von Butterbrotbär » 10. September 2019, 22:56
Versammelt euch, o Tavernengäste. Ein weiteres andorisches Märchen ist mir zugetragen worden, ein Märchen, welche ich nun – so gut ich’s vermag – hier vorzutragen gedenke. Es trägt den Titel...
Der Schatten
Hier fängt die Erzählung an. Sie berichtet von einem uralten Krahderfürsten, welcher mit starker Hand über sein Reich herrschte. Alle noch so kleinen Dörfer in der Gegend waren ihm untertan und selbst über das Wetter gebot er – oder so munkelte man zumindest.
Die menschlichen Bewohner der umliegenden Städte nannten sich Ambacus, die Unfreien, da der Krahderfürst und die seinen ihnen vorgaben, wie sie zu leben hatten, sich ihrer Ernten, Besitztümer und Arbeitskraft bedienten und ihnen verbaten, auch nur davon zu träumen, in bessere Lande zu fliehen. Was konnten die Ambacus schon dagegen tun? Sie waren schwach und ausgehungert, viele, aber nicht organisiert, und die Krahder waren mächtig und gewissenlos – eine gefährliche Kombination.
Doch diese Erzählung soll nicht von den Ambacus berichten, sondern von ebenjenem Krahderfürsten, welcher das Oberhaupt des Landes war und alleinigen Anspruch auf die Knechtschaft der Ambacus erhob.
Es begab sich, dass sich dieser Krahderfürst eines Tages auf seinem steinernen Thron fläzte und es sich gut ergehen liess. Seine Bediensteten brachten ihm gerade sein viertes Stück Fleisch auf einem Silbertablett, als sein Blick auf seinen eigenen Schatten fiel, den das flackernde Fackellicht auf die Felswand warf. Der Krahderfürst bewegte seinen Körper und der Schatten folgte jeder seiner Bewegungen. Das enervierte den Fürsten. Seine Macht konnte nicht angetastet werden, jede Menschen-, Zwergen- und Drachenseele in- und ausserhalb seines Reichs fürchtete ihn, und doch war da sein Schatten, welcher auf demselben Thorn sass, dieselben Handlungen durchführte und dieselbe Autorität ausstrahlte. Und er konnte sich drehen und wenden, wie er wollte, der Schatten würde stets mit ihm verbunden bleiben. Der Krahderfürst sah seinen Schatten nun als Rivalen an und befahl ihm, von dannen ziehen.
Am nächsten Morgen war sein Schatten verschwunden.
Jahrzehnte darauf liess es sich der schattenlose Krahderfürst erneut gut ergehen, als eine Gestalt an das Burgtor seiner Festung klopfte. Es war der Schatten, welchen der Krahderfürst vor so langer Zeit vertrieben hatte. Er war klein und schwach geworden in der Zeit, und so amüsierte sich der Krahderfürst in Überlegenheit, und liess ihn ein.
Der Krahderfürst hatte sich dem Bösen, dem Hässlichen, den Lügen verschrieben, und sein ganzes Reich war voll davon. Doch der Schatten berichtete ihm von anderen Welten, die er besucht hatte, Lande voller Schönheit und Unversehrtheit, Lande, in denen nicht das Recht des Stärkeren wirkte. In diesen Landen war der Dunkle Schatten des Krahderfürsten eingegangen, nunmehin schwach und ein Bruchteil seiner einstigen Stärke.
Doch im Reich des Krahderfürsten vermochte der Dunkle Schatten sich wieder mit Dunkelheit und Bosheit aufzutanken, zu wachsen, und im Verlaufe seines Aufenthalts in der Festung seines ehemaligen Herrn gedieh er auf seine ursprüngliche Grösse.
Und es begab sich, dass der Krahderfürst in dem Masse schwächer und dünner wurde, in welchem sein ehemaliger Schatten wieder wuchs und erstarkte. Nun fürchtete sich der Krahderfürst, denn würde er nicht seine momentane Stärke beibehalten können, so dürfte er bald schon mit Überfällen aus den umliegenden Krahderreichen rechnen, oder noch schlimmer, mit einem Aufstand der ihm Unterlegenen.
So schlug der Schatten ihm vor, selbst in die umliegenden Lande auszureisen, Unheil und Verderben über sie zu bringen, und sich so wieder zu kräftigen. Die einzige Bedingung war, dass der Schatten den Krahderfürsten spielen durfte, während der Krahderfürst selbst den Schatten spielen sollte. Der Krahderfürst willigte ein.
Derart reisten der Krahderfürst und sein Schatten durch seine verdorbenen Lande und darüber hinaus, der Schatten spielte den Fürsten und der Fürst spielte seinen Schatten. So kamen sie eines Tages an eine von den Krahdern eingenommene Zwergenfestung, so hoch, dass ihre höchsten Zinnen selbst im wärmsten Sommer von Schnee und Eis bedeckt waren. In dieser Festung lebte eine unvermählte Krahderkaiserin, und als der Krahderfürst sie erblickte, verfiel er ihr.
Er und sein Schatten reisten nicht mehr weiter durch die Lande, sondern verblieben am Hof der Krahderkaiserin und machten ihr denselbigen, während der Fürst weiterhin seinen Schatten spielte und der Schatten den Fürsten. Und wie die Zeit so verging, so verging auch dem Krahderfürsten die Lust darauf, nur einen Schatten zu spielen. Er wollte selbst mit dieser Krahderkaiserin sprechen und sie umwerben, nicht bloss Zuschauer der Handlungen seines Schattens sein.
Da tat der Krahderfürst zum ersten Mal in seinem langen Leben etwas durchaus Gewagtes, nahm all seinen Mut zusammen und schlich sich des Nachts, während sein Schatten schlief, aus dessen Zimmer, um als sich selbst, den mächtigen Krahderfürsten, vor die Krahderkaiserin zu treten. Doch o Schreck! – als der Krahderfürst mit pochendem Herzen an den Wachtrollen der Kaiserin vorbeistapfte und an die Tür ihres Schlafgemachs klopfte, öffnete ihm sein eigener Schatten die Tür. Sein Schatten war ihm zuvorgekommen und stand nun grösser und mächtiger denn je vor ihm!
Der Schatten sprach zu der Krahderkaiserin:
„Sieh doch nur, wie schrecklich! Das Gehirn eines Schattens ist wahrlich leicht zu verwirren – glaubt doch mein Schatten nun tatsächlich, er sei mich, und ich sei sein Schatten!“
„Wie grauenvoll“, sprach die Krahderkaiserin mitleidig, „Und es gibt nichts, was wir tun könnten, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen?“
„Nichts“, nickte der scheinheilige Schatten traurig, „Wir können es bloss auf uns nehmen, ihn von seinem verwirrten Elend zu erlösen.“
Nun ist wichtig, zu erkennen, dass zwei mögliche Enden zu dieser Erzählung im Umlauf sind. In der Version, die die Krahder von ihren Sklaven den zukünftigen Königen ihres Reichs erzählen lassen, bäumt sich der Krahderfürst auf, erwürgt seinen zwielichtigen Schatten mit blossen Händen und erwählt die Krahderkaiserin zu seiner Gemahlin, welche ihm noch so gerne in sein düsteres Reich zurückfolgt, wo die beiden bis zu diesem Tage immer noch nicht gestorben sind, und somit noch heute glücklich leben.
In einigen Städten der Ambacus allerdings, wenn keiner der Krahder in der Nähe war, flüsterten die Mütter ihren Kindern ein ganz anderes Ende zu:
Der Krahderfürst erschrak, als er die bösen Worte seines ehemaligen Schattens hörte. Er wollte nicht sterben! Auf die Knie vor seinem Dunklen Schatten fiel er, und gab unter Tränen zu, sich geirrt zu haben. Er sei wahrlich der Schatten, und der andere, der vor ihm stand, sei der wahre Krahderfürst. Möge man ihn doch bitte verschonen, so würde er tunlichst seiner Pflicht als Schatten Folge leisten und nie wieder aufbegehren.
Der Schatten grinste, und der Krahderfürst legte sich nieder und spielte erneut den Schatten, gedemütigt und verzweifelt, doch blieb ihm keine andere Wahl.
Der Schatten und die Krahderkaiserin vermählten sich bald darauf und kehrten glücklich in das düstere Reich des Krahderfürsten zurück, welches nun das Reich des Schatten war. Und der Fürst würde bis ans Ende seines Lebens den Schatten seines Schattens spielen müssen. Und wenn er nicht gestorben ist, so ist er heute noch geknechtet.
Gute Nacht!