Die Zwei Orden

Weit im Norden des Hadrischen Meeres lag die Insel Hadria. Ein unwirtliches Eiland von rauer See umgeben, dessen steile, dunkle Klippen ins Meer hineinragten. Die Mächte des Meeres brachten Stürme, die eisig an den Felsen nagten, Schnee der sich über das Land legte und Winde, deren Stärke alles mit sich riss. Weiter südlich befanden sich die Nebelinseln und Klippenwacht, eine Burg auf einem einzigen, großen Felsen gebaut. Dort lebte Varatan, der Meereskönig.

Das Leben in Hadria war beschwerlich, der Winter unerträglich und die Menschen litten oft Hunger. In manchen Jahren, wenn das Wetter etwas milder war, gelang es Gerste und Weizen anzubauen, aber viel zu häufig kam die kalte Jahreszeit früh und Regen und Frost zerstörte die Pflanzen. Nur durch die Viehzucht konnten diese Zeiten überwunden werden, denn die Tiere gaben Milch und Eier, oft aber mussten sie in schlechten Zeiten geschlachtet werden.

Auf dieser Insel lebten die Zauberer der Feste von Yra. Sie waren Ordensbrüder, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, das Leben für die Menschen in Hadria erträglicher zu machen. Sie waren Gelehrte und gaben seit Generationen ihr Wissen weiter. Doch jeder von ihnen wusste, dass die Hilfe, die sie leisten konnten, immer nur soweit reichte, bis der Winter zurückkam und den Menschen nahm, wofür sie gearbeitet hatten.

Eines Tages verließen die wissbegierigsten von ihnen den Pfad der Zauberei, der die innere Kraft eines jeden Dinges und Lebewesens lenkt und verstärkt. Sie begannen, den Dingen ihren Willen aufzuzwingen, sie umzuformen und neu zu erschaffen. Sie entfremdeten ihren eigentlichen Sinn und Zweck. Sie entdeckten die Dunkle Magie.

Unter Ihnen war auch Orweyn, der Mächtigste unter allen Zauberern. Er war beseelt von der Idee das Land vom Winter zu befreien und die Mächte des Meeres zu bändigen. Arkteron, der Herr der Stürme, Kenvilar, die Tückische und Oktohan, der Meister der Tiefe, sollten sich seinem Willen beugen.

Er scharte Gleichgesinnte um sich und verbrachte viele Jahre damit, Dunkle Magie zu erforschen. In den Nächten, die Orweyn über den Schriften gebeugt dasaß, ersann er einen Plan.

Magische Waffen sollten geschmiedet werden, die einen Menschen in die Lage versetzen, sich gegen die Mächte des Meeres aufzulehnen und sie zu besiegen. Aber wer würde eine solch tollkühne Unternehmung wagen? Orweyn selbst war wissbegierig, aber kein kampferfahrener Krieger.

Doch eines Tages sollte ihm das Schicksal diesen Krieger bringen. Ein großes Schiff erreichte die Küste von Hadria. Es war die Tambur und ihr Kapitän war der stolze Meereskönig Varatan. Sein Kommen löste einen Tumult aus, denn er brachte Weizen, Roggen und andere Nahrungsmittel mit. Fässer mit Wein und Ziegenkäse aus Sturmtal und sogar Apfelnüsse und Pilze aus dem fernen Drachenland, das später als das Land Andor bekannt werden sollte.

Als Orweyn von dessen Ankunft hörte, glaubte er an eine glückliche Fügung.

Dieser Meereskönig, dessen Name so viel bedeutete wie Flammensohn, schien genau der Richtige für seine Pläne zu sein. Er lud ihn ein und schnell wurde deutlich, wie recht Orweyn hatte. Varatan berichtete von seiner Reise über das Hadrische Meer, den Gefahren denen er getrotzt hatte und wie sehr er sich wünschte, der Winter wäre endlich vorbei. Nachdem sie gegessen und warmen Met getrunken hatten, begann Orweyn von seinem Plan, die Mächte des Meeres zu besiegen und den Winter für immer zu vertreiben, zu erzählen. Varatans Augen leuchteten, als er von den magischen Waffen hörte, die Orweyn schmieden wollte.

In dieser Nacht sollte sich das Schicksal von Hadria wenden.

Und so begannen die Ordensbrüder in der Schmiede mit ihrem dunklen Werk.  Während sie arbeiteten, waberte grauer Nebel, voll drohendem Unheil über dem Feuer.

Sie erschufen Varlion, das Flammenschwert, einen schweren Zweihänder an dessen Klinge Flammen loderten, die nur erloschen, wenn sie in die Schwertscheide geschoben wurde. Orweyns Hammer, den er selbst in die Esse hielt und der seinen Träger mit jedem Kampf mehr und mehr stärkte. Und schließlich Varatans Helm, der den König vor den Mächten des Meeres schützen sollte.

Nachdem sie fertiggestellt waren, wurde eine Nachricht zum Meereskönig gesandt. Dieser war nach Klippenwacht zurückgekehrt und hatte unterdessen mit dem Bau eine Flotte begonnen und sie mit guten Seeleuten aus Klippenwacht und den anderen Nebelinseln bemannt.

Als er nun Hadria erreichte, übergab Orweyn die Magischen Waffen und beobachtete stolz, aber auch mit bangem Herzen, wie Varatan Hadria verließ.

Lange Zeit blieb der Zauberer im Ungewissen über den Verbleib des Meereskönigs. Während dessen beschäftigte er sich eingehender mit Dunkler Magie und je mehr er von der Dunklen Magie verstand, desto stärker wurden seine Zweifel. Er spürte, dass sie ihren Tribut forderte.

Nach vielen Monaten fegte ein schreckliches Unwetter über Hadria hinweg. Und in diesem tosenden Sturm tauchte Varatan plötzlich auf. Seine Flotte war zerstört. Er hatte sie im Kampf gegen die Mächte des Meeres verloren und um ihn für seine Anmaßung zu Strafen, zerstörten sie auch die große Burg Klippenwacht. Jetzt näherten sie sich Hadria.

Aufgebracht forderte der Meereskönig die Ordensbrüder zu einem Gegenschlag auf. Arkteron, Kenvilar und Oktohan sollten ausgelöscht werden, doch Orweyn lehnte ab. Er hatte nun endlich zur Gänze begriffen, was Dunkle Magie anrichtete. Sie forderte immer mehr als sie gab und das musste ein Ende finden.

Stattdessen befahl er den Bau des Eisernen Turms. Dort sollten die Magischen Waffen und das erworbene dunkle Wissen über Magie eingeschlossen werden.

Nachdem der Turm fertig gestellt worden war, forderte Orweyn die Ordensbrüder auf, ihm in den Turm zu folgen, denn auch ihr Wissen müsse zum Schutz der Menschen in Hadria verschlossen werden. Nur so ließen die Mächte des Meeres sich besänftigen.

Er befahl den jüngsten Zauberern, ihn und seine Brüder in den Turm zu sperren. Orweyn setzte sich gegen die Proteste König Varatans und seiner Ordensbrüder durch. Manche von ihnen tötete er eigenhändig, um ihr Wissen aus der Welt zu tilgen. Die Furcht vor den Mächten des Meeres hatte seinen Verstand zersetzt. Er redete wirr und ehe er als letzter den Turm betrat, prophezeite er das Ende Hadrias, wenn die Zauberer je uneins würden und beschwor sie zusammenzuhalten. Dann ging er in den Eisernen Turm und das Tor wurde hinter ihm und allem Magischen Wissen verschlossen. Orweyn und seine Brüder wurden nie wieder gesehen.

Doch sein Opfer hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Der Sturm legte sich, die Mächte des Meeres waren versöhnt und sanken zurück in die Tiefe. Nur die Kälte und der Winter blieben und sollten nicht mehr weichen.

 

Die jungen und weit weniger ausgebildeten Zauberer blieben zurück und nannten sich fortan die Zauberer des Eisernen Turms.

Der Meereskönig blieb in Hadria. Er schloss sich den verbliebenen Zauberern Hadrias an und lernte, was sie zu lehren vermochten. Dem Anschein nach gab Varatan alle Königswürde auf und wurde einer von ihnen, doch haderte er mit der Entscheidung Orweyns, sich den Mächten des Meeres zu ergeben und Hadria und das Meer dem Ewigen Winter zu überlassen.

Er zog nach Nordgard, der Hauptstadt Hadrias. Dort scharrte er der Legende nach andere unzufriedene Zauberer um sich. Es stellte sich heraus, dass so mancher von ihnen ein wenig magischen Wissens bewahrt hatte, aber Orweyns Blick entgangen  und nicht in den Eisernen Turm gesperrt worden war.

Varatan fand in Hadria eine Frau und sie schenkte ihm bald einen Sohn mit dem Namen Varkmar, was so viel wie Flammenmeer bedeutete.

Er wuchs mit dem Wunsch nach Macht und dem Wissen auf, das im Eisernen Turm versteckt wurde.

In späteren Jahren, nachdem Varkmar alles, was an magischem Wissen geblieben war, erlernt hatte, starb sein Vater. Dennoch blieb sein Wissensdurst und er gründete einen neuen Zaubererorden: Die Zauberer des Feuers. Jene Zauberer, die sich nicht mit dem Ewigen Winter abfinden wollten, die in den Jahren immer häufiger die Öffnung des Eisernen Turms forderten, um die Magie zu befreien.

In den langen, kalten Jahren entzweiten sich die Zauberer des Turmes und Zauberer des Feuers immer weiter. Dunkle Magie stand zwischen ihnen und Varkmar schürte ihren Hass aufeinander.

Als dieser den Zenit seiner Macht erlangt hatte, ahnte er aber, dass er nie den Einfluss besitzen würde, den Eisernen Turm einzunehmen, um die Magie zu befreien. In dieser Zeit gebar seine Frau ihm einen Sohn. In der Nacht seiner Geburt leuchteten die Ewigen Feuer hell, doch über der Insel Hadria tobte ein gewaltiger Sturm. Voller Stolz betrachtete Varkmar seinen kräftigen Sohn, in dessen Augen schon mit der Geburt ein magisches Feuer brannte. Er hoffte, sein Sohn würde das Vermächtnis Varatans erfüllen und  erreichen, was er niemals geschafft hatte:

Die Magie entfesseln und die verhassten Zauberer des Eisernen Turmes zu vernichten und zu verbrennen. Und so gab er seinem Sohn den Namen Varkur: Der Flammentod.

 

Doch dessen Geschichte wird in einer anderen Legende erzählt …

 

Autorin: Stefanie Schmitt