H – Die Himmelssäule
Morgendämmerung, 8. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See nördlich von Thakkum, Stürmischer Ozean
Ken Dorr lehnte im Bug an der Reling des Schiffes und blickte nach Osten, in Richtung der aufgehenden Sonne. Der Dieb lächelte friedlich, doch Drukil spürte die Verderbnis, die von ihm ausging. Er war gefährlich, das wusste er. Kurz berührte er das Schwert, das die Bewahrer ihm vor ihrem Aufbruch gegeben hatten. Und nicht nur ihm: Auch Ken Dorr durfte nun eines tragen. Drukil hatte protestiert, aber die anderen waren der Meinung gewesen, der Dieb habe unter Beweis gestellt, dass er ihnen nicht mit Waffengewalt in den Rücken fallen werde. Drukil war sich da nicht so sicher. Er würde wachsam bleiben.
Eara trat an Deck, gefolgt von Leander und Chada. Die Magierin hatte nicht nur ihren neuen Stab dabei, sondern auch einen großen Beutel. Sie speisten immer an Deck, wenn das Wetter es erlaubte. In der beengten Kajüte war es verdammt ungemütlich, außerdem konnte so auch die Person am Steuer mit ihnen essen.
Zu viert setzten sie sich um Thorn, der die letzten Stunden am Steuer verbracht und auf Ken Dorrs Rufe gehört hatte. Der Dieb behauptete, sich recht gut mit der Seefahrt auszukennen, da er einige Jahre in Werftheim gelebt hatte und sein Onkel angeblich sogar Kapitän gewesen war. Leider schien die Geschichte zu stimmen, und so sehr es Drukil auch wurmte, Kens Anweisungen zu folgen, er musste zugeben, dass er sich geschickter anstellte als Chada und Thorn bei ihrer letzten Fahrt an Bord der Aldebaran II.
Auch jetzt blieb Ken Dorr im Bug stehen. Da sie durch ihnen unbekannte Gewässer fuhren, hatten sie vereinbart, dass immer jemand auf Hindernisse achtete, auch wenn Leander behauptete, der Stürmische Ozean sei deutlich tiefer als das Hadrische Meer. Diese Worte hatten Drukils Abneigung gegenüber dem Salzigen Wasser nicht gerade vermindert. Aber er hatte kein Problem damit, dass Ken Dorr heute nicht mit ihnen essen würde.
Drukil nahm skeptisch die Vorräte entgegen, die Eara ihm hinhielt. Es waren die Früchte des Baumes der Lieder, von denen die Bewahrer nach der Herbsternte noch große Mengen übrig gehabt hatten. Sie erinnerten Drukil an übergroße Apfelnüsse, allerdings war ihre Schale ungleich härter und im Inneren war kein nussiges Fruchtfleisch, sondern ein zähflüssiger weißer Saft, der süß und klebrig wie Honig war und erstaunlich gut sättigte. Der Bär hatte ihre neuen Vorräte sofort gemocht, doch Drukil blieb misstrauisch. Ein Baum sollte keine Früchte produzieren, aus denen niemals etwas keimen konnte. Auch wenn sie stets frisch waren, waren ihre Vorräte noch toter als die Frucht, nach der sie suchten. Drukil runzelte die Stirn. Noch toter? Konnte man das sagen?
„Eintrag ins Logbuch: Elfter Morgen ohne Vorkommnisse.“, rief Thorn aus vollem Halse. Die halbe Nacht am Steuer schien ihn kaum ermüdet zu haben. „Der Stürmische Ozean scheint seinen Namen zu Unrecht zu tragen. Die einzige Plage ist die Langeweile. Die gemeinen Matrosen speisen zu den Füßen des stolzen Kapitäns …“
Drukil stöhnte. Wenn Thorn am Steuer wachte, führte er sich immer auf wie ein großer Entdecker. „Woher weißt du überhaupt, dass wir diesen Stürmischen Ozean schon erreicht haben?“, unterbrach Drukil ihn.
Thorn blinzelte und überlegte eine Weile. „Merrik hat von neun Tagesreisen gesprochen, und die sind vorbei.“, erwiderte der Krieger kleinlaut. „Außerdem … weiß Leander dazu sicher noch mehr.“
Der Seher lächelte dünn und leckte sich noch etwas weißen Saft von seinen Lippen, ehe er antwortete: „Das Wasser ist tiefer, aber zugleich spürbar wärmer. Die glaubwürdigste Theorie erklärt die hohe Temperatur mit vulkanischer Aktivität am Meeresgrund. Außerdem haben wir, wenn ich euren Aussagen glauben schenken kann, die Küste des Wachsamen Waldes endgültig hinter uns gelassen.“
Der Seher deutete zu der weit entfernten Küstenlinie im Süden. Mit dem Fernrohr konnte man schwarze Klippen vor einer nebelverhangenen Steppe erkennen, aber keine Bäume.
„Wir sind also im Stürmischen Ozean.“, knurrte Drukil. „Aber von der Himmelssäule keine Spur. Euer Freund hat gesagt, wir müssen uns nur in Küstennähe halten, dann stoßen wir darauf. Wir haben nichts gefunden. Wahrscheinlich ist sie schon wieder verschwunden. Ich glaube, wir verschwenden hier unsere Zeit.“
„Und ich glaube, du willst gar nicht, dass wir die tote Frucht finden. Ich glaube, du bist einfach nicht bereit, einen Plan umzusetzen, den Ken Dorr entwickelt hat.“, entgegnete Eara kühl. „Deine Aversion mag begründet sein, aber sie ist hinderlich.“
Drukil funkelte die Magierin finster an. Sie erwiderte seinen Blick ungerührt und in ihren dunkelblauen Augen lag etwas, das Drukil erschaudern ließ. „Wir sollen in siebzehn Tagen wieder bei den Zwergen sein.“, erwiderte Drukil. „Allein der Rückweg verschlingt elf Tage, und einen weiteren für jeden, den wir jetzt noch nach Osten segeln. Wenn dann auch noch ein Sturm kommt, der uns weiter nach Osten treibt, verpassen wir dieses Sternbild und damit unsere einzige Chance, zum Ewigen Rat zu gelangen.“
Er hatte sie fast so weit! Zumindest Chada und Thorn blickten sich zweifelnd an, und sogar Leander hatte sein Lächeln verloren. Nur Eara ließ wie immer keine Regung erkennen.
„Leander, wie groß ist der Stürmische Ozean?“, fragte Chada verhalten.
„Unmöglich zu sagen. Die Barbaren waren nie große Seefahrer und die Entdecker von den Nebelinseln sind nicht weit genug nach Osten vorgestoßen, um ein Ende festzustellen. Er könnte theoretisch unendlich groß sein. Zumindest wenn man die Hinweise ignoriert, die darauf hindeuten, dass unsere Welt wie eine Kugel geformt ist.“
Drukil versuchte, nicht weiter über den letzten Satz nachzudenken.
„Der bekannte Teil des Stürmischen Ozeans jedenfalls misst etwa siebentausend Quadratmeilen. Aber wenn wir bedenken, dass die Himmelssäule angeblich von der Küste aus sichtbar ist, schrumpft diese Fläche um ein gutes Stück zusammen.“
Chada säbelte langsam ihre Frucht auf. „Das klingt trotzdem nach … viel.“
„Ich glaube, Ken Dorr möchte uns etwas mitteilen.“, bemerkte Eara plötzlich.
Drukil drehte verärgert seinen Kopf. In der Tat ruderte der Dieb aufgeregt mit den Armen, winkte sie zu sich und deutete mit seinem Fernrohr nach Nordosten. „Da ist sie!“, rief er ihnen zu. „Die Himmelssäule! Ich kann sie sehen!“
Drukil unterdrückte einen Fluch.
Es dauerte einige Herzschläge, bis auch er sie erspähte. Der Seegang erschwerte es, das Fernrohr ruhig zu halten und sie war kaum mehr als ein dünner weißer Strich, der neben dem viel zu hellen Sonnenlicht verblasste und irgendwann mit den Wolken verschmolz. „Kümmerlich“, murrte er. „Ich hätte mir dir Birke beeindruckender vorgestellt!“
„Aber sie ragt wirklich schnurgerade bis in den Himmel?“, fragte Leander neugierig.
„Ja. Bis in die Wolken.“
„Merkwürdig.“, murmelte der Seher versonnen. „Das hätte ich für eine Übertreibung gehalten.“
„An die Leinen, Männer!“, rief Möchtegernkapitän Thorn euphorisch. „Ähm, und Frauen. Die Nacht ist vorüber, wir können wieder volles Segel setzen. Ich möchte bis heute Abend dort sein!“
Später Nachmittag, 10. Wintertag 77 A.Z.
Westlich der Himmelssäule, Stürmischer Ozean
Letztendlich mussten sie doch noch zwei Nächte auf dem Schiff verbringen. Am Abend war es eben erst möglich gewesen, die Himmelssäule auch mit bloßem Auge zu erkennen. Am folgenden Tag schien sie über die Stunden kaum näherzurücken und ragte bei Sonnenuntergang noch immer in weiter Ferne auf, während die Besatzung der Aldebaran II langsam begriff, wie riesig sie wirklich war.
Erst jetzt, fast einen weiteren Tag später, konnte Drukil das Fundament der Himmelssäule erkennen. „Das ist keine Birke, die ins Meer wächst.“, murrte er Leander zu, der neben ihn an der Reling lehnte. „Da ist eine schwarze Insel mit einem schwarzen Berg, der Wolken spuckt.“
„Ein Vulkan.“, erwiderte Leander. „Wie zu erwarten war. Sie ließen Flammen vom Himmel regnen und die Erde erbeben, die ganze Insel ächzte und versank dann in den eisigen Tiefen des Meeres.“
Drukil wusste nicht, was ein Vulkan war, aber er schämte sich seiner Ahnungslosigkeit. „Wenn die Insel versunken ist, warum ist sie dann jetzt wieder oben?“, fragte er stattdessen.
„Im Feuer liegt große Kraft. Die Schildzwerge forschen an Maschinen, die über Dampf betrieben werden. Man füllt Wasser und Steinkohle in große Kessel und sie setzen sich in Bewegung. Mag sein, dass das Feuer unter unseren Füßen genügt, um auch eine Insel anzuheben.“
Drukil sah nach unten. Unter seinen Füßen waren nur die hölzernen Planken des Schiffes und dann das Salzige Wasser. Wo bildete Leander sich Feuer ein?
„Und warum gerade alle fünfhundert Jahre?“, fragte er.
Leander lächelte erwartungsvoll. „Das ist das Rätsel, das zu lösen wir hierhergekommen sind.“
Als sie der Himmelssäule noch näher kamen, erlosch plötzlich der Wind, der sie bisher nach Osten gebracht hatte. Das große Segel hing schlaff herab und sogar der grüne Wimpel am Mast regte sich kaum noch.
„Deshalb!“, rief Leander mit diebischer Freude. „Deshalb ragt der Rauch bis in den Himmel! Es weht kein Wind, der ihn auflösen könnte.“
„Das ist kein Rauch.“, merkte Eara an. Sie stellte sich zu ihnen an die Reling und der Bär in Drukil kauerte sich wimmernd zusammen. „Es ist Wasserdampf. Irgendwo muss eine Verbindung vom Meer in den Krater bestehen.“
Drukil legte den Kopf in den Nacken und betrachtete der Himmelssäule. Inzwischen sah sie überhaupt nicht mehr wie eine Birke aus. Sie war breit und uneben.
„Genug geredet!“, rief Thorn ihnen zu, der sich schon wieder ans Steuer gestellt hatte. „Es weht kein Wind mehr, das Segel muss runter!“
„Diese Flaute ist nicht natürlichen Ursprungs. Von alleine kommen wir nicht weiter.“, antwortete Eara ruhig. „Ich werde einen Wind entfachen.“ Die Magierin starrte auf ihre neue dunkle Hand, die sie aufs Holz gelegt hatte, und holte tief Luft. Dann schloss sie die Augen und hob ihren schwarzen Stab.
„Halt!“, schrie Drukil hastig und deutete schnell aufs Wasser. „Die Strömung zieht uns genau zur Himmelssäule.“, knurrte er. „Wir brauchen die Dunkelheit nicht.“
Eara besah sich blinzelnd die Wasseroberfläche und nickte dann langsam. In ihren kalten Augen glänzte etwas, das Drukil erst nicht zuordnen konnte. Erleichterung?
Frühe Nacht, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean
Kaum war die Aldebaran II an einem Felszacken unmittelbar vor dem Ufer vertäut, sprang Drukil von Bord. Das Salzige Wasser war so warm, dass er sich fast verbrühte, doch nur knietief. Als seine Stiefel auf den schwarzen Sand trafen, wankte er kurz. Es war ungewohnt, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ungewohnt, aber irgendwie beruhigend.
„Wohin jetzt?“, fragte Thorn, nachdem sie alle an Land gewatet waren und ihre Stiefel ausgeleert hatten. Sie standen im Schatten des Berges auf einem kahlen Strand aus pechschwarzem Sand, der sich in beide Richtungen erstreckte und irgendwann hinter dem dunklen Fels verschwand. „Einmal die Insel umrunden?“
Chada kniff in der Dunkelheit die Augen zusammen und blickte die bedrohlich anmutenden Bergflanken hoch. „Lasst uns erst den Gipfel besuchen. Falls wir dort oben nichts finden, können wir immer noch den Strand entlang wandern.“
Der dunkle Stein war vom Wasser so glattgeschliffen, dass sich die Sterne verschwommen darin spiegelten. Kurz versuchte Drukil, das Sternbild zu finden, das ihnen den Weg zum Herold öffnen würde. Leander sagte, zwei der fünf Sterne standen bereits in einer Reihe, doch Drukil fand sie nicht.
Da der Berg flach anstieg, war der Aufstieg leicht zu bewältigen. Die Luft war so warm, dass ihre Kleider auf dem Weg nach oben von alleine trocken wurden. Anfangs sah Drukil nur schwarzen, glatten Stein und grauen Sand, auf dem lediglich einige abgestorbene Algen lagen. Doch als sie den leblosen Strand hinter sich gelassen hatten und sich langsam zum Gipfel des Berges aufmachten, entstand sogar fast so etwas wie Vegetation. Es waren nur magere Kräuter, die die allgegenwärtige Hitze ertrugen und denen die Überreste der Wasserpflanzen zum Wachsen genügten. Bäume fanden sie keine, schließlich hatte dieses Eiland angeblich die letzten fünfhundert Jahre unter Wasser verbracht. Dennoch war der Bär beruhigt, nicht auf einer vollkommen toten Insel umherzuwandern und regte sich trotz des Vollmondes kaum in ihm.
Je näher sie dem Gipfel und damit der eigentlichen Himmelssäule kamen, desto heißer und schwüler wurde es, bis die Kraxelei zur Tortur verkam. Drukil kämpfte sich vorwärts. Er hoffte auf einen kühlen Wind, bis er sich der merkwürdigen Windstille rund um die Insel erinnerte. Tatsächlich erwarteten ihn, als er den Gipfel erreichte, nur drückende Hitze, der Gestank von faulen Eiern und ein großes Loch.
Die Himmelssäule drang aus einem unregelmäßig geformten Abgrund von vielleicht dreißig Schritt Durchmesser hervor. Sie war eine wabernde, sich ewig wandelnde Wolke, die im Mondlicht silbern leuchtete. Ein Abstand von zwei Schritt lag zwischen ihr und dem steilen Kraterrand. Aus der Tiefe drang ein schwaches rotes Glühen und als Drukil vorsichtig seinen Arm über den Rand hielt, meinte er, seine Haut müsse verbrennen, so heiß war die Luft.
Eara trat unbeeindruckt direkt an den Krater und lugte hinunter. Drukil behielt Ken Dorr im Auge, falls der Dieb auf die Idee käme, sie hinunterzustoßen. „Der Wasserdampf versperrt die Sicht auf alles, was dort unten sein könnte. Aber die tote Frucht finden wir hier oben sowieso nicht. Vielleicht wurde sie am schwarzen Strand angespült.“
Drukil musterte besorgt die aufsteigenden Wolkenfetzen. „Die Strömung, die unser Schiff zur Insel gezogen hat, kommt von dem Wasser, das im Berg verschwindet und die Himmelssäule formt? Müsste diese Strömung dann nicht auch die tote Frucht dort hineingezogen haben?“
Ken Dorr riss seine grauen Augen auf, aber Eara zuckte nur mit den Achseln. „Wenn sie wirklich in den Vulkan gefallen ist, ist nichts mehr von ihr übrig, das wir finden könnten. Schauen wir erst einmal, was der Strand zu bieten hat.“
Schweigend traten sie den Rückweg an. Die Hitze und die öde Umgebung drückten ihnen allen aufs Gemüt, sodass Drukil fast froh war, als sie wieder am schwarzen Strand ankamen. Dann bemerkte er, dass er nicht länger schwarz war. Der Sand schillerte bunt im Licht des vollen Mondes, der inzwischen weitergewandert war. Drukil beugte sich hinab und hob eine Handvoll des bunten Sandes an. Er war so fein, dass er durch seine Finger rieselte, aber darin war ein fingernagelgroßes Etwas verborgen. Behutsam befreite er es vom schillernden Sand. War das ein winziges Ei? Er rollte die schwach durchsichtige Kugel zwischen seinen Fingern und hielt sie gegen das Mondlicht. Kein Ei! Drukil konnte darin nichts erkennen, was eines Tages ein neues Leben formen könnte. Am ehesten wäre dieser Stein mit einem kleinen Bernstein zu vergleichen, bloß dass er nicht goldgelb, sondern hellgrün schimmerte. Als Drukil ihn mit seinen Händen abschirmte, stellte er überrascht fest, dass er für kurze Zeit noch ein schwaches grünes Licht abgab.
Die anderen waren bereits aufgebrochen, um den gesamten Strand abzulaufen. Unwillkürlich hatten sie den Weg nach Süden gewählt, zum Mondlicht hin. Den seltsam schillernden Sand hatten sie entweder noch nicht bemerkt oder sie dachten sich nichts dabei. Kurz zögerte Drukil, dann hockte er sich hin und ließ die anderen weiterlaufen. Allzu groß war die Insel ja nicht. Er buddelte im Sand und förderte noch weitere der leuchtenden Steine zutage. Einige glühten grün wie der, den er zuerst gefunden hatte, andere rot oder blau. Der größte Stein, den er ausfindig machen konnte, war blau, fast so lang wie sein Daumen und auch ähnlich geformt. Wenn er vom Mondlicht abgeschnitten wurde, konnte er noch deutlich länger weiterglühen als die kleineren Exemplare. Das bedeutete dann wohl, dass zu kleine Steinchen im Dunkeln fast gar nicht nachglühen würden…
Er legte sich etwas Sand auf seine Handfläche und hielt sie ins Licht. Bei weitem nicht jedes Sandkorn glänzte rot, grün oder blau, aber gewiss der dritte Teil. Er schüttelte den Sand ab und stand auf. Er hatte schon viel zu lange getrödelt, es wurde Zeit, seinen Freunden von seinen Erkenntnissen zu berichten. Vielleicht konnte er es sogar so einrichten, dass Ken Dorr nichts davon mitbekam.
Er eilte den Strand entlang und seine Besorgnis wuchs, als er den schwarzen Berg fast zur Hälfte umrundet und sie noch immer nicht eingeholt hatte. Auf der Ostseite ging der Strand zurück und es gab steile Vorsprünge von bis zu drei Schritt Höhe. Bald hätte er ins heiße Wasser steigen müssen, um weiterhin auf Sand zu laufen, also kletterte er stattdessen ein paar Schritt höher. Der Berg war hier steiler, aber der Fels war deutlich rauer und bot besseren Halt.
Sollte er nach ihnen rufen? Ehe Drukil sich entscheiden konnte, lief er um einen Zacken und entdeckte sie nur wenige Schritt vor sich auf der Klippe stehen. Entsetzt bemerkte er, dass sie im Halbkreis um einen reglosen Körper standen. Hastig überprüfte Drukil die Gestalten. Thorn, Chada und Eara drehten ihm den Rücken zu und Leander stand mit dem Gesicht zu ihm, ohne ihn bemerkt zu haben. Es ging ihnen allen gut! Erleichterung durchflutete ihn. Wer auch immer da zwischen ihn lag, es war keiner von ihnen. Leider auch nicht Ken Dorr, der Dieb stand am Rand der Klippe und starrte wütend auf das Ding.
„Nun, das war nicht Drukil.“, rief Thorn resigniert.
„Ich bin hier!“, machte der Hautwandler auf sich aufmerksam und trat neugierig näher. Jetzt erst erkannte er, dass der Körper zwischen ihnen nur dem ersten Anschein nach einem Menschen gehörte. Wenn man die Stacheln am Rückgrat und den Unterarmen nicht bemerkte, mochte man den nackten Oberkörper trotz der grünstichigen Hautfarbe einem Menschen zuordnen. Ab der Hüfte jedoch ging die Haut in einen schlangenartigen Unterleib mit grünen, fischähnlichen Schuppen und einem Stachelkamm über, und oberhalb des Halses fielen neben den beiden stoßzahnähnlichen, aus dem Hinterkopf ragenden Sicheln und dem flachen Gesicht mit zu breitem Mund und leeren gelben Augen vor allem die glitschigen Tentakel auf, die Haare und Bart ersetzten. Neben dem toten Wesen lagen zwei seltsam gezackte Klingen aus einem Drukil unbekannten Material in einer Lache aus dunklem Blut.
„Drukil! Wo warst du?“, rief Chada, eine Mischung aus Zorn und Erleichterung in ihrer Stimme. „Wir dachten, du wärest schon vorgelaufen.“
„Im Gegenteil.“, brummte er und musterte die erfreuten Gesichter der anderen. Ken Dorrs Lächeln wirkte in keiner Weise erzwungen, was für Drukil der Beweis war, dass jedes seiner Lächeln nur vorgetäuscht war. „Was ist das für ein Vieh?“
„Du weiß nicht, wie ein Nerax aussieht?“, entgegnete Ken Dorr. Drukil war sich nicht sicher, ob der Dieb belustigt oder nur verblüfft war.
„Ach, ein Nerax.“, erwiderte er und versuchte, sich seine Unwissenheit nicht anmerken zu lassen.
„Ja! Diese verdammten Kreaturen sind einfach überall!“, sagte Ken Dorr zu niemand bestimmtem. Abscheu lag in seinen grauen Augen. „Ich wünschte, sie wären ausgerottet! Gors, Skrale, Trolle, Nerax … wenn es nach mir ginge, könnten sie alle verrecken! Endlich Frieden für die Menschheit!“
„Wenn die Angriffe der Kreaturen uns nicht geeint hätten, würden wir uns doch nur gegenseitig bekriegen.“, behauptete Leander. Er lächelte traurig. „Nur die Toten haben Frieden. Und was du dir wünschst, Ken Dorr, ist ein Völkermord unbeschreiblichen Ausmaßes. Ich möchte nicht sagen, dass die Welt ohne die Kreaturen ein schlechterer Ort wäre. Aber gewiss wäre sie ärmer. Die Nerax etwa sind ebenso intelligent wie Menschen. Sie haben eine eigene Sprache und Schrift, eine eigene Kultur, sie haben unterseeische Gebäude und Kunstwerke hinterlassen, es wurden sogar Tempel gefunden, die von ihnen erbaut wurden, gewidmet ihrem Gottkönig Warx. Die Nerax sind blutrünstig, gnadenlose Jäger, verachten alle, die nicht zu ihnen gehören … Im Grunde sind sie also genau wie wir.“
„Das stimmt nicht, Leander!“, empörte sich Thorn. „Auch Menschen und Zwerge haben ihre Schwächen, aber wir sind nicht wie die Kreaturen.“
„Ein Frieden mit den Geschuppten ist unmöglich.“, ergänzte Ken Dorr. „Es bleibt eine hypothetische Überlegung, aber wenn ich sie alle vernichten könnte, dann würde ich es tun.“
Drukil platzte der Kragen. „Das wäre falsch!“, schnauzte er den Dieb an. „Sie sind auch Teil dieser Welt. Und anders als die Krahder verleugnen sie nicht ihre Natur, sondern gehorchen ihr einfach.“
Ken Dorrs Augen verengten sich. „Das macht es nicht wirklich besser. Die Andori erzählen sich noch heute Geschichten über die Zeit, ehe der Unterirdische Krieg entbrannte, ehe die Kreaturen der Tiefe ins Drachenland kamen und die wenigen Menschen terrorisierten. Damals streiften die Wölfe durch das goldene Land, die Bewahrer hatten nur mit vereinzelten Trollen zu kämpfen und kaum einer musste fürchten, schon den nächsten Tag nicht mehr zu erleben. Dann erschienen plötzlich Heerscharen von Gors, Skralen, Wardraks … und alles änderte sich. So viel wurde zerstört, weil nichts und niemand darauf vorbereitet war.“
„Sie gehören nicht hierher.“, gab Drukil zu. „Hier gefährden sie das natürliche Gleichgewicht. Aber ihr habt mir von diesem Ort namens Krahal berichtet. So schrecklich es auch ist, dass Kreaturen von dort hierher gekommen sind, es wäre ebenso schrecklich, wenn sie dort fehlen würden.“ Drukil konnte seine Gewissheit nicht erklären. Er wusste, dass die Kreaturen hier, in der Obenwelt, großen Schaden angerichtet hatten. Aber er spürte, dass kein System bestehen konnte, das von sich aus im Ungleichgewicht war. Wenn die Kreaturen über Jahrtausende hinweg in Krahal gelebt hatten, würde ihre plötzliche Vernichtung eine riesige Lücke reißen. Sie gehörten dorthin. Und die Kreaturen, die schon immer hier gelebt hatten, mussten auch weiterhin hier leben. „Und es wäre erst recht falsch, die Trolle auszulöschen. Sie verhindern, dass es zu viele Wildtiere gibt, die sonst die Wälder kahlfressen. Oder zu viele Menschen.“
Alle Spannung fiel von Ken Dorr ab. Nun wirkte er nur noch müde. „Du hast die Trollkriege nicht erlebt, Drukil.“, flüsterte er. „Du hast die verbrannten Dörfer nicht gesehen, nicht die Felder voller Leichen, über denen sich die Krähen sammelten, nicht die Gebrochenen – so nannten wir die Wenigen, die aus den Vorratskammern der Trolle befreit werden konnten. Du hast nicht das Blut gesehen, das die Narne rot färbte. Du hast nicht das Brüllen gehört, das eine Kriegshorde vor dem Angriff auf wehrlose Gehöfte ausstieß. Weil wir die Trollkriege gewonnen haben und weil es heute keine Kriegshorden mehr gibt. Du kannst nicht davon sprechen, wie wichtig das natürliche Gleichgewicht ist, wenn du nicht wenigstens einen kleinen Bruchteil der Opfer dieses Gleichgewichts gekannt hast. So viel ging verloren.“
Ken Dorrs Augen glänzten leicht. Sie waren Drukil selten weniger kalt vorgekommen. Sicher, der Dieb war verdorben, von Eigennutz zerfressen und von widernatürlicher Hexerei berührt. Aber womöglich erinnerte er sich jetzt einer Zeit, in der er noch ein anderer, ein Besserer gewesen war. Auch wenn Ken Dorr noch – wieder – am Leben war, vermutete Drukil, dass er ebenso ein Opfer dieser Kriege war wie die Felder voller Leichen. Zum ersten Mal verspürte er Mitleid mit dem, der Ken Dorr einst gewesen sein mochte.
„So faszinierend diese Überlegungen auch sind, mich würde interessieren, woher dieser Nerax kam.“, warf Eara ohne ein Anzeichen von Betroffenheit ein. „Er hat sich plötzlich von dort oben auf uns gestürzt.“ Sie deutete mit ihrer dunklen Hand den Berg empor. „Doch was wollte er überhaupt dort? Im Wasser gibt es Fische, aber auf einem fast toten Berg? Er muss einen Grund gehabt haben, sich dort aufzuhalten, und da ihr den Nerax so voreilig erschlagen habt, müssen wir wohl selbst suchen.“
Ohne ein Antwort abzuwarten, schritt sie sicheren Trittes die Bergflanke hoch. Eine Kugel aus dunkelblauem Feuer entflammte zwischen den drei gewölbten Spitzen ihres schwarzen Stabes und erhellte die Umgebung.
Ohne den Nerax wären sie wohl daran vorbeigelaufen, dem suchenden Auge jedoch konnte sich das gezackte Loch nicht lange entziehen. Es wurde von einem großen Vorsprung in tiefe Schatten getaucht, war kaum mehr als mannshoch und sah aus, als sei etwas mit brachialer Gewalt in den Berg eingedrungen. Oder daraus ausgebrochen…
Da Earas Zauber Licht spendete, kletterte sie als erstes hinein. Drukil hingegen wartete, bis auch Ken Dorr hinabgestiegen war. Keinesfalls würde er dem Dieb den Rücken zuwenden! Erst als die Gestalt Ken Dorrs fast verschwunden war, schenkte er der toten Insel einen letzten sehnsüchtigen Blick und trat in die stickige Dunkelheit.
Mondhoch, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean
Aus den Wänden ragten spitze Zacken, die unheimliche Schatten warfen, wenn Earas Licht nicht gerade vom schwarzen Fels verschluckt wurde oder hinter einer der vielen Windungen des gezackten Ganges verschwand. Diesen Weg hatte nicht das Wasser geformt, aber auch keine Werkzeuge oder Tiere. Es schien, als habe der Berg sich einfach entschieden, an dieser Stelle auseinanderzubrechen. Der Boden dagegen war glatt genug, dass wohl auch ein Nerax sich hier entlangschlängeln könnte.
Sie mussten sich nicht lange durch die Dunkelheit zwängen. Schon nach kurzer Zeit erstrahlte vor ihnen ein kaltes weißes Licht, dessen Quelle sich ihnen erschloss, nachdem sie um eine weitere Ecke traten: Ihr Weg mündete in einen kreisrunden Gang, der schnurgerade durch den Berg führte wie ein riesiger Schlauch. Die Wände bestanden aus dem allgegenwärtigen schwarzen Stein, der Boden und die Decke hingegen glühten blendend weiß.
„Was ist das?“, hauchte Chada. Ihr Gesicht schimmerte blass im kalten Licht. Vorsichtig kletterte sie noch vor Eara aus dem Spalt in den abschüssigen Gang, kniete sie sich hin und betrachtete den Boden. „Glas?“
Drukil geduldete sich, bis die anderen hindurch waren, dann presste er sich durch den Riss in der runden Wand und sah den Gang hinauf und hinunter. Nach oben endete der Korridor an einer großen schwarzen Tür, die den ganzen Gang ausfüllte und glänzte wie polierter Marmor. Ohne die Fuge, die sich mittig durch durch den glatten Fels zog, hätte sie ebenso gut eine Wand sein können. Nach unten jedoch setzte sich das weiße Glühen ein gutes Stück fort, ehe es sich zweiteilte – vermutlich eine Kreuzung.
Der weiß leuchtende Boden bestand aus glatten Kacheln, deren quadratische Form Drukil nicht sehen, sondern nur ertasten konnte, wenn er über die gewölbte Oberfläche strich. Dieses weiße Licht bereitete ihm Unbehagen. Trotz der Hitze wirkte es eisig, glatt, leblos. Es flackerte nicht, veränderte sich nicht, schimmerte nur in perfekter, starrer Einheit. Die Kacheln waren weniger heiß als der Stein ringsum, und jede glich der anderen. Makellos, monoton, in Form gezwängt. Unnatürlich.
In unregelmäßigen Abständen prangten beruhigende Lücken im sonst so reinen Licht. Es waren erloschene Kacheln, der Beweis, dass auch die gelungenste Schöpfung den Lauf der Natur nicht überwinden konnte. Bei einigen war die Oberfläche gesprungen oder gar vollkommen zerstört, andere hatten ohne ersichtlichen Grund zu leuchten aufgehört. Drukil betrachtete eine davon genauer. Sie war nicht weiß, sondern bestand aus miteinander verwachsenen Mustern, die allesamt entweder rot, grün oder blau schimmerten. Überrascht holte Drukil den daumengroßen blauen Stein aus seiner Tasche, den er am Strand gefunden hatte. Die Farbe war identisch.
„Kein Glas.“, flüsterte er. Aus irgendwelchen Gründen wagte er es nicht, die unheimliche Stille dieses Ortes mit lauten Worten zu durchbrechen. Stockend berichtete er den anderen von seinen Erkenntnissen unten am Strand.
„Sie können Licht speichern?“, vergewisserte sich Thorn. „Aber woher kam so viel Licht, dass die Platten hier drinnen noch nach Jahrtausenden leuchten können?“
„Licht. Wärme. Bewegung. Alles ist dasselbe.“ Eara trat zu Drukil; die Kacheln zu ihren Füßen flimmerten und verdunkelten sich, wo sie sie berührte. „Wir befinden uns in einem aktiven Vulkan. Vielleicht können diese Steine Hitze in Licht umwandeln.“ Sie deutete mit ihren schattenhaften Fingern auffordernd auf den Stein in Drukils Hand. Missmutig überreichte Drukil ihr seinen Fund und achtete dabei darauf, die Dunkelheit nicht zu berühren.
Kaum war der Stein in ihre finstere Hand gefallen, erhob er sich auch schon, von dunklen Schlieren gehalten, und rotierte leicht vor Earas Augen, sodass sie ihn von allen Seiten betrachten konnte. Drukil wandte sich ab, um den Anblick der Finsternis nicht mehr ertragen zu müssen, die alle Harmonie zerstörte.
„Interessant.“, klang die kalte Stimme der Magierin durch den verlassenen Gang. „Ich habe Derartiges früher schon gesehen.“
Der blaue Stein schwebte an Drukils Nasenspitze vorbei und kam zwischen Thorn und Chada zum Halten. „Vor elfeinhalb Jahren.“
Chada betastete die vom Sand glattgeschmirgelte Oberfläche und runzelte besorgt die Stirn. „Der Drache?“
„Nicht Tarok! Kurz nach seinem Tod besuchten uns Fremde aus dem Westen, die Steine wie diese dabei hatten.“
„Mera!“, rief Thorn aus und das Echo seines Rufes schien erst nach einer Ewigkeit zu verklingen. Besorgt spähte Drukil den Gang hinunter.
„So nannten sie es wohl.“ Eara schritt viel zu nahe an Drukil vorbei und betrachtete die zersprungene Kachel zu seinen Füßen. „Ich frage mich was es zu bedeuten hat, dass wir ausgerechnet hier wieder darauf stoßen. Die Menschen, die diesen Ort erbauten, hatten offensichtlich genug davon zur Verfügung.“
„Falls es Menschen waren.“, murmelte Ken Dorr düster.
Da keiner von ihnen eine Möglichkeit fand, das schwarze Tor zu öffnen, folgten sie dem Gang nach unten. Schnell gelangten sie an das, was Drukil schon aus der Entfernung als Weggabelung identifiziert hatte. Der Gang teilte sich in zwei identische Wege auf, die beide schräg vor ihnen lagen und in die Tiefe führten.
Nach einer Weile wählten sie auf gut Glück den rechten Gang, entschlossen, im Zweifelsfall Leanders Strategie und somit immer einer Wand zu folgen. Drukil lauschte, ob irgendetwas einen Hinweis gab, welche Richtung sie in diesen eintönigen Gängen einschlagen sollten, doch hörte einzig sich selbst und die anderen. Ihre Schritte klangen seltsam auf dem glatten Untergrund, das Echo verzerrte die Geräusche noch zusätzlich. Ansonsten war es geradezu unheimlich still, nur Eara berichtete Leander leise, wie ihre Umgebung aussah. Hatte der Blinde bisher ratlos geschwiegen, so ließ ihn seine unersättliche Wissbegierde nun unaufhörlich flüstern. „… eine geschickte Verflechtung der drei Grundfarben des Lichts also, um insgesamt das weiße Leuchten zu erzeugen. Wenn die Baumeister wirklich gut waren, haben sie eine Möglichkeit eingebaut, die verschiedenen Farben einzeln zu steuern, dann könnten sie den Gang in jeder beliebigen Farbe erhellen. Was genau ist dieses Mera denn? Ein Edelstein? Kristallstrukturen? Organische Sedimente?“
„Die Tulgori nannten es Stein und behaupteten, sie schlügen es mühsam aus dem Gebirge.“, antwortete Eara flüsternd. „Aber ich glaube nicht, dass es möglich wäre, gefundene Edelsteine derart fein zu schleifen, dass die Überlagerung in den Kacheln weißes Licht erzeugt. Entweder man kann sie wachsen lassen wie Kristalle oder es muss möglich sein, sie zu schmelzen, zu vermischen und in Form zu gießen wie Glas. Ich kann aber nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich wirklich um Mera handelt oder nur um ein sehr ähnliches Material.“
„Die Erbauer dieser Gänge müssen großes Wissen und Geschick besessen haben. Zumal Solantis womöglich schon vor über viertausend Jahren unterging.“
„Solantis!“, schnaubte Eara. „Vertraust du nicht etwas zu sehr auf dieses alte Märchen?“
„Die Dächer bestanden aus reinem Diamant und in den Straßen blühten Blumen aus leuchtendem Glas.“, zitierte der Seher. „Es sind keine Blumen und vielleicht ist es auch kein Glas, aber eine gewisse Wahrheit scheint sich in der Sage zu verbergen. Gibt es irgendwelche Indizien dafür, dass wirklich Menschen diesen Ort erbaut haben, wie es in der Geschichte heißt?“
„Keine Ahnung. Vielleicht kannst du etwas mit den Schriftzeichen an den Wänden anfangen.“
Drukil stockte und betrachtete den schwarzen Stein neben sich genauer. Bisher hatte er sich hauptsächlich auf die weiß leuchtenden Kacheln konzentriert und den unscheinbaren Wänden keine Beachtung geschenkt, daher bemerkte er sie erst jetzt: Verschlungene Symbole, knapp aus dem Fels ragend, die im kalten Licht verworrene Schatten warfen. Feine Gravuren, die sich eng aneinanderschmiegten und die ganze Wand bedeckten, die einander verspielt ergänzten und sich in alle Richtungen immer weiter fortsetzten, ein Wald aus Linien und Spiralen, steingewordenes Wissen, ein Muster des Vergangenen. Jedes Zeichen schien mit jedem anderen verbunden, sofern es denn überhaupt Zeichen waren. Drukil trat einen Schritt zurück und bestaunte das Gesamtbild, das sich aus all den Linien zusammensetzte. War das ein abstraktes Gesicht, dort hinten die Wellen des Meeres, oder waren es nur dicht gesetzte Formen, die den Anschein von Struktur übermittelten, obwohl sie scheinbar ohne Richtung aus sich selbst herauswucherten? Waren das Schriftzeichen, die sich so zu einem Gesamten formten, dass auch Drukil einen Sinn in ihnen sehen konnte, ohne die Feinheiten zu begreifen, und wenn ja, wie waren sie zu lesen?
Leander überreichte Eara seinen Stab und betastete die Reliefs mit beiden Händen, strich vorsichtig über das verflochtene Labyrinth aus undurchschaubaren Schleifen. Chada, Thorn und Ken Dorr, die weiter unten ebenfalls angehalten hatten, kehrten zu ihnen zurück. Chada hielt irgendetwas in ihren Händen, aber Drukil konnte sich nicht von den fortlaufenden Linien an der Wand lösen. Seine Augen huschten über Hunderte von Verflechtungen, folgten den ehrwürdigen Zeugen einer versunkenen Kultur.
„Das erinnert an die Glyphenschrift der Nerax, die ich einigermaßen übersetzten könnte, allerdings in einer ungleich kunstvolleren Form.“
„Gibt es irgendeine erlernbare Sprache, die du nicht beherrschst?“, fragte Drukil fassungslos.
„Ur-Tulgorisch.“, antwortete Leander abwesend. „Entsetzliche Sprache. Zwanzig verschiedene Wortarten, acht Geschlechter, vierzehn Fälle, elf Tempi, jedes zweite Verb unregelmäßig, die Satzstellung bestenfalls willkürlich… Aha!“ Plötzlich glitten Leanders blaue Finger gezielt über die kuriose Schrift. „Ich verstehe! Das ist definitiv eine Urform der Neraxglyphen. Die Aktivkonstruktionen werden um Verknüpfungen mit den Bezugspersonen versehen, anschließend in Teilabschnitte der Hauptknoten transformiert …“
„Kannst du es übersetzen?“, unterbrach Drukil seinen verwirrenden Redeschwall.
„Übersetzen? Bei der Vorsehung, nichts würde ich lieber tun. Ich bräuchte nur einige Folianten, einen zahmen Nerax zur Überprüfung einiger Theorien und ein paar Jahrzehnte Zeit.“
„Vielleicht lieber heute noch.“, schlug Eara vor.
„Heute? Ich werde Stunden brauchen, allein um diesen Quadratschritt Wand vollständig zu ertasten und mir das Bild einzuprägen. Mit meinem jetzigen Kenntnisstand kann ich höchstens begründet raten.“
„Dann rate mal!“, forderte Drukil.
Leander seufzte. „Die gesamte Passage scheint eine Lobpreisung zu sein, und zwar für mehrere Personen oder Wesen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob sie sich an die Machthaber, etwa das Königshaus, oder an irgendwelche Götter richtet. Womöglich beides. Anscheinend gehören diese Gänge hier entweder zu einem Palast oder zu einem Tempel.“
„Nein.“, flüsterte Chada und hob das Objekt in ihren Händen: Einen gelben Schädel, aus dessen Hinterkopf zwei brüchige Sicheln ragten. „Zu einer Gruft.“
Eine große kugelförmige Kammer zweigte nur wenige Schritt weiter unten vom Gang ab und erklärte, was Chada, Thorn und Ken Dorr aufgehalten hatte. Hier bestanden Boden und Decke ebenfalls aus mit Schrift übersätem schwarzen Stein, nur einige Dutzend harmonisch von Glyphen umrankte Kacheln in der Wand spendeten blasses Licht. Der eigentliche Zweck des Raumes war nicht mehr zu erkennen, da der Boden von uralten Gebeinen bedeckt war. Insgesamt waren bestimmt an die zweihundert Nerax hier begraben. Sie lagen und saßen an den Wänden, in der Mulde im Zentrum sammelten sich hinabgerollte Einzelteile. Drukil entdeckte keine gespaltenen Schädel oder zerborstenen Knochen, nur vorsichtig drapierte Arme und skelettierte Schlangenleiber. Diese Nerax waren hier langsam verendet.
Die warme Luft war trocken und kratzte in seinem Hals. Leere Augenhöhlen verfolgten jeden seiner behutsamen Schritte. Dieser ganze Raum vermittelte eine Schwere und Endgültigkeit, der er sich nicht entziehen konnte. Die versammelten Toten wirkten nicht mehr wie blutrünstige Kreaturen, nur wie die schwermütigen Überreste einer vergangenen Zivilisation, eine Schar der Verzweifelten, die sich wie zum Schlafen auf den warmen Stein gebettet hatten, in Gedanken nur die kompromisslose Gewissheit, nie wieder zu erwachen.
Ein unvorsichtiger Schritt auf dem abschüssigen Untergrund brachte Drukil ins Stolpern und nur mit Mühe konnte er einen Sturz vermeiden. Sein Fuß traf einen ausgestreckten Arm, der unter der Berührung ohne den geringsten Widerstand zu braunem Pulver zerstob. Das Echo seines aufstampfenden Fußes erhob sich zwischen den Gebeinen, traf auf die runden Wände und wurde zwischen den verworrenen Schriftzeichen hin- und hergeworfen, umkreiste das Massengrab. Die vorwurfsvollen Blicke der Verschiedenen trafen ihn von allen Seiten.
„Der Vulkan brach aus, doch all das hier überdauerte. Der Berg selbst schützte die Gänge, während alles andere zerstört wurde. Vielleicht gelang es irgendeinem schnellen Wächter, das schwarze Tor rechtzeitig zu versiegeln.“, vermutete Eara. Sie sprach nur leise, aber an diesem Ort klang selbst das noch wie ein gellender Schrei. Der kugelförmige Raum vervielfachte ihre kalte Stimme zu einem Chor der scheinbaren Gleichgültigkeit. „Die Nerax, die sich hier unten aufhielten, müssen sich zerrissen gefühlt haben. Auf der einen Seite die Ungewissheit, was jenseits dieser Hallen geschehen war. Hatte Solantis überdauert? Hatte irgendjemand da draußen überlebt? Aber auf der anderen Seite die Freude noch am Leben zu sein. Doch wie schnell wich die Freude der Verzweiflung, als ihnen aufging, dass der Stein, dem sie ihr Leben verdankten, zugleich zum Kerker geworden war. Als sie bemerkten, dass sie nur überlebt hatten, weil sie buchstäblich abgeriegelt waren und dass sie das schwarze Tor nicht mehr öffnen konnten. Als ihnen klar wurde, dass all ihre Vorräte nicht für eine Ewigkeit reichen würden. Der Riss, durch den wir hier eindrangen, wird damals noch nicht existiert haben.“
Die Dunkle Magierin stand vor einem besonders gut erhaltenen Skelett, dessen Oberkörper seltsam verschoben aussah. „Sie zogen sich hierher zurück, um Frieden zu finden. Um mit dem Leben abzuschließen und auf den Tod zu warten. Vielleicht hat der ein oder andere auf Hilfe von außen gehofft, aber eigentlich war allen klar, dass diese Hilfe nicht kommen würde. Sie waren eingeschlossen von erhärtetem Stein und kochendem Wasser. Sie hätten übereinander herfallen können, um sich gegenseitig das Blut aus den Adern zu saugen und einige Stunden überleben zu können. Aber wozu das Unvermeidliche hinauszögern?“
Drukil trat näher zu Eara und begriff nun, was mit dem Skelett nicht stimmte. Ein weiteres Gerippe lag auf seiner Brust, klein und zusammengerollt. Ein Kind, kaum geboren, kaum zum Leben erwacht, um dieses Leben schon wieder aushauchen zu müssen.
Plötzlich erstrahlte im Zentrum der runden Kammer ein flackerndes Licht von orangeroter Farbe. Drukil wich zurück. Hatte dir Rote Katze sich der vertrockneten Gebeine bemächtigt?
Zwischen den Skeletten formte sich ein grauer Umriss, der von einem sanften roten Schimmer umgeben war. Ein nebelhafter Schemen, zwei weiß glühende Augen… Ein Geist! Doch der Unterkörper mündete in einen langgezogenen Schwanz, der sich schwach über die Knochen schlängelte. Er war ein Nerax! Ein Gespenst aus vergangenen Zeitaltern, ein Zeuge der einstigen Pracht dieser Insel. Die Seele eines Ermordeten, der in dieser Welt noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte.
Auf der Brust des Gespenstes strahlte ein rotes Dreieck. Es glühte heller als die weißen Kacheln und schien im Gegensatz zum Geist selbst aus fester Materie zu bestehen, gleichzeitig aber ein Teil von ihm zu sein.
Der Nerax schwebte über den Knochen unter der Kuppel und drehte langsam den Kopf. Der stechende Blick aus seinen weißen Augen schien durch die Eindringlinge einfach hindurchzugleiten und nur die unzähligen Gebeine zu sehen.
„Zserrana!“ Drukil zuckte zusammen, als die Gestalt ein klagendes Wispern ausstieß. Dann unterdrückte er sein Unbehagen, und näherte sich langsam dem Geist, besonders vorsichtig darauf bedacht, keine weiteren Körperteile zu pulverisieren. Die anderen blieben vorsichtig hinten und der Bär kratzte wild an seinen Ketten, wollte von dem Toten fortkommen, aber Drukil reihte einen behutsamen Schritt an den anderen, bis er nicht mehr weiter hätte gehen können, ohne Skelette zu zerstören.
„Hallo!“, brachte er hervor und unterdrückte die Bilder der entsetzlichen Wunden, die die geisterhafte Sporne im Gebirge hatte schlagen können. Der Nerax jedoch reagierte nicht. Er schwebte ziellos im Kreis, seine weißen Augen flackerten. „Zserrana!“ Lähmende Verzweiflung lag in diesem tonlosen Wort. Ohnmächtiger Zorn. Trauer, schwarz wie die Tiefe des Ozeans. Eine Ruhe jenseits des Wahns. Die schiere Unbegreiflichkeit der Katastrophe. Schuld, schwerer als das Meer. Verlorene Hoffnung.
Drukil streckte seine Hand aus, um den Geist auf sich aufmerksam zu machen, ohne zu wissen, ob das wirklich eine gute Idee war. Doch unmittelbar bevor seine Fingerspitzen in den grauen Dunst eintauchen konnten, zuckte der Nerax plötzlich zurück. Seine Augen zitterten, stolperten über die einsamen Gestalten, umgeben von Tod.
„Zserrana!“ Unglaube. Fassungslosigkeit. Hoffnung? Der Nerax verschwamm und bildete eine formlose Wolke, in deren Zentrum das rote Dreieck schwebte. Dann floh er wie der Schweif eines grauen Kometen zum Eingang der Kammer und bildete sich erneut. „Zserrana!“ Fast auffordernd klang sein Ruf.
„Ich glaube, der Geist möchte, dass wir ihm folgen.“, sprach Thorn aus, was auch Drukil vermutete. „Ich bin mir nur nicht sicher, wie klug das wäre.“
„Und wer reinen Herzens ist, kann die strahlende Stadt betreten, den Gesängen der Geister lauschen.“, flüsterte Leander. „Diese Höhlen könnten riesig sein, sich bis weit unter den Meeresspiegel fortsetzen. Unsere Zeit aber ist begrenzt.“
Mondhoch, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean
Nachdem sie Leander ihren gespenstischen Führer beschrieben hatten, schwiegen sie, einzig der Nerax selbst gab immer wieder ein ungeduldiges Zserrana von sich. Der Geist führte sie zielstrebig durch die schlauchartigen Gänge. Vermutlich hatte er in den letzten Jahrtausenden nichts anderes zu tun gehabt, als diesen Ort auswendigzulernen. An keiner der Abzweigungen zögerte er; zumeist wählte er denjenigen Weg, der am steilsten in die Tiefe führte, sodass sie immer weiter nach unten vorstießen. Die Hitze nahm mit jedem Schritt zu.
Sie durchquerten nicht nur kahle Gänge, sondern passierten auch wundersame Räume, in denen der tote Nerax keinen Herzschlag verweilte. Ein spiralförmiger Brunnen, aus dem eine goldene Flüssigkeit sprudelte. Einen Saal mit detaillierten Figuren ganz aus Licht. Ein ausgetrocknetes Becken, in dem das Gerippe einer dreiköpfigen Schlange lag. Eine dunkle Höhle, an deren Wänden spitze Kristalle in unterschiedlichen Farben funkelten. Ein üppiger Garten voller seltsamer Pilze und roter Ranken, die in den vielen Jahrhunderten ihre angestammten Töpfe verlassen und alles andere überwuchert hatten, bewässert durch ein System aus Rohren, die Wasserdampf versprühten. Ein mit Spiegeln verkleideter Raum voller durchscheinender Konstruktionen, in denen stürmische Schatten waberten und die Drukil so schnell wie möglich hinter sich ließ. Eine Werkstatt, in der übergroße Rüstungen aus schwarzem Stein reglos um Tische voller metallener Schalen standen. Ein Gewölbe aus Eis inmitten der gewaltigen Hitze.
Schließlich erreichten sie eine Tür aus blau glühendem Mera, die zu einem Spalt offen stand, die halbrunden Türflügel hatten sich einfach in die gewölbte Wand hineingeschoben. Dahinter lag ein Raum, der sich von den übrigen zuallererst dadurch abhob, dass er nicht rund war, sondern die Form eines Würfels hatte. Die weißen Kacheln endeten an der blauen Tür, dafür wuchs in jeder Ecke des Raums ein weiß leuchtender Kristall. Dass die obligatorischen Schriftzeichen auf dem schwarzen Boden ebenso ausgeprägt waren wie an Wänden und Decke deutete darauf hin, dass kaum eine Schuppe sie abgeschmirgelt hatte. Hier war nicht oft jemand gewesen.
„Zserrana!“ Der Geist des Nerax´ wartete in der Tür und drehte sich zu ihnen um. Als seine Schwanzspitze sich dabei in den Raum schob, leuchtete das rote Dreieck auf seiner Brust plötzlich auf und orangene Blitze zuckten über seinen schemenhaften Leib. Der Geist zog sich gequält zusammen und verschwamm, pulsierte in der Luft, während das rote Dreieck unverändert glühte. Ein schrilles Zischen entwich dem Gespenst, ehe es rasch zurückwich und sich wieder ausformte.
„Du kannst nicht weiter?“, fragte Drukil erstaunt.
„Zserrana!“ Zwar schien der Nerax ihn nicht zu verstehen, doch seine ganze Haltung drückte sengenden Schmerz aus, dazu eine explosive Mischung aus Verzweiflung und Entschlossenheit. Er deutete mit einem nebligen Arm auf die gegenüberliegenden Seite der Kammer. Zwei Gänge führten noch weiter ins Herz des Berges: Der linke Eingang war reich mit Reliefs verziert und dreieckig geformt, sodass die schwarzen Wände wie zu einem Dach zusammenliefen. Ein schwaches türkises Licht schimmerte aus ihm hervor.
Der andere Weg war unregelmäßig geformt wie gewachsen, die von unzähligen Rissen durchzogenen Wände glommen rot. Er führte steil nach unten und verströmte eine solche Hitze, dass Drukil sich ihm nicht zu lange zuwenden konnte.
Zwischen den beiden Eingängen, von den verschlungenen Glyphen umrankt, schimmerte etwas Rundes im Zwielicht. Ein schwarzer Spiegel? Ohne einen Gedanken an die orangenen Blitze zu verschwenden, trat er näher. Er starrte auf das Ding, das sich aus dem Halbdunkel schälte: Ein symmetrischer Stein, schwarz funkelnd, von gezackten Sprüngen durchzogen, stellenweise waren Splitter herausgebrochen, die nirgendwo zu finden waren. Und der geborstene Stein starrte zurück. Eine grässliche Kreatur blinzelte ihm entgegen, ein symmetrisches Ungeheuer, das Spiegelbild seiner selbst, von den feinen Facetten in Millionen kleiner Splitter aufgeteilt und neu zusammengesetzt. Doch in der Dunkelheit verbarg sich noch mehr, lauernd, beobachtend, wartend, planend. Etwas toste innerhalb des schwarzen Steins, ein Sturm jenseits der Stille, eine Dunkelheit älter als das Licht, ewige Finsternis in einer stetigen Verwandlung.
Der Bär schrie gequält, alle seine Instinkte widersetzten sich dem dunklen Sog. zerstörte ordnung! falscher schein!
Drukil wollte sich abwenden und konnte es nicht. Eine düstere Faszination ging von diesem Stein aus, etwas zog ihn immer näher. Die Schwärze flüsterte verheißungsvoll.
Die Fassung des funkelnden Steins formte keinen Kreis, wie Drukil anfangs gedacht hatte, sondern war annähernd achteckig. Doch die acht Kanten waren nicht gerade, sondern rund, zusammengesetzt aus acht weiteren Linien, die sich aus noch winzigeren Ecken ergaben. Dieses Muster setzte sich immer weiter fort, bildete Oberfläche und Aufbau des Steins. Er war schillernde Dunkelheit, jede klare Kante war bei genauerer Betrachtung ein Mosaik aus runden Strukturen, die eigentlich selbst nur eckig waren.
vernichtung! dunkelheit! zerstörung! Die panischen Triebe des Bären versanken in den Schatten des Steins, wurden von den immer kleineren Facetten in Einzelteile zerlegt und unschädlich gemacht. Drukil hatte gar keine andere Wahl, als sich immer näher vor die schwarze Oberfläche zu beugen. Sein Blick stürzten zusammen mit den schimmernden Mustern in immer dünnere Strukturen, winziger als die Ewigkeit. Seine goldbraunen Augen wurden von einer gleißenden Finsternis aufgesogen. Seine Nasenspitze berührte den Stein.
Er floh durch enge Gänge, das silberne Echo gleichförmiger Schritte ließ die Welt in seinem Herzen erbeben und ein Regen aus Perlmutt ging auf ihn nieder.
Ein flammender Dämon verging Jahrhunderte vor seiner Zeit, und eine Dunkelheit, die jedes Mitleid verschlungen hatte, verweigerte der Unschuld die Erlösung.
Ein Ring aus Silber schimmerte durch glitzerndes Wasser, Dunkelheit verschlang die Kette der Einheit.
Ein roter Stein, ein glühendes Dreieck, saugte Blut auf, und eine verlorene Seele fand in die Freiheit.
Er stand in einem Kreis schweigender Zeugen, brüllte vor Zorn, während eine Schlange sich in seine Seite fraß und ein Bär die weit geöffneten Türen eines zerbrochenen Kerkers verließ.
Er kauerte auf einer Lichtung in einem Wald aus kahlem Stein, wo der Sturm sein blindes Auge auf ihn richtete, schrie von sich den Schmerz des Verrats, dessen Opfer der Ungehörnte geworden war.
Er starrte in ein schwarzes Auge, erblickte das Grauen des Kommenden und schrie, schrie vor Schmerz, schrie vor Verzweiflung, schrie vor Zorn, schrie ohne Grund, während Hände ihn fortzerrten, schrie noch immer, als die Stimmen seiner Freunde langsam zu ihm durchdrangen, schrie und schrie …
Drukil verstummte und blinzelte ins Zwielicht. Langsam erkannte er die Helden von Andor, die sich besorgt über ihn beugten. „Drukil!“, flüsterte Chada heiser. „Beruhige dich! Wir sind da. Alles ist gut.“
Er keuchte und setzte sich langsam auf. „Was … Was ist geschehen?“
„Ich dachte, du könntest uns das sagen… Du bist einfach durch den Raum gegangen, zu diesem seltsamen Stein, dann hast du hineingeschaut und plötzlich angefangen zu schreien.“
Drukil sah sich um und sofort fiel sein Blick wieder auf den zersprungenen Stein. Die Facetten funkelten bösartig und lockend zugleich. Drukil schloss die Augen. „Dieser schwarze Stein hat mir seltsame Bilder gezeigt, die ich selbst nicht verstehe. Es war … vielleicht die Zukunft? Aber so verworren…“ Er legte seine Hand auf den Schwertgriff und hörte sogleich, wie die anderen zurückwichen. Er konnte es ihnen nicht verdenken, sie wussten nicht, was in ihn gefahren war. Er wusste es ja selbst nicht.
Langsam öffnete er die Augen wieder und vermied es, zum Stein zu blicken. „Ich habe mich selbst gesehen. Ich habe geschrien. Aber da war noch mehr, Dinge, die sich mir entziehen. Ach, ich weiß es nicht!“ Er rappelte sich auf. „Nur eines habe ich wirklich erkannt: Ein rotes Dreieck, das Blut aufsaugt. Ein Dreieck, das exakt so aussah wie das auf der Brust unseres toten Führers.“ Drukil zeigte zitternd auf das Gespenst, das noch immer unbeeindruckt in der blauen Tür schwebte.
Leander lachte leise. „Und wenn er den Göttern sein Blut opfert, so werden die Toten erlöst, und er selbst kann die Schätze von Solantis bergen.“
„Du meinst, wir sollten unser Blut auf das rote Dreieck geben, um den Geist zu erlösen?“, fragte Ken Dorr zögernd. „Brauchen wir ihn nicht noch?“
„Ich weiß nicht, was wir tun sollten!“, schrie Drukil. „Ich glaube, dieses Dreieck verhindert, dass der Nerax noch weiter kann. Und ich glaube, wenn wir es mit genug Blut benetzen, wird diese Grenze aufgehoben. Aber es war dieser Stein, der mir das gezeigt hat, und dem vertraue ich noch weniger als dir.“ Ken Dorrs graue Augen verengten sich beleidigt.
„Leander, weißt du, was dieses Wort bedeutet, dass er die ganze Zeit von sich gibt?“, fragte Eara teilnahmslos. „Oder könntest du etwas aus der Gemeinen in seine Sprache übersetzen, damit wir mit ihm kommunizieren könnten? Er scheint uns nicht zu verstehen.“
Der Seher schüttelte bedauernd den Kopf. Eara musterte den Geist und fragte langsam: „Was wolltest du uns zeigen? Warum sind wir hier?“
„Zserrana!“
„Zwecklos.“, murmelte Thorn. „Ich schlage vor, wir machen das mit dem Blut. Er scheint uns nicht schaden zu wollen.“
Drukil biss sich auf die Lippe. „Also gut.“, sagte er verhalten. Er zog sein Schwert ein kleines Stück aus der Scheide und drückte seine Hand in die Schneide.
Mit ausgestreckter Hand näherte er sich dem Geist in der blauen Tür. Die beiden weiß glühenden Augen richteten sich auf das Blut, das über seine Handfläche rann. Der Nerax waberte unruhig und reckte ihm das glühende Dreieck entgegen. Offensichtlich wollte er befreit werden.
Drukil zögerte, seine Hand unmittelbar hinter der unsichtbaren Grenze, die der Nerax nicht überschreiten konnte. „Was geschieht, wenn ich das tue?“, fragte er.
„Zserrana!“
Mit seiner unblutigen Hand tastete nach dem roten Dreieck. Es war tatsächlich eine flache Scheibe, die dort in der Luft schwebte, warm, aber nicht heiß.
„Zserrana!“, fauchte der Nerax, die Augen gierig auf das Blut gerichtet. Drukil tastete sich durch die Barriere, die für ihn nicht existierte. Der Geist versuchte vergeblich, nach dem Blut auf seiner Hand zu haschen. In dem Moment, in dem der neblige Arm in Drukils Haut verschwand, wurde er plötzlich in einen Strudel gerissen. Er sah Bilder, Erinnerungen, die nicht seine eigenen waren. Ein von Tentakeln umrahmtes Gesicht, das zu ihm sprach. Ein Sonnenaufgang am Fuße eines schwarzen Berges, auf dem sich durchscheinende Gebäude drängten. Lange Prozessionen von Nerax, die sich zum Gebet versammelten. Und zwei orangefarbene Augen in der Dunkelheit.
Frühe Nacht, Tag des Lichten Ausgleichs 4648 v.A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean
Mrr-Slaol schlängelte sich durch das Allerheiligste, die Drei Wände setzten sich vor und hinter ihm scheinbar ewig fort. Vorsichtig blickte er sich um, seine Tentakeln ringelten sich über den dreieckigen Leuchtkristall auf seiner Brust. Niemand war in der Nähe. Das Volk feierte weiter oben die Nacht, die lang wie der Tag war. Oder besser, die kümmerlichen Überreste des Volkes, die sich nicht abschrecken ließen von den Bildern, die der Schwarze Stein ihm gezeigt hatte.
Mrr-Slaol erschauderte. Das Unheil durfte nicht geschehen! Der Schwarze Stein hatte ihm nicht nur die Vernichtung gezeigt, sondern auch die Hoffnung. Es war seine Aufgabe, alles zu retten, selbst zu diesem Preis.
Nochmals blickte er über seine Schulter. Kein anderer Nerax war ihm gefolgt. Wieso auch? Er war der Hohepriester, der Hüter des Schwarzen Steins, das Sprachrohr der Götter, der Höchste Kristallomant, der Flammenberührte. Niemand würde ihm misstrauen.
Er glitt in die Kammer des Schwarzen Steins und in den Roten Gang, den er erst in über zweihundert Jahren hatte betreten wollen.
„Du solltest nicht hier sein.“
Mrr-Slaol erstarrte und drehte sich um. Zwei orangene Augen schwebten wie glimmende Kohlen in der Dunkelheit. „Erneuerin!“, hauchte er. „Meine Herrin! Meine Göttin!“
„Gib dir keine Mühe, wir wissen von deinen Taten.“, sprach sie. Trauer lag in ihrer reinen Stimme. Sie hob eine Hand, und darin lag der tote Samen, den er nicht gut genug verborgen hatte. Ein einzelner roter Leuchtkristall hatte sich in seiner verschrumpelten Schale verfangen. „Fast zu spät hätten wir davon erfahren. Hast du das Wasser der Zeit bereits mit Gift versetzt?“
Mrr-Slaol sagte nichts. Er konnte sie nicht anlügen. Der Versuch wäre töricht, sie durchschaute jede Täuschung.
„Also ist der Baum des Anbeginns nicht mehr zu retten. Und den Samen hast du hierhergebracht, um ihn ebenfalls zu zerstören, nicht wahr?“
„Es war die einzige Option!“, kreischte er verzweifelt. „Ich habe gesehen, was uns erwartet. Ich habe Eure Machtlosigkeit gesehen. Wenn nicht einmal die Götter uns erretten konnten, wer dann? So lange habe ich die Zukunft durchsucht, so lange habe ich nach einem anderen Ausweg geforscht, aber wozu? Der Schwarze Stein kann nicht lügen.“
„Du verwechselst Möglichkeit mit Wirklichkeit, Hohepriester. Du bist so vermessen, dass du zu verstehen glaubst, was nicht zu verstehen ist. Auch wir wurden geblendet. Wir haben den Wohlstand gesehen, den der Schwarze Stein diesem Ort bescheren würde, nicht aber die Verheerung.“
Mrr-Slaol blickte seine Göttin an. „Bitte! Lasst nicht zu, dass all das hier untergeht. Ich habe die Ehernen Gesetze stets geachtet, habe den Baum gepflegt und alle Leuchtkristalle auf der Insel belassen. Aber jetzt steht mehr auf dem Spiel. Bitte, befreit uns von euren Regeln!“
Sie glitt elegant aus den Schatten und wartete neben dem Schwarzen Stein. „Es steht mehr auf dem Spiel, als du dir überhaupt vorstellen kannst, kleiner Nerax. Du willst Freiheit? Du weißt nicht, was dieses Wort überhaupt bedeutet. Du kennst keine Freiheit. Wir aber, wir sind zu ihr gezwungen.“
Sie presste eine Hand auf den Schwarzen Stein. Es knackte, Risse zuckten durch die Dunkelheit. Der finstere Kristall platzte auf, die schwarzen Splitter verwandelten sich noch während ihres Sturzes in dunklen Nebel, den die Göttin mit ihrem Atem einfing. Ein Zucken durchlief sie. Etwas verließ sie, hinterließ nur Leere. Mrr-Slaol spürte, wie sich etwas veränderte. Wie sich alles veränderte.
Plötzlich schrie sie gequält. Ihre Augen öffneten sich und gewaltiges Entsetzen flackerte darin. „Dies also ist der Weg des Schicksals. Diese Prüfung also ist uns auferlegt. Du hast recht, Hohepriester. Die Ehernen Gesetze haben zu lange gegolten.“ Ihr Blick richtete sich auf den Samen in ihren Händen. „Es wird Zeit, den zukünftigen Baum des Anbeginns in Sicherheit zu bringen. An eine fremde Küste, wo das Feuer ihm nichts anhaben kann.“
Mrr-Slaol hechtete vor, sein geschuppter Schwanz stieß sich kraftvoll vom schwarzen Untergrund ab. Er durfte das nicht zulassen. Er musste den Samen vernichten!
Ihr Stab durchbohrte ihn noch im Sprung. Es hieß, er sei aus der Rinde des Baumes selbst gefertigt. Die Göttin hatte sein Leben mit einem heiligen Artefakt beendet, unter anderen Umständen eine große Ehre. Doch jetzt überkam ihn nur Verzweiflung. „Muss ihn … vernichten …“, röchelte er.
Ein grüner Blitz, und die Göttin verschwand. Zusammen mit dem Samen und dem roten Leuchtkristall. Mrr-Slaol stürzte zu Boden, da kein Stab ihn mehr hielt. An eine fremde Küste… Die Göttin hatte ihr eigenes Gesetz gebrochen! Kein Leuchtkristall durfte die Insel verlassen, ansonsten …
Ein grauenhaftes Knirschen ertönte, ein Schwall aus Hitze traf ihn von hinten, aus Richtung des Roten Ganges. Ner-Vaagsela war frei! Es war nicht das Ende, das der Schwarze Stein ihm offenbart hatte, aber es war ebenso ein Ende. Alles war verloren. Mrr-Slaol hatte versagt. Seine Kiemen blähten sich ein letztes Mal, ein letztes Wort entwich seinem Mund. Er wünschte so sehr, er hätte es geschafft. Den Samen zu … „Vernichten!“
Späte Nacht, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean
Drukil riss seine Hand zurück. Blickte in die weiß glühenden Augen des Geistes. „Zserrana!“, hauchte der Nerax. Hauchte Mrr-Slaol. Drukil wankte zurück in die Kammer, wohin der Geist ihm nicht folgen konnte. Die anderen warfen ihm befremdete Blicke zu, aber Drukil wusste, was er tat. Das Gespenst durfte um keinen Preis freikommen! Die Seele eines Ermordeten, der in dieser Welt noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Der Nerax hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Aufgabe, der er sich ganz und gar verschrieben hatte. Zserrana. Vernichten.
„Eine kluge Entscheidung.“, flüsterte eine beißende Stimme aus dem Halbdunkel. Fassungslos hob Drukil den Blick zum dreieckigen Gang. Auch die anderen fuhren herum. Sie mochten erstaunt sein, aber höchstens Ken Dorr erkannte vielleicht die Stimme, die zu einem Wesen gehörte, das Drukil nur aus Beschreibungen kannte. Und aus einer Erinnerung, die nicht seine eigene war.
Zwei orangene Augen schwebten wie glimmende Kohlen in der Dunkelheit. Mrr-Slaol fauchte und krümmte sich zusammen, das rote Dreieck blitzte auf.
„Weniger klug war es dagegen, hierherzukommen.“, ergänzte Kenvilar, die Tückische.