von TroII » 28. November 2021, 19:15
A – Worte, Pfeile, Möglichkeiten
Früher Nachmittag, 57. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria
„Apperzipierst du diese beiden Kupferplatten, mit der Spiralfeder und der Schnur dazwischen? Ein Dunkler Magier kann mittels eins Impulses geringer Intensität die Schnur demolieren. Ein Zauberer dagegen stimuliert dezent die Feder, die dafür mit Arkanum präpariert wurde. In beiden Fällen zerreißt die Schnur und die obere Platte aktiviert den Hebel dort.“, erklärte der Mechanicus. Eara beobachtete interessiert die kupferne Maschine. Eine unscheinbare Platte, mit Federn versehen, dank denen sie ein Stück nach oben zucken konnte. Vom Auslöser abgesehen eine sehr simple Erfindung, doch beinahe hätte sie die Souveränin Hadrias getötet.
„Das ist eine kluge Methode, etwas sowohl mit Zauberei als auch mit Magie auszulösen.“, überlegte Eara.
„Danke! Ich halte meine Kreation auch für raffiniert.“ Der aschblonde Mechanicus lächelte gewinnend und Eara seufzte betont.
„Hedal! Dieses Ding hätte mich fast getötet. Es wurde auf den Dächern angebracht, um eine Dachlawine auszulösen.“
„Dann müssten die Assassinen schon vorher informiert sein, wo sie ihre Konstruktion montieren müssen.“, meinte Hedal verwirrt.
„Oder sie machen es wie die Verschwörung und bauen einfach eine davon an jede Ecke. Wir haben insgesamt dreißig Stück gefunden, Arkanum lässt sich ja leicht aufspüren. Dreißig Stück! Wieso wusste ich nichts davon, dass die Allianz der Entscheidung dreißig dieser Platten besitzt?“
„Zehn optimierte Bolzenwerfer.“, zählte der Mechanicus auf. „Einhundert adäquate Projektile. Drei der Grubengasbomben mit Zeitzünder, drei weitere mit arkanem Auslöser wie bei diesen Platten und zwei komprimierte zum Werfen, die bei Kollision explodieren. Fünf mechanische Schnappklingen. Bei all den Objekten, die in den letzten Nächten aus meinem Laboratorium genommen wurden, habe ich diese dreißig Platten ganz vergessen.“ Hedal zog ein verlegenes Gesicht.
„Beeindruckend! Und in jeder deiner Erfindungen war ein wenig Arkanum enthalten? Hast du überhaupt noch Vorräte aus den Runensteinen?“
„Ich habe es komplett extrahiert. Die summarische Trinität der Runensteine funktioniert erwartungsgemäß noch immer, nur die Konsequenzen auf den Organismus wurden reduziert. Das Arkanum ist komplett verarbeitet, in jede der Waffen wurde etwas implementiert, von den Projektilen abgesehen. Ich besitze allerdings keine Reserve mehr.“
„Abgesehen von deinem Bolzen aus reinem Arkanum.“, merkte Eara an und Hedal zuckte zusammen.
„Da muss ich dich desillusionieren.“, murmelte er zerknirscht. „Der Bolzen, der komplett aus Arkanum bestand, war unter meinem Bett versteckt, wie du es dekretiert hattest, doch heute morgen war er absent!“
Eara ließ ihren Blick durch das Laboratorium schweifen, über die funkelnden Schrauben, die unordentlichen Werkbänke und den Lakenhaufen auf zwei Eisentruhen, den Hedal großzügig als Bett beschrieben hatte. Daneben lag auffällig ein zerknittertes Stück Pergament. „Wie kann das sein? Wer wusste davon?“
„Niemand! Er muss durch Zufall lokalisiert worden sein.“ Hedal schüttelte traurig den Kopf. „Du weißt, dass dieses Projektil perikulös ist, Eara? Es kann nicht von Dunkler Magie manipuliert werden, es besteht zu hundert Prozent aus Arkanum. Du wärest wehrlos dagegen.“
„Im Zweifelsfall weiche ich einfach aus.“, versprach Eara. „Und du solltest vielleicht eine Diebstahlsicherung entwerfen, Hedal.“
Der Mechanicus nickte zögernd, dann wandte er sich von Eara ab und befingerte einen silbernen Kasten auf seiner Werkbank, vermutlich eine weitere Erfindung von ihm. „Hedal!“, sagte Eara freundlich und der Mechanicus drehte sich wieder zu ihr zurück.
„Ja, Eara?“, fragte er lächelnd und seine abstehenden Ohren wackelten.
„Wie machen wir weiter? Kannst du noch mehr bauen, jetzt, wo dein Arkanum ausgegangen ist?“ Der Mechanicus schüttelte bedauernd seinen Kopf und Eara überlegte: „Dann müssen unsere bisherigen Fortschritte wohl genügen. Unsere Chancen auf eine Vereinigung sinken mit jedem Tag, ich muss also schnell handeln. Die Zustimmung geht zurück, Gundeyns Tod …“ Eara brach ab, als sie sah, wie das Interesse in Hedals Augen sich verflüchtigte. „Wie auch immer, ich danke dir für deine Bemühungen.“
Der Mechanicus hatte sich wieder dem silbernen Kasten zugewandt und schien die Anwesenheit der Dunklen Magierin bereits vergessen zu haben. Eara trat ans Bett und hob das zerknitterte Pergament auf, dann verließ sie die Werkstatt.
Später Nachmittag, 57. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria
„Am siebenundzwanzigsten Tag des Frostmondes zur siebten Stunde der Nacht im dunklen Grab.“, las der Hitar in schwarzer Robe vor, dann blickte er seinen Namensvetter besorgt an. „Nicht unterzeichnet.“ Er seufzte schwer. „Das war der Zettel, den Ihr im Laboratorium fandet, Souveränin?“
Eara nickte düster. Sie hatte sich mit den beiden Stellvertretern der Orden in ihren Gemächern getroffen und ihnen die Botschaft gezeigt. „Er lag neben dem Bett des Mechanicus. Ich wollte hören, was ihr beide darüber denkt.“
Der braune Hitar schluckte unbehaglich. „Es sieht ganz so aus, als sei der Mechanicus doch mit der Allianz im Bunde. Daher haben sie all ihre Waffen und Gerätschaften. Dies hier ist wohl die Einladung zu einem ihrer Treffen. Ich habe es ja schon vor Tagen befürchtet, doch damals wart Ihr anderer Meinung.“
Eara überhörte den Vorwurf in der Stimme des Stellvertreters. „Das ist lächerlich, Hitar! Auch die Obersten haben dem Mechanicus schon lange misstraut, aber ich habe ihnen widersprochen und jetzt widerspreche ich dir! Ich wollte hören, ob euch vielleicht noch eine andere Deutung einfällt als die Offensichtliche, denn die ist es gewiss nicht. Ich habe mit Hedal gesprochen, er hasst die Verschwörung. Und die Waffen wurden aus seinem Labor gestohlen.“ Eara wiederholte die eindrucksvolle Liste der entwendeten Gegenstände. „Ich weiß nicht, was dieser Zettel bedeutet, doch er ist kein Treffen mit der Allianz der Entscheidung!“, schloss sie.
„Eara, ich bitte Euch!“, protestierte der Stellvertreter des Feuers. „Wie sollen all diese Dinge aus dem Labor gestohlen werden, ohne dass der Mechanicus das merkt? Und hatte er nicht selbst den Grundsatz, dass keine seiner Erfindungen als Waffen missbraucht werden sollte? Dann hat er aber sehr unglücklich konstruiert! Ich gestehe, dass auch ich ihm keine Zusammenarbeit mit der Verschwörung zugetraut hätte, aber wir können unsere Augen nicht vor den Tatsachen verschließen! Selbst wenn wir uns irren, deutet so viel auf ein Bündnis zwischen Hedal und der Verschwörung hin, dass wir diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen dürfen.“ Er seufzte. „Es ist bedauerlich, dass Ihr den Mechanicus auf den Zettel angesprochen habt, sonst hätte einer von uns dort auftauchen können, um nachzuschauen.“
„Ich habe Hedal nichts vom Zettel erzählt. Was würde er wohl denken, wenn ich ihm sage, dass ich mir einfach seine privaten Nachrichten durchsehe? Seine Sympathie ist mir wichtig.“ Eara seufzte ebenfalls. „Hitars, bitte versteht mich! Ich traue Hedal nicht komplett, aber ich denke, das Risiko, dass er zur Verschwörung gehört, wiegt geringer als die Gewinne, welche die Politik der Einigung aus seiner Unterstützung ziehen könnte. Er hat sich als Gegner ausgezeichnet, recht eindrucksvoll mit dem gigantischen Symbol des brennenden Turmes über seiner Tür, aber ich bin kurz davor, ihn zurückzugewinnen. Das möchte ich nicht aufs Spiel setzen, indem ein Vasall von mir am Treffpunkt auftaucht.“
Die Hitars öffneten synchron ihren Mund vor Entrüstung und begannen gleichzeitig zu sprechen. Beide verstummten und einigten sich mit Gesten darauf, dass der Stellvertreter des Turmes sprechen sollte. „Souveränin!“, verkündete der wütend. „Ihr seid es doch, die regelmäßig vor der versammelten Zaubererschaft vor den Gefahren der Verschwörung warnt. Und jetzt habt Ihr womöglich die Gelegenheit sie zu überführen, und wollt sie nicht nutzen, weil Ihr lieber einen weiteren Anhänger für die Vereinigung gewinnen wollt? Die Allianz wird weiter morden für ihre Ziele, und ihr nehmt das in Kauf, um die Stellung der Vereinigung zu verbessern?“
„Ihr habt Koraph geopfert!“, ergänzte der andere. „Damals war das vielleicht notwendig, aber jetzt sieht die Situation anders aus! Wenn Ihr Hedal blindlings vertraut, dann nehmt ihr damit ohne Not das Risiko auf zusätzliche Morde in Kauf und gefährdet übrigens auch Euch selbst. Wenn Ihr die Vereinigung für wichtiger haltet als mehrere Leben, dann setzt Ihr Eure Prioritäten falsch!“
Worte, die vorschnell ausgesprochen, Pfeile, die blindlings abgeschossen, Möglichkeiten, die unbedacht vertan, sie alle sind wie Vögel. Einmal losgelassen fängst du sie nie wieder ein, lautete ein hadrisches Sprichwort. Eara versuchte in der Regel, Dinge zu vermeiden, die sich nicht rückgängig machen ließen, doch die Zeit war knapp und diese Möglichkeit würde in jedem Fall davonfliegen, ob sie sie nun nutzte oder nicht. Sie musste hoffen, dass sie die Hitars richtig einschätzen konnte.
„Die Vereinigung ist mehr wert als dreißig, vierzig, fünfzig Leben!“, sagte Eara den entsetzten Hitars ins Gesicht. „Sie ist unser oberstes Ziel, denn sie wird in Zukunft mehr bewegen als ein einzelner Mensch, den wir jetzt vielleicht auf ihre Kosten retten können. Sie ist unser oberstes Ziel, und nicht das Zerschlagen der Allianz. Die Verschwörung ist unser Feind, aber das gilt ebenso für jeden Zauberer, der den brennenden Turm auf seiner Robe trägt. Die Fusion der beiden Orden muss in der nächsten Zeit gelingen, ansonsten ist diese Chance vertan. Hedals Unterstützung könnte hilfreich sein, und der Verschwörung können wir uns immer noch nach dem Vollzug der Vereinigung widmen. Dieser Punkt ist nicht verhandelbar!“
Die Stellvertreter der beiden Orden sprangen empört auf. „Ihr seid die Souveränin, Eara, aber wir teilen Eure Meinung nicht!“, rief der schwarze Hitar und seine türkisen Augen blitzten zornig. „Und auch wenn Ihr es nicht wollt, wir werden das Grab des Dunklen Magiers aufsuchen. Ihr könnt uns trotz all Eurer Befugnisse nicht Eure Ansichten aufzwingen! Die Gegner der Vereinigung mögen sich irren, aber sie sind Zauberer wie wir und nicht unsere Feinde, die Verschwörung dagegen muss um jeden Preis besiegt werden!“
Auch Eara stand auf, ließ ein unheilvolles Glühen auf der Spitze ihres Stabes erscheinen und hob ihre linke Hand, die vollkommen aus Schatten bestand. „Ich kann euch zu keiner Meinung zwingen, aber zu anderen Dingen durchaus.“, sagte sie ruhig, ließ die Dunkle Magie um sich herum dabei jedoch bedrohlich anschwellen. „Hiermit befehle ich euch, dass ihr euch unverzüglich in eure Gemächer begebt, und untersage, sie bis zum morgigen Tag oder in der darauf folgenden Nacht zu verlassen. Ich verbiete euch insbesondere, das Grab des Dunklen Magiers aufzusuchen oder jemanden dorthinzuschicken, und wenn ihr noch so sehr davon überzeugt wäret, damit Leben zu retten.“
Sie deutete mit ihrer schattenhaften Hand auf die Tür zu ihrer Kammer, die daraufhin aufsprang. Zwei Gestalten traten ein und verneigten sich furchtsam. Eine junge Zauberin des Turmes und ein beleibter Magier des Feuers, die beiden Wachen, die Eara seit einigen Tagen vor ihrer Tür postiert hatte. „Ihr beide werdet die Stellvertreter eurer Orden begleiten und nicht von ihrer Seite weichen, bis ich eure Befehle revidiere.“, wies sie ihre Wächter an. „Ihr werdet sie in ihre Gemächer bringen und dafür sorgen, dass sie dort bleiben, vollkommen egal, was sie euch erzählen. Und ihr werdet sie vor jeglichen Gefahren beschützen und niemanden zu ihnen lassen.“
Sie richtete sich wieder an die beiden Hitars, die vor Zorn zitterten. „Und euch befehle ich, euch der Kontrolle eurer neuen Leibwächter nicht zu entziehen. Solltet ihr gegen einen meiner Befehle verstoßen, so werden sie die Konsequenzen tragen müssen. Ihnen zuliebe bitte ich euch, nichts von dem zu tun, was euch untersagt wurde.“
Die beiden Wachen ertrugen diese Bürde ohne mit der Wimper zu zucken, die Hitars dagegen waren so entsetzt, dass ihnen die Worte fehlten. „Leibwächter?“, spie der Hitar des Turmes schließlich hasserfüllt aus. „Wohl eher Aufpasser und Geiseln zugleich! Schämt Ihr Euch nicht, dass Ihr uns damit droht, sie für unsere Vergehen zu bestrafen?“
„Ich schäme mich nicht, dass ich euch mit der Methode unter Kontrolle halte, die am wirksamsten ist. Ich weiß, dass ich euch mit persönlichen Nachteilen nicht drohen kann. Aber eure Prinzipien verbieten es euch, Unschuldige für ein größeres Wohl leiden zu lassen. Vielleicht solltet ihr eure fragwürdigen Moralvorstellungen überdenken, während ihr in euren Kammern sitzt? Aber das ist nur ein gut gemeinter Rat, denn wie ihr so richtig festgestellt habt, kann ich euch nicht befehlen, eure Ansichten zu ändern. Ich wünsche viel Vergnügen mit euren neuen Leibwächtern. Ihr dürft euch entfernen.“
Die Stellvertreter der beiden Orden funkelten sie wütend an und ballten ihre vier Hände zu Fäusten, und Eara konnte wieder mal nur darüber staunen, wie ähnlich die beiden sich waren. Schließlich stampften sie aus ihrer Kammer, von ihren neuen Bewachern begleitet. „Damit werdet Ihr nicht durchkommen, Souveränin!“, rief der Hitar des Feuers noch im Hinausgehen. „Ihr könnt die Stellvertretenden Obersten der beiden Orden nicht ewig unter Hausarrest stellen. Es wird Fragen und Proteste geben, das Ansehen der Vereinigung wird unter unserem offensichtlichen Zwist leiden, und wir werden einen Weg finden, Eure Pläne des Nichtstuns zu durchkreuzen. Wir werden nicht tatenlos mitansehen, wie die Verschwörung unbehelligt weitere Morde begeht. Wir werden …“
Eara richtete ihren Blick auf die Tür und ließ sie mit einem lauten Knall ins Schloss fallen. Dann setzte sie sich wieder auf ihr Bett und strich ihre Robe mit der Hand aus Dunkelheit glatt. Worte, Pfeile und Möglichkeiten. Sie hatte sich nun auch noch die Hitars zu Feinden gemacht, ihre letzten Verbündeten. Koraph und Gundeyn waren tot, die mächtigsten Zauberer der beiden Orden lagen mit ihr im Streit, und Mechanicus Hedal, der einzige, der noch zu ihr hielt, wurde von vielen verdächtigt, mit der Allianz der Entscheidung im Bunde zu sein.
Der Weg des Eises ist ein einsamer Weg, aber wenn man ihn weit genug gegangen ist, dann spielt Einsamkeit keine Rolle mehr. Worte, die sie einst zum blinden Seher Leander gesprochen hatte. Earas Politik der Einigung hatte viele Unterstützer, und sie bezweifelte, dass die Hitars, so sehr sie die beiden auch erzürnt haben mochte, sich davon abwenden würden. Doch persönlich hatte sie niemanden mehr, der zu ihr stand. Einsamkeit ist nur ein Gefühl! Ignoriere es!
Eara schloss ihre Augen. Es war einer der seltenen Momente, in denen sie Zeit hatte, und sie würde diese Zeit nutzen, um zu zweifeln. Um ihre Pläne zu überdenken und sicherzugehen, dass sie tat, was richtig war. Um zu überprüfen, ob es eine bessere Möglichkeit gab, als die, welche sie momentan anstrebte. Eine ohne Opfer. Worte, Pfeile und Möglichkeiten.
Frühe Nacht, 58. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria
„Souveränin Eara!“, sagte die Zauberin ehrerbietig und verbeugte sich. „Wollt Ihr zu Stellvertreter Hitar?“
Eara schüttelte stumm den Kopf und musterte die junge Frau in brauner Kutte. Die Wächterin, die sie dem braunen Hitar zugeteilt hatte, zeigte trotz der späten Stunde und der eineinhalb Tage, die sie ohne Pause Wache gestanden hatte, nur geringe Anzeichen von Erschöpfung. Dennoch würde sie wohl nicht mehr allzu lange durchhalten. Hoffentlich wäre das auch nicht nötig.
„Nein, ich möchte mit dir sprechen. Hat der Stellvertreter Probleme gemacht?“
Wenn die Zauberin sich wunderte, dass die Souveränin zur fünften Stunde der Nacht zu ihr kam, um dieses Gespräch zu führen, ließ sie es sich nicht anmerken. Allerdings kursierten in Yra vermutlich die merkwürdigsten Gerüchte über ihre Angewohnheiten. „Er hat sich gut benommen, keine Versuche unternommen, seine Kammer zu verlassen, und war ansonsten recht still. Ich habe regelmäßig geschaut, ob er noch in seiner Kammer war, zuletzt vor einer Stunde.“
Also hatte der Stellvertreter des Turmes sich nicht anders benommen als sein Kollege. Den anderen Wächter hatte Eara bereits aufgesucht und mit ihm etwa dasselbe Gespräch geführt. Die beiden neuen Leibwächter waren glühende Anhänger der Vereinigung und hatten ihre Loyalität schon früher unter Beweis gestellt, daher glaubte Eara nicht, dass die Wächterin das gute Verhalten nur vortäuschte, um selbst der angedrohten Strafe zu entgehen. Auch ein Wächter kann gefährlich sein. Aber Koraph hatte wohl kaum wissen können, dass sie diese beiden zu ihren Wachen berufen würde, und sie waren pflichtbewusste, gehorsame Zauberer. Eara hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Namen zu lernen.
„Prüfe es in einer Stunde erneut, und ab dann bleibe in der Kammer. Hatte der Stellvertreter Besuch?“
„Ich habe jeden abgewiesen, den ich abweisen durfte. Aber diesen Abend war auch Oberster Torven hier und ich hatte nicht das Recht, ihm den Zugang zu verweigern.“ Sowohl Torven als auch Variah hatten also ihre Stellvertreter aufgesucht, zweifellos in der Hoffnung, etwas über die Streitigkeiten zwischen Eara und den Hitars zu erfahren. Eara hoffte nur, dass sie die beiden Stellvertreter richtig einschätzte. Sie hatte ihnen nicht ausdrücklich verboten, über die Nachricht aus Hedals Laboratorium zu sprechen, sie hatte ihnen nur untersagt, jemanden zum Grab zu schicken. Doch würden die Hitars ihren Obersten, erklärten Gegnern der Vereinigung, von der verdächtigen Botschaft berichten? Hatte Eara die beiden so sehr erzürnt, dass sie nicht davon schweigen würden, obwohl sie klar gemacht hatte, dass sie Verschwiegenheit wünschte und davon auszugehen war, dass die Obersten das Wissen gegen die Vereinigung nutzen würden? Eara hoffte, dass sie sich nicht in den Hitars täuschte und dass sie keinen Fehler begangen hatte.
„Da konntest du nichts machen.“, beruhigte Eara die Wächterin. „Denke daran, den Stellvertreter besonders gut im Auge zu behalten, morgen früh darfst du dich ausruhen und musst ihn nicht länger festhalten. Wenn die Sonne aufgeht, wecke ihn und teile ihm mit, dass ich ihm die freie Bewegung wieder gestatte.“
Die Wächterin salutierte. Eara nickte wohlwollend und machte sich auf den Weg ins Treppenhaus der Fingertürme. Zwischen den Stufen schwebte ein silbern glühendes Stundenglas von drei Schritt Größe. Eara überprüfte den Stand des himmelwärts rieselnden Sandes anhand einiger Markierungen im Glas. Noch eineinhalb Stunden bis zur siebten Stunde der Nacht. Mehr als genug Zeit.
Leise, in fast vollkommener Finsternis, glitt Eara die Stufen herab und verließ die Fingertürme, um die Gärten zu betreten. Im Freien war es nur unwesentlich heller als in den Türmen, denn es war Neumond und eine dichte Wolkendecke verbarg die Sterne. Schneeflocken rieselten herab, legten sich auf die Büsche und zertrampelten Spuren auf den Wegen. Eara lief querfeldein über die Wiesen, wo der Schnee teils kniehoch lag, und zog unterwegs ihre Robe fester um sich. Die Kälte konnte ihr zwar kein Unbehagen bereiten, doch sie fürchtete, Erfrierungen zu erleiden. Also beschleunigte sie ihre Schritte noch weiter.
Sie erreichte die quadratische Fläche mit dem schwarzen Quader im Zentrum, den irgendjemand von Schnee befreit hatte. Varkurs Grab, vermutlich noch immer von ihrem Kampf mit dem Schwarzen Herold beschädigt. So still lag es da. So friedlich. Die Spuren im Schnee, die zur Platte hinter dem oberirdischen Teil des Mahnmals führten, waren bereits größtenteils überdeckt. Eara kauerte sich in den Schnee und hob die Platte mit der Hand an. Ein leises Knirschen ertönte und die dunkle Treppe ins Innere wurde freigelegt. Die Souveränin kletterte die ersten Stufen hinab und schloss die Platte über sich.
Ein gleißendes, hellblaues Licht flammte auf und eine Eara unbekannte Zauberin des Turmes leuchtete ihr ins Gesicht. Eine alte Frau, die ihr gelegentlich über den Weg gelaufen war und die sich vollkommen unauffällig verhalten hatte. Jetzt erbleichte die Alte, kreischte und richtete eine kupferne Röhre auf Eara. Die Dunkle Magierin hatte die Verschwörerin allerdings schon lange zuvor wahrgenommen und schickte ein Gespinst aus Dunkelheit aus, das die Frau umschlang und ihr jede Möglichkeit zur Bewegung nahm. Ihr Wille war schwach und von Panik zersetzt, Eara konnte ihn mühelos unterwerfen. Sie musterte die reglose Statue und blickte dann in den finsteren Gang. Am anderen Ende, aus Varkurs Grabkammer, leuchtete ein stetiges, ruhiges Licht von hellgelber Farbe. Eara überprüfte schnell den vor ihr liegenden Gang auf Arkanum, dann schritt sie ihn herab, die gefesselte Frau im Schlepptau.
Als sie die Mitte des Ganges erreicht hatte, huschten ihr lautlos zwei Gestalten in schwarzer Kleidung entgegen, beide eine weitere kupferne Röhre in der einen und einen mannshohen Stab in der anderen Hand. Die eine richtete die Röhre auf sie und zog an einem Hebel, woraufhin es leise klickte und ein Geschoss auf Eara zuflog. Ein Schild aus Schatten schützte sie davor.
Der andere Magier schickte einen leichten magischen Impuls zur Decke über Eara. Die Souveränin wusste von der Bombe, die dort hing, nicht umsonst hatte sie den Gang auf Konstruktionen mit Arkanumanteil überprüft. Als die Magie die dünne Schnur durchtrennte, um den von Hedal erdachten Auslöser zu betätigen, hatte Eara bereits selbst einen Faden aus Dunkler Magie gesponnen und um die Feder gewickelt. Während ihre beiden Kontrahenten noch auf die Explosion warteten, warf Eara ihnen zwei weitere dunkle Netze entgegen. Der erste Zauberer versuchte auszuweichen, doch die Magie folgte ihm, umschlang ihn und Eara brach auch seinen Willen, sodass er zu keiner Bewegung mehr imstande war. Die andere Gestalt dagegen sträubte sich und zerriss das ihr geltende Netz. Erstaunt ging Eara weiter und wehrte einen weiteren Bolzen ab. Der wehrhafte Dunkle Magier wich in die Grabkammer zurück und Eara folgte ihm. Unterwegs warf sie einen kurzen Blick auf den gefangenen Magier, einen jungen Mann, der verzweifelt versuchte, seine Angst zu überwinden, um mit seinem Willen gegen das schwarze Netz anzukämpfen.
Als Eara in die zentrale Grabkammer trat, flogen ihr zwei weitere Bolzen entgegen, die sie mühelos abwehrte. Die eine Schützin war eine junge Magierin des Feuers mit Glatze und hassverzerrtem Gesicht. Eara sandte ihr drei Netze entgegen, von denen sie immerhin eines rechtzeitig zerstören konnte, ehe sie umschlungen wurde wie die anderen Verschwörer. In ihrem Willen war kein Anflug von Furcht, nur gewaltiger Hass, den sie geschickt, wenngleich vergeblich, benutzte, um gegen ihre magischen Fesseln anzukämpfen.
Der andere hatte hinter dem zerstörten Basaltsarg Deckung gesucht, Eara sah nur ein Stück braunen Stoff und die gelb leuchtende Spitze eines Stabes hervorragen. Ehe sie ihn angreifen konnte sprang der Zauberer des Turmes von selbst auf und versuchte anscheinend, einen Tisch an einer Wand des Raumes zu erreichen, ein Gestell aus minderwertigem Holz, das früher nicht hier unten gestanden hatte. Kupferne Schrauben lagen darauf, ein Haufen Bolzen, einige Phiolen mit einer schwarzen Flüssigkeit, ein paar Bolzenwerfer, eine von Hedals Wurfbomben und allerlei weiterer Krimskrams. Die Netze umfingen ihn, als er eben seine Hand ausstreckte.
Schon die kahlköpfige Magierin hatte Eara Respekt eingeflößt, da sie ihren Hass gut genutzt hatte. Dieser Zauberer jedoch übertraf ihre Erwartungen noch. Sein Geist war wach und kontrolliert, keine Gefühle, weder Angst noch Hass, beeinflussten ihn und schmälerten die Wirkung seiner Versuche, sich gegen die Dunkle Magie zu widersetzen. Sein Wille war stärker als der der meisten Hohen Zauberer, aber gegen Earas kam er nicht an. Die Dunkle Magierin unterdrückte ihre Gefühle so routiniert und gekonnt, schon seit so langer Zeit, dass nicht einmal einer der Obersten gegen sie hätte bestehen können. Ihre Macht war eine Sturmflut, die jeden Widerstand einfach beiseite spülte, ihr Wille ein Gletscher, der selbst Berge zermalmen konnte.
Nachdem sie die vier Angreifer unterworfen hatte, kontrollierte Eara gründlich, ob sich noch jemand in der Gruft verbarg. „Wirklich?“, staunte sie. „Ich hätte erwartet, dass inzwischen noch weitere Zauberer der Allianz der Entscheidung beigetreten wären.“ Selbstverständlich konnte keiner der reglosen Gefangenen antworten.
Eara trat näher zum Zauberer mit dem starken Willen und schlug dessen Kapuze zurück. Ein junges Gesicht mit dichtem braunen Bart kam zum Vorschein, die Augen waren abwesend nach innen gekehrt, denn noch immer versuchte der Zauberer, ihren Bann zu brechen. Eara nickte enttäuscht. „Boridas. Der Wächter der Zusammenkunft. Ich kann nicht sagen, dass ich überrascht wäre, aber etwas bedauerlich ist es schon. So begabt, so ehrgeizig. Du hättest es weit bringen können.“ Sie betrachtete die anderen drei Zauberer, die sich langsam sammelten und gegen ihren Willen ankämpften. Zwar bezweifelte Eara, dass die vier tatsächlich genug Willenskraft aufbieten könnten, um sie zu schlagen, aber es stellte eine große Belastung dar. Und wozu sollte sie ein unnötiges Risiko eingehen?
Tu es nicht!, bettelte die Stimme der Schwäche. Eine schwache Trauer keimte in Eara auf, doch sie stieß das Gefühl beiseite, zog die anderen drei Gefangenen zu sich und schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. Worte, Pfeile und Möglichkeiten. Manchmal war es notwendig, Dinge zu tun, die sich nicht rückgängig machen ließen. Opfer zu bringen.
Eine Welle Dunkler Magie ging von ihr aus und riss der alten Zauberin des Turms, dem ängstlichen Zauberer des Feuers und der hasserfüllten Kahlköpfigen den Kopf ruckartig nach hinten. Die Genicke der drei brachen mit einem trockenen Knacken. Der Wille, der gegen ihren ankämpfte, erstarb, das hellblaue Strahlen vom Stab der Alten erlosch.
Auch der Widerstand des vierten Zauberers bröckelte, jetzt endlich wurde sein Geist von Entsetzen erfüllt. Eara löste den Bann ein wenig, sodass er sprechen konnte. „Ihr … habt sie getötet!“, keuchte er und starrte die drei Leichen seiner Mitverschwörer fassungslos an.
„Was hast du erwartet, was aus euch wird, wenn ihr enttarnt werdet? Stolze Märtyrer, die von der Zaubererschaft umjubelt ihrem Tode tapfer entgegentreten? Natürlich habe ich sie getötet!“
„Aber … nicht einmal ein Prozess! Einfach nur umgebracht.“
„Sie haben sich gewehrt und das Urteil stand ohnehin fest.“ Eara löste den Bann von den drei Leichen, die kraftlos zu Boden sackten. Zuerst widmete sie sich der jungen Magierin, schleuderte sie mit ihrer Magie gegen die Wand, wo die Hälfte aller Knochen in ihrem Körper brachen und ihr kahler Schädel aufplatzte wie ein rohes Ei. Eara versuchte, nicht allzu genau hinzusehen.
„Natürlich hast du recht, Boridas. Unter normalen Umständen hätte ich sie dem Gericht gegeben, der Wert eines funktionierenden Rechtsstaates darf nicht unterschätzt werden und was ich tat war Selbstjustiz.“ Der Leiche der alten Frau verdrehte sie alle Glieder, zermalmte ihren Brustkorb und bettete sie dann sorgfältig auf den zerborstenen Sarg des Dunklen Magiers.
„Was … was tut Ihr da?“, hauchte ihr Gefangener entgeistert.
„Ich treffe Vorbereitungen.“
„Erst tötet Ihr sie, und dann … verletzt Ihr sie noch?“
„Besser als andersherum, oder?“, seufzte Eara. „Ich tue, was ich kann, um unnötiges Leid zu vermeiden, und Leichen haben keine Gefühle. Ich habe gehört, Tod durch Genickbruch geht schnell und ist vergleichsweise schmerzlos.“
Den toten Zauberer des Feuers warf sie wie eine Puppe in eine Ecke des Raumes und befahl dann einen Sturm von zerstörten Kacheln auf ihn. Sie schlugen wie Geschosse in ihn ein, bis der Leichnam unter einem Berg aus schwarzer Keramik begraben war. „Hör zu, es ist besser, du fragst gar nicht weiter. Dein Tod ist ebenso gewiss wie der deiner Freunde, und meine Antworten würden dich nur noch mehr leiden lassen. Unwissenheit kann ein großer Segen sein.“
Boridas´ Lippen zitterten und erste Tränen sammelten sich in seinen Augen, doch seine Stimme war noch immer klar und sein Wille in Anbetracht der Umstände überraschend ungetrübt. „Ihr kommt hierher, ermordet die Allianz, verstümmelt ihre Leichen, und dann verlangt Ihr, dass ich das einfach ertragen soll?“ Er stockte kurz und schien sich zu sammeln. „Lasst mich selbst entscheiden, was gut für mich. Ich denke, die Ahnungslosigkeit quält mich mehr als unliebsame Antworten.“
Eara zögerte kurz. Er kennt die Antworten nicht. Es wird ihm keine Freude bereiten, von den Folgen all seiner Pläne zu erfahren. Sie blinzelte, nickte dann. „Wie du willst. Ich möchte dich nicht mehr leiden lassen als notwendig.“
Boridas öffnete den Mund, doch anstatt etwas zu sagen unternahm er einen weiteren Versuch, seine Fesseln abzustreifen. Eara schlug ihn mühelos zurück und sagte ruhig: „Du hast keine Chance. Versuche lieber, deine letzten Stunden so angenehm wie möglich zu gestalten. Mich kannst du nicht überwinden.“
Auch wenn sein Körper noch immer vollkommen steif war, sackte sein Kopf entkräftet herab. „Woher wusstest du, wo wir uns treffen?“, murmelte er. „Woher wusstest du, dass ich Teil der Allianz bin?“
„Ihr brauchtet einen Unterschlupf, der in Yra liegt und den kaum jemand je betritt.“, erklärte Eara und verschwieg dabei die Notiz in Hedals Labor. „Dazu Spuren im Schnee, die Tatsache, dass die Leichen von Koraph und Marnus in den Gärten gefunden wurden. Und andere Hinweise. Was deine Rolle in alledem betrifft, Boridas: Ich hatte den Verdacht schon recht früh, vor allem seit Mortol sagte, er sei die Stimme der Verschwörung gewesen, nicht jedoch ihr Ohr. Ihr hattet also jemanden da, der jedes Wort hören konnte, aber zugleich nicht selbst Teil der Zusammenkunft war. Vor der Versammlung sagte ich, Lauscher aus dem Innenhof müsste man bemerken, und aus dem Turm der Erleuchtung heraus hätten wir einen Wächter, der eventuelle Spione abhalten soll. Aber das war nur, um die Macht der Zusammenkunft einzuschränken. Niemand von den Hohen Zauberern – außer Koraph – kam auf die Idee, den Wächter selbst zu verdächtigen.“
Boridas zitterte. Wenn die Souveränin ihn schon früher verdächtigt hatte, weshalb hatte sie ihn dann nicht überprüft, um die Allianz zu beseitigen? Ob sie ihn wohl anlog, vielleicht sogar, um ihm Wissen zu ersparen, dass ihm ihrer Meinung nach schaden würde? Es war nicht weiter wichtig. Hauptsache, Eara war abgelenkt. Die Dunkle Magierin war unglaublich mächtig, ihren Bann konnte er unmöglich brechen. Aber es gab eine andere Möglichkeit. Unter höchster Konzentration gelang es ihm, seine Hand ein winziges Stück näher zum Tisch zu bewegen. Näher an die Geheimwaffe. Näher an seine Möglichkeit, die Souveränin doch noch zu besiegen. Sie hätte ihren Bann nicht lockern sollen, hätte ihm gar nicht erst gestatten dürfen, zu sprechen. Noch konnte er das Blatt wenden, den Tod seiner Verbündeten rächen, den lächerlichen Versuch einer Vereinigung der beiden Orden aufhalten. Es war seine Pflicht, denn er war der letzte, der das vielleicht noch konnte. Solange Eara nur abgelenkt war. Erneut regte er seine Hand etwas, glitt noch näher an die Geheimwaffe. Er musste die Souveränin nur noch eine Weile hinhalten.
„Warum das alles, Boridas?“, fragte Eara. „Du und Nukia, ihr wart der Stolz eurer Orden, ihr wäret die nächsten gewesen, die in der Zusammenkunft gesessen hätten. Doch als ihr von der geplanten Einigung hört, entschließt ihr euch stattdessen, sie mit allen Mitteln zu vereiteln? Ich muss gestehen, dass ihr überraschend erfolgreich wart, und vor allem überraschend schnell, aber dennoch … Ist euch nicht aufgefallen, wie paradox es war, dass ihr gemeinsam gegen eine Vereinigung der Orden gekämpft habt? War diese Allianz der Entscheidung wirklich nötig?“
Boridas´ Kopf fuhr auf, sein buschiger Bart wippte. „Ihr … Ihr wisst gar nichts, oder? Ihr habt keine Ahnung, wer wir sind, was wir wollten? Ihr denkt tatsächlich, die Allianz wäre entstanden, um die Vereinigung aufzuhalten?“
Eara erstarrte. Was sagte Boridas da? Behauptete er einfach irgendetwas, um seinem Tod noch zu entgehen? Er wirkte ehrlich entrüstet, aber er hatte seine Gefühle gut unter Kontrolle. Schauspielerte er, oder hatte Eara etwas übersehen? Hatte sie womöglich gar einen Fehler gemacht? „Wovon redest du, Boridas?“
„Habt Ihr tatsächlich geglaubt, die Allianz hätte sich in nur einem Tag gegründet? Dachtet Ihr allen Ernstes, wir hätten in wenigen Stunden eine Gruppe von Gleichgesinnten aufgebaut? Es hat Monde gedauert, das nötige Vertrauen aufzubringen!“ Der Verschwörer schüttelte erbost seinen Kopf und Eara bemerkte eine äußerste Konzentration in ihm, als würde er gleichzeitig dieses Gespräch führen und etwas anderes tun, an etwas anderes denken. Was es wohl war?
„Nein, Souveränin! Wir waren zu Beginn nicht bloß die Gegner der Vereinigung. Wir waren die ersten, die die Missstände in diesem Land bemerkten. Unter der Zusammenkunft ging es mit Hadria bergab, kein Vergleich zu dem, was zuvor unter Eurer Herrschaft war. Stagnation! Verelendung! Feindschaft!“, stieß er hervor und Eara wusste, dass er damit ihre eigenen Worte aufgriff.
„Also … wart ihr auch Feinde der Versammlung?“, fragte Eara verwirrt, während sie versuchte, den Sinn hinter Boridas´ Worten zu begreifen. „Ihr wolltet auch eine Vereinigung herbeiführen?“
Boridas lachte gequält. „Wir waren Feinde dieser nichtsnutzigen Versammlung, das schon. Alle wussten, dass sie großen Schaden anrichtete und das Land lähmte, aber nur wir waren bereit, etwas dagegen zu tun! Doch wir kamen zu einem anderen Schluss als Ihr, Souveränin. Die Konkurrenz zwischen den beiden Orden schwächte Hadria, verbrauchte gewaltige Mengen an Ressourcen und Zeit, die wir ansonsten der Bevölkerung hätten bereitstellen können. Die Feindschaft zwischen Zauberei und Dunkler Magie musste beigelegt werden, das hatten wir schon vor Euch erkannt. Aber diese Feindschaft ist unversöhnlich, bildet die Wurzeln der beiden Orden und lässt sich nicht einfach ausgraben, um Platz für Neues zu schaffen. Wir wollten es dem großen Orweyn gleichtun! Er hatte den richtigen Weg beschritten, um die Dunkle Magie zu bannen, nur war er nicht erfolgreich genug gewesen, um sie ganz zu besiegen.“
„Ihr wolltet die Dunkle Magie abschaffen und jeden ermorden, der sie verwendete? Auch die Zauberer des Feuers unter euch?“, hakte Eara nach.
„Nein! Das war nicht unser Ziel! Wir wollten den Sieg einer der beiden Seiten herbeiführen, egal welcher, auch wenn jeder von uns natürlich auf den Sieg des eigenen Ordens hoffte. Wir wollten … eine Entscheidung! Endgültig und unmissverständlich. Entweder Hadria würde künftig ohne den Einsatz von Dunkler Magie auskommen, oder sie würde die Führung übernehmen. Hauptsache, der ewige Zwist ist beendet und die Zaubererschaft kann all ihre Macht wieder auf die wichtigen Probleme lenken.“
„Die Allianz der Entscheidung.“, murmelte Eara nachdenklich. „Aber wie wolltet ihr …“ Sie brach ab, als sie es verstand. „Das ist nicht wahr! Ihr wolltet einen zweiten Ordenskrieg? Ein zweites Gemetzel?“
„Ein Krieg, der nicht auf halbem Wege abgebrochen werden würde!“, bestätigte Boridas und seine Augen funkelten fanatisch. „Einer, der der einen Seite den Triumph und der anderen die Vernichtung bringen würde. Eine endgültige Entscheidung! Der Ordenskrieg war schrecklich, aber er war der einzige Weg. Orweyn hatte das erkannt, als er jeden tötete, der Dunkle Magie beherrschte, und schließlich auch sich selbst. Er war nur nicht erfolgreich genug. Wir aber wollten es ihm gleichtun! Der Krieg? Nur ein notwendiges Übel, um endlich einen stabilen Frieden zu erreichen und den schwelenden Zwist zwischen den Orden zurückzulassen. Früher oder später wäre er ohnehin wieder ausgebrochen, und da das Ergebnis besser wäre als die Zustände, die momentan in Hadria herrschen, haben wir versucht, ihn so früh wie möglich herbeizurufen. Jedes Jahr, das der Krieg früher kommt, ist ein Jahr mehr, das die Zaubererschaft in Eintracht verbringt und eines weniger voller Streit und Missgunst.“
Die Souveränin benötigte anscheinend einen Moment, um sich zu sammeln, und Boridas streckte seine Hand noch ein wenig weiter. Seine Fingerspitzen berührten glattes Metall.
„Habt ihr an das Leid gedacht, Boridas? An die Verwüstung?“, fragte die Soveränin schließlich, ihre Augen dunkel wie die Nacht. „Habt ihr in Erwägung gezogen, dass keiner der Zauberer den Krieg überleben könnte? Habt ihr objektiv abgewogen zwischen dem Leid eines Krieges und den Gewinnen seines möglichen Ausgangs, oder habt ihr einfach angenommen, was ihr tut sei richtig? Oh, ihr wart solche Narren! Ein Krieg kennt keine Sieger, Boridas, nur Verlierer.“Earas Worte konnten Boridas nicht beeindrucken. Er hatte sich die gleichen Fragen schon vor langer Zeit gestellt. Jeder aus der Allianz hatte das. Und sie hatten einander versichert, das Richtige zu tun.
Die Souveränin holte tief Luft. „Aber wieso habt ihr die Vereinigung nicht unterstützt? Meine Möglichkeit hätte ebenfalls ein vereintes Hadria bedeutet, aber ohne das gewaltige Blutvergießen.“
„Weil sie nicht funktionieren kann!“, schrie Boridas und seine Stimme hallte von den dunklen Wänden wieder. „Wenn es gelingt wäre es fantastisch, aber das kann es nicht! Trotz Eurer anhaltenden Propaganda ist noch immer fast die Hälfte der Zauberer gegen die Vereinigung. Der Hass sitzt zu tief in uns allen. Nachdem Ihr Eure Pläne verkündet habt, hat die Allianz Yras sich getroffen, wir haben uns beraten. Und wir kamen zu dem Schluss, dass die Vereinigung niemals gutgehen kann, dass sie den dauerhaften Frieden nicht gewährleistet, sondern nur noch weiter verschiebt. Also haben wir uns mit aller Macht gegen Euch gestellt, haben sie um jeden Preis aufhalten wollen. Und mit Erfolg! Auch wenn wir Euch nicht töten konnten, so waren wir doch Eure ärgsten Feinde, dank unseres Eingreifens konntet Ihr Euch nicht ganz auf die Vereinigung konzentrieren, sondern musstet auch gegen uns vorgehen.“ Noch ein wenig weiter! Nur etwas noch, und die Souveränin Hadrias würde sterben.
„Ach Boridas! Die Allianz mein größter Feind? Habt ihr das tatsächlich angenommen?“ Sage es ihm nicht! Lass ihn nicht unnötig leiden. Eara ignorierte die leise Stimme der Schwäche. Sie konnte nicht abschätzen, wie sehr die offenen Fragen Boridas quälten. Und immerhin hatte das Gespräch auch ihr interessante Informationen geliefert.
„Als ich nach Hadria zurückkehrte, haben die beiden Obersten, eigentlich erbitterte Gegner, plötzlich gemeinsame Sache gegen mich gemacht. Weit im Süden hat sich der sogenannte Ewige Rat gegründet, ein Zusammenschluss aus alten Feinden der Helden von Andor. Feinden, die sich untereinander hassen, aber nicht so sehr wie uns. Und auch eure Allianz bestand aus Zauberern verfeindeter Orden, die gemeinsam gegen mich vorgingen. Alle Beispiele haben mir eines schon lange vor Augen gehalten: Nichts eint besser als ein gemeinsamer Feind! Du hast recht, Boridas, der Hass sitzt tief in den Zauberern. Aber ein kluger Novize sagte einmal zu mir, kaum ein Gefühl lässt sich leichter schüren als Hass. Hass, der sich nicht länger gegen den anderen Orden richten sollte, sondern gegen eine gewisse Verschwörung.“
Boridas Augen weiteten sich und absolutes Entsetzen sprach aus ihnen, größer noch als nach dem Tod seiner Mitverschwörer. „Die beiden Obersten waren meine größten Feinde, sie und jeder andere, der der Vereinigung im Wege stand. Sie haben meine Pläne beinahe vereitelt, haben die Vereinigung aufgehalten, weil ihr Hass sie ebenso sehr leitete, wie sie auch eure Allianz geleitet hat. Aber die Allianz der Entscheidung war kein Feind. Sie war mein Werkzeug. Nur dank euch konnte die Vereinigung überhaupt so große Zustimmung erhalten, nur dank des Hasses, den die Zauberer gegen euch verspüren. Die Vereinigung, die ihr aufhalten wolltet, habt ihr erst ermöglicht. Deshalb habe ich euch all die Zeit als hochgefährlich dargestellt. Deshalb habe ich euch zu dem gemacht, was ihr seid. Deshalb habe ich dich nicht genauer kontrolliert, obwohl ich mir deiner Untreue ziemlich sicher war, seit Koraph mich warnte, auch ein Wächter könne gefährlich sein. Es war ein Risiko, und ihr hättet mich öfter fast getötet, als ich anfangs vermutet hätte, aber es hat sich gelohnt.“
„Nein!“, schrie Boridas erzürnt und seine Gefühle brachen aus ihm hervor. Sein Hass, seine Wut, sein Entsetzen, seine Furcht, all das richtete sich gegen Earas Bann und kämpfte dagegen an. Das dunkle Netz, das Boridas umschlang, bekam Risse, und sein ausgestreckter Arm befreite sich komplett daraus. Sofort verstärkte Eara ihre Kraft, trieb ihn wieder zurück, ehe er sich ganz befreien konnte. Plötzlich zuckte der Arm des Wächters nach oben und eine kupferne Röhre befand sich darin, richtete sich auf sie. Sein Finger krümmte sich um den Hebel und es klickte leicht.
Eara löste den Bann um Boridas auf, er benötigte zu große Konzentration, und wob einen Schild, um sich zu schützen. Ehe die Dunkelheit sich um sie schloss, erhaschte sie einen kurzen Blick auf den Bolzen, der durch die Luft flog. Seine Spitze war schwarz vom Forinkäfergift, in das er wohl getunkt wurden war, doch der Schaft glühte leicht und glänzte unheilvoll. Bläulich schimmernd wie reines Arkanum…
Der Bolzen drang in ihren Schild, bekämpfte die Dunkelheit, warf sie beiseite, bis es Eara schließlich gelang, ihn aufzuhalten. Er schwebte vor ihr in der Luft und ihn zu halten kostete sie große Kraft, doch sie ließ ihn nicht zu Boden sinken. Langsam löste sie ihren Schild auf und warf ein weiteres dunkles Netz auf den verblüfften Boridas. Sein Wille war leicht zu brechen und Eara nahm sich vor, später eingehend zu analysieren, wie es ihm möglich gewesen war, sich beinahe zu befreien, ausgerechnet in dem Moment, in dem er seine Kontrolle verloren hatte.
„Perfekt, ich dachte schon, ich müsste ihn erst suchen.“, meinte Eara und pflückte den Bolzen mit ihrer gesunden Hand aus der Luft, während sie den Bann um Boridas erneut lockerte.
„Wie?!“, keuchte der Verschwörer entsetzt. „Er besteht aus reinem Arkanum! Eure Dunkle Magie hätte ihn nicht beeinflussen dürfen!“
„Das ist kein reines Arkanum. Nur zwanzig bis dreißig Prozent, genug, um einen Dunklen Magier zu täuschen, aber zu wenig, als dass ich ihn nicht mehr hätte aufhalten können.“ Sie steckte den Bolzen in eine Tasche ihrer Robe und zog aus einer anderen einen heraus, der fast identisch aussah. Nur die Spitze war frei von Gift, und Brandspuren zeigten sich auf der Haut, die ihn berührte.
„Das hier ist reines Arkanum!“, erläuterte Eara. Die Verwirrung auf dem Gesicht des Wächters wich nicht. „Mechanicus Hedal hat euch nicht unterstützt, Boridas. Ich wies ihn an, das Symbol der Gegner der Vereinigung zu installieren, das einzig zu diesem Zweck entstand. Ich wies ihn an, die verbesserten Bolzenwerfer und Bomben bereitzulegen und noch mehr für euch zu erfinden. Was denkst du, woher er das Grubengas hatte? Ihr habt geglaubt, die Waffen auf dem Tisch seien ein Geschenk von Hedal, um die Vereinigung zu verhindern, Hedal dagegen erklärte ich, er müsse das tun, damit er Kontakt zu euch aufbauen und euch ausspionieren könne. Aber in Wahrheit diente es einzig meinen Plänen. Eure Allianz war nur ein Bündnis von mittelmäßigen Zauberern, die zufälligerweise in den Besitz einer ungewöhnlichen Waffe gekommen waren. Doch dank Hedal hattet ihr plötzlich bedrohliche Bomben, hervorragende Bolzenwerfer, gefährliche Maschinen, und jede davon verstärkte die Furcht und den Hass der Zaubererschaft und trieb sie weiter in die Arme der Vereinigung. Der Anschlag auf die Zusammenkunft, die Attentate mit verbesserten Bolzenwerfern, das alles war nur meinetwegen möglich. Ich habe weit mehr getan als nur einige Reden zu schwingen, um den Hass der Zauberer zu schüren. Ich habe euch aufgebaut. Doch natürlich durfte ich euch nicht zu mächtig werden lassen. Daher hat Hedal in jede seiner Maschinen etwas Arkanum eingebaut, damit ich sie leicht aufspüren konnte. Und den Bolzen aus reinem Arkanum, um den ihr den Mechanicus in eurer ersten Botschaft gebeten habt, konnte ich euch selbstverständlich nicht überlassen.“
„Du lügst!“, rief Boridas, und Eara schüttelte bedauernd den Kopf.
„Ich sagte ja, die Antworten würden dich nicht glücklich machen. Hedal erzählte mir von euren Botschaften, von eurer Kontaktaufnahme, und auch von eurer letzten Nachricht, daher wusste ich, wann und wo ich euch würde aufspüren können. Und ich befahl ihm, den echten Arkanumbolzen unter seinem Bett zu verstecken und euch nur eine Fälschung zu überlassen. Das Original habe ich selbst gestohlen, und eure Botschaft habe ich auch mitgenommen.“
„Selbst wenn du die Wahrheit sagst, hast du noch lange nicht gewonnen!“, presste Boridas mit bemerkenswerter Fassung hervor. „Selbst wenn wir nur deine Werkzeuge waren, hat es nicht genügt. Viele Zauberer hassen den anderen Orden noch immer zutiefst und die Obersten werden einer Vereinigung niemals zustimmen. Die Vereinigung konnte niemals halten, aber auch ihr Versuch ist gescheitert! Mit dem Ende der Allianz hast du nun niemanden mehr, auf den du den Hass der Zauberer lenken kannst.“
„Du irrst dich, Boridas. Die heutige Nacht ist noch nicht abgeschlossen. Ich habe diesen Bolzen nicht umsonst gestohlen. Ich habe eure Botschaft nicht umsonst mitgenommen. Ich habe die Hitars nicht umsonst als Stellvertreter eingesetzt. Ich habe dich nicht umsonst am Leben gelassen.“ Sie zwang Boridas dazu, seinen Arm auszustrecken und ihr den Bolzenwerfer zu reichen. Eara trat zum Tisch, tunkte den Bolzen aus reinem Arkanum in eine der Phiolen mit Forinkäfergift und ließ ihn dann in den Bolzenwerfer fallen, wo er mit einem befriedigenden Klacken einrastete. Die geladene Waffe drückte sie Boridas in die Hand und verstärkte den Bann vorsichtshalber noch zusätzlich.
„Ich sollte nicht mehr erzählen.“, meinte Eara. „Ich habe dich schon genug gequält. Es ist besser, wenn du deine letzten Stunden in Frieden verbringen kannst.“
„Erzähle es!“, verlangte der Zauberer schwach. „Ich will es hören!“
„Denkst du, ich ahne nicht, dass du das nur in der Hoffnung sagst, mich noch aufhalten zu können?“, fragte Eara sanft. „Aber das kannst du nicht. Ich bin zu mächtig.“ Sie wartete, doch Boridas zeigte keine Reaktion, blickte sie nur auffordernd an.
„Du hast recht, Boridas.“, gab sie nach. „Der Hass gegenüber der Verschwörung ist noch nicht groß genug, als dass die Zauberer dafür bereit wären, ihre gegenseitige Feindschaft zu vergessen. Doch ich habe vor, das zu ändern. Ich habe den Hitars eure Notiz gezeigt und ihnen gesagt, dass ich Hedal nicht verärgern möchte und der Sache deshalb nicht auf den Grund gehe. Oh, sie haben getobt, wollten nicht einsehen, dass einige Opfer manchmal notwendig sind. Ich habe sie in ihre Kammern gesperrt, doch heute Abend waren Torven und Variah bei ihnen. Ich bin mir sicher, dass die Stellvertreter ihren Obersten von dem Zettel berichtet haben. Sie wollten eure Verschwörung um jeden Preis vernichten, ehe noch ein Unschuldiger sterben kann.“
Boridas starrte Eara nur verständnislos an und blinzelte verwirrt. „Torven und Variah werden sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.“, erklärte Eara widerwillig. „Sie können die Verschwörung, die ich seit einem Mond zugunsten der Vereinigung benutze, zerschlagen, können Hedal enttarnen, den ich schon zu lange verteidige, können anschließend meinen Streit mit den Hitars gegen meine Ziele nutzen, können selbst Zustimmung ernten und dafür sorgen, dass meine Anhänger schwinden. Sollten sie sich jedoch irren und ich recht behalten, wäre das allzu peinlich und hätte die gegenteilige Wirkung. Ich denke, dass sie ihren Besuch daher persönlich erledigen wollen, ohne andere einzuweihen. Die Gelegenheit ist einfach zu günstig. Wenn die siebte Stunde der Nacht erreicht ist, werden sie kommen, in der Gewissheit, dass ein paar Zauberer die beiden gemeinsam auch nicht besiegen können. Nicht einmal ich käme gegen beide gleichzeitig an.“
„Also … warst du vor ihnen da, um den Ruhm zu ernten?“, wollte Boridas verwirrt wissen.
„Nein. Die beiden werden kommen, werden die Allianz finden, werden gegen sie kämpfen … und unterliegen. Ich werde erscheinen, zu spät um sie zu retten, aber immerhin an der Verschwörung werde ich mich noch rächen, sie vernichten und bei lebendigem Leibe verstümmeln. Doch Variah und Torven werdet ihr ermordet haben. Die Obersten beider Orden, beliebt und mächtig, gemeuchelt von einer hinterhältigen Verschwörung. Alle Zauberer werden euch hassen, das Land wird euch verachten, und selbst nach eurem Tod wird man es euch noch heimzahlen wollen. Von ihrem Hass zusammengeschweißt werden die Zauberer unter der Führung der Hitars, welche die neuen Obersten sein werden und Befürworter der Vereinigung sind, einen neuen Orden gründen, einen einzigen, großen Orden, und der ewige Zwist zwischen Zauberei und Dunkler Magie wird vergangen sein.“
Boridas wandte seinen Kopf um, sein Blick glitt über die grausam zugerichteten Leichen im Raum und blieb schließlich am Bolzenwerfer in seiner unbeweglichen Hand haften. „Nein!“, hauchte er verzweifelt. „Ihr seid kein bisschen besser als wir! Auch Ihr opfert Menschen, um ein vereintes Hadria zu bekommen.“
„Manchmal ist es nötig, Opfer zu bringen. Ich bin anders als die Allianz, weil ich zehn opfere und nicht tausend. Weil ich einen Krieg verhindere, anstatt ihn auszulösen. Weil ich erst abwäge und dann überlegt handele, anstatt aus Hass heraus. Weil ich erkannt habe, dass Zauberei und Dunkle Magie keine unversöhnlichen Widersacher sind, dass nur das Ergebnis zählt und nicht der Weg dahin. Der Unterschied liegt nicht in der Wahl meiner Methoden, sondern in ihrem Ausmaß und eurer Unverhältnismäßigkeit.“, versuchte sie eher sich selbst zu überzeugen als Boridas. Doch die Stimme der Schwäche setzte unbarmherzig nach, flüsterte ihr Worte ein, die auszusprechen sie sich ausnahmsweise nicht weigerte.
„Ihr tötet, wen ihr hasst, lasst die Tode derjenigen zu, die euch gleichgültig sind. Ich dagegen bin bereit, sogar die zu morden, die ich einst liebte. Ich bin nicht besser als ihr. Ich bin schlimmer.“
Boridas starrte sie mit aufgerissenen Augen an und Eara vermutete, er wäre zusammengebrochen, hätte ihr Bann ihn nicht festgehalten. Seine Verzweiflung war so offenkundig, dass Eara es bereute, ihn in ihre Pläne eingeweiht zu haben. Sie hätte nicht auf seine Worte hören dürfen, sondern sich auf ihre Überlegungen verlassen müssen. Ihre Antworten quälten ihn nur unnötig! Worte, die vorschnell ausgesprochen.
Eara weitete ihre Magie aus, bezwang Boridas vollständig und nahm ihm jede Möglichkeit, sich eigenständig zu bewegen. Dann stellte sie sich in eine Ecke der quadratischen Grabkammer und hüllte sich in Dunkelheit. Schließlich deutete sie mit ihrer schattenhaften Hand auf den leuchtenden Stab, den Boridas noch immer hielt, und das Licht erlosch, hinterließ nichts als zeitlose Finsternis. Jetzt hieß es Warten und Hoffen, dass sie sich nicht in den Obersten und ihren Stellvertretern getäuscht hatte.
Noch immer überlegte sie fieberhaft, ob es nicht eine bessere Möglichkeit gab. Doch so sehr sie auch nachdachte, nur der Tod von Torven und Variah konnte die Zauberer genug aufbringen, um eine langfristige Vereinigung zu ermöglichen. Würde nur einer von beiden sterben, dann wären die Gegner der Vereinigung aus dem jeweils anderen Orden der Verschwörung vielleicht sogar dankbar, und die Vereinigung konnte nur vollzogen werden, wenn beide Obersten ihr zustimmten.
Torven war dein Mentor! Dein Freund! Dein Vater, nachdem der Winter deine Eltern geholt hatte! Wie kannst du auch nur darüber nachdenken, ihm das Leben zu nehmen?, fragte die Stimme der Schwäche verzweifelt. Eara hatte keine Antwort, die die Stimme zufriedengestellt hätte. Sie konnte nur hoffen, dass ihr noch eine bessere Idee käme. Eine ohne Opfer. Und obwohl diese Hoffnung nur ein dummes, schwaches Gefühl war, unterdrückte sie sie nicht. Zu kostbar war die zerbrechliche Illusion, Torvens Leben schonen zu können. Worte, Pfeile und Möglichkeiten.
Mondhoch, 59. Herbsttag 76 A.Z.
Dunkles Grab in der Feste von Yra, Hadria
Ein Knirschen schreckte Eara aus ihren Gedanken. Aus dem Gang, der in die Gruft führte, erschollen Schritte und ein helles Licht flutete die Grabkammer. Der zweifache Schein von Torvens sanft leuchtendem Licht und der unruhigen Flamme auf Variahs Stab. Eara verdichtete die Dunkelheit um sich; besser, sie wurde nicht zu früh bemerkt.
„Ergebt euch, Allianz der Entscheidung, und wir gewähren euch einen fairen Prozess!“, rief Torven gebieterisch und hob seinen Stab, während Variah eine Barriere aus Dunkler Magie schuf, ganz ähnlich denjenigen, die Eara selbst benutzt hatte, allerdings mit einer Kunstfertigkeit, die sie selbst niemals erreichen würde. Eara war mächtiger als die Oberste, doch sie hatte nicht die Ausbildung einer Zauberin des Feuers durchlaufen und besaß nicht die jahrelange Erfahrung.
„Boridas!“, schrie Torven erzürnt, als er den erstarrten Zauberer erkannte. „Du also warst der Verräter! Leg den Bolzenwerfer weg oder du wirst unseren Zorn zu spüren bekommen.“
„Torven!“, hörte Eara Variah zischen. Die rothaarige Oberste blickte sich besorgt um und eine leichte Blässe spielte um ihre Nase. „Hier stimmt etwas ganz und gar nicht!“
Torven blinzelte und sah sich genauer um. Erst jetzt schien er die Verwüstung, den ermordeten Zauberer auf dem geborstenen Sarg und das geronnene Blut an der Wand zu bemerken. „Hier wurde Dunkle Magie angewandt!“, murmelte er mit gerunzelter Stirn. „Sehr viel davon!“
Eara sandte einen stummen Befehl an Boridas. Der zuckte, weigerte sich jedoch, den Hebel zu ziehen. Er brachte sogar den Widerstand auf, trotz ihres Bannes noch etwas zu flüstern. „Flieht!“
Variah blickte Torven verwirrt an, der Oberste des Turmes dagegen spähte angestrengt in die Ecke, in der Eara sich verbarg. Er murmelte einige Worte und der verbergende Schatten wurde schwächer. Die Obersten erkannten sie in dem Moment, in dem Eara einen weiteren Befehl losschickte, zu mächtig, als dass Boridas sich erneut hätte widersetzen können. Der Verschwörer hob seinen Bolzenwerfer, richtete die Öffnung auf Variah und zog am Hebel. Der Bolzen schoss heraus.
Die Oberste des Feuers verstärkte beiläufig ihren dunklen Schild, dann erstarrte sie plötzlich und sah auf ihre Schulter hinab, in der ein blau schimmernder Bolzen steckte. Sie hob ihren Blick. „Souveränin!“, schrie sie, zog den Bolzen heraus und ignorierte die Verbrennungen, die das Arkanum auf ihrer Handfläche hinterließ. „Dafür werdet Ihr …“ Sie zuckte zusammen und presste eine Hand auf die Wunde. Starrte fassungslos auf die dunklen Linien, die sich über ihren Arm und Hals ausbreiteten. Dann schoss schwarzes Blut aus ihrer Nase und sie brach zusammen. Das flackernde Licht ihres Stabes verglühte. Pfeile, die blindlings abgeschossen.
Eara trat aus ihrer Ecke, zog den Bolzen aus ihrer Tasche, den die Verschwörer für reines Arkanum gehalten hatten, rammte ihn Boridas in den Arm und zog ihn wieder heraus. Sie verschwendete keinen Blick auf das Gift, das sich durch seine Blutbahnen ausbreitete.
Torven erbleichte und zögerte den Bruchteil eines Augenblickes, dann drehte er sich um und floh, rannte durch den dunklen Gang. Auf halbem Weg baute Eara eine Wand aus Schatten, vor der der Oberste entsetzt zum Stehen kam.
„Eara!“, rief er und blickte zurück. „Wenn du so auf deinen Kampf bestehst, sollst du ihn bekommen!“
Die Dunkle Magierin stellte sich am Eingang in die Grabkammer auf und senkte den Blick. „Es tut mir Leid, mein Mentor.“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit. Aber jeder Ausgang der Situation, der dich am Leben ließe, würde auf Dauer nur noch mehr Leid bedeuten. Ich darf dein Wohl nicht über das anderer stellen, nur weil du mir früher so viel bedeutet hast. Ich tue, was für alle das Beste ist, leidenschaftslos und gerecht. Ich berücksichtige dein Wohl nicht weniger oder mehr als das von jedem anderen Wesen, das lebt oder leben wird.“
„Du bist wahnsinnig!“, brüllte der Oberste, das Licht seines Stabes warf unwirkliche Schatten auf die kahlen Wände. „Ich habe dich ausgebildet! Ich habe dich zu dem gemacht, was du bist.“
„Und ich habe dein Leben gerettet, ebenso wie das vieler anderer Zauberer. Und ich würde es jederzeit wieder tun. Doch jetzt steht mehr auf dem Spiel als nur dein Leben. Die Vereinigung bietet so viele Vorteile, und mit deinem Tod wird sie nicht länger abgelehnt werden.“
„Entferne die Dunkle Magie, oder ich mache mir nicht mehr die Mühe, dich vors Gericht zu zerren!“
Eara unterdrückte das Zittern in ihrer gesunden Hand. Wenn es doch nur eine bessere Möglichkeit gäbe … Sie hob ihren Kopf und zwang sich dazu, Torven ein letztes Mal ins Gesicht zu schauen. Die so vertrauten Züge ihres ehemaligen Mentors zu betrachten. Sie dachte zurück an ihre langen Studien im Schein des Kamins, an Torvens kurzweilige Unterweisungen. An den ehrwürdigen grauhaarigen Mann, der das für Zauberei begabte hellblonde Mädchen vor sich musterte, es warm anlächelte und ihr eine braune Kutte überreichte als Zeichen, dass er sie als Novizin anerkannte und zu seiner Schülerin machte. Sie wusste noch gut, wie er ihr am Ende ihrer Ausbildung ihren Stab überreicht hatte, wie das gegabelte Ende unter ihrer gemeinsamen Berührung aufgeleuchtet hatte und wie sehr sie beide sich gefreut hatten. Der Stab, der inzwischen ebenso zerbrochen war wie ihre Freundschaft. Die Stimme der Schwäche schrie verzweifelt, fand keine Worte mehr, weinte nur stumme Tränen in ihr.
„Ich werde die Dunkle Magie entfernen.“, hörte sie ihre Stimme sagen. Sie hob ihre schwarze Hand und zog alle Dunkelheit zu sich. Die magische Wand löste sich auf und Torven starrte sie verblüfft an. Eara lächelte schwach. „Verzeih mir!“, wisperte sie und spürte, wie auch ein dunkler Faden sich auflöste, den sie vor einigen Stunden um eine kleine Feder gesponnen hatte. Torven blickte nicht nach oben, bis die Explosion erfolgte, die sie um einige Stunden verzögert hatte. Ein Regen aus Feuer und Stein ergoss sich auf ihn, in seinen klugen grauen Augen standen Trauer, Schmerz und Enttäuschung. Möglichkeiten, die unbedacht vertan.
Sie benötigte nicht lange, um das Geröll von der verbrannten Leiche des Obersten zu entfernen. Sie verwendete Dunkle Magie, auch wenn sie wusste, Torven hätte nicht gewollt, dass sein Körper davon berührt wurde. Und wenn schon. Er ist tot, und die Dunkle Magie kann ihm nicht mehr schaden. Nichts kann ihm mehr schaden. Vielleicht hätte sie seine Augen geschlossen, doch es war nichts mehr übrig, das man als Augen hätte identifizieren können. Eara saß stumm da, ertrug den Gestank von verbranntem Fleisch und erinnerte sich der gemeinsamen Momente. Bild um Bild schoss durch ihren Kopf, und sie fand nicht die Kraft, sich zu regen. Zwölf Tote, und einer muss noch kommen. Ein geringer Preis für die Vereinigung, die das Leben in Hadria nachhaltig verbessern wird. Sie beruhigte ihren zitternden Atem. Atme ein und aus. Ein und aus. Trauer ist nur ein Gefühl. Ignoriere es!
Sie schloss ihre Augen, kauerte reglos neben den Überresten ihres Mentors und unterdrückte jedes Gefühl und jeden Gedanken. Ein und aus. Ein und aus. Als etliche Stunden später die ersten Zauberer auf der Suche nach ihren Obersten das Grab betraten, fanden sie die Souveränin noch immer so vor.