Vara, der Wassergeist

Kheela, die Hüterin der Flusslande und Janis, ihr Sohn standen am Ufer der Narne. Die Abenddämmerung war hereingebrochen und es wurde langsam kühl. Janis wies mit dem Finger ans andere Ufer, dort wo die Silhouette einer Frau zu sehen war  und fragte: „Mutter, was ist sie eigentlich?“
Kheela blickte auf und sagte: „Das ist eine lange Geschichte und wenn du alt genug bist, werde ich sie dir erzählen.“
„Mutter bitte, ich bin schon acht.“ Kheela lächelte ihren Sohn an. „Du hast vielleicht Recht. Ich war sieben, als mein Vater zum ersten Mal von ihr sprach. Nun gut, dann setz dich zu mir und höre gut zu.
„Ihr Name ist Vara. Vor vielen hundert Jahren lebte sie, wie alle Wassergeister hier im Fluss.“
Janis riss die Augen auf: „So alt ist sie schon?“
„Ja, sie ist schon sehr alt und hat viel für die Menschen hier getan.“
„Es gibt noch mehr, die so sind wie sie?“
„Aber ja, doch sie leben in diesem Gewässer. Sie sind die Seele des Flusses und erhalten ihn am Leben. Vara ist nicht freiwillig hier. Sie wurde von ihrem Volk verbannt.“ Kheela holte tief Luft und fuhr dann fort: „Dein Urururururgroßvater war ein einfacher Bauer und hieß Etore. Er bestellte seine Felder und sorgte für seine Eltern und Geschwister. Aber dies war nicht alles, er kümmerte sich auch um diejenigen, die Hilfe brauchten. Er war jung und kräftig und wo immer jemand in Not geraten war, kam er und bot seine Hilfe an.
Eines Tages geschah etwas Furchtbares. Ein großer Brand war im Dorf ausgebrochen. Die Menschen versuchten mit allen Mitteln die Flammen zu löschen. Mit großen Eimern schleppten sie Wasser vom Fluss ins Dorf. Auch Etore war unter ihnen.

Die Wassergeister beobachteten das Treiben der Menschen und da sah Vara ihn zum ersten Mal. Er hatte schwere Brandverletzungen, aber dennoch rannte er immer wieder mit einem gefüllten Eimer ins Dorf, ohne seine Schmerzen zu beachten. In dieser Nacht starben viele Menschen und das Dorf brannte vollständig nieder.
Von nun an beobachtete Vara den tapferen Etore und verliebte sich in ihn. Es war eine törichte Liebe, aber die Liebe ist eben zuweilen töricht und Vara tat etwas, das zuvor noch kein Wassergeist gewagt hatte. Sie entstieg ihrem Element und folgte ihrer Liebe. Etore erschrak bei ihrem Anblick, denn sie war eine Wassergestalt ohne feste Konturen. Sie war schön, aber doch auch unheimlich. Eine Zeit blieb Vara bei ihm und half, wo sie konnte. Doch bald erkannte sie, dass ihre Liebe für immer unerwidert bleiben würde, denn Etore heiratete eine Frau. Vara verließ Etore und wollte zurück in den Fluss, wollte ihren Kummer vergessen und zu ihren Schwestern und Brüdern. Die Wassergeister aber versagten ihr diesen Wunsch und straften sie für ihren Eigensinn. Nie wieder konnte sie heimkehren und  wurde verbannt.

Es verging einige Zeit, bis Vara erneut zu Etore ging. Ihre Traurigkeit erschreckte den Bauern und voller Mitleid bot er ihr an, weiterhin an seiner Seite für das Wohl der Menschen am Fluss zu sorgen. Vara nahm sein Angebot an und seit diesem Tag ist sie hier und erfüllt diese Aufgabe. Etore wurde der erste Hüter der Flusslande und bis heute wird diese Aufgabe an den ersten Nachkommen aus seiner Linie weitergegeben.“
Kheela blickte auf ihren Sohn.
Traurig sah dieser Vara, den Wassergeist an. „Und sie kann niemals zurück?“
„Nein, das kann sie nicht. Die Liebe, die sie einst für Etore empfunden hatte, hat sich in großen Kummer verwandelt. Sie ist einsam, sehr einsam und dennoch unterstützt sie seit Jahrhunderten den Hüter der Flusslande und dafür bin ich ihr sehr dankbar. Eines Tages wirst du diese Aufgabe übernehmen und sie als treuen Wegbegleiter an deiner Seite haben. Sie wird das Erbe von Etore, dem einfachen Bauern, immer weiter tragen.“
Der Wassergeist kam jetzt zu ihnen und streifte vorsichtig die Hand des Jungen.  Ein zarter Hauch von Sommertau bildete sich dort, wo sie ihn berührt hatte und sie verschwand.

Autorin: Stefanie Schmitt