den Drachen und Kreatok, den Meisterschmied der Schildzwerge, die einst gemeinsam der Schmiedekunst nachgingen und die vier mächtigen Schilde erschufen. Dies hier war der Silberschild und der Fürst lachte. „Dieses nutzlose Ding! Ha, ha.“

Tatsächlich war dieser Schild für alle Zwerge eine Enttäuschung gewesen. Zuvor hatten Nehal und Kreatok den Sternenschild gefertigt, einen der  bedeutendsten der vier. Dieser vermochte Böse Geschehnisse aufzuhalten  und das Schicksal zum Guten zu wenden. Kurz darauf entstand der Bruderschild, ein ebenfalls machtvoller Schild.  Dieser erlaubte es seinem Träger, die Kräfte eines anderen Zwerges anzunehmen oder die eigenen einem anderen Bruder zu übertragen. So konnten die Zwerge auch über weite Entfernungen einander schützen.

Nachdem diese beiden wunderbaren Schilde entstanden waren, war die Erwartung bei den Schildzwergen groß. Was würde der nächste Schild bewirken, der Nehals glühender Esse und Kreatoks Amboss entsprang? Welchen Schutz würde er wirken? Feinstes Silber und Gold wurden den beiden für ihre nächsten Werke überlassen. Und schon bald hatten sie einen weiteren Schild gefertigt.
Er war leicht und herrlich verziert. Der Fackelschein der großen Halle ließ ihn silbern aufleuchten, als die Zwerge ihn das erste Mal sahen. Doch wie sich bald herausstellte, besaß dieser Schild keinerlei besondere Wirkkraft. Viele vermuteten schon Kreatok und Nehal hätten ihre Kräfte in der Schmiedekunst eingebüßt.

Doch diese Sorgen erwiesen sich schon bald als unbegründet, denn der Meisterschmied und der Drache fertigten einen weiteren und letzten Schild. Seine Fähigkeiten ließen alle Zweifel verblassen. Ob der bald darauf folgende Krieg zwischen Zwegen und Drachen auch seinetwegen entflammte, ist ungewiss, doch keineswegs unwahrscheinlich.
Jedenfalls lobten alle Zwerge das Geschick Kreatoks und Nehals und der eine Schild, der keine Fähigkeiten offenbarte, wurde daraufhin als Ausrutscher abgetan und schon bald fast vergessen. Erinnerte sich ein Zwerg an ihn, so wurde er manchmal der Silberschild, manchmal der stille Schild aber meistens der Nutzlose Schild genannt.

Und so mag es wenig verwundern, dass lange Zeit danach, als die anderen Schilde bereits in den Kriegen gegen Drachen und Kreaturen verloren gegangen waren, der nutzlose Silberschild noch immer im Besitz des Fürsten von Cavern war.

Jetzt strich Hallwort über das feine Metall und musste lachen: „Der nutzlose Schild für den nutzlosen Fürsten. Das gefällt mir.“ Er packte den Schild und verließ die Waffenkammer mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht.

Am nächsten Morgen verließ Hallwort, der Fürst der Schildzwerge, mit vier weiteren Zwergen Cavern und machte sich auf den Weg nach Norden zum Hadrischen Meer. Begleitet wurde er von Radan, einem noch jungen, aber bereits kahlköpfigen Zwerg. Radan war scharfsinnig und der beste Kämpfer, den es in Cavern gab. Hallwort war froh Radan an seiner Seite zu haben. Auch Gurd, ein Vetter des Fürsten und zwei Zwerge aus den Tiefminen begleiteten ihn.

Über seine Reise durch das Rietland ist wenig bekannt. Doch als Hallwort, Radan, Gurd und die andern Zwerge die Küste Andors erreichten und ein Schiff fanden, dass sie nach Norden tragen würde, erlebten sie etwas, dass sie nicht mehr so schnell vergessen würden.

Das Schiff war eine alte Handelskogge, gefertigt in Werftheim, dem größten Warenumschlagplatz im Norden. Ihr Kapitän war ein dürrer, sehniger Mann namens Jari Dorr. Sein Gesicht war schmal und seine Augen waren von einem kalten blau. Er betrachtete den Schild aufmerksam als die Zwerge an Bord gingen und Radan, dem jungen kahlköpfigen Zwerg, gefiel dieser Blick ganz und gar nicht.

„Das ist nichts für Dich, Seeratte“, schnauzte er den Kapitän an. „Wir haben Dich mit gutem Gold bezahlt, nun bring uns dahin, wohin mein Fürst befiehlt“. Der Mann lächelte: „Entschuldige, Zwerg, ich dachte nur für einen Augenblick, dies könnte einer der mächtigen vier Schilde sein. Ich habe viel darüber gehört und nun ja, da fiel mein Blick darauf und …“ „Haltet eure Augen und vor allen Dingen eure Finger bei euch“, erwiderte Radan böse. „Dieser Schild ist tatsächlich einer der vier Mächtigen. Es ist der Schild des Verhängnisses“, log er. Er misstraute Jari Dorr und wollte ihm ein bisschen Angst machen. „Wenn ihn jemand berührt, der kein Schildzwerg ist,  erschlägt ihn der Blitz. Kapiert?!“ Der Kapitän machte eine abwehrende Geste und verschwand wortlos unter Deck. „Na also“, sagte Radan. „Das hat er wohl verstanden!“

Ein leichter Südwind blähte die Segel und kurze Zeit später verließ die Kogge die Küste von Andor.

Fürst Hallwort stand zum ersten Mal in seinem Leben auf dem Bugkastell eines Schiffes und genoss den rauen Wind, der ihm ins Gesicht wehte. Auch Gurd freute sich über den wunderbaren Ausblick und die See, die ihnen zu Füßen lag.  Radan und die anderen Zwerge hingegen blieben die meiste Zeit unter Deck und wurden bald seekrank.

Am dritten Tag ihrer Reise dann geschah etwas, das alles veränderte. Ein mächtiger Ruck hatte das Schiff ergriffen und Radan war aus seiner Koje gefallen. Er rappelte sich nur mit Mühe wieder auf und hörte laute Schreie auf Deck. Sofort stürzte er hinaus und sah die Mannschaft in heller Aufregung. Radan sah auf das Wasser und erkannte scharfkantige Klippen, die aus dem aufgewühlten Meer ragten. Kapitän Dorr rief über den tosenden Wind hinweg seinem Steuermann zu, er solle das Schiff wenden.

Hallwort und Gurd waren noch immer im vorderen Teil des Schiffes und hielten sich nach Kräften fest, um nicht über Bord zu gehen. Dann endlich schien es, als hätte das Schiff noch rechtzeitig den Kurs geändert. Die Klippen blieben auf der Steuerbordseite zurück und Radan atmete auf. Doch nur einen Herzschlag lang später erkannte er weitere Klippen direkt voraus, wo eben noch keine gewesen waren. „Vorsicht Klippen!“, schrie er. Aber Kapitän Dorr schüttelte den Kopf. „Das sind keine Klippen.“ „Was?“ rief Radan. Doch nun sah er es selbst. Die Felsen wurden größer und ragten immer weiter aus dem Wasser hervor.

„Das sind Arrogs!“ brüllte der Kapitän. „Zu den Waffen Männer. Besetzt die Ballista“. Und noch ehe Radan recht wusste wie ihm geschah, erhob sich einer der Felsen noch weiter aus dem Meer. Und dann blickten  ihn zwei gelb glühende Augen an. Nie zuvor hatte Radan ein solches Geschöpf gesehen. Die Haut rau und steinig, Muscheln und Seetang hingen daran.

Der Schlag einer massigen steinernen Klaue zerbrach den Fockmast und riss das halbe Bugkastell aus einander. Gischt spritze auf und das Schiff kippte auf die Seite. Als es einen Augenblick später zurück schleuderte sah Radan einen Seemann der durch die Luft flog als würde er an unsichtbaren Schnüren gezogen. Und dann verschwand der Körper in einem schwarzen mit großen gelben Fangzähnen bewehrten Maul. Ein weiterer Arrog war an Backbord aufgetaucht. Hinter Radan sirrte die Achter-Balliste. Ein Großer stählerner Pfeil sauste über seinen Kopf hinweg und verfehlte das Biest nur knapp. Dieses holte nun ebenfalls aus und ein weiterer schwerer Schlag erschütterte das Schiff. Holz barst und in dem Durcheinander sah Radan plötzlich Hallwort, der sich noch immer an einem Seil festhielt. Doch mit der anderen Hand hielt etwas, das Radan nicht gleich erkennen konnte. Dann  verdüsterte sich der Himmel. Der Fürst hatte den Arm mit dem Silberschild daran in die Höhe gestreckt. Der Schild leuchtet nun hell in der umgebenen Dunkelheit wie ein Stern am Himmel. Der Wind hob an und große Wellen peitsche über die steinernen Fratzen der Arrogs hinweg.

Das verbliebene Segel blähte sich als ob es bersten wollte und das Schiff schoss voraus. Radan wurde von der Wucht von den Füßen gerissen. Er hörte die Arrogs brüllen und versuchte sich auf die Beine zu stellen. Aber es gelang ihm nicht. Bald darauf war das Brüllen verklungen und kein Geräusch außer dem Ächzen der Takelage und dem Heulen des Windes und den massigen Wellen, die gegen den Bug krachten, war zu hören.

Radan verlor das Bewusstsein. Als er später aufwachte hatte er keine Idee, wie lange dieser Zustand gewehrt hatte.

Noch immer regnete es, Donner erfüllte die Luft und der Himmel war bleigrau. Aber der Sturm war zu einem starken Südwind geschrumpft. Als er sich aufsetzte, sah er das zerstörte Schiff. Gurd half ihm aufzustehen und als Radan in die Ferne blickte, sah er eine Insel nicht weit vom Schiff entfernt aufragen. Sie war von dichtem Nebel umgeben. „Alles in Ordnung mit dir?“ fragte Gurd. „Ja“, antwortete Radan. „Und der Fürst“, fragte er. „Oh, ich glaube“, erwiderte Gurd, „Hallwort ist der glücklichste Zwerg auf Erden. Gerade bezahlt er den Kapitän für unsere Überfahrt. Wir haben eine der Nebelinseln erreicht und Hallwort will sie noch heute erkunden. Du weißt ja wie er …“

Da plötzlich unterbrach sie ein grässlicher Schrei. Beide Zwerge sprangen auf und dann sahen sie, wie Hallwort aus der Kajüte taumelte. Mit beiden Händen presste er eine große blutende Wunde an seinem Hals zu. Dann sprang Kapitän Dorr hervor. In der einen Hand trug er ein blutverschmiertes Kurzschwert und in der andern den Silberschild, oder Sturmschild wie ihn nun alle an Bord nannten. Einige seiner Männer sahen sich verwirrt um aber er lief flink an ihnen vorbei und sprang auf eines der vertäuten Fässer. „Männer, diesen Tag werdet ihr nicht vergessen! Dies ist der Tag an dem wir alle zu reichen Männern wurden!“ Ein Raunen ging durch die Mannschaft und viele rissen erst jetzt ihren Blick von dem röchelnden Zwergenfürsten. „Dieser Schild ist unser Lohn Männer!“ rief Dorr. „Mit lumpigen Gold wollten diese Wichte uns abspeisen, doch seht, ich habe den Sturmschild für uns erobert!“

Radan nahm seine Axt vom Rücken. Im Augenwinkel sah er die zwei Zwerge aus den Tiefminen hinter sich, die ebenfalls ihre Waffen hervorholten. Gurd allerdgings stürzte zu seinem blutenden Vetter.

„Und ihr Zwerge“, fuhr Jari Dorr an Radan gewandt fort, „wenn ihr nicht enden wollt wie euer Fürst so rate ich euch jetzt mein Schiff zu verlassen. Wir sind zu viele für euch.“ Donner erklang und Jari Dor musste schreien um gehört zu werden.  „Schwimmt an Land, Zwergenpack oder verreckt bei dem Versuch!“

Bei diesen Worten reckte er den Schild in die Höhe und für einen Moment dachte Radan, dass er nun ebenfalls dessen Kräfte freisetzte. Doch dieses Mal war es kein Glühen, das den Schild umgab. Stattdessen flammte er plötzlich in grellem Licht auf. Aus dem Gewölk über ihnen zuckte ein Blitz herab und traf auf den Schild. Explosionsartig wurde Jari Dorr durch die Luft gewirbelt und fiel direkt seiner Mannschaft vor die Füße. Sein zuckender Körper war er bereits schwarz und verkohlt.

Wie erstarrt sahen die Seeleute auf ihren Kapitän und den Schild, der unversehrt neben ihm lag. Dann löste sich ihre Starre. Einer von ihnen, ein grimmig wirkender Graubart sagte: „Der ist hin.“ Ein anderer aber ging an der Leiche vorbei und trat vor Gurd und Hallwort. Dann riss er sich einen Streifen Stoff von seinem Wams und reichte es Gurd um die Wunde des Fürsten zu stillen. Ein weiterer nahm den Schild auf und übergab ihm Radan.

Dies war das Ende Kapitän Dorrs und leider auch das des Fürsten. Als Gurd die Versuche aufgab die Blutung zu stoppen, lächelte Hallwort ihn an und bat darum ihn hier im Norden zu begraben. Er liebte die salzige Seeluft und sei nie so glücklich gewesen wie hier. Und so geschah es. Die Zwerge gingen an Land, bestatteten den Fürsten unweit der Küste und bald schon bauten sie ein erstes Lager auf. Gurd übernahm das Kommando. Radan aber blieb an Bord. Er sollte heimkehren und von Hallwort berichten und natürlich auch vom Sturmschild. Er traute der Mannschaft nicht über den Weg aber einer der Zwerge musste es wagen nach Cavern zurückkehren. Radan nahm sich vor keine Sekunde zu schlafen und die Axt nicht mehr loszulassen ehe er wieder Land unter den Füßen hätte. Der Sturmschild allerdings  blieb im Norden bei Gurd.

Nach etwa einem Monat erreichte Radan äußerlich unbeschadet Cavern. Doch hatte er eine andere Verwundung mitgenommen, denn ein tiefes Misstrauen gegen alle Menschen hatte ihn gezeichnet. Und diese Wunde würde lange Jahre brauchen um zu heilen. Auch Hallgard ließ sich von diesem Misstrauen anstecken, als er Radans Bericht hörte. Doch viele der anderen Schildzwerge verspürten die gleiche Sehnsucht, die Fürst Hallwort empfunden hatte. Aufbruchsstimmung lag in der Luft und in den folgenden Jahren brachen viele Schildzwerge auf um Hallworts Vorbild zu folgen.

Gurd hatte indes erste Stollen gegraben und große Vorkommen an Erz, Gold und vor allen Dingen Silber gefunden. Mit der Verstärkung weiterer Schildzwerge aus Cavern entstand Silberhall am Silberberg, das nördlichste Zwergenreich. Ob sich die dort lebenden Zwerge aufgrund des großen Vorkommens an Silber oder wegen des ursprünglichen Namens des Schildes in späteren Jahren die Silberzwerge nannten, ist nicht überliefert. Und ob der Sturmschild noch immer dort verwahrt wird, weiß niemand, der nicht „Die Reise in den Norden“ wagte.

Autorin: Stefanie Schmitt