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Story: Der Ewige Rat

o – Die Politik der Einigung

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:08

o – Die Politik der Einigung

Morgendämmerung, 26. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

Eara streckte die Hand aus und konzentrierte sich. Ihr Blick ruhte auf dem schwarzen Holz vor ihr. Ihr neuer Stab, wenn sie sich denn mit ihm verbinden konnte. Er war schlicht, ohne Schnitzereien oder Ornamentik, aber komplett aus kostbarem Ebenholz gefertigt. Kreisrund, glatt wie poliertes Glas, einheitlich tintenschwarz und jedes Licht verschluckend. Wer wohl auf die Idee gekommen war, einer Dunklen Magierin einen Stab aus schwarzem Holz zu schaffen?
Das obere Ende verjüngte sich zu drei Spitzen, gekrümmten Dornen, die sich voneinanderweg wölbten, nur um sich oben fast wieder zu berühren. In dem so entstandenen Hohlraum sammelte sich jetzt ihre Dunkle Magie. Sie umschlängelte die drei Spitzen, züngelte um den Stab und umhüllte ihn mit einer kalten Dunkelheit. Dann schwebte der Zauberstab langsam empor und berührte ihre Handfläche. Die angenehme Kühle, die vom Holz ausging, fühlte sich beruhigend an. Dieser Stab war ihrer würdig!
Über den drei Spitzen entflammte ein dunkelblaues Licht und beleuchtete den schmucklosen, quadratischen Raum. Die beiden Zauberstabmacher, der eine in schwarzer und der andere in brauner Robe, duckten sich ängstlich. „Ihr habt gute Arbeit geleistet! Mein Dank sei Euch gewiss!“ Die beiden nickten eifrig. „Eure Belohnung wird Euch gebracht werden.“ Noch immer nur ein Nicken. Eara versuchte nicht, eine Antwort aus ihnen herauszukitzeln. Ohne Abschiedsworte trat sie aus dem kleinen Raum und ließ die beiden Zauberer zurück.

Torven erwartete sie vor der Kammer. „Der Zauberstab passt also zu dir!“, sagte er mit säuerlichem Gesichtsausdruck. Sein Widerwillen war ihm deutlich anzusehen, als sein Blick über die pure Dunkelheit wanderte. Ihren letzten Zauberstab hatte er selbst ihr überreicht, als sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte und sich aufmachte, in den Süden zu reisen und Erfahrung zu sammeln.
„Offensichtlich! Die beiden Zauberer haben hervorragend zusammengearbeitet.“, ergänzte Eara spitz. Torven schüttelte unwillig den Kopf. Natürlich war es kein Zufall, dass sie je einen Zauberer aus beiden Orden mit der Herstellung ihres neuen Stab betraut hatte. Ein Zeichen ihrer Politik der Einigung, wie Earas Anhänger ihre Pläne mittlerweile nannten. Zu bedauerlich, dass Torven nicht zu diesen Anhängern gehörte.
„Könnten wir uns jetzt der Befragung des Gefangenen widmen, anstatt noch weiter Propaganda zu verbreiten?“, fragte der Oberste missmutig. In der Tat hatte Eara in den letzten Tagen hauptsächlich daran gearbeitet, die Vereinigung der beiden Orden voranzutreiben. Die Verschwörung hatte bisher auf weitere Anschläge verzichtet, sie verhielt sich geradezu verdächtig ruhig, und dank Gundeyn waren ihr Ruf und das Ansehen ihrer Ideen noch etwas gestiegen. Das Verhör des verräterischen Bibliothekars Marnus hatte Eara dabei immer weiter verschieben müssen, da auch Torven und Variah ihr bestes gegeben hatten, um ihre Meinung zu vertreten. Doch die lange Wartezeit hatte vielleicht schon dazu beigetragen, Marnus´ Schweigen zu brechen. Ansonsten würde Eara auf unangenehmere Methoden zurückgreifen müssen…

Auf halbem Weg zur Kammer der astrologischen Erforschung stieß auch Variah zu ihnen und zu dritt standen sie schließlich vor der Tür der Kammer. Sie hatten Marnus hier eingesperrt und von einem einzelnen Wächter bewachen lassen. Hätten sie ihn in den Karzer gesteckt, dann hätte das Risiko bestanden, dass die Verschwörer ihn befreiten. Hier dagegen war er sicher, solange seine Verbündeten nicht wussten, dass er hier versteckt war.
Eara stieß die Tür auf. In der Mitte des Raumes, neben einem goldenen Teleskop, stand ein Stuhl. Hier hatten sie Marnus magisch angekettet. Nur von außen hätte man seine verzauberten Fesseln lösen können, er selbst wäre dazu nicht imstande. Für den Fall, dass sich zufällig doch jemand hierherverirrte, war eine junge Zauberin des Turmes namens Deria als Wache hier stationiert.
Bei dem Anblick, der sich Eara bot, stockte sie kurz. Deria war noch immer hier, doch sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Eine äußere Verletzung war nicht zu erkennen, aber das musste in der Feste von Yra nichts heißen. Entscheidender war jedoch das, was sich auf dem Stuhl in der Mitte des Raumes befand, oder eher das, was fehlte. Nur noch die eisernen Ketten lagen dort, viele Kettenglieder gewaltsam aufgebrochen. Marnus jedoch war verschwunden.
Nachdenklich trat Eara näher. Als erstes widmete sie sich Deria und stellte fest, dass die Zauberin überlebt hatte. Sie wusste nicht, ob sie das freuen sollte, ihr Tod hätte die gesamte Zaubererschaft erzürnt. Doch darüber nachzudenken war überflüssig, also versuchte Eara herauszufinden, was genau geschehen war. Ein Herzschlag der Konzentration verriet ihr, dass Deria von einem mächtigen Schlafzauber außer Gefecht gesetzt worden war, die Kettenglieder dagegen waren mittels Dunkler Magie zerstört worden. Beides war noch nicht lange her, vielleicht den zweiten Teil einer Stunde.
„Marnus wurde befreit!“, rief Torven unnötigerweise. Eara musterte die beiden Obersten unauffällig, doch falls einer von ihnen für die Befreiung verantwortlich war, spielte er meisterhaft. Variah kniete am Stuhl und untersuchte die Kette, doch ihr Erstaunen war eben dadurch authentisch, dass sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Torven dagegen eilte jetzt zu der bewusstlosen Deria, das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Eara kannte ihren alten Mentor lange genug, um zu wissen, dass es nicht gespielt war. Besorgt nahm er eine Hand Derias und atmete erleichtert aus, als er erkannte, dass ihr keine Gefahr drohte.
Variah erhob sich. „Ich glaube, wir sollten die Versammlung zusammenrufen.“, erklärte sie betont ruhig. Eara nickte nur. Wenn irgendjemand in diesem Raum emotionslos war, dann sie.


Später Vormittag, 26. Herbsttag 76 A.Z.
Speisesaal in der Feste von Yra, Hadria

„Deria berichtete, dass zwei Zauberer plötzlich in den Raum stürmten. Sie waren vermummt und ihre Stäbe hatten sie nicht dabei, das einzige, was wir mit Sicherheit über sie sagen können, ist, dass sie zu unterschiedlichen Orden gehörten. Der Zauberer des Turmes wob einen Schlafzauber, den Deria nicht mehr rechtzeitig verhindern konnte. Ich bitte ihr gegenüber um Nachsicht, wir hatten ihr sogar erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Besucher sehr gering ist. Der Fehler ist nicht bei ihr zu suchen, sondern höchstens bei uns, die wir diesen Ort für sicher hielten.“
Sarakal, der stellvertretende Oberste des Turms, hielt inne und blickte Eara über seine Hakennase hinweg finster an. Der gesamten Versammlung war klar, dass die Idee, Marnus ausgerechnet in der Kammer der astrologischen Erforschung unterzubringen, von ihr kam. Sarakal war es gelungen, die Schuld auf Eara zu lenken, was durchaus auch richtig war. Der Wächterin Deria machte Eara nicht den geringsten Vorwurf, im Gegenteil. Es war tatsächlich ihre eigene Schuld, dass Marnus befreit worden war. Nur, dass Eara es nicht nur als Schuld, sondern auch als Verdienst betrachtete.
„Das ganze war eine Prüfung, und die Versammlung hat versagt!“, ergriff sie das Wort. „Genau dreiundzwanzig Personen wussten, wo Marnus gefangengehalten wurde: Er selbst, doch er konnte sich wohl kaum mitteilen. Die Wächterin Deria, doch über sie wurde ein Bann verhängt, sie konnte Marnus´ Aufenthaltsort nicht wissentlich verraten. Ich selbst wusste natürlich Bescheid, schließlich kam der Vorschlag von mir. Und dann noch ihr, die verehrten Hohen Zauberer. Die zehn größten Zauberer beider Orden, und einer von ihnen hat uns verraten. Möchte er sich freiwillig stellen?“
„Was erlaubt Ihr Euch, Souveränin Eara?“, brüllte der kurzgewachsene Ventor, der stellvertretende Oberste des Feuers. „Wollt Ihr etwa behaupten, dass einer der Hohen Zauberer Teil der Verschwörung ist?“
Eara hätte diesen Protest eher von einem der beiden Obersten selbst erwartet, ebenso wie sie auch die Verteidigung der Wächterin eher von Torven persönlich vermutet hätte. Doch die beiden Obersten schwiegen beharrlich und warfen sich nur schwer deutbare Blicke zu. Das Reden überließen sie ihren Stellvertretern.
„Genau das möchte ich damit sagen, Ventor. Oder wie sonst ist es zu erklären, dass die Verschwörer wussten, wo Marnus versteckt war?“
„Vielleicht wurden wir belauscht!“
Eara streckte ihren neuen Stab aus und das Törchen nach Norden hin öffnete sich. Ein wenig Schnee wirbelte herein und alle konnten einen Blick auf den verschneiten Balkon werfen. „Auf dieser Seite gibt es nur diese kleine Tür, und Spuren im Schnee würde man ebenso bemerken wie die Folgen eines Levitationszaubers.“ Sie ruckte mit ihrem Stab und die Tür fiel wieder zu. „Nach Süden, in den Turm der Erleuchtung, steht der Wächter Boridas am Portal, mit der einzigen Aufgabe, allzu neugierige Zauberer vom Lauschen abzuhalten. Nein, machen wir uns nichts vor, der Verräter befindet sich hier in diesem Raum!“
Betroffene und misstrauische Blicke flogen durch die Luft. Der Argwohn richtete sich dabei ausschließlich gegen die Zauberer des jeweils anderen Ordens, sowie gegen Eara selbst. Sie zu verdächtigen war tatsächlich nicht allzu abwegig, Marnus´ Verschwinden bekräftigte ihre bedrohlichen Worte über die Macht der Verschwörung und ließ die Zauberer noch enger zusammenrücken. Doch in diesem Fall war der Verdacht unbegründet, sie hatte keine Kontakte zur Verschwörung.
Eara wartete, bis die Gemüter sich wieder ein wenig beruhigt hatten, dann fuhr sie fort: „Dass wir den Bibliothekar nicht vernehmen können, ist ein schwerer Rückschlag. Er hätte uns womöglich die Identitäten aller Verschwörer mitteilen können, doch nun konnte er entkommen. Er konnte entkommen, weil ich versucht habe, diese Zusammenkunft der beiden Orden in meine Entscheidungen einzuweihen und ihnen ein Mitspracherecht zu verschaffen. Ich denke, die Konsequenz ist klar: Solange der Verräter nicht gefunden ist, bleibt mir keine andere Wahl, als meine Befehle unabhängig von euch zu geben und euch in Dinge, die der Geheimhaltung unterliegen, nicht länger einzuweihen.“
Wie zu erwarten protestierten die Hohen Zauberer. Eara jedoch wunderte sich über das anhaltende Schweigen der beiden Obersten. Selbst jetzt noch sprachen die beiden Stellvertreter in ihrem Namen, sie selbst maßen sich mit Blicken und musterten Ventor und Sarakal aufmerksam. Was war nur los mit ihnen? Warum hielten sie sich zurück? Es schien fast, als wollten sie ihre Stellvertreter testen. Eara überlegte, ob es das tatsächlich sein könnte: ein Test. Nicht, ob sie sich als Stellvertreter ihrer Orden eigneten, das hatten beide schon lange bewiesen. Aber vielleicht interessierte es die Obersten eher, ob sie sich auch in einem anderen Amt gut machen würden. Zum Beispiel, dem des Souveräns. Beide Obersten waren gegen eine Vereinigung der Orden und die Möglichkeit, sie als Souveränin durch jemand anders zu ersetzen, hatte Torven schon direkt nach ihrer Ankunft in Yra erwähnt. Es schien ganz so, als versuchten sie jetzt tatsächlich, sich auf einen neuen Souverän zu einigen.
Eara verließ die noch immer streitende Versammlung, ignorierte die empörten Rufe und begab sich zu ihren Gemächern. Sie musste schnell handeln.


Sonnenhoch, 26. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

Auf ihren Befehl hin erschien Gundeyn in beachtlich kurzer Zeit. Er war rot im Gesicht und keuchte. Für seine Souveränin sei ihm keine Anstrengung zu viel, betonte er stolz. Eara nickte stumm. Dann sagte sie: „Ich möchte, dass du versuchst, Ventor unbeliebt zu machen. Die Zauberer sollen ihn hassen. Ich liefere dir einen Grund, aber dann sei bereit. Und lobe die Hitars. Sie sind doch viel bessere Stellvertreter der beiden Orden, findest du nicht auch?“
Gundeyn grinste boshaft. „Was ich finde, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, was Ihr denkt. Denn die anderen Zauberer werden schon bald das gleiche denken, das verspreche ich Euch! Was ist mit Sarakal?“
„Um den kümmere ich mich persönlich. Versammle du eine möglichst große Gruppe Novizen und niedere Zauberer und suche einen Vorwand, damit sie leise sind. Sie sollen in genau zwei Stunden vor dem Schrein von Mutter Natur sein, hinter der Ecke, sodass man sie nicht sieht. Und sag ihnen bloß nicht, dass ich das veranlasst habe.“
Gundeyn kicherte. „Ich bin gespannt, was das wird. Ihr könnt Euch auf mich verlassen. Noch etwas?“
„Ja! Überlege dir ein Zeichen, das alle tragen sollen, die für die Vereinigung sind. Die Hohen Zauberer sollen sehen, wie groß der Zuspruch geworden ist. Und sorge dafür, dass auch die Gegner der Vereinigung ein solches Zeichen bekommen, das sie offen tragen. Das sollte es uns erleichtern, die Verschwörer aufzuspüren. Dann möchte ich, dass du für mich Kontakt zum hadrischen Schwarzmarkt herstellst. Ich will einige Nachforschungen anstellen.“
„Ich werde alles arrangieren. Der Kontakt zum Schwarzmarkt könnte womöglich eine Weile dauern, immerhin seid Ihr die Herrscherin über Hadria, viele könnten eine Falle wittern. Aber seid unbesorgt, das schaffe ich schon. Ich werde Euch bald mit einer guten Nachricht beglücken.“
Gundeyn besaß freien Zugang zu ihren Gemächern und könnte ihr somit jederzeit mitteilen, wenn er ihren Wunsch erfüllt hatte. Eara entließ ihn und ging selbst hinaus.
Vor ihrer Tür wartete der Mechanicus. „Eara!“, rief er in heller Aufregung. „Mein Arkanum ist absent. Komplett!“
„Das ist ärgerlich.“, antwortete sie, auch wenn ihr bewusst war, das ärgerlich in Anbetracht der Umstände ein äußerst harmloses Wort war. Wenn die Verschwörer im Besitz des Arkanums waren, dann hatten sie nie wieder Geldprobleme.
„Ärgerlich, allerdings! Und die Drachenschuppe, die du mir dediziert hast, ist auch verschwunden.“ Hedal nickte nachdrücklich. Dann ergänzte er: „Dafür habe ich einen essenziellen Progress bei der Dechiffrierung der Runensteine gemacht: Es handelt sich um eine summarische Trinität. Der Nutzen eines separaten Steins ist marginal, erst wenn man alle drei kombiniert hat, ist ihre Macht praktikabel.“
„Das hätte ich dir auch von Anfang an sagen können.“
„Aber es hätte noch alternative Varianten mit identischem Resultat gegeben. Eine summarische Trinität tritt nur äußerst exzeptionell auf, mir sind nur zwei Exempel bekannt. Wenn analoge Objekte von so eminenter oder exotischer Potenz existieren, dass ein Sterblicher eines davon nicht kontrollieren könnte, geschweige denn zwei, dann kann es passieren, dass ihre Kombination die Applikation zulässt. Es funktioniert nur, wenn es genau drei verschiedene Exemplare gibt. So kann eine gewaltige Potenz freigesetzt werden, die in den einzelnen Exemplaren absolut nutzlos ist. Wie exakt das funktioniert konnte bisher nicht dekryptiert werden. Aber das hieße, dass das Arkanum in den Steinen für den Effekt irrelevant ist, denn die Stärke der Steine basiert auf Runenmagie, wie sie auch die Zwerge verwenden. Deren Runen sind variabler und simpler zu kontrollieren, allerdings auch signifikant schwächer. Ich werde das Arkanum also extrahieren und experimentieren, was dann geschieht.“
„Na also, dann hast du bald ja wieder einen Vorrat.“
Der Mechanicus klatschte ein mal laut. „Ja, das stimmt!“, freute er sich. Dann fügte er verärgert hinzu: „Aber es geht trotzdem nicht, dass mein Arkanum einfach entwendet wird!“
„Wenn ich herausfinde, was damit geschehen ist, sage ich es dir.“, bestätigte Eara. „Ach, Hedal: Welches Wetter sagt dein Meteorometer für die heutige Nacht an?“
„Einen destruktiven Orkan!“ Er riss die Augen auf. „Wieso fragst du?“
„Oh, reine Neugierde! Nun, Hedal, wo du schon hier bist, habe ich eine äußerst wichtige Bitte an dich, die dir nicht gefallen wird …“


Früher Nachmittag, 26. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

Eara wusste genau, wie sie die beiden Stellvertreter daran hindern konnte, neuer Souverän zu werden. Jeder Mensch hatte einen Schwachpunkt, man musste ihn lediglich finden und benutzen. In Sarakals Fall waren es seine Selbstzweifel. Jeder machte Fehler, doch der stellvertretende Oberste des Turms sorgte sich zu sehr um die, die ihm anvertraut waren. Er wollte niemandes Leid selbst verursachen. Die Stimme der Schwäche wisperte in ihrer üblichen Naivität, dass dies doch eine positive Eigenschaft sei. Aber Eara hatte höchstens kühle Verachtung für diesen Charakterzug übrig. Sie hatte begriffen, dass jede Entscheidung für etwas auch eine Entscheidung gegen etwas war. Jede Handlung verursachte Leid und sie würde stets den Weg des geringsten Übels wählen – was es auch kosten möge.
„Souveränin!“, rief Sarakal erstaunt, als er seine Tür auf ihr Klopfen hin öffnete. „Wollt Ihr hereinkommen?“
Eara trat an ihm vorbei in die kleine Kammer. Sein Status hätte ihm das Recht auf größere Räumlichkeiten verliehen, doch dem stellverstretenden Obersten des Turmes war das Streben nach Luxus fremd.
„Der Eiserne Turm ist schon wieder braun vor Rost. Ich möchte, dass Ihr noch heute Nacht beginnt, diesen Rost zu entfernen und endlich die Zinklegierung aufzutragen, die Hedal seit Jahren vorschlägt. Er lagert sie schon ewig in seinem Laboratorium, wenn sie früher benutzt worden wäre, dann könnten wir es uns die Mühe jetzt sparen.“ Jedes Jahr mussten einige Zauberer des Turmes den Rost abkratzen, der sich im nasskalten Wetter am Eisen sammelte. Ein Zauber war bislang nicht dagegen entwickelt worden.
„Gerne, Souveränin. Aber wir haben nicht genug Kohle vorrätig, um die Legierung zum schmelzen zu bringen.“ Eara war beeindruckt, was Sarakal alles im Kopf hatte. Beinahe tat es ihr leid, was sie mit ihm vorhatte.
„Deswegen werdet Ihr dieses Jahr einen mächtigen Zauberer des Turmes dabeihaben, der das Metall direkt oben zum Schmelzen bringen kann.“
Sarakal betrachtete sie misstrauisch. „Das ist aber kein erneuter Versuch, Propaganda für die Politik der Einigung zu machen, oder?“
„Ich verstehe Eure Bedenken, und ich möchte Eure Bereitschaft nicht missbrauchen.“ Eara tat so, als müsste sie überlegen. „Gut, ich weiß, wie ich es mache. Ich gebe Euch von allen Hohen Zauberern des Feuers denjenigen mit, der am meisten gegen die Vereinigung der Orden ist. Dolor begleitet Euch!“
Sarakal schluckte schwer. Dolor hasste die Zauberer des Turmes leidenschaftlich und machte aus diesem Hass auch keinen Hehl. Er hätte am liebsten den Ordenskrieg wieder aufgenommen und seine Feinde gnadenlos getötet, auch auf das Risiko hin, den Krieg zu verlieren. Sein Fanatismus machte ihn selbst in seinem eigenen Orden unbeliebt, und so war es ein kleines Wunder, dass er es geschafft hatte, in den Rang eines der zehn Hohen Zauberer aufzusteigen. Selbstverständlich verabscheute er die Idee einer Vereinigung.
Auch Sarakal war klar, dass Dolor den Eisernen Turm lieber von etwas anderem als nur Rost befreit hätte, doch er war zu höflich, um einen Wunsch zu äußern, nachdem es doch seine Schuld war, nun ausgerechnet mit ihm den Eisernen Turm säubern zu müssen. Er dachte, dass Eara ihm einen Gefallen hatte tun wollen und wollte sie jetzt nicht in Verlegenheit bringen. Also nickte er nur und Eara wünschte ihm viel Erfolg, während sie sich innerlich fragte, wie ein so lieber Mensch es wohl geschafft hatte, in der Hierarchie der Orden so weit aufzusteigen.

Ventors Schwäche war sein Stolz. Er war ein brillanter Magier, ein guter Anführer, und dieser Stärken war er sich deutlich bewusst. Etwas zu deutlich, wie einige sagten.
Sie passte ihn ab, als er gerade seine Gästekammer betreten wollte. „Kommt mit, ich habe eine Aufgabe für Euch!“
Ventor starrte überrascht zu ihr hoch. „Eine Aufgabe? Ist es dringend?“
Wortlos drehte Eara sich um und Ventor war neugierig genug, ihr zu folgen. Sie ging auf direktem Wege zum Schrein der Heiligen Mutter. Erst, als sie ihn fast erreicht hatte, drosselte sie ihre Geschwindigkeit.
„Also, was ist es?“ Ventor war schlecht gelaunt, weil er davon abgehalten worden war, seine Kammer zu betreten. Das war vortrefflich!
Eara stellte sich genau an die Ecke und sah Ventor freundlich an. „Der Schrein wurde schon lange nicht mehr gesäubert. Ich wünsche, dass Ihr Eurer Pflicht gegenüber Mutter Natur nachkommt. Und denkt daran: Keine Dunkle Magie auf die Mauern Yras!“
Ventor lachte kurz bis er begriff, das das kein Witz war. „Was soll das, Souveränin? Warum wollt Ihr dazu ausgerechnet mich haben? Es gibt Dutzende niedere Zauberer, die diese Arbeit fast genau so gut erledigen könnten. Einer von ihnen soll das machen!“
„Sehen wir über das fast mal hinweg. Warum sollte einer von ihnen das tun müssen? Meint Ihr etwa, Eure Zeit sei kostbarer als die eines einfachen Novizen, nur weil Ihr einen höheren Rang innehabt? Haltet Ihr Euch für mehr wert?“, fragte Eara bewusst laut und in zornigem Tonfall. Sie wusste, dass ein solcher Ton auch eine wütende Antwort provozierte.
Und tatsächlich schrie Ventor fast schon: „Natürlich! Ich bin mächtiger, habe einen höheren Rang und ein fundiertes Wissen über Magie. Selbstverständlich bin ich mehr wert.“
Eigentlich stimmte Eara ihm zu, doch jetzt würde sie das gewiss nicht eingestehen. Stattdessen ging sie um die Ecke und bestaunte Gundeyns Werk. Knapp zwei Dutzend Novizen und niedere Zauberer saßen um einen Echozähler, eine Erfindung von Hedals Vorgängerin zum Messen der Schallgeschwindigkeiten verschiedener Materien, die auf Störgeräusche äußerst empfindlich reagierte. Alle hier hatten vollkommen still sein müssen. Und alle hatten das Gespräch in perfekter Qualität vernommen, das zwischen der Souveränin und dem stellvertretenden Obersten des Feuers stattgefunden hatte. Oder vielmehr dem ehemaligen stellvertretenden Obersten des Feuers.
„Nun, dann schlage ich vor, Ihr sucht Euch von diesen vielen wertlosen Zauberern einen aus, der Eure Arbeit für Euch übernimmt!“
Ventor folgte ihr und erbleichte beim Anblick der versammelten Zauberer. Hasserfüllt blickte er Eara an. „Ihr seid eine intrigante Schlange!“, zischte er gedämpft. Sie würdigte ihn keiner Antwort.
Ventor blickte hektisch auf die zornige Menge vor sich, dann drehte er sich um und rannte davon. Noch bevor der Flüchtende aus Earas Blickfeld verschwand, begann Gundeyn mit seiner Hasstirade.


Frühe Nacht, 26. Herbsttag 76 A.Z.
Großer Hof in der Feste von Yra, Hadria

Als die Nacht begann, suchte Eara unter einem Vordach Unterschlupf. Von hier aus konnte sie den Eisernen Turm beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Bald erschien Sarakal, drei niedere Zauberer des Turmes sowie Dolor im Schlepptau. Der schnurrbärtige Zauberer des Feuers beschwerte sich schon jetzt und zeigte überheblich auf die dunklen Wolken, die sich über Yra auftürmten. Doch Sarakal besaß durchaus auch Durchsetzungsvermögen, zielstrebig ging er auf die Holzkonstruktion neben dem Eisernen Turm zu und wies die anderen an, die Eimer mit der Legierung, die Hedal entwickelt hatte, hochzutragen. Dann versah er die Plattform mit einem Levitationszauber und sie schwebte dem grauen Himmel entgegen.
Der Sturm, den der Mechanicus angekündigt hatte, ließ nicht lange auf sich warten. Mit der Zeit wurde der Streit zwischen Dolor und den Zauberern des Turmes vom Wind verschluckt. Eara betrachtete ruhig, wie immer heftigere Böen an der Holzplattform zerrten, während Sarakal versuchte, den Feuerzauberer unter Kontrolle zu halten.
Irgendwann fiel auch noch Schnee vom Himmel und Eara verlor die Sicht zu den Zauberern. Sie verließ ihr Versteck und stellte sich unter den Turm, wartete auf das, was unweigerlich geschehen musste.
Als erstes fielen ihr Holzbalken und ein glühender Zinkklumpen entgegen, denen sie auswich. Dann sah sie zwei Gestalten durch das Schneetreiben fallen. Sie hatte lange abgewogen, ob sie einen Novizen sterben lassen sollte, falls es zu dieser Situation kam, aber sie war zu dem Schluss gekommen, dass Sarakal auch ohne dieses letzte Mittel schwach genug war. Also wartete sie, bis die beiden den Boden fast erreicht hatten, ehe sie sie auffing. Die beiden wurden von Schatten in der Luft gehalten und vor ihr abgesetzt, starrten sie fassungslos an, überrascht, noch am Leben zu sein. Sie zitterten in der Kälte und riefen etwas, was über den Sturm nicht zu verstehen war. Eara schickte sie mit Gesten ins Warme und wollte gerade nach den anderen schauen, als noch drei Gestalten erschienen. Dieses Mal schwebten sie nach unten und landeten selbstständig vor ihr. Eara winkte ihnen mit ihrem Ebenholzstab zu und dirigierte sie zurück in die Gebäude der Feste.
Erst drinnen konnten sie sich wieder unterhalten. „Hah, ich habe ja gesagt, dass wir bei dem Wetter nicht hoch sollten!“, rief Dolor grimmig. Dann ergänzte er fast unhörbar: „Schade, dass niemand gestorben ist!“, und ging grußlos. Die drei niederen Zauberer des Turms wärmten sich gegenseitig auf, während Sarakal vorsichtig zu Eara trat.
„Ich möchte Euch sagen, dass Ihr bei diesem Sturm nicht länger zu arbeiten braucht, da kommen mir plötzlich ein paar Zauberer entgegengestürzt.“, log Eara. „Dürfte ich erfahren, was genau passiert ist? Wieso war es fünf Zauberern nicht möglich, eine Holzplattform zu verstärken, ehe sie zerbricht? Wieso war es nicht möglich, alle sicher zu Boden zu bringen?“
Sarakal blickte betreten zu Boden. „Es tut mir so unermesslich leid! Wenn ich bedenke, was beinahe passiert wäre … Welch glückliche Fügung, dass Ihr gerade zur rechten Zeit dort wart!“ Der Stellvertreter hatte nicht den geringsten Verdacht geschöpft. „Es ist meine Schuld. Ich lag im Streit mit Dolor und habe nicht gemerkt, wie schlecht es um die Konstruktion stand. Als sie zerbrach, konnte ich nicht alle oben halten, bevor sie im Schnee verschwanden. Bestraft mich, wie Ihr es für angemessen haltet.“
Es war beachtlich, dass er selbst jetzt noch die Schuld auf sich nahm, anstatt sie Dolor zuzuschieben, der vermutlich den größeren Anteil daran hatte. Doch Sarakal wusste, dass er als Anführer der Aktion auch die Konsequenzen zu tragen hatte. „Ich kann Euch nicht bestrafen.“, sagte Eara gnädig. „Der Fehler liegt bei mir. Dolor ist schwierig, dass wissen wir beide. Ich dachte, es wäre Euch möglich, ihn zu kontrollieren, doch ich habe Euch überschätzt. Ich bin mir sicher, Ihr habt Euer bestes gegeben, es war einfach nicht genug. Dafür werde ich Euch nicht bestrafen.“
Sarakal blickte sie betroffen an. „Meint Ihr wirklich, dass ich mich so wenig zum Anführer eigne?“
„Ich bin mir sicher, wenn es nicht ausgerechnet Dolor gewesen wäre, Ihr hättet meinen Auftrag gut ausgeführt. Ihr seid gerade recht, um eine Gruppe von fünf Personen zu leiten.“
Sarakal riss die Augen auf. „Fünf Personen? Ist das alles, was ich kann?“
Eara zuckte zusammen und stammelte: „Oh, als Stellvertreter seid Ihr sicher auch … Ich meine, gewiss könnt Ihr auch größere Gruppen führen. Wenn Ihr eines Tages Oberster werdet, dann habt Ihr ja hoffentlich auch dazugelernt. Womit ich natürlich nicht sagen möchte, dass Ihr das jetzt nicht vielleicht auch schon schaffen würdet ...“
Dem von Schuldgefühlen gepeinigte Sarakal entging, dass Eara echte Unsicherheit längst abgelegt hatte. „Nein, Ihr habt recht! Die heutige Nacht hat gezeigt, wo meine Grenzen sind. Ich möchte niemanden durch meinen Hochmut in Gefahr bringen. Schon morgen trete ich von meinem Amt als stellvertretender Oberster des Turmes zurück, so wahr ich hier stehe.“
Eara vergewisserte sich, dass die drei niederen Zauberer das gehört hatten, dann tat sie so, als wolle sie ihn von seiner Entscheidung abbringen, womit sie seinen Entschluss erfolgreich bekräftigte. Am nächsten Morgen suchte Sarakal Torven auf und erklärte ihm seinen Rücktritt. Und niemand überprüfte jemals, ob die Holzkonstruktion, auf der die Zauberer den Eisernen Turm hatten sanieren wollen, nicht schon vor ihrem Gebrauch sabotiert worden war.


Sonnenhoch, 27. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

Erst zum Mittag suchten Torven und Variah die Souveränin auf. Ihr Zorn war den beiden deutlich anzumerken. „Wie kannst du es wagen, unsere beiden Stellvertreter einfach abzusetzen?“, brüllte Torven.
„Sarakal ist von alleine gegangen und Ventor hat vor zwei Dutzend Novizen verkündet, dass er sich für mehr wert hält als sie. Er ist die meistgehasste Person Yras.“ Bei diesen Worten erinnerte sie sich in Gedanken daran, Gundeyn zu belohnen.
Variah ballte ihre Hände zu Fäusten, wohl mit dem Ziel, ihre Fingernägel nicht versehentlich in Earas Gesicht zu graben. „Glaubt Ihr, wir halten es für Zufall, dass die Novizen genau dort warteten, wo Ihr diese Aussage herausgefordert habt? Glaubt Ihr, wir bemerken nicht, dass der Auftrag, der zu Sarakals Rücktritt führte, von Euch kam? Gebt es doch zu, Ihr habt bemerkt, dass wir einen der beiden zum Souverän machen wollten und das vermeiden wollen.“
„Und wenn es so wäre?“, gab Eara ruhig zurück.
Torven stampfte laut auf, um seinem Zorn Luft zu machen. „Du hast doch behauptet, du würdest widerspruchslos gehen, wenn wir einen Ersatz für dich präsentieren!“
Eara nickte langsam. „Und daran halte ich mich! Aber vorher sorge ich dafür, dass ihr den Richtigen präsentiert.“
„Und dieser Richtige wäre wahrscheinlich einer der Hitars, richtig? So, wie dein fetter Diener Stimmung für sie macht! Aber nicht mit uns! Wir bestimmen sie nicht als Souverän und auch nicht als Stellvertreter.“
„Sialla wird die neue stellvertretende Oberste des Turms und Mortol der stellvertretende Oberste des Feuers!“, ergänzte Variah süffisant.
„Ist das euer Erst? Sialla ist so eitel, dass man ihr nur einen Spiegel geben muss und sie vergisst alles um sich herum. Und jeder weiß, dass Mortol von Aschenbaumharz abhängig ist, das er sich regelmäßig auf dem Schwarzmarkt besorgen muss. Meint …“ Sie stockte. Natürlich! Sie war ja so dumm! Dass sie nicht früher darauf gekommen war… Doch jetzt musste sie sich erst den beiden Obersten widmen. „Meint ihr wirklich, es wäre für mich ein Problem, die beiden ebenso abzusetzen wie ihre Vorgänger? Wenn ihr tut, was ich möchte, dann könnt ihr euch und mir einiges an Arbeit ersparen, aber das Ergebnis ist so oder so das gleiche.“
Torven zitterte und hätte offensichtlich am liebsten die geflügelte Figur, die in die Spitze seines Stabes geschnitzt war, in ihr Gesicht geschlagen, doch er hielt sich zurück. Variah stieß das Ende ihres Stabes auf den Boden und Funken stoben hervor, ein Zeichen ihres Zorns. „Komm, Torven! Sie ist viel zu stur, hier richten wir nichts aus! Sialla und Mortol sind zu angreifbar, sie könnten sich ohnehin nicht lange halten. Aber wir werden niemals die Hitars in die Position bringen, in der Ihr sie gerne hättet!“
„Sie haben keinen Finger gerührt, um Ventor und Sarakal zu beseitigen.“ Dass das auf ihre Anweisung hin geschehen war, erwähnte Eara nicht.
„Und wenn schon! Wir werden sie nicht zu unseren Stellvertretern machen. Und Euch ersetzen wir auch noch, versprochen!“ Variah wirbelte herum und verließ erhaben die Gemächer.
Torven blickte Eara traurig an. „Früher warst du so ein liebes Mädchen, so eine gute Zauberin. Was ist nur aus dir geworden?“ Auch er ging, ohne eine Antwort zu erwarten.
Dass die beiden noch nicht wussten, wen sie zu ihren Stellvertretern machen wollten, kam Eara entgegen. Gundeyn warb für die Hitars, und Eara hoffte darauf, dass die Obersten sich irgendwann dem Druck der Masse würden beugen müssen. Den gleichen Plan verfolgte sie auch bei der Vereinigung, in beiden Fällen hatte sie formell kein Mitspracherecht. Doch die Zeit arbeitete für sie…
Nachdem die Tür sich geschlossen hatte, verfasste sie eine kurze Nachricht, in der sie Mortol zu sich bestellte. Warum bloß hatte sie Gundeyn beauftragt, Kontakte zum Schwarzmarkt herzustellen, wenn sie doch bereits jemanden mit diesen Kontakten kannte? Mortol würde ihr weiterhelfen können!


Abenddämmerung, 27. Herbsttag 76 A.Z.
Speisesaal in der Feste von Yra, Hadria

Eara trat in den Speisesaal und betrachtete den überfüllten Raum. Es roch nach Zwiebelsuppe, das Stimmengewirr der Zauberer erfüllte die Luft. Im Kamin brannte ein großes Feuer aus dem Holz, das für Schiffbau nicht verwendet werden konnte und Eara meinte, auch Reste der Plattform zu erkennen, die in der letzten Nacht zu Bruch gegangen war. Bei ihrem Eintreffen unterbrachen die Zauberer ihr Abendmahl und es wurde so still, dass sie den Wind hinter der kleinen Holztür an der Nordseite hören konnte, obwohl sie am genau entgegengesetzten Ende des Raumes stand. Nur hier und da klapperte noch das Tongeschirr und flüsterten einige Novizen miteinander. Eara wandte sich zielstrebig zum Tisch der Hohen Zauberer, der an der Ostwand einen Ehrenplatz innehatte. Die beiden Obersten musterten sie kalt, die Hitars zwinkerten ihr zu und Mortol hob grüßend die Hand, ehe er sie nach einem eisigen Blick Variahs schnell wieder sinken ließ.
Mortol hatte sich bereiterklärt, mit ihr den hadrischen Schwarzmarkt zu durchleuchten. An Marnus´ Bolzen war Forinkäfergift gewesen. Doch das war in Hadria strengstens verboten. Nur illegal hätte der Bibliothekar in den Besitz der tödlichen Substanz gelangen können, in Yra allerdings verkaufte sie hoffentlich niemand. Da Marnus die Feste schon lange nicht mehr verlassen hatte, musste jemand anderes es besorgt haben. Jemand, der wohl zu den Verschwörern gehörte. Und ihn wollte Eara finden.
Mortol war ein molliger Magier, der allerdings trotz seiner Statur stets einen gehetzten Eindruck machte, eine Folge seiner Sucht. Der Aschenbaum war ein unscheinbares Gewächs mit grauer Rinde und dunkelgrünen Nadeln, die fast schon schwarz wirkten. Doch das Harz dieses Baumes war gefährlich. Es wurde konzentriert und gebacken, die so entstandenen Klumpen besaßen eine feste, klebrige Konsistenz und konnten wunderbar gekaut werden. Wer den süßlichen Saft schluckte, wurde für kurze Zeit von Euphorie ergriffen, die kurzfristig keine negativen Auswirkungen hatte. Doch schon der Genuss eines murmelgroßen Klumpens trieb in die Abhängigkeit.
Mortol war schon als Kind süchtig gewesen, noch ehe die Zauberer sein Talent für die Zauberei entdeckt hatten. Es war unmöglich gewesen, ihn noch zu heilen, und selbst die Dunkle Magie hatte ihm nicht zu helfen vermocht. Seitdem wurde stillschweigend toleriert, dass Mortol regelmäßig einige zwielichtige Ecken in Nordgard frequentierte und das Geld, das er sich mit vielen Zusatzarbeiten verdiente, für die Droge ausgab. Inzwischen zeigte er die üblichen Erscheinungen eines Abhängigen: Haarausfall, schwarze Zähne und wässrige Augen.
Eara stellte sich mit dem Rücken zu den Hohen Zauberern an deren Tisch und fixierte die Menge vor sich. An einigen Roben erkannte sie kleine Messingbroschen über dem Herzen und sie begriff, dass es sich um die Kennzeichnung handelte, die sie von Gundeyn für die Anhänger der Politik der Einigung verlangt hatte. Messingbroschen! Nach einem Tag! Wie machte er das bloß immer? Es waren deprimierend wenige, aber immerhin fing ihre Kampagne auch gerade erst an.
Sie klopfte dreimal mit ihrem Stab auf den Boden, obgleich sie längst die ungeteilte Aufmerksamkeit der Speisenden besaß.
„Wer von euch unterstützt alles die Vereinigung der beiden Orden?“, hob Eara an. Sie betrachtete den Wald aus Armen, der sich plötzlich vor ihr erhob, sie registrierte aber auch die Unsicherheit auf vielen Gesichtern.
„Und wer ist gegen diese Vereinigung? Keine Angst, niemand wird dafür bestraft.“ Fast ein Drittel der Arme hoben sich, etwas weniger als für die Vereinigung. Die Unentschlossenheit, die sie dieses Mal bemerkte, rührte wohl auch daher, dass alle wussten, wofür sie selbst stand. Wer legte sich schon gerne mit der Souveränin und mächtigsten Dunklen Magierin Hadrias an? Eara merkte sich die Mutigen.
„Das finde ich persönlich zwar bedauerlich, aber es ist euer gutes Recht. Jeder kann sich seine eigene Meinung zu dem Thema bilden, solange er sie friedlich übermittelt. Und wer von euch unterstützt … die Verschwörung?“ Dieses mal meldete sich niemand. Aber alles andere hätte sie auch verwundert.
„Die Frage mag seltsam anmuten, aber mich erreichten einige Gerüchte über fehlgeleitete junge Zauberer, die die Verschwörer nicht als das sehen, was sie sind.“ Von diesen Gerüchten hatte ihr natürlich Gundeyn berichtet.
„Es gibt einige, die behaupten, diese Verschwörung bestehe aus überzeugten Kämpfern, die für ihre Ideale einstehen. Aus stolzen Verfechtern ihrer freien Meinung. Aus Oppositionellen, die von mir und der Zusammenkunft der Hohen Zauberer gewaltsam unterdrückt werden. Diesen sage ich: Ihr habt ein falsches Bild von dieser Verschwörung. Die Verschwörer sind verblendete Narren, gewaltbereit und radikal. Sie arbeiten zusammen, um Zusammenarbeit in Zukunft zu verhindern. Sie vereinigen die Kräfte beider Orden, um die Vereinigung der beiden Orden zu vereiteln… um jeden Preis! Sie schrecken nicht vor Mordversuchen zurück. Sie verzauberten die tapfere Wächterin Deria brutal. Sie sind stark durch ihren gemeinsamen Hass und mächtig durch ihr verschiedenes Wissen. Sie destabilisieren die Ordnung Hadrias, sie vernichten, anstatt zu erschaffen. Auf solche stolzen Kämpfer kann ich getrost verzichten! Wenn irgendjemand unter euch mit diesen Verschwörern sympathisiert, dann rate ich ihm, seine Meinung noch zu überdenken. Wenn irgendjemand unter euch sich einen Sieg der Verschwörung wünscht, dann rate ich ihm, vorsichtig zu sein. Seine Wünsche könnten schon bald wahr werden. Wir wissen fast nichts über die Verschwörung, nur ihre Macht haben sie bereits eindrucksvoll demonstriert. Einen haben wir enttarnt, mindestens fünf verbleiben. Sie könnten überall sitzen, jetzt vielleicht direkt neben euch. Auch in der Versammlung ist mindestens ein Spion von ihnen.“
Auf diese Ankündigung folgte entsetztes Aufkeuchen. Die Zauberer blickten misstrauisch zum Tisch hinter ihr und tuschelten. Eara konnte sich gut vorstellen, wie sich die Blicke der Hohen Zauberer hasserfüllt in ihren Rücken bohrten. Aber solange es nur Blicke waren…
„Und das bringt mich zu meinem nächsten Punkt. Es gibt einige, die behaupten, ich würde die Versammlung ignorieren. Sie sagen, ich tue, was mir beliebt. Die Zusammenkunft schert mich einen Dreck. Die Wünsche und Interessen der Hohen Zauberer, der Repräsentanten der beiden Orden, sind mir egal. Ich regiere, ohne die Versammlung miteinzubeziehen. Diesen sage ich: Ihr habt recht! Ich regiere tatsächlich unabhängig von der Versammlung und den beiden Orden, nicht umsonst lautet mein Titel Souveränin. Aber nicht, weil sie mir egal wären, im Gegenteil: Die Hohen Zauberer sind mir wichtig, die niederen Zauberer sind mir wichtig, die Novizen sind mir wichtig. Und in ihrer aller Interesse kann ich es mir nicht erlauben, zwanzig Zauberern die Macht zu geben, von denen einer erwiesenermaßen einer zutiefst abscheulichen und destruktiven Verschwörung angehört. Überlegt nur, welchen Einfluss er hätte! Welche Informationen er verwenden könnte, um uns allen zu schaden! Die einzige Möglichkeit, euch zu schützen, ist es, die Versammlung nicht miteinzubinden, bis der Verräter entdeckt ist. Erst dann werden wir gemeinsam das tun können, was für Hadria am besten ist. Im Moment muss ich diese schweren Entscheidungen notgedrungen alleine fällen.“
Die Zauberer vor ihr warfen sich unbehagliche Blicke zu. Einige fürchteten wohl, sie könnte ihre Macht ausbauen, um endgültig zur absoluten und uneingeschränkten Herrscherin aufzusteigen. Doch leider war das Eara unmöglich.
„Und ich fürchte, ich muss euch nun mitteilen, dass ich diese Feste leider für einige Tage verlassen muss. Der Kampf gegen die Gegner in unseren eigenen Reihen muss manchmal von außen geführt werden. Manchmal braucht es einen Überblick, um mit frischer Kraft voranschreiten zu können. Ich denke, ihr versteht, dass ich euch das Ziel meiner Reise nicht anvertrauen kann, ohne auch die Verschwörer einzuweihen. Doch ich bitte euch, auch in meiner Abwesenheit die Befehle auszuführen, die zu eurem Schutz gedacht sind. Wir leben in dunklen Zeiten, doch gemeinsam werden wir sie überstehen. Jeder könnte ein Verschwörer sein, aber wir werden unsere Aufgaben nur meistern, wenn wir wir zusammenstehen. Darum lautet meine Bitte: Misstraut euren Freunden, aber helft euren Feinden! Wir müssen unsere kleinlichen Rivalitäten vergessen und zu gemeinsamer Stärke finden, um auch diese Krise meistern zu können. Schon im voraus danke ich euch allen für eure Standhaftigkeit und eure Einsatzbereitschaft! Wenn wir zusammenhalten, dann werden wir über diese Verschwörer triumphieren, das ist gewiss!“

Nach dem Mahl winkte Eara Dolor zu sich, den Zauberer des Feuers, der für seinen Hass auf den anderen Orden berüchtigt war und den Eara benutzt hatte, um Sarakal von der eigenen Unfähigkeit zu überzeugen.
„Sehr beeindruckende Rede, Souveränin! Sie folgte einem klaren Prinzip: Den Feind so lange schlechtmachen und aufbauschen, bis die Zuhörer nicht mehr bemerken, welchen Stuss man von sich gibt.“, knurrte Dolor bissig.
„Du hältst die Verschwörung also nicht für gefährlich?“
„Pah, da sind drei Zauber des Turms“, bei diesen Worten spuckte er aus, „dabei, die können doch gar nichts hinkriegen! Sie sind keine Bedrohung!“
„Und du sagst das nur, weil du das denkst? Nicht etwa, um mich von ihnen abzulenken und in Sicherheit zu wiegen?“
Dolor schüttelte den Kopf. „Ich stehe zu dem, was ich sage!“
„Du kannst doch nicht bestreiten, dass du von allen Hohen Zauberern am meisten gegen die Vereinigung bist. Und dass du schon immer bereit warst, Gewalt gegen die Zauberer des Turmes und die Abweichler im eigenen Orden einzusetzen.“
„Du hältst mich für den Verräter?“, hakte Dolor nach. „Das ist Unsinn!“
„Hast du auch Gründe, warum das Unsinn ist?“
„Du magst Souveränin sein, aber nur weil ich auch damals nicht der Oberste war. Ich hätte nicht zugelassen, dass eine Zauberin des Turms“, erneut spuckte er aus, „in dieses Amt kommt, und wenn sie noch so oft Dunkle Magie verwendet! Und ich brauche mich nicht vor einer Zauberin des Turms“, er spuckte aus, „zu rechtfertigen, soweit kommt´s noch. Ich bin es nicht, glaub´ es oder lass es bleiben!“
„Ich frage, weil mich ein Hoher Zauberer auf dich angesprochen hat. Er hatte den Verdacht, du könntest es sein.“
„Bestimmt ein Zauberer des Turmes!“ Dolor spuckte aus und Eara fragte sich, woher der ganze Speichel wohl kam. „Die hassen mich fast so sehr wie ich sie!“
„Tatsächlich war es ein Zauberer deines Ordens.“, merkte sie an.
„Das sollte mich wahrscheinlich auch nicht wundern. Weichlinge und Zauderer, allesamt! Die meisten behaupten, es gebe Zauberer des Turms“, erneutes Ausspucken, „die sympathisch seien oder mit denen man sogar vernünftig reden könne.“
„Auch ich war einst eine Zauberin des Turmes.“
„Ein eindeutiger Beweis für meine These!“
„Du beweist Mut. Nicht viele würden es wagen, so mit mir zu sprechen.“
„Ich sage, was ich denke und stehe dazu! Ich freue mich auf den Tag, an dem es jemandem gelingt, dich zu meucheln, aber bis dahin versuche ich persönlich, die Zauberer des Turms“, natürlich spuckte er wieder aus, „zu schwächen! Du wirst uns ohnehin nicht vereinigen können!“
„Du weißt aber, dass diese Verschwörer Verbrecher sind?“
„Alle Zauberer des Turms“, ein weiterer Spuckeklumpen trudelte zu Boden, „sind Verbrecher! Aber die Zauberer des Feuers sind nur deshalb Verbrecher, weil du sie so nennst. Eine Zauberin des Turms!“ Selbstverständlich spuckte er aus.
„Ein Mordversuch ist also kein Verbrechen?“
„Nur ein Zauberer des Turms“, diesmal benötigte er etwas länger, um die Spucke im Mund zu sammeln, „hat das versucht, die anderen haben dich lediglich kritisiert. Und das zurecht! Ist es jetzt schon ein Verbrechen, gegen dich zu sein?“
„Ich kann frei bestimmen, was ein Verbrechen ist!“, erwiderte Eara nachdenklich, fügte dann jedoch hinzu: „Aber eine Vereinigung der beiden Orden kann langfristig nur funktionieren, wenn sie nicht unter Zwang entsteht.“
„Also, kann ich gehen oder werde ich hingerichtet?“
„Du darfst dich entfernen!“
„Ja, unentschlossen wie üblich. Erst rufst du mich, dann lässt du mich wieder gehen, ohne etwas erreicht zu haben. Typisch Zauberer des Turms!“ Zehn! zählte Eara Dolors letztes Ausspucken stumm mit. Der verließ sie und hinterließ - neben einer kleinen Pfütze auf dem Boden - die Erkenntnis, dass er mit der Verschwörung tatsächlich nichts zu tun hatte. Er verabscheute die Zauberer des Turms viel zu sehr, um mit einigen von ihnen zusammenarbeiten zu können.


Morgendämmerung, 28. Herbsttag 76 A.Z.
Großer Hof in der Feste von Yra, Hadria

Mortol packte noch im Gehen die letzten Dinge in seine Tasche. Um seinen Hals hing ein Beutel, den er regelmäßig beäugte und von dem Eara vermutete, dass er das kostbare Aschenbaumharz enthielt. Sie traten hinaus in die morgendliche Kälte und machten sich auf den Weg nach Süden. Doch bevor sie die Feste von Yra verlassen konnten, stapften zwei Gestalten durch den knöchelhohen Neuschnee. Es waren Torven und Variah, die beiden Obersten.
„Wartet!“, rief Torven. Eara hielt an und auch Mortol geduldete sich, bis die beiden sie erreicht hatten. Wegen der Kälte stampfte er mit den Füßen auf und ging unruhig im Kreis.
Die beiden Obersten stellten sich vor ihr auf und sahen sie mit einem triumphierenden Blick an, der Eara nicht gefallen wollte. „Wir haben uns geeinigt!“, verkündete Variah stolz.
„Worauf geeinigt?“, hakte Eara nach, doch sie begriff es noch vor Torvens Antwort: „Auf einen neuen Souverän!“ Sie blinzelte. Welchen Fehler hatte sie gemacht? Was hatte sie übersehen? Ventor und Sarakal kamen nicht infrage und sie wusste niemand anderen, dem sowohl Torven als auch Variah ihre Zustimmung geben würde. Sialla und Mortol waren zu angreifbar, höchstens Koraph war noch bei beiden Orden beliebt, doch der war schon zu alt, um noch mächtige Zauber zu wirken, mittlerweile ein Anhänger von Earas Politik und hatte außerdem kein Interesse daran, Souverän zu werden.
„Wir haben uns auf Frysirr geeinigt.“, sagte Variah und ihre Augen funkelten listig. Eara war noch verwirrter. Niemand in der Versammlung hieß so, und ihr fiel auch sonst niemand passendes ein. Sie kannte nur einen Frysirr, doch den konnte Variah unmöglich meinen! Oder?
„Der Zauberer des Turmes? Der vor dreißig Jahren als Novize abschloss und seitdem noch immer nicht über den Rang eines einfachen niederen Zauberers hinausgekommen ist?“
„Ganz recht! Niemand behauptet, dass ein Souverän mächtig sein muss. Er beweist Geduld und Ausdauer!“, bestätigte Torven, was Mortol mit einem ungläubigen Keuchen quittierte, ehe Variah ihm ihren Stab in die Seite stieß.
„Das kann unmöglich euer ernst sein!“, sagte Eara kopfschüttelnd. „Wir sprechen tatsächlich vom selben Frysirr? Der vor zwanzig Sommern bunte Bänder in sein Haar flocht, um irgendwelche grünen Kobolde aus Hadria zu vertreiben?“
„Von Frysirr selbst abgesehen hat seitdem niemand mehr grüne Kobolde in Hadria gesehen.“, erwiderte Variah ohne mit der Wimper zu zucken.
„Der als Novize den Auftrag bekommen hat, einen Becher Schwefelsäure möglichst schnell zu entsorgen?“
„Er hat die Aufgabe schneller erledigt, als ich es geschafft hätte.“, antwortete Torven säuerlich.
„Er hat ihn ausgetrunken und musste danach für drei Monde ins Hospital.“, präzisierte Eara.
Torven nickte. „Gehorsam und Opferbereitschaft! Zwei äußerst wichtige Tugenden!“
„Gehorsam wohl insbesondere euch beiden gegenüber?“, vermutete Eara. Doch schon in dem Moment erkannte sie, dass das unmöglich das Ziel der Obersten sein konnte. Was in Frysirrs Kopf vorging, konnte niemand anderes verstehen, seine verqueren Gedanken waren von normalen Menschen weder nachzuvollziehen noch zu beeinflussen. Aber was wollten sie dann?
„Ihr seid von eurem Entschluss, Frysirr zu erwählen, wohl nicht mehr abzubringen?“ fragte Eara ohne wirkliche Hoffnung.
Zu ihrem Erstaunen wiegte Variah nachdenklich den Kopf und überlegte: „Nun, man kann über alles reden. Über die Wahl Frysirrs zum Souverän. Über das Machtgefälle von Souverän und Versammlung. Über die Vereinigung der beiden Orden …“ Torven nickte bedeutungsvoll.
Und Eara begriff endlich. Die Obersten wollten Frysirr nicht als Souverän, schließlich war auch ihre Absicht nicht, Hadria zu schaden. Sie wollten lediglich, dass Eara von ihren Plänen absah. Das war Erpressung! Doch die beiden hatten sich auf einen neuen Souverän geeinigt, nun sollten sie ihn bekommen!
„Oh nein.“, sagte Eara ruhig. „Ich respektiere die Meinung der Obersten. Ich habe Vollmachten, von denen ihr nur träumen könnt, aber zugleich bin ich eurem Willen untergeordnet. Wenn ihr als Repräsentanten der Orden der festen Überzeugung seid, dass Frysirr besser als Souverän geeignet wäre, dann möchte ich euch nicht im Wege stehen.“
„Soll das heißen, du gehst einfach? Du protestierst nicht gegen unsere Entscheidung? Du … versuchst nicht, einen Kompromiss zu finden?“, hakte Torven nach und plötzlich schien seine Stimme nicht mehr von Genugtuung, sondern von Unsicherheit geprägt.
„Aber sicher. Wer wäre ich, die Ansichten der Obersten zu ignorieren? Zumal ich Yra doch ohnehin verlassen muss! Es ist ja geradezu verantwortungslos, wenn niemand anderes die Führung übernimmt… Wenn ihr Frysirr wollt, dann werde ich euch nicht vom Gegenteil überzeugen. Lass uns gehen, Mortol.“
Sie drehte sich um und stapfte durch den hohen Schnee nach Süden, Mortol folgte ihr eilig. Halb erwartete Eara, die Obersten Frysirrs Wahl widerrufen zu hören, doch die beiden waren zu stur, um jetzt nachzugeben. Also waren sie schon bald hinter den Mauern Yras verschwunden.
„Warum habt Ihr nicht versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen?“, wollte Mortol wissen. Der Zauberer des Feuers tat sich deutlich schwerer als sie, sich einen Weg zu bahnen. Eara ignorierte seine Frage einfach und eine Weile herrschte Ruhe.
„Wo ist der Schlitten? Wartet er jenseits der Weißen Brücke?“
„Wir brauchen keinen Schlitten!“, antwortete Eara knapp. Erneut folgte kurzes Schweigen.
„Habt Ihr bereits Nachforschungen bezüglich Dolor angestellt, Souveränin?“
„Er ist es nicht.“
„Aber er ist fanatisch gegen die Vereinigung, er hat keine Skrupel, Zauberer des Turms …“
„Er ist es nicht!“, wiederholte Eara etwas schärfer. „Ich bin dir dankbar, dass du deinen Verdacht geäußert hast, aber ich kann dir versichern, dass er mit dieser Sache nichts zu tun hat.“
Eara trat auf die Kuppe eines Hügels und sah auf die Küste hinunter. In einiger Entfernung war die Weiße Brücke zu erkennen, doch vor ihnen in der Senke wirbelte ein waagrechter Strudel in der Luft. Dunkelblaue Schlieren drehten sich gemächlich und beschatteten den Schnee. In der Mitte, wo das Blau in ein tiefes Schwarz überging, erstrahlte ein kleiner weißer Punkt und kurz fühlte sich Eara an die Augen des Schwarzen Herolds erinnert, die in der Dunkelheit von Varkurs Grab weiß erstrahlt waren. Doch dieser Lichtpunkt war nur der Zugang, der durch das Portal führte. Die in Hadria allgegenwärtige Dunkle Magie aus der Unterwelt schuf diese Portale, und wenn man in eines trat, dann vermochte man an einem vollkommen anderen Ort, bei einem zweiten Durchgang, aufzutauchen.
Ohne zu zögern stellte sich Eara vor dem Portal auf und wartete ab, bis auch Mortol sich seinen Weg zu ihr gepflügt hatte. Dann griff sie seine Hand, um zu vermeiden, dass er zurückblieb, wenn sich das Portal hinter ihr schloss. Sie konzentrierte sich auf den Punkt, bis er anschwoll und das grelle Licht die Dunkelheit des Portals verschluckte. Entschlossen ließ sich Eara nach vorne fallen.
Im nächsten Moment lag das Portal verlassen da, nur noch die deutlichen Spuren im Schnee verrieten, dass vor kurzem noch zwei Personen hier gestanden hatten. Der blauschwarze Strudel wurde langsamer, die dunklen Schlieren bildeten keinen Kreis mehr, sondern zerfaserten. Dann lösten sie sich ganz auf.
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p – Mädchen-Ohne-Worte

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:09

p – Mädchen-Ohne-Worte

Morgendämmerung, 28. Herbsttag 76 A.Z.
Kaserne der Rietburg, Andor

Janis wurde vom Schrei eines Hahns geweckt und blinzelte in die Dunkelheit der Zweibettkammer. Dann versuchte er, wieder einzuschlafen, in der Hoffnung, etwas anderes zu träumen. Einen Ausweg im Schlaf zu finden, da er es im Wachen nicht vermochte.
Rodur machte seine Bemühungen zunichte. Mit einem Ruck riss er die Stoffvorhänge beiseite, und da das kleine Fenster nach Osten hin lag war der sichtbare Himmel in ein zartes Rosa getaucht, das jede Hoffnung auf Schlaf im Keim erstickte. Janis drehte sich erneut auf die Seite. Noch kurz der unbarmherzigen Wirklichkeit entfliehen. Der Wirklichkeit, in der er verraten musste, was er besaß, um zu erhalten, was er verloren hatte.
„Steh auf, du verpasst den schönen Morgen!“ Janis erkannte, dass es keinen Zweck mehr hatte, sich länger zu widersetzen. Widerstrebend setzte er sich auf und wünschte sich, er könnte einem gewissen Hahn den Hals umdrehen.
„Was soll an diesem Morgen schön sein?“, fragte er missmutig, im nächsten Moment jedoch verfluchte er sich, da ihn Rodurs fragender Blick traf. Janis wandte den Kopf zur Seite. Wie konnte er seinen Freund noch ansehen, nach dem, was er in der Nacht getan hatte? Wie konnte er ihn überhaupt noch Freund nennen? Er hatte einen Pakt mit dem Feind geschlossen, er hatte Rodur ebenso verraten wie alle anderen auf dieser Burg. Sie alle würden sterben, solange sie ihn in ihrer Mitte duldeten.
„Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du krank? Dieser Morgen ist doch wunderbar! In Krahd konnte man fast nie die Sonne sehen, nur diese stickigen grauen Wolken. Das hier… das ist toll!“ Janis antwortete nicht, doch Rodurs unerwünschte Anteilnahme trug nur dazu bei, sein schlechtes Gewissen zu vergrößern.
Janis! Das alles bin ich nicht wert, das muss dir doch klar sein. Du weißt, dass ich das nicht gewollt hätte, du weißt auch, dass es dich nicht glücklich machen wird. Wozu also das ganze?
Wenn es eine Möglichkeit gäbe, dich und Andor zu retten, ich würde sie mit Freuden ergreifen. Aber ich sehe sie nicht. Und deshalb muss ich abwägen, was mir wichtiger ist. Und ich wäre wohl ein schlechter Sohn, würde ich mich nicht für dich entscheiden.
Dann sei ein schlechter Sohn! Ich wollte nie einen guten Sohn, sondern einen guten Menschen aus dir machen.
Das weiß ich. Aber ich fürchte, ich kann kein guter Mensch sein, Mutter. Dazu liebe ich dich zu sehr.

„Ich weiß, was mit dir los ist! Du leidest unter Liebeskummer!“ Überrascht blickte Janis auf. Hatte er seine Gedanken laut ausgesprochen? „Ha, du müsstest dein Gesicht sehen! So was von ertappt! Es war aber eigentlich nicht so schwer zu erraten, nachdem du Sara die letzte Nacht ununterbrochen angestarrt hast.“
Fast hätte Janis laut aufgelacht. Nein, Rodur hatte keine Ahnung. Flüchtig überlegte Janis, ihn einzuweihen. Vielleicht wusste er einen Weg, wie er seine Mutter zurückholen könnte, ohne anderen zu schaden. Aber es gab keinen solchen Weg! Jetzt etwas zu sagen hieße nur, dass er seine Pläne vollends begraben konnte. Ein Eingeständnis seines Scheiterns, noch bevor er begonnen hatte. Janis würde seinen Weg alleine gehen müssen. Und er musste sich so verhalten müssen, als sei nichts geschehen, um kein Misstrauen zu erwecken.
„Unsinn!“, behauptete Janis. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Rodur grinste ihn an, doch Janis schüttelte energisch den Kopf. Ob er Sara wohl tatsächlich angestarrt hatte?


Früher Vormittag, 28. Herbsttag 76 A.Z.
Burghof der Rietburg, Andor

Im Burghof herrschte ein unerwartetes Gedränge. Dutzende Menschen waren hier, einige hatte Janis noch nie gesehen. Sie bearbeiteten Holz, das Janis als Ulme identifizierte, um daraus neue Häuser zu bauen.
Auf dem Platz stand auch Orfen, der die Bauarbeiten beaufsichtigte. Als er Janis erblickte, winkte er ihn näher. Er trottete zum Wolfskrieger und wurde von Rodur begleitet. „Sajin! Dein Vorschlag hat reiche Früchte getragen! Viele dieser Andori sind hier, weil sie ihr Land verteidigen wollen. Und das sind nur die, die noch in dieser Nacht davon erfahren haben.“
Janis blickte ob der Lautstärke des Statthalters beunruhigt über den Platz. Nomion sollte besser nicht erfahren, wessen Vorschlag die Bodenreform gewesen war „Statthalter!“, erwiderte er also leise „Ich halte es für besser, wenn Ihr den Vorschlag als Euren eigenen bezeichnet.“
„Wieso sollte ich? Ich habe es nicht nötig, mich mit fremden Federn zu schmücken. Ehre, wem Ehre gebührt!“
„Aber die Menschen müssen motiviert werden. Je mehr gute Vorschläge sie Euch zuschreiben, desto eher werden sie Euch bei der Verteidigung der Burg unterstützen, desto besser werden sie Euch folgen.“
„Ich habe sie lange Jahre vor den Kreaturen beschützt! Ich habe sie zusammen mit Prinzessin Chada durch das Gebirge geführt! Und das wissen sie! Ich wollte niemals Ruhm, aber sie werden mir auch so folgen. Sie sollen deine Verdienste auch als die deinen anerkennen. Wenn es denn Verdienste sind…“
Die letzte Ergänzung machte Janis nicht gerade Mut. „Was meint Ihr damit?“, fragte er eingeschüchtert.
„Nun ja, die Wahrheit zu sagen bringt viele zu uns, die Andor verteidigen wollen, und wir bieten den Mittellosen die Chance auf ein neues Leben. Aber zugleich häufen sich die Beschwerden der Wohlhabenderen, die um alles fürchten, was sie sich erarbeitet haben. Gestern Abend habe ich meine Ankündigung gemacht, und schon heute haben mich acht Beschwerden erreicht. Wenn die verärgerten Andori persönlich ankommen, dann wirst du dich ihrer annehmen, ist das klar? Für deine Erfolge wirst du gewürdigt und belohnt, aber du musst dich stets um alle Folgen deiner Ratschläge sorgen und die Verantwortung übernehmen.“
„Das werde ich!“, sagte Janis fest.
„Gut! Ach, und … äh … Radur?“
„Rodur!“, korrigierte der.
„Wie auch immer! Warguth hat nach dir verlangt, er hat gesagt, solange die Ausbildung noch nicht beginnt, kannst du ihm auch weiterhin dabei helfen, Schwerter zu schmieden.“
„Jawohl!“, rief Rodur und winkte Janis zum Abschied, bevor er zur Schmiede lief.
„Wann beginnen wir denn mit der Ausbildung, Statthalter?“
Der Wolfskrieger sah Janis nachdenklich an. „Tja, ich denke, es lohnt sich erst, wenn alle da sind, die auch gewillt sind, zu kämpfen. Das kann noch einige Tage dauern, aber da kommt schon einiges zusammen. Ich hoffe auf insgesamt vielleicht zweihundert Verteidiger.“
Janis erschrak. „Zweihundert nur? Wenn es eine ernsthafte Belagerung wird, dann wird das nicht reichen. Diese Burg ist zwar nicht allzu groß, aber die Armee, die naht, könnte es sein. Schon jetzt sind doch mehr als zweihundert auf oder vor der Burg.“
Orfen schüttelte mürrisch den Kopf. „Sicher, aber die meisten davon sind nicht zum Kämpfen hier, sondern um Zuflucht zu suchen. Wenn die größten Feinde Andors nahen, dann wollen sie nicht ungeschützt sein.“
Janis betrachtete die Menschenmenge. „Das geht nicht!“, murmelte er. „Wenn wir belagert werden, dann können wir unmöglich so viele Menschen versorgen, die nicht bereit zum Kämpfen sind!“
„Bisher hat es auch immer funktioniert!“, gab Orfen unwillig zurück.
„Aber bisher waren es auch keine Belagerungen, sondern fast immer nur kurze Versuche, die Burg zu stürmen. Wenn es dieses Mal anders wird, dann ist es fatal, so viele unnötige Esser hier zu haben!“
„Diese Menschen sind das Volk Andors und keine unnötigen Esser!“
„Aber wir können sie nicht versorgen, wenn wir uns hier verschanzen müssen. Ihr müsst ihnen mitteilen, dass sie im Rietland sicherer sind als hier auf der Burg, die garantiert angegriffen wird!“
Orfen verzog das Gesicht und Zorn funkelte in seinen schwarzen Augen. „Das wäre gelogen! Im Rietland sind sie ungeschützt, und die Kreaturen dürstet es immer nach Nahrung.“
„Im Einzelfall mag das stimmen, aber alle zusammen sorgen dafür, dass man bald nirgendwo in Andor mehr sicher sein wird. Mit so vielen“, er verkniff sich das Wort unnötig, „Menschen können wir die Burg nicht lange halten. Nicht, wenn sie nicht bereit sind, zu kämpfen. Wenn wir sie ins Rietland schicken, werden einige von ihnen sterben, aber wenn wir es nicht tun, dann wahrscheinlich alle.“
„Du verlangst, dass wir sie ins Rietland jagen? Dass wir sie preisgeben, um satt zu werden? Nicht, solange ich Statthalter bin! Ich wäge keine Menschenleben gegeneinander ab!“, brüllte Orfen und zog damit einige interessierte Blicke auf sich. Janis antwortete nicht, der Wolfskrieger hatte sich klar genug ausgedrückt. Es ist Irrsinn! Satte Krieger kämpfen besser! Niemandem ist geholfen, wenn wir hier drinnen verhungern! All das schoss ihm durch den Kopf, aber er wusste, dass er Orfen nicht umstimmen könnte. Er hatte es versucht, aber letztendlich wäre es auch nur ein Aufschub gewesen, denn er würde sie ohnehin alle verraten müssen. Janis brauchte ihnen nicht zu helfen. Sein Ratschlag hätte ihnen Zeit geschenkt, aber nicht das Leben.
„Wie ihr meint, Statthalter!“, sagte er schließlich kühl. „Übrigens, warum lassen wir Schwerter schmieden?“
Orfen glotzte ihn paralysiert an. „Vielleicht, weil eine Belagerung bevorsteht?“, fragte er mit offensichtlichem Zweifel an Janis´ Verstand.
„Haben wir nicht eine Vereinbarung mit den Schildzwergen? Ihr habt doch gestern mit ihnen gesprochen, ich denke, Ihr habt sie wohl um Hilfe gebeten?“, meinte Janis. Er ließ es wie eine Frage klingen.
„Das habe ich.“, bestätigte Orfen neugierig. „Und die Schildzwerge schicken einen kleinen Trupp, der uns helfen wird, unsere Truppen im Kampf auszubilden, diese Burg wieder in ihren alten Zustand zu versetzen und sie zu verteidigen.“
„Ihr solltet sie auch um Waffen bitten!“
„Aber schon jetzt waren sie sehr großzügig, ihre Hilfe …“
„Wird nicht reichen!“, unterbrach Janis den Statthalter und hoffte, nicht etwas zu vorlaut zu wirken. „Ihr hofft auf zweihundert Verteidiger? Schön, und wie viele Waffen besitzen wir? Und wie viele kann ein einzelner Schmied in kurzer Zeit anfertigen? Wir sind auf die Hilfe der Schildzwerge angewiesen.“
„Ihre Hände sind etwas kleiner als unsere.“, wandte Orfen ein.
„Besser mit einer unhandlichen Waffe kämpfen als mit gar keiner. Eine zwergische Waffe wird zu einem Menschen immer noch besser passen als ein zwergisches Kettenhemd. Rüstungen sollte Warguth anfertigen, nicht Waffen.“ Orfen nickte bedächtig, doch Janis war noch nicht fertig. „Wir brauchen auch die Hilfe der Bewahrer! In einer Belagerung werden uns Fernkampfwaffen vermutlich mehr helfen als Schwerter und Äxte. Wir benötigen Bögen, Munition und jemanden, der uns im Bogenschießen ausbildet!“
Orfen zögerte kurz. „Ich werde sie in einem Brief darum bitten!“, verkündete er schließlich. „Aber sag, wie kommst du auf so was, Sajin? Erst die Neuverteilung des Bodens, jetzt das hier… Wenn wir von deinem Vorschlag absehen, die Menschen von hier zu vertreiben, dann waren viele ordentliche Ideen dabei. Woher kommen die alle?“
Janis wusste, dass er seine Erkenntnisse auch seiner hervorragenden Erziehung verdankte. Seine Mutter hatte ihn gefordert, hatte ihm Denkaufgaben gestellt, hatte ihn darin trainiert, Schlüsse zu ziehen. Auch wenn ihre Rätsel häufig spielerisch gewesen waren, so hatten sie ihm doch das Denken beigebracht.
Was hat Arme und kann doch nicht winken, was hat ein Bett und kann doch nicht schlafen, was kann murmeln, obwohl es keine Stimme hat?
„Ich beobachte und ziehe meine Schlüsse daraus. Das tut jeder. Und jeder kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wenn alle ihre so mit Euch teilen würden wie ich, dann hätten wir sicher noch mehr gute Ideen.“, antwortete Janis schließlich bescheiden. Dass er seine Schlüsse schneller und besser zog als die meisten anderen, erwähnte er nicht.

Den restlichen Tag über half Janis dabei, die ersten Hütten wieder aufzubauen. Das Ulmenholz tat seinen Dienst und am Nachmittag waren viele der verkohlten Balken durch neue ersetzt worden. Rodur war die ganze Zeit in der Schmiede beschäftigt gewesen, also aß Janis sein Brot abends alleine, den Rücken an den Kronenturm gelehnt und die emsigen Andori beobachtend.
Da trat ein kleiner Mann zu ihm. Er hatte dunkelbraunes, fettiges Haar und eng stehende kleine Augen, die Janis auf Anhieb unsympathisch waren.
„Janis, nehme ich an?“, fragte der Fremde. Automatisch nickte Janis, bis ihm auffiel, dass ihn hier alle als Sajin kannten. Der Fremde lächelte spöttisch und entblößte dabei einige schiefe Zähne. „Gehen wir ein Stück!“, sagte er mit einem Blick auf die Bauarbeiten. Ohne abzuwarten schlug er den Weg zum Eingang in den Turm ein und Janis folgte ihm vorsichtig.
„Wer seid Ihr?“, fragte er misstrauisch. Der andere antwortete nicht und stieg die Wendeltreppe empor. Janis folgte ihm, während er überlegte, ob er die Frage stellen sollte, die ihm auf der Zunge lag.
Der Mann öffnete die Klappe im Boden und winkte Janis herauf. Dann ging er zur Brüstung und blickte über die Zinnen nach unten. Janis trat neben ihn und betrachtete die vielen Menschen im Hof. Der Wind pfiff um seine Nase, und auch wenn über seinem Kopf ein rietgedecktes Dach war fühlte er sich wie inmitten des Himmels. Der Boden war viele Schritt entfernt, einen Sturz würde er niemals überleben. Vorsichtig entfernte er sich ein Stück von der Mauer, wer wusste schon, wie stabil die Zinnen nach all der Zeit noch waren. „Diese Burg ist ein schönes Gebäude.“, sagte der Mann. „Zu schade, dass sie nicht mehr lange bestehen wird.“
„Wie heißt Ihr?“
„Darbo. Und du nennst dich Sajin, ja? Bei uns in Krahd wäre das ein Frauenname gewesen. Warum bist du nicht bei dem Namen geblieben, den Nomion mir genannt hat?“ Janis holte tief Luft. Ich habe einen weiteren Verräter eingeschleust, er wird sich bald mit dir in Verbindung setzen. Er war es also tatsächlich. „Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um zu kapieren, dass es tatsächlich um dich ging, Janis.“, fuhr Darbo fort. „Du hast deine Rolle sehr überzeugend gespielt. Auch vorhin… War es wirklich nötig, diesem unfähigen Statthalter gute Vorschläge zu machen? Oder wusstest du, dass der Trottel die Menschen nicht wegschicken würde?“
Janis verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß, was ich tue. Also, weshalb sind wir hier?“
Darbo grinste wieder, aber seine Augen erreichte das Lächeln nicht. „Du kommst schnell zur Sache, was? Das gefällt mir. Nomion hat mir Anweisungen gegeben, die ich auch an dich weitergeben soll. Wir müssen etwas herausfinden: Hat Orfen die Rietgraskrone? Hat er sie hier? Wenn ja sollen wir sie stehlen, wenn nein, dann logischerweise nicht.“ Er wartete auf eine Antwort, doch Janis nickte nur. Auch Darbo nickte. „Außerdem sollen wir ein Haar des Wolfskriegers stehlen und ihm überbringen.“
„Noch etwas?“
„Vorerst nicht. Die Krone habe ich beim Statthalter bisher nicht gesehen, wenn, dann bewahrt er sie also irgendwo auf, wo nicht alle hinkommen. Ein Haar sollte aber auf jeden Fall möglich sein.“
Janis nickte erneut und drehte sich um, doch Darbo hielt ihn unangenehm fest zurück. „Warte kurz, Junge! Wir müssen noch die Regeln besprechen!“
„Welche Regeln?“
„Es sieht so aus, als hättest du bereits etwas gut bei unserem Auftraggeber. Aber glaub deswegen nicht, dass du bestimmen kannst, was passiert. Ich bin älter als du, also sage ich, wie wir vorgehen. Ich übergebe Nomion das Haar und die Krone. Sei unbesorgt, deinen Anteil werde ich nicht verschweigen. Aber glaub ja nicht, dass ich mir von irgend so einem Gör wie dir meine Belohnung nehmen lasse.“
„Ich dachte, jeder versucht für sich, Nomions Aufgaben zu erfüllen.“
„Auf das Risiko hin, dass du alles alleine machst und ich plötzlich überflüssig bin? Nein danke! Und andersrum gilt das gleiche! Wenn wir zusammenarbeiten, dann profitieren wir beide davon, das ist insbesondere für dich deutlich angenehmer, als wenn wir Konkurrenten sind. Ich nehme an, du willst das gleiche vom Ewigen Rat wie ich?“
Janis schüttelte den Kopf. „Vermutlich nicht, es sei denn, Ihr möchtet auch Eure Mutter von den Toten auferstehen lassen.“
Darbo brach in ein verächtliches Gelächter aus. „Wie süß! Nein, meine Mutter ist vor vielen Jahren gestorben, und ich habe nicht vor, sie zurückzuholen, vor allem dann nicht, wenn ich dafür auf meinen Preis verzichten müsste. Ich möchte ewiges Leben. Alle müssen sterben? Nicht mit mir! Ich gebe Nomion die Rietburg und bekomme dafür seine Gunst.“
Janis war kurz davor, auszuspucken. „Du lässt also alle hier sterben, nur um selbst länger leben zu können? Du verrätst diejenigen, die dich aus Krahd befreit haben? Ist das deine Dankbarkeit?“
Darbo kniff die Augen zusammen. „Du willst das Leben deiner Mutter, ich will meines! Wo ist der Unterschied? Glaub mir, irgendwann wirst du bereuen, nicht die gleiche Belohnung wie ich eingefordert zu haben. Sicher, du wurdest nicht aus Krahd befreit, sondern hast wahrscheinlich schon seit deiner Geburt in diesem netten Ländchen gelebt, aber ist es etwa meine Schuld, dass ich dort geboren wurde? Ich bin den Andori wirklich dankbar, aber meine Dankbarkeit hat auch Grenzen! Ich bin ein fortschrittlicher Mensch. Was vergangen ist, ist vergangen. Das einzige, was zählt, ist die Zukunft! Die Krahder haben mich versklavt und misshandelt, dennoch gehorche ich einem von ihnen. Weil ich weiß, dass es gut für mich ist. Ich denke nur pragmatisch.“ Er seufzte. „Ist ja auch egal. Also, willst für oder gegen mich arbeiten, Janis? Komm schon, schlag ein und wir überlegen, wie wir weiter vorgehen, um Nomions Aufgaben zu erfüllen und diese Burg möglichst einfach dem Untergang zu weihen.“
Darbo streckte seine Hand aus und fixierte Janis aufmerksam. Der hob langsam seinen Arm und griff die Hand des anderen. Darbo lächelte und Janis konnte ihm ansehen, wie klug er sich fühlte. Das Lächeln verschwand erst aus seinem Gesicht, als Janis die Hand plötzlich verdrehte und dabei einen Schritt auf Darbo zu machte. Der Verräter kam ins Wanken und Janis nutzte die Gelegenheit, um ihn über die Mauer zu stoßen. Dann ließ er los. Darbo war deutlich schwerer als er aussah, beinahe hätte Janis sich am Ende noch verschätzt. Aber so trug das Gewicht nicht eben dazu bei, Darbos Sturz abzumildern. Janis hörte nur einen kurzen Schrei, der abrupt abbrach. Er hielt es nicht für nötig, sich die Reste anzusehen.
Noch nie hatte Janis einen anderen Menschen getötet, zumindest nicht direkt. Er erwartete das schlechte Gewissen, aber es stellte sich nicht ein. Er hatte kein Mitleid mit Darbo. Innerlich war er vollkommen ausgewogen, das einzige Gefühl, das ihn jetzt durchströmte, war eines von … Macht. Interessant, wie viel eine kleine Handbewegung ausmachen konnte. Mit ihr entschied man über das Leben anderer. Wie ungemein faszinierend.
„Eines hast du nicht verstanden, Darbo.“, sagte Janis in das Heulen des Windes hinein. „Es kann nicht unsere Aufgabe sein, Nomion das Erobern der Rietburg so einfach wie möglich zu machen. Im Gegenteil, wir müssen seine Aufgabe erschweren. Nur dann sind wir wirklich unentbehrlich für ihn. Und wir können nur dann unentbehrlich sein, wenn niemand anderes die eigene Aufgabe erfüllen kann. Früher oder später musste einer von uns gehen.“ Er betrat die Wendeltreppe und schlug die Falltür hinter sich zu.


Abenddämmerung, 28. Herbsttag 76 A.Z.
Große Halle der Rietburg, Andor

Die große Halle mit dem Thron am Kopfende lag fast verlassen da, doch ganz wie er es sich erhofft hatte, war Sara anwesend. Janis hatte sie noch nie außerhalb dieses Ortes angetroffen, sie schien hier zu wohnen. Jetzt, wo sie sich auf seine Liste hatte eintragen lassen, würde sie aber wohl bald in die Kaserne umziehen, der Statthalter wollte alle Krieger und Rekruten dort unterbringen.
Sie saß an einem der Tische, den Kopf auf die Arme gelegt, wenn ihre Augen nicht geöffnet gewesen wären hätte Janis sie für schlafend gehalten. Aber ihre Augen waren geöffnet und offenbarten zwei Iriden in einem traurigen Dunkelblau. Janis war sich allerdings noch immer nicht sicher, welche Farbe Saras Augen tatsächlich hatten.
Als sie sie Schritte hörte, blickte Sara auf und lächelte müde, bevor sie ihren Kopf wieder auf ihre Arme legte. Kurz zögerte Janis. Er wusste nicht viel über sie, aber Sara war oft in Orfens Gegenwart, sie könnte ihm am ehesten helfen, mehr über die Krone zu erfahren und in den Besitz eines von Orfens Haaren zu gelangen. Janis versuchte, den bevorstehenden Verrat aus seinem Bewusstsein zu verbannen, eine Taktik, die auch bei Rodur funktioniert hatte. Solange er nicht an seinen Pakt mit Nomion dachte, gelang es ihm einigermaßen, sich natürlich zu verhalten.
„Hallo!“, sagte Janis vorsichtig, was Sara mit einem leichten Zucken der linken Hand quittierte. „Kann ich mich setzen?“ Ein leichtes Kopfrucken war die Antwort, was sowohl ein Ja als auch ein Nein hätte sein können. Janis wertete es als Ja. Er setzte sich.
„Du siehst müde aus.“ Jetzt erst reagierte Sara wirklich. Sie setzte sich gerade hin und hob ihren Kopf, dann fuchtelte sie mit ihren Händen wild durch die Luft. Janis versuchte, den verwirrenden Bewegungen zu folgen, aber er konnte kein Muster erkennen. „T… tut mir leid. Ich bin mir nicht sicher…“ Er brach ab, als sie leicht zu lächeln begann. Dann zeigte sie auf sich, auf Janis und machte dann eine große Armbewegung, mit der sie alles um sich einschloss. Janis blickte sie verwirrt an, sodass Sara ihre Bewegungen wiederholte. Schließlich tat sie so, als würde sie etwas abschrubben. „Oh, ja, klar, es war auch ein langer Abend. Unglaublich, wie viel Dreck an ein paar Schuhen kleben kann.“ Sie schüttelte den Kopf und zeigte auf Janis eigene Füße. Von ihnen führte eine deutlich sichtbare Erdspur zum Eingang. Janis spürte, dass er schon wieder rot wurde. „Verdammt, ich lerne es einfach nie! Beim nächsten mal mache ich meine Füße vorher sauber, versprochen. Ich kann das auch jetzt wegmachen. Also, nur wenn du willst, natürlich.“ Sara schüttelte entschieden den Kopf und Janis, der sich schon halb erhoben hatte, sackte wieder auf die Bank zurück. „Sicher, ich … lasse meinen ganzen Dreck da, wo er ist. Gar kein Problem!“
Sara formte mit ihren Händen eine Schale und führte sie an den Mund. „Du hast Durst?“ Sie verdrehte die Augen und Janis bemerkte, dass sie mittlerweile irgendwo zwischen blau und violett schwankten. Mit einem Arm ahmte Sara Wellenbewegungen nach und zeigte dann auf den Boden. Janis blickte nach unten, erkannte allerdings nichts. Sara trat leicht nach ihm, was ihn dazu veranlasste wieder aufzuschauen. Er verzog das Gesicht und rieb sich das eigentlich überhaupt nicht schmerzende Schienbein. Sara blies ihre Backen auf und riss die Augen weit auf, und Janis erkannte, dass sie einen Fisch imitierte. „Schon gut, ich denke mal, es hat etwas mit Wasser zu tun. Hm, vielleicht fehlt das Wasser zum Saubermachen?“
Im Burghof der Rietburg stand ein kleiner Brunnen, aber das Reservoir, aus dem er sich bediente, erschöpfte schnell, mehr als wenige Kübel Wasser konnte man pro Tag nicht herausholen. Ein weiterer Brunnen stand südwestlich der Burg, doch der Weg dorthin dauerte fast eine Stunde und der Rückweg wegen des Wassers noch etwas länger, aus diesem Grund gingen alle hier sparsam mit der Flüssigkeit um. Aber manchmal reichte es dennoch nicht …
Sara fuhr erneut mit ihren Händen durch die Luft und Janis stöhnte gespielt auf. „Das macht dir Spaß, oder? Mir irgendwelche Rätsel zu stellen?“ Sie nickte und klatschte in die Hände. Janis sprang auf. „Ich glaube, ich weiß etwas, was dir gefallen könnte!“, rief er. „Ich bin gleich wieder da!“ Mit diesen Worten huschte er aus dem Thronsaal, stets darauf bedacht, nur in seine eigenen Fußstapfen zu treten.

Sechzehn Steine hatte Janis schnell aufgelesen. Am Eingang des Thronsaals klopfte er demonstrativ seine einfachen Lederschuhe ab, ehe er eintrat. Sara hatte sich nicht bewegt und starrte neugierig auf die Kiesel in seiner Hand. Janis setzte sich auf seinen alten Platz und legte die Steine zwischen sich und Sara auf den Tisch. Dann ordnete er sie in vier Reihen, eine mit einem, eine mit drei, eine mit fünf und eine mit sieben Steinen. Er erklärte das Nimm-Spiel ebenso kurz wie Rodur es ihm erklärt hatte. Dann nahm er zwei der Steine aus der letzten Reihe. „Denk daran: Nur Steine aus einer Reihe nehmen. Und wer den letzten nimmt, hat verloren.“ Sie nickte geistesabwesend. „Du bist …“, begann Janis, doch ihre Hand schoss blitzschnell nach oben und drückte sich ihm auf den Mund. Es wirkte so, als habe ihr Arm sich von alleine bewegt, Sara selbst schaute noch immer auf das Spielbrett, nur ihre – inzwischen violetten – Augen huschten hin und her. Janis wartete ab und überlegte, wie lange sie ihre Hand wohl noch in der Luft halten wollte.
Letztendlich vergingen etwa hundert Herzschläge, bis Sara ihre Hand wieder senkte. Sie lächelte breit, zeigte dann auf sich sowie gen Himmel und nickte. „Ja, genau, du bist dran.“ Sie verdrehte gequält die Augen. Dann zeigte sie erneut auf sich, warf ihre Arme nach oben und wedelte mit ihren Händen durch die Luft. Janis glotzte nur verständnislos. Sara hielt inne und schien zu überlegen, wie sie ihre Gedanken am besten mitteilen konnte. Schließlich zeigte sie auf das Spielfeld, dann auf sich und dann nach oben, anschließend auf Janis und zu Boden.
„Du … willst gewinnen?“, vermutete Janis. Sara lächelte und zeigte erneut auf sich selbst und nach oben. Dann nahm sie aus der Reihe mit den drei Steinen zwei weg. Janis hatte jetzt noch je zweimal einen und fünf Steine vor sich liegen. Er nahm einen Stein aus einer der Fünferreihen und Sara nahm ohne zu zögern einen Stein aus der anderen. Janis runzelte die Stirn. Warum hatte sie vor ihrem ersten Zug ewig überlegt und jetzt gar nicht mehr? Er entfernte zwei weitere Steine, Sara sofort ebenfalls, wieder aus der anderen Reihe. Machte sie ihn einfach nach? Wenn ja, dann würde er gewinnen! Er nahm noch einen Stein aus einer der beiden Zweierreihen, Sara entfernte die andere komplett. Drei einzelne Steine lagen vor Janis. Er konnte gar nicht mehr gewinnen, jeder würde noch einen Stein nehmen und der letzte bliebe für Janis übrig. Verblüfft schaute er Sara an. „Du hast gewonnen! Ich nehme einen Stein, du ...“ Da sie wieder die Augen verdrehte, brach Janis ab. Sara zeigte erst auf sich und dann nach oben. „Stimmt, du hast gewonnen! Anfängerglück!“ Sara kniff ihre Augen zusammen und Janis stellte fest, dass sie plötzlich eisgrau wirkten. Sie schüttelte entschieden den Kopf und diesmal wusste Janis sofort, was sie meinte. „Natürlich war das Glück! Was denn sonst?“ Saras Hände zuckten über den Tisch und bauten das Spiel so schnell auf, dass Janis ihren Bewegungen nicht folgen konnte. Dann blickte sie ihn herausfordernd an.
Um sicherzugehen nahm Janis dieses Mal nicht zwei, sondern drei Steine aus der längsten Reihe. Sara lächelte und zeigte auf sich und dann nach oben. „Du denkst, du gewinnst wieder?“, fragte Janis, von ihrer Siegesgewissheit etwas eingeschüchtert. Sie nickte entschieden und nahm die Reihe aus drei Steinen vollständig. Er ging die möglichen Ausgänge durch, zögerte kurz und entfernte dann die kleinste Reihe aus einem Stein, in der Hoffnung, sie möge einen Fehler machen. Sie machte keinen.
Sie spielten noch fünfmal. Janis fing jedes Mal an. Nach jedem ersten Zug deutete Sara auf sich und nach oben. Sie gewann jedes einzelne Spiel.
Sie hatte gerade erneut aufgebaut, als Rodur den Thronsaal betrat. „Hier bist du also! Sollte mich wahrscheinlich nicht allzu sehr überraschen.“ Er zwinkerte Janis zu, was ihnen beiden einen verwirrten Blick Saras einbrachte.
„Hast du ihr das Nimm-Spiel beigebracht?“, fragte Janis seinen Freund.
„Nein. Aber du anscheinend.“, gab Rodur erstaunt zurück.
„Ich habe jetzt sieben Spiele mit ihr gespielt und sie hat jedes einzelne gewonnen!“ Dann wandte er sich direkt an Sara: „Woher kennst du es dann?“ Sie schüttelte kurz den Kopf und tippte ihm auf die Brust. „Von mir? Ich habe es dir doch eben erst erklärt. Du spielst viel zu gut dafür!“
Sie lächelte und hielt ihre Hände gestreckt vor ihren Bauch, die Fingerspitzen nach oben, die Daumen zu ihr hin gerichtet. Dann klappte sie die Hände kurz vor, bis sie orthogonal zu ihrem Bauch waren, und wieder zurück. Janis blinzelte ahnungslos, doch Rodur rief: „Ich glaube, das war ein Danke.“ Sara nickte begeistert.
„Was hat dieses Zeichen denn mit einem Danke zu tun?“
„Na ja, es wirkt ein bisschen wie eine - ich weiß nicht - verkrüppelte Verbeugung? Ehrlich gesagt habe ich geraten.“
Janis musste kurz überlegen. „Das sollte kein Kompliment sein.“
„Aber wenn sie es tatsächlich erst gerade eben von dir gelernt hat…“
„Sie hat mich siebenmal in Folge geschlagen! Wie soll sie das gemacht haben? Oder denkst du, ich hatte Pech?“
„Ich denke, du hast schlecht gespielt.“, antwortete Rodur grinsend. Sara schüttelte den Kopf und deutete mit einem selbstgefälligen Lächeln auf sich selbst. Dann winkte sie Rodur vor sich und deutete auf die Steine auf dem Tisch. Er verstand die Aufforderung und nahm achtlos zwei Steine aus der Fünferreihe. Sara deutete daraufhin auf sich und nach oben.
„Das bedeutete, sie hat gewonnen.“, erklärte Janis bereitwillig, während sie aus der letzten Reihe sechs Steine nahm. Während Rodur noch überlegte erkannte Janis bereits, dass sein Freund tatsächlich verloren hatte.
Als Rodur den letzten Stein nahm, zeigte Sara mit ihrem Daumen nach oben, anschließend mit ihrem Zeigefinger nach unten. „Ja, du hast gewonnen und ich verloren. Gut gemacht!“, antwortete Rodur missmutig.
Sie streckte ihren nach oben gerichteten Daumen aus und öffnete dann der Reihe nach auch die anderen vier Finger, anschließend zeigte sie erneut nur den Daumen. „Ich glaube, das steht für eine Zahl. Für die Eins.“, vermutete Janis. Sara nickte und deutete wieder nach unten. „Einer verliert? Na ja, es können schlecht beide das letzte Steinchen nehmen.“
Sara schüttelte entnervt den Kopf und streckte dann Daumen und Zeigefinger aus, ehe sie nach oben zeigte. „Es können nicht beide gewinnen!“, sagte Rodur, wegen seiner Niederlage gegen jemanden, der das Spiel vor kurzer Zeit erst erlernt hatte, noch immer verärgert.
„Ich glaube, sie meint, dass der verliert, der anfängt.“, berichtigte Janis, was ihm ein bestätigendes Lächeln Saras bescherte.
Rodur sah verdutzt auf. „Unsinn! Ich habe das früher oft gespielt, mal gewann der eine, mal der andere. Meistens eher der andere…“, ergänzte er etwas niedergeschlagen.
Sara formte mit ihren Händen seltsame verschlungene Figuren, die Janis nicht verstand. Er sah ihr an, dass sie sich bemühte, ihre Hände besonders langsam zu bewegen, aber selbst jetzt noch glichen sie eher einem Windhauch als fester Materie. „Tut mir leid, aber das ist zu viel auf einmal. Zeig uns doch lieber ein Zeichen nach dem anderen.“ So kam es, dass Sara die beiden in ihrer lautlosen Sprache lehrte.


Mondhoch, 29. Herbsttag 76 A.Z.
Kaserne der Rietburg, Andor

„Sei gegrüßt, mein Diener!“ Wie auch in der letzten Nacht hörte Janis die unverständlichen Laute und erkannte dennoch den Sinn dahinter. Er stand wieder neben seiner alten Hütte, der Krahder erneut vor ihm. Er wusste nicht, wann er eingeschlafen oder wie er in den Traum gelangt war, aber andererseits … wusste man das in Träumen jemals?
„Was ist, Nomion?“
„Hast du meine Aufträge vernommen? Oder ist mein zweiter Verräter noch vorher in den Tod gestürzt?“
„Er hat alles ausgerichtet. Hat er zumindest behauptet. Ich hoffe, ich habe über den Wind alles richtig verstanden. Wozu brauchst du die Krone?“
„Das braucht dich nicht zu interessieren!“, fauchte Nomion.
„Du weißt es selbst nicht, oder? Du bezeichnest mich als Diener, aber du selbst bist auch nicht mehr! Der einst so stolze Nomion, der erste Krahder, handelt nun im Auftrag eines kleinen rachsüchtigen Geistes. Wie schmeckt dir das?“, höhnte Janis.
„Sei still! Wenn ich ein Diener bin, dann bist du der Untertan eines Dieners! Doch du lenkst nur ab! Du sagtest, Darbo habe gegen den Wind reden müssen. Er war also an einem Ort, an dem es windig war. Womöglich der Turm, von dem er gestürzt ist? Zufälligerweise direkt nachdem er meine Befehle ausgerichtet hatte?“
Janis blieb äußerlich gelassen, aber innerlich tobte er. Er war ein verdammter Narr! Wieso hatte er nicht besser auf seine Worte geachtet? „Er wollte, dass ich ihm helfe anstatt mir selbst. Das hat mir nicht gefallen.“
„Also hast du ihn ermordet? Er hat den Turm durch dein Zutun auf eine eher … ungesunde Art verlassen?“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Aber auch nicht bestritten!“ Janis schwieg. Nomion schüttelte seinen grauen Kopf und seine hellgelben Augen glühten bedrohlich. „Sei vorsichtig, mit wem du dich anlegst. Darbo war nur ein unbedeutender Diener, der sich leicht ersetzen lässt. Aber er war mein Diener! Mache dir klar, wem du zu gehorchen hast!“
Janis nickte. „Dem Schwarzen Herold, nur er kann meine Mutter zurückholen und er steht in der Hierarchie des Ewigen Rates über dir.“
Nomions Hand griff den gigantischen Knochenstab so fest, dass er knackte. Janis fragte sich, ob er ihn auch in der realen Welt hielt, um ihn hier im Traum besuchen zu können. „Eines solltest du dir klar machen: Deine Mutter war nicht irgendwer, sie war einer der Feinde des Schwarzen Herolds! Und er hat nicht gerade die Angewohnheit, seinen Feinden gegenüber besonders gnädig zu sein. Wenn er erfährt, wer sie ist, dann wird er sie auch für dich nicht zurückholen!“ Janis erschrak. Bisher war er davon ausgegangen, dass der Herold sich nur an den vier Fürsten von Andor und dem Wolfskrieger Orfen rächen wollte, aber was, wenn das nicht stimmte? „Du solltest also aufpassen, was du tust.“, fuhr Nomion fort. „Mir musst du gehorchen, wenn der Schwarze Herold nichts von ihrer Identität erfahren soll! Falls seine Befehle den meinen irgendwann widersprechen sollten, musst du wissen, wem deine Loyalität gebührt. Ich rate dir, den Richtigen zu wählen! Darbos Tod werte ich als Unfall und seine eigene Schuld, denn er hat dich unterschätzt. Aber du solltest in Zukunft achtgeben, nicht mich zu unterschätzen.“
Dieses Mal verwandelte sich die Traumwelt nicht in ein Meer aus Flammen, sondern löste sich in diffusen grauen Nebel auf, der schon bald durch gnädigen, stummen Schlaf ersetzt wurde.

Die nächsten Tage vergingen stets gleich. Immer neue Andori strömten aus dem Rietland, Armond und die anderen Krieger standen ununterbrochen am Tor und winkten einen nach dem anderen ein. Die meisten wollten nur Schutz suchen, aber es waren auch viele dabei, die bereit waren, für Andor zu kämpfen. Janis kam die Aufgabe zu, sie in die Liste einzutragen. Ansonsten half er dabei, die Gebäude auf der Rietburg wieder zu errichten und mit der Zeit konnten immer mehr Menschen aus den provisorischen Zelten in feste Häuser umziehen.
Jeden Abend zeigte Sara Janis und Rodur einzelne Bewegungen und versuchte anschließend, ihre Bedeutung pantomimisch darzustellen. Janis erkannte schnell, dass sie für die reine Sprache auf Mimik weitestgehend verzichtete und sich nur über Gesten verständigte, selbst Ja und Nein waren jeweils eine nach vorne gestreckte linke Hand, die ein Nicken und Kopfschütteln nachahmten. Dennoch bildeten die Gebärden mehr als nur einige Vokabeln, die in ihrer Grundform aneinandergereiht wurden. Eine fremdartige Grammatik entstand über Position, Neigung und Bewegungsrichtung der einzelnen Gesten. Besitzansprüche oder zeitliche Zusammenhänge etwa wurden über den Abstand der einzelnen Gebärden dargestellt – direkt an der Brust war das Beschriebene in der Vergangenheit einzuordnen, mit ausgestreckten Armen bezog es sich auf die Zukunft. Und ob die rechte oder linke Hand näher am Sprechenden war, entschied darüber, ob auf ein oder mehrere Gegenstände oder Personen Bezug genommen wurde. Zusätzlich erschwert wurde die Zeichensprache durch ihre schier unendliche Fülle aus unterschiedlichen Gebärden, für deren Bedeutung es teilweise keine Entsprechung in der Gemeinen Sprache gab.
Viele der Worte waren naheliegend gewählt, etwa das Zeichen für Liebe, ein aus zwei Händen gebildetes Herz. Andere erschlossen sich erst, wenn man bereits einige Worte kannte. Hass beispielsweise war das gleiche Zeichen wie Liebe, nur dass die Hände andersherum gehalten wurden, die Spitze des Herzens zeigte also nach oben. Von alleine käme niemand darauf, aber wenn man Liebe schon kannte, dann war es naheliegend, das Gegenteil davon einfach andersherum darzustellen. Der Grund für andere Gesten, wie zum Beispiel die für Danke beziehungsweise Dankbarkeit, erschlossen sich Janis nicht.
Je mehr Worte er lernte, desto mehr begriff Janis, wie vorsichtig er sein musste, um die Zeichen richtig zu bilden. Oft war es nur ein kleiner Unterschied, der die Bedeutung veränderte. Zwei nach vorne gehaltene Hände, die Seiten schräg aneinandergelegt, bedeutete Lesen. Wenn man dagegen einen schmalen Spalt zwischen den Händen ließ, dann war es ein Buch, wenn man die Hände angewinkelt zum Boden hielt hieß es Lernen, hielt man sie gerade und mit Abstand dazwischen vor sich, dann war die Bedeutung – aus für Janis unerfindlichen Gründen – Schöner Traum.
Sara war eine gute Lehrerin und eine noch bessere Pantomimin, so lernten Janis und Rodur mit jedem Tag immer neue Worte. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass Rodur sich deutlich schwerer damit tat, die ungewohnte Sprache zu lernen. Es gelang ihm noch recht gut, das Gezeigte zu verstehen, aber wenn er selbst etwas formulieren sollte, dann versagte seine Erinnerung. Janis dagegen gelang das mühelos, die „Worte“, die er einmal gelernt hatte, konnte er in Zukunft verwenden. Er gelangte nicht zu derselben Geschwindigkeit wie Sara, aber es war ihm schon bald möglich, ein stummes Gespräch mit ihr zu führen. Meistens jedoch verwendete er, ebenso wie Rodur, die gesprochene Sprache, sie war mindestens genau so schnell, weniger missverständlich und ermöglichte dem Gesprächspartner einen gleichzeitigen Blick auf die eigene Mimik.
Janis bedauerte oft, dass er Saras Gesicht während der Gespräche nicht sehen oder sich zumindest nicht darauf konzentrieren konnte. Sie hatte ein hübsches Gesicht, aber darum ging es ihm nicht. Nach einiger Zeit hatte er begriffen, was es mit ihren hypnotischen Augen auf sich hatte. Deren Farbe war abhängig von ihrem Gemüt: Je glücklicher Sara war, desto violetter wirkten sie, war Sara zornig, wechselten sie in ein kaltes Grau, war sie traurig – und sie war viel zu oft traurig – dann nahmen sie einen dunkelblauen Farbton an. Ihre Iriden waren ein guter Indikator ihrer Stimmung, und anhand feinster Farbänderungen war es möglich, zu erkennen, wie sie innerlich auf eine bestimmte Bemerkung reagierte, auch wenn ihr Gesicht ansonsten vollständig unbewegt blieb. Aber wenn er sich auf ihre Augen konzentrierte, dann verpasste er die Bewegungen ihrer Hände. Außerdem erntete er jedes Mal ein kaum verhohlenes Lächeln von Rodur. Und gelegentlich konnte er sich nicht mehr von dem Anblick lösen, versank in dem faszinierenden Farbenspiel aus bläulichen Schattierungen und unterschiedlichen Nuancen.


Abenddämmerung, 36. Herbsttag 76 A.Z.
Dachgeschoss im Kronenturm der Rietburg, Andor

Eines Abends, acht Tage nach der ersten Zeichenstunde, hielt Janis den Zeitpunkt für gekommen, um endlich mehr über Sara herauszufinden. Woher sie kam, wann sie ihre Zunge verloren hatte und was sie mit dem Statthalter verband, das wusste er noch nicht, bisher war sie Fragen nach ihrer Vergangenheit immer ausgewichen.
Gegen Mittag war Janis in Orfens Kammer gerufen worden. „Morgen besuchen die einflussreichsten Vertreter der andorischen Bauern die Rietburg, und du wirst mit ihnen über die Bodenreform sprechen. Es war deine Idee und sie hat uns viele Verteidiger eingebracht. Aber auch viel Kritik …“, hatte der Statthalter griesgrämig erklärt.
„Die einflussreichsten Bauern sind auch die mit dem größten Land. Sie werden die schärfsten Gegner der Idee sein!“, hatte Janis protestiert, ohne sich sein Erstaunen über diesen Vertrauensbeweis anmerken zu lassen.
„Andor ist auf ihre baldige Ernte angewiesen, wir können unsere Vorräte nicht auf Dauer von den Bewahrern und Schildzwergen schnorren! Du konntest mich überzeugen, du wirst auch sie überzeugen können.“ Mit diesen Worten hatte der mürrische Wolfskrieger ihn entlassen.
Nachdem er seinen beiden Freunden davon berichtet hatte, hatten sie sich zu dritt Argumente zurechtgelegt. Natürlich wusste Janis, dass er diejenigen, die einen Großteil ihres Vermögens verlieren würden, nicht würde überzeugen können, doch Saras Überlegungen beeindruckten Janis. Sie nannte nicht nur hervorragende Begründungen für die Bodenreform, sondern brachte gleich noch Verbesserungsvorschläge.
Die offenkundige Freude, die aus dem satten Violett ihrer Augen sprach, hätte Janis für Schadenfreude angesichts seiner unmöglichen Aufgabe halten können, doch er kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass der Grund ein anderer war: Sie liebte Rätsel und Denkspiele in jeglicher Form, und die Bodenreform war ihre neueste Zerstreuung.
„Mit wem unterhältst du dich eigentlich in der Zeichensprache?“, wechselte Janis schließlich das Thema. Sie zeigte auf ihn und Rodur. „Nein, ich meine, abgesehen von uns.“
Niemand.
„Warum hast du sie dann erfunden?“, hakte Janis nach.
„Mach dich nicht lächerlich, Sajin! Sie hat sich diese Sprache nicht selbst ausgedacht.“, widersprach Rodur.
Ich. Erfunden. Sprache. entgegnete Sara. Janis überraschte das nicht, sie hatte in den letzten Tagen schon oft bewiesen, dass ihr Geist von ungewöhnlicher Klarheit war. Sie hatte einhundert Herzschläge benötigt, um das Nimm-Spiel perfekt zu beherrschen, wenn Janis irgendjemanden kannte, der imstande wäre, eine eigene Sprache zu erfinden, dann Sara! Er hielt sich selbst für recht klug, aber sie übertraf ihn und vermutlich auch jeden anderen auf dieser Burg deutlich. Ihre Gedanken waren schnell wie der Wind bei Sturm und scharf wie ein frisch geschliffenes Schwert. Janis konnte sich nur schwer ausmalen, was wohl eines Tages aus ihr geworden wäre, wenn sie nicht ihre Zunge verloren hätte. So allerdings wurde sie nur von den wenigsten verstanden und von den meisten schnell wieder vergessen.
Nein. Sprechen. Führen-zu. Nein. Denken. - Nein. Denken. Führen-zu. Dumm. - Ohne. Zunge. Können. Sprechen. Nur. Mit. Händen.
„Wer nicht spricht, denkt nicht. Wer nicht denkt, wird dumm. Ohne Zunge kann man nur mit den Händen sprechen.“, übersetzte Rodur Saras Antwort auf Janis´ Frage. „Und deswegen hast du dir nebenbei eine Zeichensprache ausgedacht?“ Ja.
„Wie lange hast du dafür gebraucht?“, lenkte Janis das Gespräch in die richtige Richtung und bekam sofort ein schlechtes Gewissen als er bemerkte, wie das Violett ihrer Augen in ein Dunkelblau umschlug. Ich. Nein. Wissen. - Vielleicht. Drei. Monde.
„Wie lange ist das her?“, fragte Rodur, und Janis war ihm dankbar dafür, dass er von ihrem Stimmungswechsel nichts mitbekommen hatte. Er selbst hätte es jetzt nicht übers Herz gebracht, Sara weiter auszufragen.
Sie zögerte kurz. Dann schrieben ihre Hände weitere Worte in die Luft: Ich. Erzählen werden. Alles.

Sara war im östlichen Rietland geboren worden. Sie hatte eine zumeist ruhige Kindheit, verbrachte viel Zeit mit den Andori, aber auch mit Händlern der Schildzwerge und beherrschte schon mit fünf Jahren nicht nur die Gemeine und die Zwergensprache, sondern auch Teile der alten Sprache Andors und sogar der fast vergessenen Barbarensprache, denn ihr Vater kam aus dem Osten. Sie wuchs im Schoß ihrer Familie heran und wusste zu schätzen, was sie hatte, auch wenn der Alltag ihr oft zu eintönig wurde. Bis eines Tages die Krahder kamen. Saras Eltern wurden vor ihren Augen ermordet, sie selbst verschleppt. Noch auf dem Weg durchs Gebirge lehnte sie sich mehrfach gegen die Krahder auf, weshalb sie in die Winterburg gesperrt wurde. Hier kam sie durch Zufall in den gleichen Raum wie ein großer Krieger namens Orfen, der sich allerdings einer ungleich härteren Tortur zu stellen hatte als sie. Von einigen Schlägen und anderen schmerzhaften Martern ohne bleibende Schäden waren Kälte, Hunger und Dunkelheit ihre größte Qual. Sie sah mit an, was mit Orfen geschah und blieb deswegen lieber still, solange Diener der Krahder in der Nähe waren. Doch nachdem sie fort waren spendete sie dem Wolfskrieger mit ihren Worten Trost und Ablenkung.
Immer wieder kam ein Skelett herunter, das anders war als die anderen, nicht seelenlos, sondern bösartig, mit einer goldenen Krone auf dem Kopf. Der Bleiche König. Die Reste seines alten Verstandes begriffen wohl irgendwie, in welcher Weise Sara Orfen Linderung verschaffte, also trat er eines Tages zu ihr und riss ihr die Zunge aus. Kurz darauf wurde Sara in ein anderes Verlies geworfen und dort fast vergessen. Ab und an kam ein Skelett und stopfte ihr ohne Mitleid irgendwelche halb verschimmelte Nahrung oder brackiges Wasser in den wunden Mund. Die meiste Zeit jedoch lag sie kraftlos da, eingehüllt in einen Mantel aus Schmerz und Dunkelheit und froh über jede Ablenkung. Dort, in ihrem eisigen Kerker, erdachte sie sich eine Sprache, die sie auch ohne Zunge sprechen konnte, nicht in der Hoffnung auf ein Leben außerhalb der blutgetränkten Mauern, sondern einfach, um nicht wahnsinnig zu werden. Acht Tage benötigte sie, um den wichtigsten Wörtern systematisch eine Gebärde zuzuschreiben, ein Vierteljahr, um ihr Sprache fließend benutzen zu können. Irgendwann kam der Tross der Andori und befreite sie. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte Sara niemanden mehr, doch Orfen erkannte sie wieder und nahm sie später mit auf die Rietburg. Hier wurde sie gewissermaßen die persönliche Dienerin des Wolfskriegers, wegen ihrer gemeinsamen Zeit in der Winterburg, vor allem aber, weil sie die Geheimnisse ihres Statthalters auch versehentlich nicht ausplaudern konnte.
Die in die Luft gemalte Erzählung konnten das Grauen, das Sara erfahren haben musste, nur in Ansätzen wiedergeben. Sie hatte viele Worte verwendet, die sie ihre Freunde noch nicht gelehrt hatte, und einiges war mit Zeichen, ja nicht einmal mit Worten auszudrücken. Das meiste musste Janis sich dazudenken, doch das fiel ihm nicht allzu schwer. Er wusste, welches Glück er gehabt hatte, dass er nicht auch verschleppt worden war. Rodur war in der Sklaverei aufgewachsen, Sara war in der Gefangenschaft ihre Zunge herausgerissen worden, und er selbst? Aber er hatte etwas verloren, gegen das er seine Zunge liebend gerne eingetauscht hätte. Doch für das Leben seiner Mutter wurde ein weitaus höherer Preis verlangt. Einen Preis, den er bezahlen würde, so sehr es auch schmerzte.
Du hast mich nicht verloren, Janis. In deinem Inneren werde ich weiterleben, durch deine Worte und deine Taten wird mein Andenken in die Welt getragen. Man ist nicht wirklich tot, solange sich jemand an einen erinnert.
Aber ich will keine Erinnerung. Ich will dich! Und ich werde dich bekommen, koste es, was es wolle!

Eigentlich hätte Janis sich freuen müssen, schließlich hatte er sich mit jemandem mit direktem Kontakt zum Statthalter angefreundet, er hatte eine Möglichkeit gefunden, die Stumme zum sprechen zu bringen. Er könnte von allem erfahren, was Orfen plante, eine bessere Möglichkeit, diese Burg zu verraten, gab es nicht. Aber diese Gewissheit machte ihn auch nicht glücklich, und Saras Bericht hatte ihn zu tief getroffen, als dass er sich jetzt hätte freuen können. Er musste erst verdauen, was er erfahren hatte.
„Der Statthalter hat wohl nicht darüber nachgedacht, dass du seine Geheimnisse auch aufschreiben könntest. Du kannst doch schreiben, oder?“, fragte er, bemüht, sie von ihrer Geschichte abzulenken. Sara zögerte kurz, dann nickte sie. Aber. Ich. Vertrauenswürdig.
„Wer hat dir das Schreiben beigebracht?“, wollte Rodur wissen. Sie gab die Antwort, die Janis erwartet hatte. Ich.
Während Rodur noch nach passenden Worten suchte, wechselte Sara bereits das Thema. Wir. Brauchen. Namen. „Ich bin mit meinem Namen ganz zufrieden.“, merkte Rodur begriffsstutzig an.
„Sie meint in ihrer Sprache.“, erklärte Janis. So nützlich Saras Gebärdensprache auch war, eine Möglichkeit, Laute abzubilden, gab es nicht.
Sara machte ein seltsames Zeichen, das besonders lang und kompliziert war, eine Verschmelzung aus drei anderen. Burg-In-Gold. „Ist das dein Zeichen für die Rietburg?“
Sie nickte. Dann zeigte sie auf Rodur. Sohn-Von-Feuer. Rodur blinzelte. „Ist das mein neuer Name?“ Nur. Wenn. Wollen. „Ich komme aus dem feurigen Krahd. Ich arbeitete dort in einer Schmiede, ich arbeitete hier in einer Schmiede. Ich denke, der Name ist gut.“
Sara wartete ab, ob er noch etwas hinzufügen wollte, dann deutete sie auf Janis. Kind-Von-Fluss. „Woher… Ich habe kaum über meine Vergangenheit gesprochen. Wie kommst du auf diesen Namen?“ Sie lächelte nur. Kind-Von-Fluss. Neu. Name. Als-Frage-Gemeint. gebärdete sie. „Ja! Ja, das ist … mein neuer Name. Ein guter Name.“
Sie zeigte auf sich selbst. Mädchen-Ohne-Worte. „Nein!“, protestierte Janis. „Du verstehst die Gemeine Sprache, die Zwergensprache und noch mehr, außerdem deine Zeichen, das sind mehr Worte als die meisten anderen kennen.“ Mädchen-Mit-Bunt-Augen. gestikulierte er. „Das ist mein Vorschlag!“ Sara lächelte, doch ihre Augen waren noch immer tiefblau. Mädchen-Ohne-Worte. beharrte sie fest auf ihrer Wahl und es gelang Janis nicht, sie umzustimmen.


Sonnenhoch, 37. Herbsttag 76 A.Z.
Großer Saal der Rietburg, Andor

Der nächste Tag rückte viel zu schnell an und mit ihm eine Schar aus feisten Bauern und ihren Mägden und Knechten. Sie kamen nicht sofort zum Thronsaal und Janis hatte die Zeit genutzt, um mit einigen dieser Knechte zu sprechen. Im Gegenteil zu ihren Arbeitgebern würden sie von der Reform profitieren und waren dementsprechend aufgeschlossen. Janis hatte unauffällig mit ihnen geplaudert und schon bald von Geheimnissen erfahren, die seine Erwartungen noch übertrafen. Schließlich hatte er die große Halle betreten und sich auf einen Stuhl direkt neben den Thron gesetzt. Sara war nicht hier und auch sonst war die Halle verlassen. Janis wartete.
Fast eine Stunde nach ihrer Ankunft kamen sie schließlich, sieben Großbauern Andors. Es waren die wohlhabendsten, mächtigsten und einflussreichsten und dementsprechend auch diejenigen, die am wenigsten Interesse an einer Neuverteilung des Bodens hatten.
„Wo ist Orfen?“, polterte der fettleibigste von allen, ein Mann mit aufgedunsenem Gesicht, der das Klischee des unsympathischen Großgrundbesitzers geradezu vorbildlich erfüllte. Natürlich gehörte ihm der Grund nicht tatsächlich, alles Land in Andor war offiziell der Besitz der Krone, momentan also in Verwaltung Orfens. Doch diese Bauern hatten das größte Lehen und durften die meisten Felder bearbeiten; sie hatten die größten Äcker, das meiste Vieh und das wenigste Mitgefühl von allen. Das Land, über das sie – noch – verfügen konnten war zu groß, um allein von ihnen oder ihrer Familie bearbeitet werden zu können. Sie beherbergten und versorgten Knechte, die die Arbeit für sie übernahmen und dafür entlohnt wurden. Da es allerdings mehr als genug potentielle Knechte gab, mussten diese sich zumeist mit einem Hungerlohn abspeisen lassen.
„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass ich spreche.“, äußerte einer der anderen höflich. Ein schlanker Andori von etwa vierzig Sommern trat vor und musterte Janis skeptisch. Sogar dem hellbraunen Schnurrbart, der sich wie eine fette Made auf der Oberlippe des Großbauern wand, gelang es nicht, die Attraktivität des sonnengebräunten Mannes gänzlich zu zerstören. Seine Kleidung ähnelte den Knechten, mit denen Janis gesprochen hatte, doch dem aufmerksamen Beobachter entging nicht, dass die Gewänder trotz ihrer gedeckten Farben maßgeschneidert und zu fein für einen einfachen Arbeiter waren. „Könntest du bitte nachfragen, ob der Statthalter bereit ist, Sadam und den anderen Großbauern eine Audienz zu gewähren?“
Natürlich hatte Janis schon von ihm gehört. Sadam, der Aufsteiger. Klug, charmant, gutaussehend und ehrgeizig, mit einem großen Herzen und noch größeren Ambitionen. Im Gegensatz zu den anderen Großbauern hatte er nicht den Großteil seiner Lehen geerbt, sondern sich tatsächlich von unten hochgearbeitet, in dieser Hinsicht war es ein kluger Schritt, ihn vorzuschicken. Allerdings war Sadam nicht so skrupellos wie die anderen, in der Vergangenheit hatten sie mehrfach Konflikte mit ihm gehabt. Aus diesem Grund war Janis davon ausgegangen, dass die sechs übrigen Großbauern den Aufsteiger so wenig wie möglich miteinbeziehen würden. Wieso hatten die Knechte ihm so vieles verraten, aber nicht das?
„Der Statthalter kann seine Zeit nicht damit verplempern, sich irgendwelche Beschwerden anzuhören.“, antwortete Janis kalt. „Der Vorschlag einer Bodenreform kam von mir und ich werde mit Euch darüber sprechen.“
Die Großbauern tauschten erstaunte Blicke aus, die vermutlich vor allem seinem geringen Alter galten. Eine hagere Alte mit grauen Locken, die einzige weibliche Person im Raum, meldete sich zu Wort: „Soll das heißen, das der Vorschlag wirklich ernst gemeint ist? Dass es nicht nur darum ging, leichtgläubige Kämpfer zu gewinnen, sondern dass der Boden tatsächlich neu verteilt wird?“
„Kara, bitte!“, stöhnte Sadam. „Ihr habt mich vorgeschickt, jetzt lasst mich das Gespräch auch führen.“ Dann wandte er sich mit einem entschuldigenden Lächeln an Janis. „Wir wollten uns vergewissern, dass tatsächlich die Absicht besteht, diese fragwürdige Idee umzusetzen, obwohl dadurch in Zukunft mit erheblichen Problemen zu rechnen ist.“
„Wir werden das Land verteilen, genau wie angekündigt. Es ist notwendig, um die nächste Krise zu überstehen, mit den Problemen, die daraus folgen mögen, werden wir auch fertig.“
„Der Plan lautet, Lehen zu enteignen, die in langen Mühen erarbeitet wurde. Das ist schwerlich als gerecht zu bezeichnen.“ Hätte jemand anderes als Sadam vor Janis gestanden, er hätte einfach darauf hingewiesen, dass das meiste vererbt worden war. Er hätte auch erwähnt, dass die Großbauern sich nach dem Raubzug der Krahder das Land der Verschleppten einfach unter den Nagel gerissen hatten, dass sie die Not derjenigen, die ihre Felder nicht bewirtschaften konnten, weil Angehörige entweder in den Fängen der Krahder oder auf dem Befreiungszug durchs Gebirge waren, gnadenlos ausgenutzt hatten. Er hätte angeführt, zu welch schlechten Bedingungen die Knechte und Mägde zu leben hatten und dass eine Neuaufteilung dementsprechend deutlich gerechter war als das, was aktuell der Fall war. Doch Sadam hatte seinen Besitz durch harte Arbeit gewonnen, hatte das Land der kleinen Bauern, die nicht in Andor waren, sogar verteidigt und entlohnte seine Diener gut, womit er - zum Verdruss der anderen Großbauern - das Einkommen, welches Knechte verlangten, in die Höhe trieb.
„Es ist notwendig, um Andor vor dem Untergang zu bewahren.“, antwortete Janis schließlich.
„Aber ein großes Stück Land lässt sich deutlich leichter und ertragreicher einheitlich bewirtschaften, als wenn es in kleine Felder zerstückelt wird. Zudem ist es möglich, dass perspektivlose Menschen erst nach der überstandenen Gefahr nach Andor strömen und wir dieser Belastung nicht gewachsen sind. Und außerdem: Was hat eine Familie ohne Zugtiere und Gerätschaften von einem kleinen Feld? Das Land wird nur brachliegen und eine Hungersnot jagt die nächste. Die Bodenreform ist vollkommen unrealistisch.“
Janis nahm die Probleme gelassen hin. Mit all diesen Einwänden hatte er gerechnet, auch wenn seine eigenen Argumente mit Sadam als Redner nicht funktionierten. „Ich kann ich mich nur wiederholen: Es ist notwendig! Das Überleben Andors hängt davon ab, dass wir genügend Verteidiger haben. Und die Menschen sind nur dann bereit, ihr Leben zu riskieren, wenn sie auch etwas haben, für das es sich zu kämpfen lohnt. Die Reform ist unabdingbar!“
„Unsere Hilfe ist es auch!“, keifte die Alte. „Auf unser Getreide und unser Saatgut ist Andor angewiesen. Ihr könnt es nicht wagen euch mit uns zu verscherzen, wir kontrollieren drei Viertel der hiesigen Nahrungsproduktion.“
„Kara!“, rief Sadam scharf. „Wir hatten uns geeinigt, niemanden zu erpressen. Außerdem rede ich!“
Janis spielte seinen größten Trumpf aus. „Wo wir gerade von Saatgut sprechen, ich habe gehört, dass von den Großbauern der Befehl ausging, besonderes … Saatgut zu sammeln. Von Ackerwicke.“
Sadam wirkte ahnungslos, doch die übrigen sahen sich erschrocken an. „Ackerwicke ist essbar. Die Samen sind fast wie Linsen!“, erklärte Kara schnell.
„Auch von Giersch.“, ergänzte Janis.
„Du sprichst von Geißfuß? Ebenfalls essbar! Außerdem ein wunderbares Mittel gegen Gicht und Rheuma, ich muss es wissen.“
„Dann noch von Ackerdistel.“
„Hilft gegen Beschwerden von Leber und Darm.“
„Und Quecke!“, fuhr Janis unbarmherzig fort. Auch wenn diese Pflanze theoretisch ebenfalls essbar war versuchte Kara nicht mehr, sich zu rechtfertigen. Alle Pflanzen, die Janis aufgezählt hatte, waren üble Unkräuter, die den Ertrag eines Feldes stark verminderten und nur schwer wieder loszuwerden waren, die Quecke war das schlimmste von allen.
Bei jeder Pflanze, die Janis aufgezählt hatte, hatte sich Sadams Gesicht weiter verfinstert, die Reaktionen der anderen sprach Bände. Jetzt brach es aus ihm hervor: „Pfui! So etwas hätte ich nicht einmal Euch zugetraut! Ihr dürft diese Verhandlung in Zukunft ohne mich führen!“ Mit diesen Worten stürmte er zur Tür und verließ den Thronsaal.
„Warum nehmt Ihr nicht einfach Salz, um Eure Felder zu schädigen?“, rief Janis, nachdem er verschwunden war. „Sagt nichts, ich kann es mir denken: Im Gegensatz zu Salz wird man diese Unkräuter mit viel Arbeit wieder los. Für kleine Bauern rentiert sich das nicht, aber wenn man genug Ressourcen hat, dann ist das langfristig eine gute Investition. Ihr wolltet das Land, das außer Euch niemand bewirtschaften kann, billig wieder aufkaufen und so direkt wieder an Euch raffen, habe ich recht?“ Die betretenen Gesichter waren ihm Antwort genug. „Dieser Plan hätte tatsächlich zu einer Hungersnot geführt, aber die betrifft Euch ja nicht, sondern nur irgendwelchen armen Schlucker. Den Preis kann man getrost in Kauf nehmen.“ Er schüttelte verächtlich den Kopf. „Das, was Ihr vorhattet, grenzt an Hochverrat! Und ich denke, Ihr wisst, was die Strafe für Hochverrat ist? Besser, Ihr liefert uns die Nahrung die wir brauchen und vergesst Eure Bedenken wegen der Reform, dann vergisst der Statthalter vielleicht, was Ihr vorhattet. Wenn Ihr nicht tut, was ich verlange: Euer Land kann auch gerne jetzt schon aufgeteilt werden. Tote beschweren sich darüber nur selten. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?“
Die Großbauern knickten ein. Ihre Gesichter waren hasserfüllt, aber sie waren machtlos. Wutschnaubend stimmten sie der Bodenreform zu und verließen die Halle.
Janis blickte ihnen sinnierend nach. In einem hatte Sadam recht gehabt: Die Reform war in ihrer jetzigen Form tatsächlich unrealistisch. Es musste gewährleistet werden, dass das Land auch bewirtschaftet werden konnte. Nicht nur der Boden, auch Gerätschaften und Nutztiere mussten umverteilt werden. Und die neuen Bauern mussten die Möglichkeit bekommen, ihre Felder auch gemeinschaftlich zu bestellen, wenn es alleine zu aufwändig würde. Aber mit einigen Anpassungen könnte aus der Bodenreform ein großartiges Projekt werden, um Armut zu bekämpfen und Gerechtigkeit zu fördern. Doch so weit würde es ja ohnehin nicht kommen. Dass der Statthalter die Großbauern für das, was Janis als Hochverrat bezeichnet hatte, würde hinrichten lassen, waren leere Worte gewesen. Genauso, wie auch seine Idee einer Bodenreform nur leere Worte waren. Die Rietburg musste schon lange vorher fallen.
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q – Der Herr der Schatten

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:09

q – Der Herr der Schatten

Später Vormittag, 28. Herbsttag 76 A.Z.
Taverne
Zum Rostigen Anker in Nordgard, Hadria
Eingezwängt zwischen einem großen Steinhaus auf der einen und einer steilen Felswand auf der anderen Seite hockte die Taverne Zum Rostigen Anker wie ein Hase in der Kuhle. Ihr schräges Dach war von Bergen aus Schnee bedeckt und beugte sich bedenklich nach unten. Über der Tür hing ein Anker an einer Metallstange, die beiden Ketten, mit denen er befestigt war, vom Frost steifgefroren. Zwischen ihren Enden glitzerten einige Eiszapfen im grauen Licht aus den Wolken. Der Anker selbst dagegen glitzerte nicht, das Metall war braun von Rost und Dreck, genauso braun wie die verschmutzte Wand des Hauses aus Stein und Fachwerk. Der Rostige Anker machte seinem Namen alle Ehre, wollte man seinen äußeren Eindruck freundlich beschreiben, man hätte wohl zu dem Wort schmuddelig gegriffen. Die meisten Einwohner Nordgards betrachteten die Spelunke allerdings eher als heruntergekommen oder gar als einen Schandfleck für ihre Stadt. Die Gäste dachten in der Regel gar nicht, weil sie zu sehr unter Einfluss starker alkoholischer Getränke oder weniger gesunder Substanzen standen.
Die dünne Holztür hing nur noch an einem Scharnier, noch verrosteter als der Anker draußen. Es quietschte protestierend, als die Tür mit einem lauten Knall aufgeschlagen wurde. Einige Schneeflocken wirbelten herein, dicht gefolgt von zwei Gestalten in schwarzer Robe. Die meisten der wenigen Gäste schreckten aus ihrem Schlaf auf, diejenigen, die ihre Sinne noch beisammenhatten und die ungewöhnlichen Besucher erkannten, versuchten eilig, möglichst unverdächtig auszusehen, so, als hätten sie nur wegen ihres Rausches geschlafen und nicht auch deswegen, weil sie das Geld für die berauschenden Mittel in der Nacht davor mit Arbeiten hatten verdienen müssen, die tagsüber nur selten ausgeführt wurden.
Hinter dem Tresen saß ein Zwerg auf einem dreibeinigen Hocker, der nur unwesentlich kleiner war als er selbst. Wegen seiner gedrungenen Gestalt, vor allem aber wegen seines haarlosen Schädels, der riesigen, vorstehenden Glupschaugen und des breiten Mauls, sah er einer Kröte ähnlicher als so manches Amphib. Beim lauten Geräusch blickte er auf und starrte seine Gäste an. Als er die erste Person erkannte, riss er überrascht Mund und Augen auf. „Souveränin!“, hauchte er.
Eara ließ ihren Blick über den kargen Raum streifen, über den festgestampften und halb gefrorenen Lehmboden, über die ebenso zwielichtigen wie benebelten Stammgäste, über das in die Wand geritzte Rätsel – Was wirft man weg, wenn man es braucht, und holt man zurück, wenn man es nicht mehr braucht? - und schließlich auch über den Gastwirt. „Sei gegrüßt! Ich möchte zwei Zimmer, zwei Schüsseln Suppe und eine Auskunft, in dieser Reihenfolge.“
„Ich bin Frosch. Sehr erfreut, Euch kennenzulernen.“, beeilte der Wirt sich zu sagen, dann sprang er von seinem Hocker, was dazu führte, dass sein Kopf unterhalb des Tisches verschwand. Frosch erschien seitlich des Tresens und lief ohne Zögern zu einer labilen Holztreppe, die er hastig emporstieg. Im oberen Stockwerk gab es nur zwei Türen, die vom Flur abzweigten. Frosch öffnete die erste und präsentierte ein winziges Zimmer, in das sich gleich vier Schlafstellen zwängten.
„Was macht ein Zwerg hier in Hadria, so weit entfernt von seiner heimatlichen Mine?“, fragte Eara.
„Ich dachte, erst die Zimmer und dann die Auskunft!“, gab Frosch unwirsch zurück, während er die Decken alle auf einen großen Haufen legte, erklärte dann jedoch: „Sagen wir einfach, ich habe mir in meiner Heimat nicht nur Freunde gemacht und empfinde die kalte Luft hier im Norden als äußerst gesund.“ Er verließ die Kammer und öffnete auch die andere Tür. Hier gab es nur zwei Deckenhaufen, allerdings auch einen halbvollen Rucksack. Frosch warf ihn kurzerhand durchs Fenster nach draußen.
„Gehörte der nicht jemandem?“, fragte Earas Begleiter vorsichtig.
„Im Schnee landet er weich. Außerdem wird der Besitzer es gerade vermutlich möglichst eilig haben, den Ort zu verlassen, an dem die Souveränin sich aufhält.“ Plötzlich erstarrte er. „Mortol?“, fragte er ungläubig und betrachtete den dicken Magier zum ersten Mal wirklich. „Dass du es noch wagst, dich hier blicken zu lassen, nach allem, was geschehen ist!“, rief er hasserfüllt.
„Bitte, Frosch, ich schwöre, ich hatte nichts damit zu tun!“, entgegnete Mortol verzweifelt, doch Frosch hörte ihm gar nicht zu.
„Du bist ein mieser Verräter! Wir hätten niemals einem Zauberer unsere Geheimnisse anvertrauen wollen! Du warst schon immer Teil der Eliten, das konnte auf Dauer ja nicht gutgehen. Doch du wirst noch für deine Taten bezahlen, irgendwann …“ Er wurde von dunklen Schlieren unterbrochen, die sich fest auf seinen Mund pressten und jeden Ton seines Redeschwalls verschluckten.
„Unsere Zimmer haben wir gezeigt bekommen, nun hätte ich gerne die Suppe. Und ich fürchte, es wird doch nicht bei nur einer einzigen Auskunft bleiben.“

Als Eara und Mortol wieder nach unten kamen war der Schankraum wie leergefegt, alle Gäste waren angesichts des hohen Besuches verschwunden. Frosch folgte ihnen schweigend. Immer wieder warf er Mortol, dem sichtlich unbehaglich zumute war, finstere Blicke zu, aber mehr wagte er in Earas Anwesenheit nicht zu tun.
Das Portal hatte sie in Nordhom ausgespuckt, einem Weiler unweit von Nordgard. Von dort hatte Mortol Eara direkt zum Rostigen Anker geführt, wo er die schnellsten Verbindungen zum hadrischen Schwarzmarkt vermutete. Nur, dass Frosch anscheinend etwas gegen den alten Bekannten hatte…
Vor Eara und Mortol wurden zwei Schüsseln mit zweifelhaftem schleimigen Inhalt auf den Tisch geknallt und Frosch setzte sich ihnen gegenüber. Schweigend betrachtete er seine Besucher mit seinen riesigen Augen. Mortol begutachtete einen schwabbeligen Klumpen auf seinem zitternden Holzlöffel. „Was ist das?“, fragte er vorsichtig.
„Fleisch!“
„Aber was für Fleisch?“
„Fleisch!“ Frosch bedachte den Magier mit einem unfreundlichen Blick. „Iss oder kipp es weg, aber behellige mich nicht mit Fragen. Wenn deine Begleitung nicht wäre, du würdest sofort die Fliege machen.“
Eara verdrängte den Gedanken daran, was Frösche in der Regel mit Fliegen taten. „Was hast du gegen ihn, Frosch? Was hat er deiner Meinung nach getan?“, fragte Eara.
Da der Wirt nicht darauf einging, übernahm Mortol diese Aufgabe selbst. „Er denkt, ich hätte bei der Razzia mitgewirkt.“
„Was für eine Razzia?“
Jetzt antwortete Frosch doch: „Tut doch nicht so scheinheilig! Ihr habt sie doch selbst angeordnet!“ Er zögerte. „Zumindest kam diese Razzia schon in der ersten Nacht nach Eurer Ankunft in Hadria. Fast die gesamte Zaubererschaft des Feuers, unter Führung von dieser Nukia, hat gezielt den Rauschgifthandel dieser Stadt angegriffen, unzählige wurden verhaftet, die Drogen vollständig konfisziert und vernichtet. Und ich weiß, woher die Zauberer die Möglichkeit hatten, die Händler so gezielt zu finden.“
Mortol vergrub sein Gesicht in den Händen. „Bitte, Frosch! Ich war vielleicht unvorsichtig, ich habe womöglich geplaudert, aber nicht mit der Absicht oder auch nur dem Verdacht, dass diese Informationen gegen euch verwendet werden könnten.“
„Das macht es nicht besser!“, erwiderte Frosch giftig, um nach einem schnellen Seitenblick zu Eara hinzuzufügen: „Im Übrigen weiß ich nicht, warum du von uns sprichst. Ich habe selbstverständlich nichts mit dem Ganzen zu tun! Nur einige meiner Bekannten waren darin verstrickt, aber ich würde niemals etwas Illegales tun.“
„Gib dir keine Mühe, Frosch! Ich weiß, dass du zwar keine verbotenen Drogen verkaufst, dafür aber Schmuggel- und Diebesgut in beträchtlichen Mengen.“
„Sagen wir, ich bin ein Händler, der seine Möglichkeiten zu nutzen weiß und nicht fragt, woher oder wohin seine Waren kommen und gehen.“, wich Frosch aus. Seine Blicke spießten Mortol förmlich auf.
„Ja, das hat mir tatsächlich Mortol verraten. Aber ich bin nicht hier, um gegen dich vorzugehen. Es ist nicht nötig, dass einige Zauberer den Boden hinter der Theke genauer untersuchen, wenn du mir hilfst, an die Informationen zu gelangen, die ich brauche.“
„Um andere Teile des Schwarzmarktes auch noch zu beseitigen?“ Bei diesen Worten starrte Frosch noch immer unentwegt Mortol an, der seine unangetastete Suppe mit einem besonders heftigen Zittern plötzlich umstieß.
„Nein! Ich hatte mit der Razzia nicht das Geringste zu tun und ich hege auch nicht die Absicht, den Händlern des Schwarzmarktes in irgendeiner Weise zu schaden. Ich muss nur wissen, an wen in letzter Zeit Forinkäfergift verkauft wurde, sobald ich das erfahren habe, ziehe ich ab und überlasse dieses Lokal wieder seiner Kundschaft und seinem Wirt. Wenn du selbst etwas weißt, dann bin ich gleich wieder weg, wenn nicht hilfst du mir, etwas herauszufinden.“
Jetzt erst richteten sich die gewaltigen Augen des Zwergs auf Eara. „Nein, Souveränin. Über Forinkäfergift weiß ich nichts, das ist für mich zu selten, zu kostbar, zu gefährlich und zu verboten. Und ich kann auch nichts darüber herausfinden. War es das?“
Eara lächelte. „Du kannst nichts darüber herausfinden, sagst du? Dafür kann ich einiges über die Dinge herausfinden, die du hier lagerst.“
Frosch verzog seinen großen Mund. „Vielleicht ...“, murmelte er. „Möglicherweise kann ich etwas herausfinden. Oder ich kann Euch zumindest zu jemandem bringen, der etwas weiß. Aber alles hat seinen Preis …“
Eara streichelte sanft den Ebenholzstab, der neben ihr am Tisch lehnte. „Deine Belohnung ist, dass ich vergesse, was Mortol mir erzählt hat. Was die andere Person angeht… für sie findet sich gewiss auch etwas. Können wir gleich los?“
„Geduld!“, beschwichtigte Frosch. „Es ist ein langer und schwieriger Prozess, zu ihm vorgelassen zu werden. Auch ich habe den Herrn der Schatten noch nie zu Gesicht bekommen. Aber er ist der Meister des Schwarzmarktes, und man munkelt, er wisse alles, was in seinem Reich vor sich geht. Wenn Ihr Euch mit ihm einigen könnt, dann wird er all Eure Fragen beantworten. Aber ich rate Euch davon ab … es wäre ein Pakt mit der Finsternis selbst.“
Eara nahm Froschs letzten verzweifelten Versuch, sie von ihrem Plan abzubringen, gelassen hin. „Einen solchen Pakt bin ich schon vor langer Zeit eingegangen. Er nennt sich Herr der Schatten, sagst du? Der Meister des Schwarzmarktes wird noch früh genug erfahren, wem die Dunkelheit wirklich gehorcht!“


Abenddämmerung, 28. Herbsttag 76 A.Z.
Oktron in Nordgard, Hadria

Im Zentrum Nordgards erhob sich das Oktron, ein gewaltiger, achteckiger Kuppelbau von vierzig Schritt Durchmesser. Die acht tragenden Säulen an den Seitenwänden waren aus riesigen Steinquadern errichtet, nur so war gewährleistet, dass sie nicht nur das steinerne Dach, sondern auch die gigantischen Schneemassen tragen konnten. In der Mitte der Kuppel befand sich eine acht Schritt große, achteckige Öffnung, was ihren Bau enorm erschwert hatte und das Ergebnis zu einem wahren Kunstwerk werden ließ. Die Feste von Yra war monumental, mit dicken Mauern, die das Gewicht der vielen Türme und Jahrhunderte trugen. Das Oktron dagegen war erst viele Jahre später und mit dem vollständigen Wissen der damaligen Architektur errichtet worden, nur wenige tragende Streben hatten alle Last zu schultern und durchzogen die Wände wie ein Gerippe. Dadurch war es den Architekten möglich gewesen, dem riesigen Bauwerk trotz seiner Größe einen eleganten, luftigen Stil zu verschaffen. Das Oktron war ein Monument der Kunstfertigkeit … und der Zauberer des Feuers, die es errichtet hatten. Die Kuppelmitte befand sich vierzig Schritt über dem marmornen Boden der kolossalen Innenhalle. Lediglich die Wände stützten das Kuppeldach, die einzige Säule im Raum befand sich genau in der Mitte und bestand aus reinem Feuer. Sie reichte bis durch die Öffnung im Dach und wärmte und beleuchtete den ganzen Tempel. Dieses Feuer wurde gespeist von leicht entzündlichen Gasen aus dem Inneren Hadrias, von komplexer Technik und von Dunkler Magie.
Einige Zauberer des Feuers geleiteten sie durch die Kellergewölbe, obwohl Mortol sich auch ohne sie zurechtgefunden hätte. Eara und Mortol suchten eine Zauberin auf, die vielleicht auch etwas über den Schwarzmarkt wusste.
Nukia war eine junge Frau mit hellblondem, fast weißem, Haar. Sie war eine mächtige Magierin und hatte ihre Macht und ihr politisches Geschick schon früh bewiesen, dass sie noch nicht im Rat der Hohen saß lag einzig daran, dass sie nach dem Ordenskrieg, als die verstorbenen Zauberer ersetzt wurden, für zu jung gehalten wurde und seitdem noch keiner der Hohen Zauberer gestorben war.
„Mortol! Und Eara, die ehemalige Souveränin!“, rief sie bei ihrem Eintreffen und blickte von einer goldenen Schale auf, in der sich eine silbrige Flüssigkeit kräuselte. Ihr helles Haar bildete einen scharfen Kontrast zu ihrer schwarzen Robe.
„Die Neuigkeiten verbreiten sich schnell, wie ich sehe.“, erwiderte Eara mit Bezug auf das ehemalige in Nukias Begrüßung.
Die Zauberin des Feuers zeigte lächelnd auf die goldene Schale vor sich auf dem Tisch. „Damit halten wir Verbindung zu den Hohen Zauberern. Ich und Sargan, wir nehmen die Befehle der Hohen Zauberer, insbesondere der Obersten Variah, entgegen. Wisst Ihr nichts darüber? Immerhin war Mortol für die Schale zuständig, als er noch in Yra weilte.“
Der Erwähnte umklammerte einen kleinen Beutel über seiner Brust. „Nukia, du weißt, weshalb ich hier bin!“, presste er heraus, und Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn.
Die Zauberin beachtete ihn nicht. „Ich bin überrascht, dass Ihr Euch ausgerechnet im Rostigen Anker einquartiert habt. Hier im Oktron wäre noch ausreichend Platz gewesen, und auch der Goldene Krug wäre eine deutlich bessere Wahl. Gibt es einen Grund für Eure Entscheidung?“
„Ja!“, antwortete Eara. „Den gleichen für unseren Besuch bei dir. Wir möchten etwas herausfinden, was mit dem Schwarzmarkt in Verbindung steht.“
„Das ist übrigens nicht der einzige Grund, warum wir hier sind!“, fügte Mortol gequält hinzu.
Nukia musterte ihn, dann wandte sie sich wieder Eara zu. „Ihr wäret überrascht, wie viele Verbindungen es auch im Goldenen Krug gab. Die, die den Rostigen Anker aufsuchen, sind nur unbedeutende Kleinkriminelle, die interessierten mich nicht.“
„Nukia!“, schrie Mortol und zitterte dabei am ganzen Leib.
Sie schenkte dem Zauberer ein strahlendes Lächeln. „Sag doch einfach, dass du auf Nachschub an Aschenbaumharz hoffst.“ Genüsslich langsam holte sie einen murmelgroßen goldbraunen Klumpen aus einem Fach ihres Tisches. „Du weißt ja, dass ich nur deinetwegen nicht alle Vorräte vernichten ließ. Was wir haben, sollte für den Rest deines Lebens genügen, doch du musst aufpassen, es nicht zu verschwenden. Du weißt, wie kostbar es ist, besonders für dich. Aber ich bin zuversichtlich, dass du dich des zusätzlichen Aufwandes meinerseits als würdig erweisen wirst.“ Sie warf Mortol einen scharfen Blick und den Klumpen zu. Der fing ihn gierig auf und sah Eara entschuldigend an. „Ich hoffe, Ihr entschuldigt mich, aber das hier duldet keinen weiteren Aufschub.
Die ehemalige Souveränin hatte sein Zittern und die anderen Anzeichen seines Entzugs schon bemerkt und winkte ihn gnädig aus dem Raum. „Du magst ihn nicht sonderlich, oder Nukia?“, fragte sie, nachdem er verschwunden war.
„Oh, das ist nichts Persönliches. Es ist nur: Er ist nicht mächtiger als ich, auch nicht klüger, er ist süchtig und ich habe mich schon jetzt öfter bewiesen als er. Die einzigen Gründe, warum er nach dem Ordenskrieg zum Hohen Zauberer ernannt wurde, sind sein Alter und seine freundliche Haltung zum anderen Orden. Nach den Ereignissen des Krieges war das sehr gefragt.“
„Sieh es positiv: Wenn er älter ist, dann stirbt er auch schneller weg und macht Platz für den nächsten.“
Nukia schüttelte den Kopf. „Ihr wisst, dass er nicht an hohem Alter sterben wird. Er kann nichts für seine Sucht und er hat sich redlich versucht, sie zu bekämpfen, aber er wird ihr zum Opfer fallen, das ist gewiss. Aber ich hätte eher erwartet, dass Ihr Euch freut, wenn mehr Zauberer in der Zusammenkunft sind, die auch die anderen Orden gutheißen.“
„Du spielst auf meine Idee der Vereinigung an? Ich nehme mal an, dass du nicht gerade ein Freund bist, schließlich wurdest du, was deine Abneigung gegenüber den Zauberern des Turmes angeht, sogar mit Dolor verglichen.“
Nukia verzog das Gesicht. „Dolor ist ein Narr! Er pflegt einen unbegründeten Hass, und er verabscheut die Zauberer des Turmes so sehr, dass er sie unterschätzt. Ja, auch ich hasse den Orden des Turmes, aber das ist ein vernünftiger Hass.“
„Wahre Vernunft kennt weder Hass noch Liebe!“, konterte Eara.
Nukia schüttelte den Kopf. „Dann nennt es anders, wenn Ihr wollt. Aber ich verstehe Euch nicht. Ihr habt die Dunkle Magie angenommen, Ihr habt erkannt, dass sie der Zauberei überlegen ist und dass die Zauberer des Turmes sie nur wegen alter Vorurteile ablehnen, und dennoch habt Ihr Eure Macht als Souveränin nicht genutzt, um unseren Orden zu unterstützen.“
„Wie sich herausstellte, hat eine Souveränin nicht so viel Macht wie erwartet. Oder wie sonst ist es zu erklären, dass es ohne mein Wissen eine große Razzia gab? Wurde sie noch von der Versammlung bewilligt?“
Nukia schnaubte abfällig. „Von der Versammlung? Die war zu Entschlüssen doch gar nicht in der Lage. Nein, Nordgard ist Hoheitsgebiet unseres Ordens und die Razzia habe ich angeleitet. Weder die Versammlung hat mich beauftragt, noch die Hohen Zauber, noch Ihr. Es war meine Idee und ich kann nicht ohne Stolz behaupten, dass sie perfekt funktioniert hat. Ich habe Mortol schon seit Monden unauffällig ausgehorcht, bis ich genug Wissen angehäuft hatte, um den Rauschgifthandel Nordgards in einer einzigen Nacht zu zerschlagen!“
„Ich kann dich nur beglückwünschen, aber dennoch erwarte ich, das nächste Mal eingeweiht zu werden. Und ich vermute, dass Variah dasselbe denkt.“ Nukia blickte unwillig in die Schale vor sich. Das Quecksilber hatte mittlerweile wieder eine glatte Oberfläche gebildet.
Es war ungewöhnlich, dass diese Form der Kommunikation ausgerechnet Quecksilber erforderte, eigentlich waren alle Schwermetalle dafür bekannt, den Einfluss Dunkler Magie zu dämpfen, bis hin zu Arkanum, welches von Dunkler Magie gar nicht beeinflusst werden konnte. Nicht ohne Grund war der Eiserne Turm nicht etwa aus Stein erbaut worden. Doch der Gedankenspiegel entzog sich Earas Verständnis ohnehin. Sie war äußerst mächtig, hatte aber nicht die reguläre schwarzmagische Ausbildung genossen, die gewöhnliche Dunkle Magier hier im Oktron bei den Zauberern des Feuers durchliefen. Sie wusste nicht, weshalb der Inhalt der Schale Quecksilber oder ob auch die Schale selbst mittels Quecksilber vergoldet sein musste.
„Welches nächste Mal?“, wollte Nukia schließlich wissen. „Ihr wurdet abgesetzt. Ihr seid nicht länger Souveränin.“
„Frysirr wird sich nicht lange halten können, wenn ich nach Yra zurückkehre, werden mich die Obersten wieder als Souveränin einsetzen wollen.“ Zumindest vermutete sie das. „Hast du den kompletten Rauschgifthandel Hadrias zerschlagen?“, kam sie schließlich wieder zum Anlass des Gespräches zurück.
„Ohne Ausnahme!“, verkündete Nukia stolz. „Mortols Wissen hat für fast alle gereicht, und der Rest wurde von irgendwelchen Dienern verpfiffen, die ihre eigene Haut retten wollten. Traumwein, Aschenbaumharz, Rauchkraut… Alle Vorräte sind vernichtet, alle Verkäufer gefasst. Das war ein schwerer Schlag für Nordgards Unterwelt und ein großer Schritt in die richtige Richtung. Im Nachhinein denke ich, wenn ich die Aktion länger vorbereitet hätte, dann hätten wir vielleicht nicht nur den Drogenhandel, sondern den kompletten Schwarzmarkt zerschlagen. Irgendwo müssen die Fäden zusammenlaufen, aber wir haben diesen Ort noch nicht gefunden. Selbst Mortol weiß jetzt nicht mehr viel, sein Wissen hat am Morgen nach der Razzia nur noch gereicht, um einen Schmuggler von Giften und einen seltsamen Tierhändler zu erwischen. Hat Yra Interesse an einem Frostwolf als Wachhund? Es wird immer schwieriger, das Biest zu ernähren. Oder braucht ihr vielleicht noch Schneemottenlarven? Einige habe ich schon vor sechs Tagen zur Feste gesandt, ich hoffe, sie haben gemundet.“
„Ein Giftschmuggler? Hatte er, oder einer der anderen Händler, Forinkäfergift? Wurde diese Substanz irgendwo im Verlaufe der Razzia konfisziert und möglicherweise nicht richtig entsorgt?“
Nukia nickte wissend. „Darum also geht es! Mir wurde von dieser Verschwörung berichtet. Nein, soweit ich weiß, haben wir kein Forinkäfergift gefunden, bloß Cantharis in wilden Mengen. Aber vielleicht hat einer unserer Zauberer es heimlich versteckt? Ihr könnt sie gerne befragen.“
„Das wird nicht viel bringen. Wenn dir noch etwas dazu einfällt, dann findest du mich im Rostigen Anker.“ Eara ging, ohne sich zu verabschieden.


Abenddämmerung, 29. Herbsttag 76 A.Z.
Taverne
Zum Rostigen Anker in Nordgard, Hadria
In der Nacht hatte Eara auf dem Boden neben ihren Decken geschlafen – die Wanzen hatte sie schon auf den ersten Blick gesehen – und eine ruhige Nacht verbracht, was vielleicht auch daran lag, dass sie die Tür und die Fenster ihrer Kammer vorsichtshalber magisch versiegelt hatte. Zu dieser Sicherheitsmaßnahme griff sie jedes Mal, wenn sie sich Schlafen legte, seit die Verschwörer erstmals versucht hatten, sie zu ermorden. Hier in Nordgard schätzte sie die Wahrscheinlichkeit auf einen Anschlag der Verschwörung zwar relativ gering ein, aber ihrem Wirt vertraute sie kein bisschen.
Auch der folgende Tag war ereignislos verlaufen. Mortol lief durch die Stadt und suchte die Orte auf, an denen er früher sein Aschenbaumharz besorgt hatte, doch ganz wie Nukia behauptet hatte, waren alle Händler verschwunden, sie begegneten nur einigen Gestalten, die ebenfalls verzweifelt auf der Suche nach ihren Suchtmitteln waren. Eara hatte die Befürchtung, dass Nukia die Vorräte zu vorschnell hatte vernichten lassen, die Abhängigen würden elendig zugrunde gehen. Doch sie konnte es nicht ändern und auch diese armen Menschen konnten ihr bei ihrer Suche nach Forinkäfergift nicht helfen.

Am Abend kehrten sie in den Rostigen Anker zurück, wo Frosch sie schon erwartete. „Gute Nachrichten!“, meldete er missmutig. „Der Herr der Schatten wird Euch diese Nacht empfangen.“
„Wohin müssen wir?“
Frosch blickte Eara missbilligend an. „Woher soll ich das wissen? Er wird einen Boten senden, der uns führt.“ Unaufgefordert deckte er den Tisch mit zwei Schüsseln Suppe und zwei Kanten Brot. Die Suppe wurde nicht angerührt, doch sein Brot nahm Mortol interessiert in die Hand.
„Das ist ja regelrecht frisch, Frosch! Fast schon gutes Essen!“ Genüsslich nahm er einen Bissen.
„Nur das Beste für unsere Souveränin!“, erklärte er und hielt Eara das andere Stück hin. Sie nahm es mit spitzen Fingern entgegen und schnupperte daran. Es roch tatsächlich nicht verdorben, nur leicht süßlich, und es besaß die angenehme Konsistenz frisch gebackenen Brotes. In Hadria gab es nur wenig Getreide, entsprechend teuer war auch Mehl. Frosch hatte sich unaufgefordert in Unkosten gestürzt?
„Willst du nichts davon essen?“, fragte Eara ihren Wirt.
Der griff sich die beiden Schüsseln mit Suppe und erwiderte: „Irgendjemand muss sich ja schließlich um das kümmern, was Ihr nicht zu schätzen wisst. Banausen!“
Mortol verspeiste seine letzten Krumen und lächelte müde. Eara schnupperte vorsichtig am Brot, dann stopfte sie den ganzen Kanten in ihren Mund und schluckte unter den aufmerksamen Blicken ihres Gastgebers. „Ich denke, wir sollten uns Schlafen legen, damit wir ausgeruht sind, wenn wir dem Herrn der Schatten gegenübertreten. Komm, Mortol.“ Sie stand auf und Mortol begleitete sie schwerfällig nach oben.
Eara folgte dem Magier in seine Kammer und schloss schnell die Tür. Dann kauerte sie sich in eine Ecke und steckte sich zwei Finger tief in den Mund. Als der Würgereiz einsetzte war sie bereit, sie erbrach sich in die Ecke und beschmutzte ihre Robe nicht. Sie vergewisserte sich, dass das Brot kaum verdaut war, ehe sie die Spuren mit einer zerknüllte Decke verbarg. Mortol sah sie blinzelnd an. „Das Brot war vergiftet!“, enthüllte sie ihm.
„Was? Wie bitte? Und das sagt Ihr mir erst jetzt?“
„Nur ein Schlafgift, der süßliche Geruch ist eindeutig. Sei unbesorgt, es ist nicht gefährlich.“
„Aber … es ist gefährlich, schlafend in diesem … Bett zu liegen, wenn Frosch genau das von uns möchte.“
„Ich gebe auf uns beide Acht.“ Sie wartete, bis er eingeschlafen war, dann verließ sie Mortols Kammer und legte sich auf ihre eigenen Decken. Die Wanzen ignorierte sie, jetzt gab es Wichtigeres.
Nach dem dritten Teil einer Stunde kam Frosch herein und vergewisserte sich, dass sie schlief. Dann ging er wieder nach unten.
Es verging noch fast eine weitere Stunde, bis die Tür sich erneut öffnete.
„Hast du getan, was von dir verlangt wurde?“, fragte eine Eara unbekannte tumbe Stimme.
„Ja! Sie haben das Brot gegessen und schlafen tief und fest, ihr könnt sie nun zu Eurem Meister bringen.“, antwortete Frosch eilfertig.
Jemand verpasste Eara eine heftige Ohrfeige, doch sie war darauf vorbereitet gewesen und zuckte mit keiner Wimper. „Nun gut! Ich will für dich hoffen, dass du die Wahrheit sagst. Der Herr der Schatten verzeiht keine Nachlässigkeit.“ Eara wurde hochgehoben, dann jedoch unsanft wieder fallengelassen. „Was ist das? Warum lässt sie ihren Stab nicht los?“
„Oh, wer weiß schon, was für Geheimnisse uns Nichtmagiern verborgen bleiben?“, erwiderte Frosch mit vor Nervosität bebender Stimme.
Der Unbekannte grunzte und hievte Eara auf seine massigen Schultern. Er trug sie die wackelige Treppe herunter und dann hinaus in die nächtliche Kälte.
„Du hast es gut!“, klagte eine näselnde Stimme. „Meiner wiegt wahrscheinlich doppelt so viel.“
„Wir können gerne tauschen, wenn du möchtest. Ich trage lieber den Fetten als die hier umher. Sie ist nicht gerade für ihre große Gnade bekannt, weißt du.“
„Ich glaube, ich habe es vielleicht doch nicht so schlecht.“
„Gut, dann halt die Klappe und lass uns gehen, bevor wir noch entdeckt werden.“

Nach einem Fußweg, der etwa den dritten Teil einer Stunde dauerte, und einem lauten Pochen sagte eine weibliche Stimme: „Ich öffne niemandem, mit dem ich so wenig gemein habe.“
„Aber einen Schatten werfen wir alle.“, gab Earas Träger die anscheinend korrekte Antwort, zumindest öffnete sich eine Tür und ein Schwall warmer Luft schlug Eara entgegen. Die beiden betraten die Quelle dieser Wärme und gingen dann weiter, anhand der Bewegungen erkannte Eara, dass sie eine Treppe stiegen, ob hinab oder hinauf wusste sie nicht. Der Auf- oder Abstieg beanspruchte auch noch eine überraschend lange Zeit und Mortols Träger schnaufte bald ziemlich heftig. Je weiter sie kamen, desto wärmer wurde es; als die Treppe schließlich endete, war es drückend heiß.
Noch ein kurzes Stück wurde Eara getragen, dann vernahm sie plötzlich ein rhythmisches Ticken und Stampfen. Sie wurde auf einen Teppich oder ein dickes Tuch abgelegt, und sie konnte hören, dass es mit Mortol ebenso geschah. „Wie enttäuschend!“, erklang eine tiefe, angenehme Stimme. „Ich hätte mehr von der berühmten Eara erwartet, als dass sie sich ausgerechnet von Frosch übertölpeln lässt.“
Eara schlug die Augen auf. Sie befand sich in einem riesigen, achteckigen Raum, mit allerlei Kisten und Regalen gefüllt und glücklicherweise in Halbdunkel getaucht, ansonsten hätten ihre Augen nach der langen Zeit, die sie sie hatte geschlossen halten müssen, protestiert. Zwei große Gestalten standen neben ihr und Mortol, zwei weitere neben einem thronähnlichen Stuhl, der mit der Rückenlehne an einem großen Metallkasten in der Mitte des Saals befestigt war, von dem die seltsame Hitze auszugehen schien. Neben diesem Stuhl stand ein Schemel mit einer mit einem schwarzen Tuch abgedeckten Schale, auf dem Thron saß ein unscheinbarer Mann in leichten schwarzen Gewändern und mit einer dünnen Goldkette um den Hals. Seine grauen Haare waren ordentlich zurückgekämmt und seine grünen Augen blickten wach durch den Saal.
Noch hatte niemand bemerkt, wie sich Earas Augen geöffnet hatten, doch jetzt ließ sie die schwarzen Schlieren um sich anschwellen, während sie sich selbst magisch in die Luft erhob und stehend wieder absetzte. Die beiden Wachen zogen jeweils ein schartiges Schwert, doch Earas Dunkle Magie riss ihnen die Waffen aus der Hand und schleuderte sie davon.
„Wie enttäuschend! Ich hätte mehr vom mysteriösen Herrn der Schatten erwartet, als dass er mich mitten in sein Versteck führt.“
Die beiden Wächter neben dem Thron und die beiden Träger zogen jeder zwei Dolche, als ob sie mit diesen kümmerlichen Waffen etwas gegen ihre Dunkle Magie ausrichten könnten. Mit furchterfüllten Gesichtern blickten sie ihre finstere Gestalt an.
Der Herr der Schatten dagegen lächelte nur leicht. „Willkommen in meinem bescheidenen Reich, Eara, ehemalige und zukünftige Souveränin Hadrias. Ich bin wirklich froh, dass Ihr meine Erwartungen doch nicht enttäuscht. Auch wenn die Anwesenheit an einem Ort noch keinen Aufschluss über seine Position gibt, so muss ich doch eingestehen, dass Ihr wach hierhergelangt seid.“
„Selbstverständlich weiß ich, wo ich bin. Die Länge des Weges, dann noch viele Treppen, Größe und Form dieses Raumes und schließlich die heiße Maschine hinter Euch. Ihr hättet Euch ein weniger markantes Versteck suchen sollen als ausgerechnet die Gewölbe unter dem Oktron, Herr der Schatten.“
Der lachte leise in sich hinein. „Ach, Ihr wisst ja gar nicht, wie gut es tut, endlich wieder jemanden zu treffen, der richtig denken kann, nach all der Zeit mit diesen zermürbenden Trotteln. Nichts für ungut, eure Stärken liegen woanders.“, wandte er sich an seine Wächter, dann erklärte er Eara: „Vielleicht fragt Ihr Euch, warum niemand mich hier gefunden hat. Aber diese Ebene wurde schon vor langem verlassen, die Maschine hinter mir wird von oberhalb gewartet. Es kommt niemand her und praktischerweise gibt es einen weiteren Eingang außerhalb des Oktrons. Außerdem kann man sich hier das sündhaft teure Feuerholz sparen.“
„Eigentlich frage ich mich eher, ob Ihr freiwillig mit mir zusammenarbeitet oder nicht.“
„Wenn der Preis stimmt …“
„Den Preis bestimme ich!“ Ihre Schlieren schnellten vor, um den Herrn der Schatten zu ergreifen. Doch plötzlich stießen sie auf unsichtbaren Widerstand, etwas, was Eara so sehr überraschte, dass sie ihren Angriff abbrach.
„Jetzt enttäuscht Ihr mich doch, Eara. Haltet Ihr es etwa für Zufall, dass ich ausgerechnet das Oktron als mein Versteck wählte? Dass ich schwarze Kleidung trage? Dass mein Pseudonym Herr der Schatten lautet? Ja, auch ich beherrsche Dunkle Magie. Ich war ein gewöhnlicher Zauberer des Feuers, bis ich herausfand, dass es schnellere Wege zum Erfolg gibt. Zweifelsohne seid Ihr mir an magischer Macht überlegen und könntet mich hier und jetzt töten, aber Ihr solltet Euch klarmachen, ob Ihr das wirklich wollt. Ich beherrsche die Kriminalität dieses Landes, mit meinem Tod wird ein anderer diesen Platz einnehmen. Jemand, der sich nicht - wie ich - zumindest ein wenig um die Bevölkerung sorgt. Unter meiner Führung geht es auch den Menschen Hadrias besser als unter der eines anderen. Ich bin nicht für eine hohe Anzahl durchgeschnittene Kehlen und Raubmorde bekannt. Ich möchte nicht behaupten, die Kriminalität sei zurückgegangen, aber sie hat sich so entwickelt, dass die Menschen nicht allzusehr darunter zu leiden haben. Wenn Ihr mich tötet, dann ist das vorbei. Ich werde mich also nicht von Euch bedrohen lassen, denn Ihr habt Eure Klugheit bewiesen. Ihr wisst, welche Konsequenzen mein Tod auch für Euch hätte.“
Eara nickte langsam. Kurzfristig wäre der Tod des Herrn der Schatten ein Erfolg für sie und für Hadria, doch langfristig war er besser als ein anderer. Dazu kam, dass es sie nicht gerade glaubwürdiger machte, wenn sie diejenigen bedrohte, die mit ihr verhandeln wollten. Und außerdem wäre es in Zukunft möglicherweise hilfreich, den Meister des Schwarzmarktes zu kennen. Sein Tod würde kommen, sie kannte sein Versteck. Aber erst, wenn sie zusammen mit ihm auch den gesamten Schwarzmarkt vernichten könnte. Sie würde es so machen wie Nukia: Erst Informationen sammeln und dann zuschlagen.
„Ich möchte nur eine unbedeutende kleine Information.“, antwortete sie. „Wer hat in letzter Zeit das Gift eines Forinkäfers erstanden?“
„Eine unbedeutende kleine Information? Nein, nicht wirklich! Ihr seid Euren Feinden innerhalb der beiden Orden auf der Spur. Ich weiß, woher die Verschwörer das Gift haben. Aber was bekomme ich im Austausch für meine Antwort?“
„Was verlangt Ihr?“
„Oh, nur eine unbedeutende kleine Gabe: Nukias Kopf!“ Noch immer lächelte er freundlich.
„Wie war das mit der geringen Anzahl an durchgeschnittenen Kehlen?“
„Den Rest könnt Ihr mir gerne mit dazugeben. Aber Scherz beiseite, das ist ein Ausnahmefall. Sie hat gewaltiges Chaos hier reingebracht, das kann ich nicht dulden.“ Anscheinend bemerkte er Earas ablehnende Haltung. „Ihr wisst selbst, welchen Schaden sie angerichtet hat. Sie hat unzählige Menschen zu einem qualvollen Tod verdammt. Alle, die von irgendwelchen illegalen Drogen abhängig waren, leiden dank ihres Vorstoßes.“
„Sie hat also tatsächlich alle Händler erwischt? Alle Waren vernichtet? Wirklich beeindruckend. Aber was Ihr sagt, ist nur die halbe Wahrheit. Die Menschen leiden, weil skrupellose Verbrecher diese Substanzen, die nicht ohne Grund verboten waren, unters Volk gebracht haben. Ich bin mir sicher, auch Ihr wart daran nicht unbeteiligt. Und immerhin einer, der abhängig ist, muss nicht leiden.“ Eara deutete auf den schlafenden Mortol.
„Auch er quält sich!“; erwiderte der Herr der Schatten. „Wenn bisher einer seiner Lieferanten zu frech wurde, dann hat er einfach den Anbieter gewechselt. Aber jetzt? Jetzt ist Mortol nicht nur von Aschenbaumharz, sondern auch von Nukia abhängig.“
Eara dachte daran, wie verzweifelt Mortol nach Nachschub gefragt hatte, wie lange Nukia sich Zeit gelassen hatte. „Selbst wenn ich es wollte, ich könnte es nicht. Ich bin nicht mehr die Souveränin.“
„Aber Ihr werdet es bald wieder sein, das wissen wir beide. Na los, Eara!“, verlangte der Herr der Schatten. „Ihr wisst, dass sie gegen die Vereinigung der beiden Orden ist. Sie ist also ohnehin eine Gegnerin. Versprecht mir ihren Kopf, und Ihr werdet es nicht bereuen.“
Eara wägte ab. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass die Verschwörer sie ermorden würden, dass es ihnen tatsächlich gelänge? Mit dem Hinweis auf das Forinkäfergift wäre es ihr sicherlich möglich, endlich herauszufinden, wer ihre anonymen Feinde waren. Vielleicht konnte sie Dutzende Leben retten, wenn sie Nukia verkaufte. War das nicht ein guter Preis?
Nein!, schrie die Stimme der Schwäche entsetzt. Die lange unterdrückten Gefühle versuchten mit aller Macht, ihre Entscheidungsfähigkeit zu trüben, ihren klaren, unabhängigen Verstand zu korrumpieren. Wie immer vergeblich.
Eara vertrieb die Stimme der Schwäche. Sie brauchte keine schwachen Gefühle, um die Nachteile zu sehen. Nicht nur war sie zuversichtlich, die Attentate auch so abwehren zu können, vor allem hatte Nukia trotz ihrer Fehler hervorragende Arbeit geleistet. Eara wäre unglaubwürdig, wenn sie sie jetzt verkaufen würde, selbst wenn die meisten das höchstens erahnen könnten. Es wäre ein Pakt mit der Finsternis selbst.
„Ich bin nicht einverstanden!“, entschied sie schließlich.
Der Herr der Schatten schüttelte bedauernd den Kopf. „Wie schade! Dann … versprecht, meinen Anteil an Eurem Erfolg nicht zu vergessen. Garantiert mir einen beliebigen Gefallen, der weniger groß ist als Nukias Tod.“
„Ein Freibrief? Darauf kann ich mich nicht einlassen, das wisst Ihr genau. Ich werde Euch nicht vergessen, weder ob Ihr mir helft, noch ob Ihr mir Eure Hilfe versagt. Ihr könnt selbst entscheiden, ob Ihr eine Souveränin wollt, die Euch gewogen ist, oder eine, die gegen Euch arbeitet.“
Der Herr der Schatten stand von seinem Thron auf und es wurde offensichtlich, dass seine Leibwächter ihn um mindestens zwei Köpfe überragten, auch wenn in ihrer beider Köpfe zusammen vermutlich weniger Inhalt war als in dem ihres Herrn. Er kam zwei Schritte auf sie zugelaufen und die Wächter folgten ihm unwillig. „Womit wir wieder bei den Drohungen angekommen wären. Ich will Euch nicht zum Feind, ich möchte Euer Wohlwollen. Aber nicht zu diesem Preis. Ihr verlangt, dass ich mein Wissen preisgebe, ohne etwas Handfestes dafür zu bekommen.“
„Ich verlange gar nichts! Ich zeige Euch nur Eure Alternativen auf. Wenn Ihr nützlich für mich seid, dann wird sich das für uns beide auszahlen.“
Der Meister des Schwarzmarktes verschränkte die Arme. „Wenn Ihr mir nur einen halben Preis bieten könnt, dann habe ich auch nur halbe Antworten für Euch: Ich verrate Euch, dass die Verschwörer das Gift nicht gekauft, ertauscht oder sonstwie erstanden haben.“
„Also konfisziert. Der Gifthändler!“, vermutete Eara, doch der Herr der Schatten lachte nur.
„Ja, das wäre naheliegend, nicht wahr? Die Zauberer entdecken einen Schmuggler von seltenen Giften, konfiszieren auch eine Ampulle Forinkäfergift und verstecken sie, senden ein Fläschchen nach Yra. Aber leider muss ich Euch enttäuschen. Obwohl die Verschwörung über die Razzia an Forinkäfergift gelangt ist, hat niemand das Gift gestohlen.“
Ratlos versuchte Eara, sich einen Reim auf diese Auskünfte zu machen. Niemand hatte das Gift erworben oder gestohlen, dennoch waren die Verschwörer über den Schwarzmarkt daran gelangt. Log der Herr der Schatten?
„Wenn Ihr nicht darauf kommt, dann vergesst nicht, dass ich äußerst entgegenkommend war und dass Ihr die Antwort mit etwas mehr Bereitschaft hättet bekommen können. Und wenn Ihr das Rätsel löst, dann erinnert Euch an den, dem Ihr Eure Hinweise zu verdanken habt. Ich denke, das war es. Den Ausgang findet Ihr selbst, es gibt nur einen Weg. Und vergesst nicht Euren schlafenden Gefährten.“

Frosch war nicht zu finden, als Eara zurück zum Rostigen Anker kam. Sie verfrachtete als erstes Mortol in sein Lager und bemerkte dabei, dass die Decke, mit der sie die Überreste ihres Abendessens verdeckt hatte, verschwunden war. Ein unangenehmer Geruch breitete sich im Raum aus. Frosch musste es entdeckt und aus dem unverdauten Brot seine Schlüsse gezogen haben. Er hatte erst versucht, die mächtigste Dunkle Magierin Hadrias zu vergiften und anschließend dem Herrn der Schatten eine wache Eara untergeschoben, die er für schlafend gehalten hatte. Er hatte sich in nur einer Nacht viele mächtige Feinde und jetzt das einzig Vernünftige gemacht: Er war getürmt.
Sie begab sich in ihre eigene Kammer, sprach wie üblich ihre Schutzzauber, und legte sich schlafen.


Früher Vormittag,, 30. Herbsttag 76 A.Z.
Sammelplatz der Arati in Nordgard, Hadria

Am nächsten Morgen brachen Eara und Mortol erst spät auf. Der Magier hatte erst vermutet, die Nacht sei ereignislos verlaufen, bis Eara ihn aufgeklärt hatte. Sie hatte ihm grob von ihrem Gespräch mit dem Herrn der Schatten berichtet, auch von seiner Forderung nach Nukias Kopf. Das Versteck des Herrn der Schatten und seine Identität als Dunkler Magier verschwieg Eara Mortol, auch von ihren Zweifeln gab sie nichts preis, sie berichtete nur, sie habe selbstverständlich abgelehnt, was Mortol allerdings nicht allzu sehr zu beglücken schien. Seine Abneigung gegen Nukia schien tiefer zu reichen, als Eara erwartet hatte.
Für den Weg nach Yra benutzten sie einen Schlitten. Die Arati, die Klippenhirten, die als Nomaden durch die einsamen Weiten Hadrias zogen, hatten schon immer Mühe gehabt, in der kargen Landschaft Hadrias zu überleben. Sie bevölkerten den Wintermarkt, die Stadt der Arati, auch wenn diese Bezeichnung irreführend war, da keiner der Arati dort fest lebte. Sie kamen nur regelmäßig dorthin, um zu verkaufen, was sie gefunden, erbeutet und angefertigt hatten. So regelmäßig, dass dort immer einige Zelte standen, in denen etwas verkauft oder – häufiger – getauscht wurde.
Mit der Zeit wurde der Wintermarkt immer öfter auch von Menschen aus Yra oder Nordgard besucht, sodass einige der Arati anboten, die Strecke mit Hundeschlitten abzufahren und die Besucher gegen Geld sicher durch das Eis zu geleiten. Diese Verbindungen gingen schneller und waren sicherer, als wenn man zu Fuß oder mit einem Esel unterwegs war, und da man mit einem Schlittenwechsel auch von Yra nach Nordgard und zurück gelangen konnte, wurden die Schlitten schon bald zu einem schnellen Fortbewegungsmittel für die Wohlhabenderen.
Sie mussten sich nicht lange gedulden, bis ein Schlitten vor Nordgard erschien. Mit dem Arati einigten sie sich schnell auf einen Preis. Die Hunde jaulten, als Eara den Schlitten bestieg, doch sie waren gut trainiert, der unangenehme Gast sorgte höchstens dafür, dass sie noch schneller liefen, um sie so rasch wie möglich wieder loszuwerden.

Dennoch wurden sie von einem Schneesturm eingeholt, der bis in den Abend dauerte. Also schlugen sie drei winzige Zelte auf, in jedes kroch einer der drei. Es war noch nicht so kalt, dass sie sich gegenseitig hätten aufwärmen müssen. Während der Wind heulte und Schnee sich auf die Zeltplane warf, bis nur noch die schornsteinartige Öffnung oben aus dem Schnee ragte, überlegte Eara, was der Herr der Schatten gemeint haben könnte. Wie konnten einige Zauberer an Forinkäfergift gelangen, ohne es zu stehlen oder zu erwerben? Wie sonst sollte das möglich sein? Bisher war es niemandem gelungen, die Flüssigkeit zu synthetisieren, genau so wenig wie ein Gegenmittel. Und selbst wenn sie das geschafft hatten, inwiefern hing das mit der Razzia zusammen? Und woher hätte der Herr der Schatten davon wissen sollen?
Da hatte sie plötzlich eine Idee. Wenn sie bedachte, was sie von Nukia und dem Herrn der Schatten erfahren hatte, dann wäre das möglich. Sogar sehr gut möglich … Aber das würde auf jeden Fall bedeuten, dass es auch in Nordgard jemanden gab, der die Verschwörung unterstützte. Und plötzlich kam ihr noch ein weiterer Verdacht…
Auch wenn der Wind am Abend so plötzlich erstarb, wie er gekommen war, weigerte sich der Arati – nachdem sie sich aus dem Schnee gegraben hatten – in der Nacht noch bis zum Wintermarkt weiterzufahren, mit der Begründung, die Steine seien im Dunkeln nicht zu erkennen. Auch Nachtwachen hielt er für überflüssig, die Hunde würden sie vor allen Gefahren warnen. Und so verzogen die beiden Magier und der Hundeführer sich wieder in ihre Zelte.


Mondhoch, 30. Herbsttag 76 A.Z.
Östlich des Wintermarktes, Hadria
Mortol kletterte aus seinem kleinen Zelt. Er fror in der Nacht, doch schon der Sternenhimmel entschuldigte ihn für die Mühe. Da Neumond war, waren die kleinen Lichter hervorragend zu erkennen. Sie funkelten wie lauter Goldstücke. Wie ein riesiges Gebäude mit tausenden von hell erleuchteten Fenstern. Wie Abermillionen von strahlenden Augen, stumme Zeugen seines schändlichen Tuns … Schaudernd wandte sich Mortol ab. Sein Blick fiel auf die Gipfel des Eisgebirges. Besonders die Silhouette von Eara stach hervor, des höchsten Berges. Beinahe hätte er aufgeschrien. Wieso erinnerte ihn selbst die Natur an das, was er zu erledigen hatte? Er spürte, wie eine einzelne Träne aus seinem Auge floss und auf seiner Wange sofort gefror.
Mit zitternden Fingern nestelte Mortol an dem Beutel um seinen Hals. Er wusste nicht, ob das Zittern von der Kälte oder seiner unbezähmbaren Gier stammte. Seine steifen Fingerspitzen ertasteten die letzten Reste des kostbaren Harzes und zogen es hervor. Im silbernen Nachtlicht glänzte der Klumpen fast schwarz. Hektisch steckte ihn Mortol in seinen Mund und spürte sofort eine angenehme innere Wärme. Das Zittern erstarb. Endlich! Sprudelndes Glück erfüllte ihn. Sein Segen!
Dann jedoch hatte sich alles aufgelöst, vergeblich tastete seine Zunge nach letzten Resten. Augenblicklich kehrte die Kälte in seine Glieder zurück. Es war nicht genug! Er brauchte mehr! Aber mehr hatte er nicht, er würde es sich erst verdienen müssen. Seinen Nachschub! Seinen Fluch!
Leise schlich Mortol zu Earas Zelt. In den letzten Nächten war sie stets von einer ganzen Reihe Schutzzauber umgeben gewesen, geradezu paranoid war das. Jetzt jedoch war sie ungeschützt. Seine Hände griffen wie von selbst nach den Schnüren und fädelten sie auf. Lautlos schlug er die Plane beiseite und hoffte, dass Eara nicht von der Kälte aufwachen würde. Seine Hände griffen nach der Ledertasche, die er jetzt schon die ganze Reise dabei gehabt hatte. Vor allem unnützes Zeug mit der einzigen Aufgabe, zu verbergen, was Eara nicht hatte entdecken dürfen.
Er zog die kupferne Röhre aus der Tasche. Die Sterne spiegelten sich verzerrt in dem Metall, das fast so golden schimmerte wie sein kostbares Verderben, dessen er so dringend bedurfte. Seine Haut klebte an dem eisigen Metall und Mortol löste seine Hände rasch davon, um keine Hautfetzen zu hinterlassen. Er zog ein Paar Handschuhe hervor und streifte sie über seine Finger.
In ein unscheinbares Stoffbündel war der Bolzen gewickelt. Er holte ihn heraus und betrachtete die schwarze Spitze. Forinkäfergift! Er bemühte sich, sie gar nicht erst zu berühren und ließ den Bolzen in die Röhre gleiten. Er richtete die Öffnung des Bolzenwerfers auf den Zelteingang, doch Eara war nicht zu erkennen, nur wirbelnde Schatten. Die Dunkle Magie beschützte ihre Herrin selbst im Schlaf, doch das würde Mortol nicht aufhalten! Vorsichtig näherte er sich der Dunkelheit.
Plötzlich erschien von über ihm ein geisterhaftes grünes Licht. Er blickte nach oben und bestaunte das grüne Band, das sich zwischen den Sternen hindurchschlängelte. Für einen kurzen Moment vergaß er, warum er hier war. Dann jedoch drehte er sich schweren Herzens wieder zum Zelt um. Das fahle Licht vertrieb die Dunkelheit und erhellte Earas Gesicht.
Ich gebe auf uns beide Acht! Mortol schluckte und richtete den Bolzenwerfer genau auf ihre Stirn. Die Verschwörer sind verblendete Narren, gewaltbereit und radikal. Angeekelt von sich selbst schüttelte Mortol den Kopf. Was man nicht alles zu tun bereit war, wenn man in Not war. Er tat, was diese Verschwörer von ihm wollten, nur um seinetwillen. Wären sie nicht, er wäre schon lange für die Vereinigung der beiden Orden eingetreten. Aber ihm blieb keine Wahl, als diese visionäre Idee nun für immer zu vernichten. Sein Ziel lag nur eine kleine Handbewegung entfernt. Sein Finger krümmte sich um den Hebel. Warum mussten seine Hände nur so zittern? Es war nicht die Kälte und auch nicht seine Sucht, sondern allein seine eigenen Gefühle. Er verriet, was er für richtig hielt!
Das Nordlicht ließ Earas Antlitz fahl leuchten, dennoch wirkte sie friedlich im Schlaf. Mortol erkannte den Frieden, den sie schon seit so langer Zeit nicht mehr ausstrahlte. Er würde ihr wieder Frieden schenken!
Das kupferne Rohr hob sich und behutsam schob Mortol es noch näher an Earas Kopf. Dann ließ er es sinken. Er konnte es nicht! Niedergeschlagen gestand Mortol sich ein, dass er nicht einmal dazu fähig war, sich selbst zu verraten. Er trat einige zitternde Schritte zurück und schlug die Plane leise wieder zu. Dann schlich er zurück zu seinem Zelt.



Eara lauschte Mortols verklingenden Schritten. Ihr Verdacht hatte sich bewahrheitet. Aber immerhin hatte Mortol nicht versucht, sie zu ermorden. Zwar hätte sie ihre Schatten sofort verdichten und sich schützen können, aber das hatte der Magier nicht wissen können. Wenn die Zeit reif war und sie ihn enttarnte, dann würde sie ihn vielleicht doch nicht hinrichten lassen.
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q - Der Herr der Schatten (Fortsetzung)

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:09

Abenddämmerung, 31. Herbsttag 76 A.Z.
Speisesaal in der Feste von Yra, Hadria

Eara trat in den verlassenen Speise- und Versammlungssaal und wartete. Zuerst erschien Gundeyn, der dicke Novize kam selbstständig an. Eara ließ sich von ihm berichten, was in ihrer Abwesenheit geschehen war.
Hauptsächlich war Frysirr geschehen, der in üblicher Chaotik willkürliche Befehle gegeben hatten, deren Irrsinn nicht mehr zu überbieten war. Am Anfang war er der Meinung, dass es umständlich war, einerseits Schnee zu schmelzen, um an frisches Wasser zu gelangen, andererseits dagegen Meerwasser zu erhitzen, um das übrigbleibende Salz einzusammeln und Suppen damit zu würzen. Viel einfacher wäre es doch, in Zukunft Meerwasser in jede Suppe zu schütten, um zwei Probleme auf einen Schlag zu lösen! Er selbst war der einzige, der die Kreation tatsächlich verspeiste und sich anschließend angeblich jedes Mal übergab, die Zauberer und Novizen dagegen hungerten.
Später dann verkündete Frysirr, jeder Zauberer solle - damit niemand von hinten von einem Verschwörer getötet werden konnte - mindestens eine Glocke tragen. Die ersten Glöckchen waren kaum beschafft, da dachte sich der verwirrte Souverän bereits, viele Glocken seien besser als eine, und befahl als Folge, dass alle andere Kleidung außer Glocken verbrannt und verboten gehörte. Das war wohl der Zeitpunkt, an dem die Obersten zu dem Schluss kamen, dass sie etwas unternehmen mussten. Ihre Versuche, sich auf einen anderen Souverän zu einigen, blieben jedoch erfolglos und Frysirr machte keine Anstalten, abzudanken. Die restliche Zeit wies er die Zauberer an, Holz zu schmelzen, einen zweiten Eisernen Turm aus Schnee zu bauen und die Unterwelt Hadrias auf den Mond zu schießen.

Kaum war Gundeyn fertig mit seinem Bericht, erschienen Torven und Variah. Sie gaben sich alle Mühe, mit nichts als Glocken am Leib würdevoll zu wirken. Eara bestaunte die Kreativität, die sie bewiesen hatten, um nur aus bimmelnden Metall ein zugleich stabiles und flexibles Kleidungsstück zu fertigen. Sie fragte sich, wie viel davon wohl Zauberei oder Dunkle Magie und wie viel Handwerkskunst war.
Die Obersten scheuchten Gundeyn, der sich wie die meisten niederen Zauberer über das Verbot seines Souveräns einfach hinweggesetzt hatte, hinaus und stellten sich dann vor Eara auf. „Möglicherweise war es nicht unsere beste Idee, Frysirr in dein Amt zu berufen.“, gestand Torven. „Aber selbstverständlich ernennen wir dich zur Souveränin, damit ist das Problem ist gelöst.“
„Oh, ich weiß nicht.“, entgegnete Eara. „Ich verspüre kein Verlangen danach, eine Souveränin zu sein, die von den beiden Obersten so wenig geschätzt wird, dass sie selbst Frysirr bevorzugen. Wie könnte ich jemals regieren, wenn niemand bereit ist, mit mir zu kooperieren?“
Variah zuckte zusammen und erfüllte die Halle mit einem lauten Klingeln. „Was soll das? Wir sind nicht deine Diener!“
„Wenn du lieber auf Frysirr beharren möchtest, dann ist das für uns alle und für ganz Hadria eine Katastrophe!“, ergänzte Torven.
„Das stimmt nicht ganz. Denn alle Zauberer wissen, wer mich abgesetzt und den verwirrten Souverän erwählt hat. Die Zustimmung für euch bröckelt, und die für die Vereinigung wächst mit jedem Tag, der verstreicht. Je länger die Zauberer begreifen können, was meine Herrschaft für sie bedeutete, desto eher erkennen sie auch meine Pläne für die Zukunft an. Ich bin keineswegs darauf angewiesen, sofort wieder Souveränin zu werden.“
„Ihr wollt uns erpressen?“, kreischte Variah empört. „Ihr solltet wissen, dass wir die Vereinigung niemals unterstützen werden.“
„Ja, ich erpresse euch, so wie ihr mich erpressen wolltet. Und ja, ich weiß wie weit ich gehen kann. Ihr werdet niemals die Vereinigung unterstützen, das ist mir durchaus bewusst. Aber eure Nachfolger könnten das … Tut, was ich schon länger von euch wollte, und ernennt die Hitars zu euren Vertretern!“
„Ich habe bereits Selarsa ...“, begann Torven, doch Eara unterbrach ihn.
„Soll ich dafür sorgen, dass sie abdankt, oder erledigst du das?“
Kurz hielt der Oberste des Turmes ihrem Blick stand, dann wandte er seine Augen ab. „Morgen um diese Zeit wird Selarsa von ihrem Amt als stellvertretende Oberste zurückgetreten sein und Hitar wird ihren Posten übernehmen.“ Variah nickte und signalisierte mit mühsam unterdrücktem Zorn ihre Zustimmung.
„In diesem Fall nehme ich das Angebot der beiden Obersten gerne an und kehre in mein altes Amt zurück. Ich werde meine Aufgabe mit Ehre und Würde erfüllen. Und als erstes schmelzt die Glocken wieder ein und buddelt die Kleidung wieder aus, kippt das Meerwasser zurück dahin, wo es hingehört und hört auf, in einem Turm aus Schnee Holz zu schmelzen. Entfernt Frysirr sofort aus meinen Gemächern und ruft die Hitars dorthin. Hadrias neue alte Souveränin ist zurückgekehrt!“

Nach einem kurzen Abstecher zu Varkurs Grab begab sich Eara zu den Gemächern des Souveräns. Das Mahnmal hatte sie in der Hoffnung besucht, die Spuren ihres Kampfes gegen den Schwarzen Herold seien möglicherweise unbemerkt geblieben, in diesem Fall hätte sie das Grab jetzt, wo sie ihre Kräfte weitestgehend regeneriert hatte, wieder in seinen alten Zustand versetzt, damit ihre Feinde die Verwüstung nicht gegen sie verwenden könnten. Allerdings führte eine deutlicher Pfad zu dem Grab, die Schäden waren also in jedem Fall bereits entdeckt.
Vor ihrer Kammer wartete Gundeyn mit einem Kästchen in den Händen. „Glückwunsch zur Ernennung!“, gratulierte er, wie üblich stets auf dem neuesten Stand. „Jetzt, wo Ihr wieder hier seid, solltet Ihr Euren Anhängern ein Zeichen setzen. Ich denke, es wäre gut, wenn auch Ihr das Zeichen tragt, das ich als Symbol für eine Vereinigung entworfen habe.“
Mit diesen Worten klappte er das Holzkästchen auf und präsentierte eine kleine Brosche aus Messing. Im Zentrum prangte der Eiserne Turm, umgeben von einem Ring aus Feuer. Eine Verschmelzung der beiden Ordensembleme. Behutsam ließ Eara die Brosche um ihren Hals – eine silberne Flamme – in ihre Tasche gleiten und steckte sie sich an. „Und haben auch unsere Gegner ein Zeichen bekommen, wie ich es gefordert habe?“
Gundeyn nickte beklommen. „Sie haben erstaunliches Geschick bewiesen.“ Er fingerte kurz in den kleinen Taschen seiner Kutte und zog eine schwarze Brosche hervor. Interessiert begutachtete Eara das Schmuckstück ihrer Feinde. Auch hier im Zentrum der Eiserne Turm, doch die Flammen waren so angeordnet, dass es schien, als würde er lichterloh brennen. Ein gelungenes Zeichen für die Zerstörung, die Earas Idee in den Augen ihrer Gegner hervorrufen würde.
„Einige tragen es bereits.“, fügte Gundeyn rasch hinzu. „Auch Zauberer, die ich anders eingeschätzt hätte. Insbesondere Hedal.“
„Hedal? Der Mechanicus? Dem ist die Politik der Orden doch vollkommen egal!“
„Demnach ist es Zufall, dass er ein riesiges Abbild des brennenden Turmes über der Labortür aufgehängt hat?“, antwortete Gundeyn ungewöhnlich patzig.
„Das kommt … überraschend. Ich werde bei Gelegenheit mit ihm sprechen. Ist es dir eigentlich gelungen, die Schäden durch das kleinzuhalten, was ich in Varkurs Grab angestellt habe?“
„In Varkurs Grab? Das Verbot dorthinzugehen hat die Zauberer höchstens verwirrt, aber das ist doch ohnehin schon ewig her, da erinnert sich keiner mehr dran.“
„Nein, ich meine …“ Sie brach ab, als sie die Verwirrung in Gundeyns Gesicht bemerkte. Wusste er es etwa noch nicht? Unsinn, er erfuhr alles, was bei den Zauberern die Runde machte, als erstes. Anscheinend hatten die Besucher von Varkurs Grab Earas Vandalismus unerwähnt gelassen, es handelte sich also um Verbündete.
„Vergiss es!“, sagte sie zu Gundeyn und ließ ihn vor ihrem Raum stehen.
Innen erwarteten sie die beiden Hitars, die bald schon die Stellvertreter der Orden sein würden. „Ich muss mit Nordgard in Kontakt treten.“, erklärte sie ihnen kurz darauf und richtete sich dabei explizit an den Hitar vom Orden des Feuers. „Kannst du mir beibringen, mithilfe des Gedankenspiegels zu kommunizieren?“
„Im Prinzip handelt es sich um eine Übertragung von Bildern und Geräuschen, die durch zwei Quecksilberflächen, deren Position der Magier kennt, gesendet werden. Aber das ist komplexe Dunkle Magie, die Oberste wird damit nicht einverstanden sein und es zu lehren wird sehr lange dauern.“
„Wenn es lange dauern wird, dann benötige ich dich als Sprachrohr. Besorge die Quecksilberschale und bringe sie hierher! So schnell wie möglich.“

Eine Stunde später führte sie erst ein kurzes Gespräch mit Sargan, dem Magier, der neben Nukia die Zauberer des Feuers in Nordgard im Namen der Hohen Zauberer regierte. Danach beschrieb sie Hitar die Position einer weiteren Schale. Der Zauberer flüsterte etwas und das Quecksilber nahm eine schwarze Färbung an.
„Herr der Schatten!“, rief Eara. „Wir müssen sprechen! Ich weiß, dass Ihr mich hören könnt, ich habe die Schale neben Eurem Thron bemerkt, und welchen Zweck sie hat ist mir klar geworden, als Ihr mir von Eurer Vergangenheit bei den Zauberern des Feuers berichtet habt. Also kommt hierher und…“
Plötzlich hellte sich das Quecksilber auf. Der Herr der Schatten erschien im Bild, das schwarze Tuch, das bis eben über der Schale gehangen hatte, in seiner Hand.
„Souveränin!“, sagte er amüsiert. „Ihr stört soeben ein wichtiges Gespräch.“
„Dann unterbrecht es. Ich habe Euch ein Angebot zu unterbreiten …“


Abenddämmerung, 32. Herbsttag 76 A.Z.
Speisesaal in der Feste von Yra, Hadria

Am nächsten Abend wurden die Hitars im Speisesaal offiziell zu den stellvertretenden Obersten der beiden Orden ernannt. Eara wohnte der Zeremonie bei und betrachtete die Menge. Dass zwei Zauberer ernannt wurden, die beide eine von Gundeyns neuen Broschen um den Hals trugen, wurde mehrheitlich positiv aufgenommen.
Schließlich erhob sich Eara und ergriff unaufgefordert das Wort. „In diesem Zusammenhang freue ich mich, nun verkünden zu können, dass ich in Zukunft auch wieder Hand in Hand mit der Zusammenkunft regieren werde. Denn es ist mir gelungen, den Verräter in der Versammlung zu enttarnen.“ Sofort erstarb jedes andere Geräusch. Alle Zauberer hingen gebannt an ihren Lippen.
Es war den Worten des Herrn der Schatten zu verdanken, dass sie die Zusammenhänge herausgefunden hatte. Sie hatte das Rätsel gelöst, wie die Verschwörung an das Gift eines Forinkäfers gelangt war, obwohl niemand es erworben oder gestohlen hatte. Es hat am Morgen nach der Razzia nur noch gereicht, um einen Schmuggler von Giften und einen seltsamen Tierhändler zu erwischen. Nicht der Gifthändler war die Lösung, auch wenn es naheliegend schien. Hat Yra Interesse an einem Frostwolf als Wachhund? Es wird immer schwieriger, das Biest zu ernähren. Wozu brauchten die Verschwörer das Gift eines Forinkäfers, wenn sie einen Käfer selbst haben konnten?
Doch dann hatte Eara sich gefragt, wie er noch in so kurzer Zeit von Nordgard nach Yra gelangt war. Oder braucht ihr vielleicht noch Schneemottenlarven? Einige habe ich schon vor sechs Tagen zur Feste gesandt, ich hoffe, sie haben gemundet. Vor sechs Tagen! Ein Falke, der noch am Morgen nach der Razzia von Nordgard nach Yra flog, abgeschickt von einer erklärten Gegnerin der Vereinigung, die die Razzia angeleitet hatte. Aber wozu das Ganze? Nur wegen des Giftes? Wenn ich die Aktion länger vorbereitet hätte, dann hätten wir vielleicht nicht nur den Drogenhandel, sondern den kompletten Schwarzmarkt zerschlagen. Der Grund für die Razzia musste mit der Bekämpfung der Vereinigung zusammenhängen, nur so war die Hast zu erklären. Aber war das Gift wirklich eine ausreichende Begründung oder nur ein netter Nebeneffekt? Zumal die Aktion sich gegen den Rauschgifthandel gerichtet hatte. Und erneut hatten die Worte des Herrn der Schatten ihr weitergeholfen. Jetzt ist Mortol nicht nur von Aschenbaumharz, sondern auch von Nukia abhängig. Die Verschwörung hatte einen Spion in der Versammlung gebraucht. Also startete Nukia die Razzia schneller als geplant, um ihn zu bekommen. Aber ich bin zuversichtlich, dass du dich des zusätzlichen Aufwandes meinerseits als würdig erweisen wirst. Spätestens als Mortol kurz davor gewesen war, Eara zu ermorden, war ihr klar geworden, wie recht sie mit ihren Überlegungen hatte.
Langsam deutete Eara auf den Magier. „Mortol! Ihr habt die Informationen der Versammlung an die Verschwörung weitergeleitet! Ihr habt versucht, meinen Verdacht auf Dolor zu lenken! Ihr hättet beinahe versucht, mich zu ermorden! Ihr wurdet von Nukia erpresst und zu Euren Handlungen gezwungen. Doch vor einer Stunde haben einige Zauberer des Feuers sie zur Rede gestellt, ihre Reaktion hat verdeutlicht, dass sie die Strippenzieherin war. Nukia konnte entkommen und ist untergetaucht, aber das Aschenbaumharz ist noch immer in unserem Besitz. Wenn Ihr jetzt alles gesteht, zugebt, die Versammlung verraten zu haben und die Namen der Verschwörer nennt, dann könnt Ihr einer Todesstrafe entgehen und den Rest Eures Lebens frei von Erpressung verbringen.“
Mortol stand wackelig auf. Sein Gesicht war schweißüberströmt und glänzte wächsern. „Es stimmt!“, murmelte er mit brüchiger Stimme, dann wiederholte er die beiden Worte lauter. Ein erstauntes Raunen wanderte durch den Saal.
„Ich … verzeiht mir! Ich war so machtlos, ich konnte nichts unternehmen!“ Jetzt sprudelten die so lange unterdrückten Worte in rascher Folge aus ihm heraus. „Sie konnte über den Gedankenspiegel mit mir in Verbindung treten, sie zwang mich dazu, auf unserer Reise einen Bolzenwerfer samt vergifteten Bolzen mitzunehmen. Aber ich habe Euch nicht getötet, obwohl ich die Gelegenheit gehabt hätte! Bitte, ich …“
„Wem hast du verraten, was du in der Versammlung erfahren hast?“
Mortol schüttelte verzweifelt den Kopf. „Niemandem!“ Die Zauberer murrten wegen der offensichtlichen Notlüge, doch Mortol ergänzte schnell. „Sie haben es nie verlangt. Wozu auch, einer der Verschwörer kann jedes Wort der Versammlung hören. Ich sollte ihre Stimme in der Zusammenkunft sein, nicht ihr Ohr! Außerdem sollte ich Nukia helfen, an Forinkäfergift zu kommen, das einzige Gift, das so schnell wirkt und nicht mit Magie geheilt werden kann.“
„Und wer ist der eigentliche Verräter in der Versammlung?“, schrie Eara.
Mortol öffnete den Mund, dann riss er auf ein mal angstvoll die Augen auf. „Hinter Euch!“, rief er und Eara erkannte, dass es kein Trick war. Sie fuhr herum und starrte einen jungen Zauberer des Feuers an, der plötzlich aufgestanden war und einen Bolzenwerfer in der Hand hielt. Die Menge wich angstvoll beiseite, doch der Magier ignorierte sie. Er riss das Rohr des Bolzenwerfers empor und zog am Hebel.
Sofort baute Eara einen Schild um sich auf, damit sie nicht vom Geschoss getroffen wurde. Doch sie hatte sich geirrt, der Magier hatte nicht auf sie gezielt. Der Bolzen schoss an ihrem Schild vorbei und bohrte sich tief in Mortols Schulter. Am Rande registrierte Eara, dass sie keine Dunkle Magie gespürt hatte, doch jetzt sandte sie ihre Schlieren aus, um den jungen Zauberer des Feuers zu fangen. Der ließ das Rohr fallen und blickte sie hasserfüllt an. Er machte keine Anstalten zu fliehen, sondern zog einen weiteren Bolzen hervor, dessen Spitze er sich in den eigenen Hals trieb, noch ehe die Dunkle Magie ihn ergriffen hatte. Er starb nach wenigen Augenblicken.
Im Speisesaal brach Chaos aus. Die Novizen und niederen Zauberer bemühten sich zu entkommen, falls noch ein Attentäter unter ihnen war, die Hohen Zauberer versuchten vergeblich, sich um Mortol zu kümmern, doch das Gift der Bolzen breitete sich in seinen Blutbahnen unaufhaltsam aus. Eara trat näher zum dicken Körper und sah gerade noch, wie schwarzes Blut aus seiner Nase schoss und er ein letztes mal ausatmete. Nukia hatte recht behalten. Er war tatsächlich nicht an hohem Alter gestorben.
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Zwischenspiel V – Geschäfte

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:10

Zwischenspiel V – Geschäfte

Frühe Nacht, 32. Herbsttag 76 A.Z.
Unterhalb des Oktrons in Nordgard, Hadria

„Alles ist geschehen, wie Ihr es gewünscht habt, Meister!“, verkündete seine Dienerin. Der Herr der Schatten bedeutete ihr, das Kästchen zu öffnen und betrachte den Inhalt ausgiebig. Er unterdrückte den Ekel und lächelte. Eara hatte Wort gehalten und die aufmüpfige Zauberin genau in die Arme seiner Männer getrieben. Es hatte sich als richtig erwiesen, der Souveränin die Hinweise bezüglich des Käfers zu geben.
„Hervorragend! Du darfst gehen. Ach und … bewahre den Kopf auf! Wir werden ihn noch zur Abschreckung verwenden.“
Noch wollte die Souveränin nicht, dass er Nukias Ende veröffentlichte, und der Herr der Schatten war bereit, sich ihren Forderungen zu beugen. Er würde sich nicht mehr lange gedulden müssen. Bald schon würde alle Welt erfahren, dass es sich nicht lohnte, sich mit ihm anzulegen. Wer würde es nach dem Tod einer der mächtigsten Zauberinnen Hadrias noch wagen, sich gegen ihn zu stellen? Dem Herrn der Schatten fiel nur eine Person ein.
„Verstaut die Behälter endlich richtig und gebt sie dem Händler mit! Die Souveränin wird nicht allzu lange auf ihr Gas warten wollen.“, wies er seine Helfer an. „Und dann packt alles hier zusammen und verschwindet. Es ist nicht nötig, dass Eara bald ihre Zauberer hierherschickt. Bis morgen möchte ich das neue Versteck einweihen können.“
Seine Diener befolgten die Anweisungen und bald schon kehrte Ruhe ein im Gewölbe unter dem Oktron. Nur die heiße Maschine tickte und stampfte, während sie die größte Stichflamme der bekannten Welt erzeugte.
„Wer war sie?“ fragte eine tiefe Stimme aus dem Halbdunkel.
„Eine Zauberin, die sich in zu kurzer Zeit zu viele Feinde gemacht hat.“, entgegnete der Herr der Schatten leise ohne aufzublicken. „Einige legen sich mit dem Gesetz an. Andere mit den Gesetzlosen. Aber wer beides tut, hat keine sehr hohe Lebenserwartung.“
„Ihr habt Euch eine exzellente Gelegenheit entgehen lassen.“
Nun sah der Herr der Schatten doch auf. Ruhig erwiderte er den Blick der beiden weißen Punkte aus der Dunkelheit. „Zwei Tage. Wenn Ihr nur zwei Tage früher zu mir gefunden hättet, ich hätte Euch ein Haar der Souveränin geben können. Dennoch bin ich mir sicher, dass ich Euch auf andere Weise zufriedenstellen kann. Wenn der Preis stimmte, habe ich bisher noch jedem helfen können.“
Eine gezackte Maske glitt in das Licht der letzten Feuerschale. „Und was ist Euer Preis?“
„Das kommt ganz darauf an, was Ihr haben wollt. Ich kann Euch meine Treue bieten, Informationen über alles, was es in Hadria zu wissen gibt, und mit ein bisschen Mühe auch ein Haar der Souveränin. Doch dafür verlange ich Nordgard.“
„Ganz Hadria ist bereits einem anderen versprochen.“, grollte das Gespenst. Der Herr der Schatten mochte es nicht besonders, aber Sympathie hatte ihn in seinen Geschäftsbeziehungen noch nie eingeschränkt.
„Dann könnt Ihr mir bloß noch das ewige Leben bieten. Aber allzu viel kann ich Euch dafür leider nicht geben. Ich weiß, dass Euch dieses Angebot nichts kostet, und das drückt nun mal den Preis.“
„Ihr hattet mir von diesem Cantharis erzählt …“
„Ja. Ich kann dem Ewigen Rat mehrere Zentner davon beschaffen, wenn Ihr es wünscht.“
„Könnt Ihr es so einrichten, dass der giftige Rauch nach unten anstatt nach oben quillt?“
Der Herr der Schatten spürte, wie seine Augenbrauen die Stirn emporkletterten. „Warme Luft hat die Angewohnheit, nach oben zu steigen, aber meine Alchemisten können sich etwas ausdenken. Doch wozu solltet Ihr so etwas brauchen?“
„Hadria bedeutet Eara viel, nicht wahr?“
„Sofern es überhaupt noch irgendetwas gibt, das ihr etwas bedeutet.“, meinte der Herr der Schatten, während sich eine leichte Besorgnis in seiner Brust ausbreitete.
„Dann muss die Insel brennen! Kaum etwas wird ihr so viel Kummer bereiten, wie vom Leid der ihr Anvertrauten zu wissen. Je mehr Hadria leidet, desto größer ist meine Rache!“ Wahnsinn flackerte in den weißen Augen des Svrattor. „Yra hat leider keine Kellergewölbe, die Feste besteht nur aus Türmen, also müssen sie herhalten. Ein hübsches Feuerchen mit sinkendem, giftigen Rauch in die Spitze von jedem davon, und die ganze Feste wird ausgeräuchert. Die Zauberer werden ihren Schutz verlassen müssen, und Kreaturen werden sie erwarten. Jeder, der sich mir nicht anschließt, wird sterben, das sollte jeglichen Widerstand in Hadria zerbrechen. Anschließend wird die Dunkelheit diese Insel beherrschen. Dörfer und Städte werden brennen, Blut wird den Schnee rot färben und Leichen werden vor der Küste treiben. Dunkle Magie kann doch angeblich gewaltige Schmerzen verursachen, nicht wahr? Wir werden eine Generation von Magiern heranzüchten, und sie werden das Volk nicht länger unterstützen, ihr Ziel wird es sein, den Hadriern so viele Schmerzen wie möglich zu bereiten. Eine ganze Welt unter der Knechtschaft der Folter, das ist meine Vision.“
Mehr als alles andere war es die kühle Ruhe in diesen Worten, die den Herrn der Schatten anwiderte. „Und wofür das alles?“, fragte er heiser.
„Weil ich ein Ziel habe: Die Helden von Andor sollen leiden – so viel und so lange wie möglich. Körperliche Pein alleine kann das nicht erfüllen, es braucht andere Mittel. Glaubt nicht, dass ich etwas gegen irgendeinen hadrischen Bauern hätte. Sie alle sind nur Mittel zum Zweck.“
„Aber was bringt Euch Euer Ziel?“
Der Geist lachte finster. „Ich strebe nicht nach Macht, oder Reichtum, oder Glück! Einst wurde ich mit einer Bestie von Thakkum verglichen: Wenn ich mir erst ein Ziel gesucht habe, dann lasse ich es nicht wieder los. Ich verfolge es, ohne Rücksicht auf Schmerz, auf Vernunft oder auf das Leben anderer. Und mein Ziel ist die vollkommene Rache.“
Beeindruckt nickte der Herr der Schatten. „Man könnte es Disziplin nennen. Oder Starrsinn.“, überlegte er. „Kommt in zwei Monden wieder, dann gebe ich Euch fünf Zentner Cantharis, dessen Rauch nach unten sinkt.“
Das Gespenst senkte andeutungsweise die gezackte Maske und verschwand in der Dunkelheit. Zurück blieb der Herr der Schatten, der nachdenklich auf seinem Thron saß. Während der Chor seiner Gedanken lärmte, kehrte Ruhe ein im Gewölbe unter dem Oktron. Nur die heiße Maschine tickte und stampfte immerfort.
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r – Nar´Al´Pan

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:10

r – Nar´Al´Pan

Morgendämmerung, 40. Herbsttag 76 A.Z.
Nördliches Ende der Zwergenstraße, Graues Gebirge

Etwas schüttelte Drukil. Unwillig brummte er und versuchte, die Kälte der Nacht, die durch die warme Decke des Schlafes drang, zu ignorieren. „Wacht auf!“, brüllte eine Stimme. Erneut brummte Drukil nur. „Wir werden angegriffen! Kommt endlich zur Besinnung und helft Euren Freunden!“
Erschrocken riss Drukil die Augen auf. Über ihn war eine schlanke Gestalt gebeugt, die ihm sein neues Schwert hinhielt. Drukil sprang auf und blinzelte kurz, dann zog er die Klinge aus der Scheide. Erneut blinzelte er und drehte sich dann zu der Gestalt um. „Rühr nie wieder mein Schwert an!“, fuhr er Ken Dorr an.
Er rannte einige Schritte in die Richtung, aus der der Kampflärm drang, dicht gefolgt von diesem Dieb. Drukil achtete darauf, ihm nicht vollständig den Rücken zuzuwenden. Ken Dorr besaß nur einen Dolch, die Helden hatten ihm vorsichtshalber nicht erlaubt, in ihrer Nähe ein Schwert zu tragen. Doch auch mit diesem Dolch wäre es ihm ein Leichtes, Drukil jetzt niederzustrecken. Ken Dorr machte allerdings keine Anstalten, etwas Derartiges zu tun. Stattdessen stürzte er sich in den Kampf und stand schon bald einem fauchenden Wargor gegenüber.
Drukil orientierte sich. Chada und Thorn standen nebeneinander auf einem flachen Felsen und wehrten gemeinsam drei Bergskrale ab, Leander stand etwas abseits bei den Pferden und verteidigte sich mit seinem Stab gegen zwei Wargors gleichzeitig. Tatsächlich schienen drei Wargors und ebenso viele Skrale alle Angreifer zu sein, also eilte Drukil dem blinden Seher zu Hilfe, der bereits in großen Schwierigkeiten steckte. Mühsam wirbelte er seinen Stab durch die Luft und stieß damit die eine Kreatur beiseite, der andere Wargor jedoch riss ihm mit einem Klauenhieb das Bein auf. Drukil durchbohrte ihn von hinten. Ehe er sich dem zweiten zuwenden konnte erscholl plötzlich ein zorniges Wiehern und ein großer weißer Hengst bäumte sich auf und stampfte die sich aufrappelnde Kreatur in Grund und Boden. Erneut wieherte Ambra, doch dieses Mal klang es eher triumphierend.
Drukil fuhr herum und sah, dass einem der Bergskrale ein Pfeil in der Schulter steckte, ein anderer lief davon. Vom dritten bemerkte er nur den Kopf, vom Körper gab es keine Spur. Dann jedoch erhaschte er einen Blick auf einen weiteren Wargor, der geradewegs auf ihre beiden Zelte zueilte. Drukil rannte schnell dazu, doch nicht schnell genug. Wenn der Wargor zwischen die Zelte geriet, wo die Rote Katze leuchtete, dann würde er sie vielleicht versehentlich in Brand setzen!
Die Rote Katze. Die Menschen nannten sie Feuer und Leander hatte behauptet, sie sei nur eine Reaktion, bei der unter Verbrauch von Luft und Brennmaterial Energie in Form von Licht und Wärme freigesetzt wurde, doch Drukil wusste es besser. Der Bär in ihm mied die Rote Katze, denn sie war ein boshaftes Lebewesen. Sie konnte beißen, fressen und töten, konnte verhungern und ersticken, konnte wachsen und sich bewegen. Sie war schön und majestätisch, aber vor allem gierig und mörderisch. Andere versuchten, die Rote Katze zu zähmen, doch Drukil wusste um ihre Tücke. Je mehr man sie fütterte, desto gefährlicher und unkontrollierbarer wurde sie. Einmal freigelassen, konnte sie ganze Wälder fressen. Und jetzt würde diese Kreatur sie womöglich entfesseln.
Da erschien Ken Dorr vor dem Wargor und stach mit seinem Dolch nach ihm. Die Kreatur wich gewandt aus, doch der Dieb setzte nach und versetzte ihr einen tiefen Schnitt in der Flanke. Kurz schmerzte Drukil die eigene Wunde, die der Bleiche König ihm einst beigebracht hatte und Mitleid mit der Kreatur flammte in ihm auf. Der nächste Dolchstoß traf den Wargor im Kopf und jedes Mitleid hatte sich erübrigt.
Geschickt zog Ken Dorr seinen Dolch aus dem Schädel des toten Wargors, wischte das schwarze Blut am mageren Gras ab und lächelte Drukil an. Im Licht der Roten Katze glänzte der Dolch tückisch. Er war eine meisterliche Arbeit, die Klinge war perfekt ausgewogen, ebenso scharf wie hart. Das beeindruckendste jedoch war das Griffstück: eine goldene Schlange wand sich um den Griff, jede Schuppe war einzeln herausgearbeitet. Als Knauf fungierte der Kopf der Schlange, zwei Rubine leuchteten als glühend rote Augen, die bösartig funkelten. Eine gespaltene Zunge ragte aus dem Maul. Der Dolch war ein Ebenbild seines Trägers, denn genau das war Ken Dorr: Eine Schlange, falsch und widerlich, die sich aus jeder Situation herauswinden würde. Wenn es nach Drukil gegangen wäre, dann hätten sie ihn nicht ins Graue Gebirge mitgenommen. Das Lächeln erwiderte er nicht.
Um die Verfolgung der grauen Riesen aufzunehmen, hatten die Andori vier Monde benötigt, diesmal jedoch hatte ihre kleine Gruppe nur einen halben gebraucht. Allerdings war der Tross der Andori eine organisatorische Meisterleistung gewesen, Dutzende von Menschen waren - auch von ihm - durch das Gebirge geleitet worden, nachdem man die Freiwilligen alle gefunden hatte, mussten sie noch versorgt werden. Und eine große Schar war immer langsamer als eine kleine Gruppe, es gab viel mehr, was sie aufhalten konnte. Jeder einzelne war nötig gewesen, ansonsten hätten sie die Befreiten nicht zurückbringen können.
Jetzt jedoch waren sie nur zu fünft, wenn man die fünf Pferde, die sie auch dabei hatten, nicht berücksichtigte. Nur Chada, Thorn, Leander und Drukil. Und natürlich Ken Dorr, der schon längst Gestorbene.
Drukil starrte auf die Leiche des Gors zu seinen Füßen. Ein deutlich sympathischeres Wesen als sein Mörder. Missmutig betrachtete er die Wunde an der Flanke. Sie glich seiner eigenen so sehr.
Ken kniete sich neben das Wesen und strich über den blutigen Schnitt. „Was für eine Verschwendung!“, murmelte er leise.
„Willst du etwa behaupten, der Gor habe dir etwas bedeutet?“
Verwundert blickte Ken Dorr zu Drukil auf. „Aber nein! Ich spreche davon, dass ich das Gift vollkommen umsonst verbraucht habe, da der Wargor kurz darauf durch eine andere Verletzung gestorben ist.“
Drukil beugte sich nach unten und roch an der Wunde. Tatsächlich stieg ein ätzender Gestank von dem Schnitt auf. Fassungslos starrte der Hautwandler Ken Dorr an. „Der Dolch ist vergiftet?“
„Schau dir die Waffe doch an. Eigentlich ist sie viel zu kostbar, um damit zu kämpfen.“ Diesen Kommentar verstand Drukil nicht. Wozu sonst brauchte man denn Waffen? Eine Waffe, mit der man nicht kämpfte, das war Verschwendung! Ken Dorr fuhr unbeirrt fort: „Aber dieser Dolch ist mehr als nur eine gute Waffe.“ Er drückte mit seinem kleinen Finger leicht auf die goldene Schwanzspitze der Schlange, die daraufhin einklappte. Zugleich erschien an der Spitze des Dolches ein hellgrüner Tropfen, der den gleichen Geruch verströmte, wie er auch von der Wunde ausging. Jetzt, wo er darauf achtete, erkannte Drukil, dass eine kleine Öffnung eingelassen war, ein Röhrchen, das sich durch die Klinge zog. „Eine Vypera windet sich um den Griff des Dolches, und eine Vypera spendete ihr Gift, um ihre Schwester umso tödlicher zu machen.“ Ken drehte lässig den Griff des Dolches ab und zog ein kleines Glasgefäß heraus, das er prüfend musterte. Da es noch zur Hälfte voll war, nickte er nur und steckte alles wieder an seinen Platz.
Drukil stand auf. „Das ist unnatürlich! Schlangen sind giftig, Menschen nicht. Ein guter Kämpfer benötigt kein Gift, um einen Kampf zu gewinnen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und stapfte davon.
„Es ist vielleicht nicht sehr ehrenhaft. Aber was spricht denn dagegen, jeden Vorteil zu nutzen, der sich einem bietet? Insbesondere, wenn man für die gute Sache kämpft?“, rief Ken Dorr ihm noch hinterher.


Später Vormittag, 40. Herbsttag 76 A.Z.
Nördliches Ende der Zwergenstraße, Graues Gebirge

Nachdem sie alles zusammengepackt hatten brachen sie auf. Da sie jetzt besseres Terrain erreicht hatten, bestiegen sie ihre Pferde und waren nicht länger zu Fuß unterwegs. Bisher hatten die Tiere sich eher als Behinderung denn als Hilfe erwiesen, da sie zwar viel Gepäck schleppen konnten, aber zugleich selbst Futter und Wasser benötigten und viele Wege mit ihnen nicht passierbar waren. Jetzt aber, wo sie die alte Straße erreicht hatten, erwies es sich als gute Idee, Rösser ins Gebirge mitzunehmen, denn sie kamen nun um ein Vielfaches schneller voran.
Drukils Pferd allerdings – ein niederträchtiger Rappe mit bösartigen dunklen Augen – war ein gemeines Biest, dessen Boshaftigkeit auch von den Kreaturen, gegen die sie heute gekämpft hatten, nicht übertroffen werden konnte. Gab man ihm einen Apfel, dann versuchte es nach der Hand zu beißen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit bemühte es sich, Drukil abzuwerfen und er lenkte es immer mit einem gewissen Abstand von irgendwelchen Abgründen, aus Furcht, es könnte hineinspringen, nur um seinen Reiter mit in den Tod zu nehmen. Ein Pferd wie das von Leander hätte er gerne. Dessen braune Stute war ein folgsames Tier. Zwar folgte sie nicht den Anweisungen Leanders, sondern dem Weg der anderen Pferde, doch sie gab dabei stets ihr Bestes, um ihren Reiter möglichst bequem und sicher zum Ziel zu bringen. Es war nur logisch, dem Blinden ein Pferd zu geben, das sich seinen Weg selbst suchte, aber wieso hatte Drukil nicht ein ähnliches bekommen können? Er war zuvor schließlich auch noch nie geritten!
So kam es auch, dass am späten Nachmittag seine Beine furchtbar schmerzten, außerdem war ihm schwindelig von der ungewohnten Art der Fortbewegung. Doch er wusste, dass er in seiner Konzentration nicht nachlassen durfte. Sein Pferd würde das sofort spüren und die Möglichkeit nutzen, um ihn loszuwerden. Also beschäftigte er sich damit, dass er seine Umgebung betrachtete.
Er hatte gehofft, diesen Ort für immer hinter sich zu lassen, und jetzt war er wieder hier. Dieses Gebirge war falsch, anders konnte man es nicht nennen. Sie waren jetzt noch unterhalb der Baumgrenze, und trotzdem wuchsen nicht einmal Kiefern oder Aschenbäume am Wegesrand. In den Schluchten oder an den Felswänden war das ja noch verständlich, wo es zu steil war als dass etwas hätte wachsen können. Aber hier hätten überall Bäume stehen müssen, die Straße müsste eigentlich durch den Wald führen. Doch der Bär in ihm spürte, warum sie es nicht tat. Der Wald, der hier einst gestanden haben mochte, war vor vielen Jahren nicht bloß abgeholzt, sondern geradezu vernichtet worden. Ohne die festigenden Wurzeln wurde das Erdreich vom nächsten Regen davongespült, und da es keine sterbenden Bäume mehr gab, konnte auch keine weitere Erde mehr nachkommen. Die Krahder, die für dieses Verbrechen verantwortlich waren, hatten in wenigen Jahren etwas vernichtet, was sich nur im Laufe vieler Jahrtausende wiederherstellen ließ: Das Leben des Gebirges. An einigen Orten wuchs noch karges Gras, aber für Bäume war der Boden zu mager, sie konnten sich nicht halten. Nur äußerst vereinzelt krallte sich ein verkrüppelter Busch an den kahlen Fels. Und die wenigen übrigen Wälder waren krank und schwach, wohl durch den Einfluss ihrer Hexerei, durch den Einfluss des Herzens des Todes. Für Drukil ein Beweis, dass niemand versuchen sollte, in die Natur einzugreifen.
Heute war der Himmel von dichten Wolken bedeckt, die auch einige Berggipfel vor seinen Blicken verbargen. Er war sich nicht sicher, aber es schien ihm, als wären die Wolken in Laufe des Tages dunkler geworden. Auch die kalte Gebirgsluft war noch weiter aufgefrischt, und der Nordwind schien auch zugenommen zu haben. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gebracht, da spürte er einen kühlen Punkt in seinem Nacken und einen weiteren auf seinem Handrücken. Drukil betrachtete den Wassertropfen auf seiner Haut und blickte dann zu den Wolken. Leider bemerkte sein Pferd die Veränderung sofort und bäumte sich so plötzlich auf, dass Drukil sich nur dank seiner raschen Reflexe auf dem Rücken des tückischen Biestes halten konnte.
„Es beginnt zu regnen!“, rief er seinen Gefährten zu. Anschließend warf er erneut einen prüfenden Blick zum Himmel, betrachtete die dahineilenden Wolken, die mit jedem Augenblick dunkler wurden. Er schnupperte und schmeckte den Sturm in der Luft. „Da kommt was ganz Finsteres auf uns zu!“, sagte er laut.
„Allerdings, das tut es!“, bestätigte Leander düster. Der Seher rief noch etwas, doch eine plötzliche Windböe übertönte ihn. Im nächsten Moment fühlte Drukil erneut Tropfen auf der Haut, deutlich mehr als eben. Vor ihm zog sich Thorn seine blaue Kapuze über.
„Ihr solltet nach einem Unterschlupf Ausschau halten“, brüllte Leander gegen den Wind.
„Besser, wir beeilen uns!“, bestätigte Thorn und ohne sichtbaren Befehl begann Ambra sofort deutlich schneller zu laufen. Die anderen wechselten ebenfalls in ein leichtes Galopp, nur Drukils eigenes Pferd weigerte sich schneller zu laufen und blieb nach einem planlosen Zerren plötzlich ganz stehen.
„Nun mach schon, du Mistvieh!“, brüllte er, doch das Tier weigerte sich, noch einen Schritt zu machen. Die anderen trabten davon und schienen angesichts des stärker werdenden Regens und Windes nicht zu bemerken, dass er zurückblieb. Im nächsten Moment veränderte sich das Rauschen des Wassers und auf der ganzen Straße hüpften weiße Punkte umher, die Drukil erst für kleine Tiere hielt, bis er begriff, dass es sich um Hagelkörner handelte.
Schließlich setzte Drukils Pferd sich von alleine in Bewegung, anscheinend verspürte es ebenso wenig Lust im Hagel zu stehen wie sein Reiter. Bald hatte es die anderen wieder eingeholt, doch einen Unterschlupf auszumachen war bei diesem Wetter kaum noch möglich, dazu war die Sicht zu schlecht.
Es dauerte nicht lange und Drukil war durchnässt bis auf die Haut, außerdem fröstelte er. Er vermutete, dass es den anderen kaum besser ging, doch was sollten sie schon tun? Sie mussten diesen Sturm durchstehen, das war die einzige Möglichkeit.
Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Knall und für einen Augenblick war alles in ein unwirkliches gleißendes Licht getaucht. Der Bär in Drukil erschrak fast so sehr wie sein Reittier. Selbstverständlich war Drukils Pferd das einzige, das angesichts des Blitzes durchging. Es raste davon und verließ die Straße nach Westen, galoppierte einen Berghang entlang und ignorierte alle Versuche Drukils, es zu stoppen. Die Hufe donnerten auf den nassen Fels und kamen mehrmals ins Rutschen. Drukil wurde kräftig durchgeschüttelt und fiel fast vom Sattel. Hinter sich hörte er die Stimmen seiner Gefährten seinen Namen rufen und er hoffte, dass sie ihm folgten, er hatte jedenfalls keine Ahnung, welchen Pfad sein Rappe einschlug. In blinder Panik rannte das Pferd durch den Hagel, dass es nicht abstürzte, grenzte an ein Wunder.
Irgendwann verlangsamte es sein Tempo. Die Flanken bebten und es war sogar zu erschöpft, um noch einen Versuch zu unternehmen, Drukil abzuschütteln, was ihm jetzt gewiss nicht sonderlich schwer gefallen wäre. Da zuckte ein weiterer Blitz über den Himmel und schon rannte das Ross wieder los, diesmal registrierte Drukil nicht, in welche Himmelsrichtung. Durch den Regen erhaschte er einen kurzen Blick auf die anderen vier, und ihm wurde bewusst, dass sie immerhin noch hinter ihm waren. Sie hatten ihn nicht aus den Augen verloren! Drukils Pferd erklomm einen grasbedeckten Steilhang, die Hufe gruben tiefe Löcher in den unsicheren Boden. Oben angekommen blieb es stehen und Drukil wartete bereits auf den nächsten Blitz, doch der blieb aus.
Endlich holten die anderen ihn ein und erleichtert erkannte Drukil, dass es noch immer vier Reiter und vier Pferde waren. Wenn Ken Dorr abgestürzt wäre, dann wäre das zwar kein allzu großer Verlust gewesen, aber sein Reittier hätte ihm leidgetan.
„Mach so etwas nie wieder, du …“, brüllte Thorn. Glücklicherweise verschluckte der Wind seine letzten Worte.
„Glaubst du, das war Absicht?“, schrie Drukil zurück, ohne zu wissen, wie viel bei dem Krieger ankam. Da setzte dessen Schimmel sich in Bewegung, langsam begann Ambra den Abstieg des Hanges. „Das … falsche Seite!“, vernahm Drukil Chadas Stimme, doch die anderen Pferde folgten bereits. Ambra setzte seine Schritte vorsichtig, und vermutlich war es nur dieser Tatsache zu verdanken, dass sie keine Schlammlawine auslösten.
Die fünf Reiter akzeptierten schließlich den Willen ihrer Tiere und wie sich herausstellte wusste Ambra genau, was er tat. Denn nachdem sie unten angekommen waren folgten die Pferde einem reißenden Bachlauf und gelangten bald zu einer Steilwand, in der eine deutliche Öffnung prangte. Der Bach floss hinein und verschwand in der Dunkelheit.
„Eine Höhle!“, rief Ken Dorr, um auch Leander auf ihre Entdeckung hinzuweisen.
Thorn lenkte seinen Hengst zum Eingang, doch ehe er hineinreiten konnte, blieb der plötzlich stehen. Auch die anderen Pferde wurden nervös und weigerten sich, die schützende Höhle zu betreten. Drukil merkte, dass ihn ein mulmiges Gefühl beschlich, doch Ken Dorr stieg ab und zog sein Pferd in den Eingang. „Worauf wartet ihr noch?“, rief er.
„Wir sollten da vielleicht besser nicht rein.“, antwortete Drukil zögernd. Alle seine Instinkte warnten ihn vor dem, was in dieser Höhle lauern mochte. Aus dem Inneren schlug ihm warme Luft entgegen wie der Atem eines gigantischen Tieres. Die Pferde schnaubten nervös. „Wir sollten da ganz sicher nicht rein.“, verbesserte sich Drukil.
„Wir können nicht länger hier draußen bleiben!“, widersprach Leander. „Gewitter im Gebirge sollte man irgendwo verbringen, wo man geschützt ist.“ Wie auf sein Stichwort lösten sich mit einem lauten Knirschen in einiger Entfernung große Felsbrocken und stürzten an ihnen vorbei in die Tiefe.
„Aber da drinnen sind wir nicht geschützt.“, wandte Thorn ein. „Ambra hat uns hergeführt, weil sich hier ein trockener Unterschlupf befindet. Aber was, wenn dieser Unterschlupf bereits bewohnt ist? Wenn unsere Pferde im Regen bleiben wollen, dann sicher nicht ohne Grund.“
„Höhlen wie diese werden von Trollen bewohnt.“, ergänzte Drukil. „Wer ist noch dafür, dass wir weiterziehen?“
„Ich!“, rief Thorn, doch Chada schwieg.
„Wenn wir hier draußen bleiben, dann können wir jeden Moment von Steinen oder Schlamm erschlagen werden. Außerdem erfrieren wir, wenn das so weitergeht.“, widersprach Leander. „Ich bin dafür, dass wir uns jetzt in die Höhle zurückziehen. Wer noch?“ Er hob einen Arm, nach kurzem Zögern auch Chada.
Dann meldete sich auch Ken Dorr und sagte: „Drei gegen zwei!“
„Was? Deine Stimme zählt nicht!“, rief Drukil.
Ken Dorr funkelte ihn an. „Ach nein? Ich werde zumindest nicht hier draußen erfrieren, nur weil die Pferde Angst vor der Dunkelheit haben.“ Mit diesen Worten verschwand er im Höhleneingang und zerrte sein eigenes Tier hinter sich her.
Chada beugte sich zu Thorn hinüber und sagte etwas, zu leise, als dass Drukil es über das Tosen des Sturmes verstanden hätte. Doch der Krieger nickte schließlich. „Wenn das tatsächlich eine Trollhöhle ist, dann wird der Bewohner sich bald wünschen, woanders zu hausen. Wir werden das Gebirge von einer Plage mehr befreien.“ Mit diesen Worten tätschelte er Ambras Hals und das Pferd setzte sich widerstrebend in Bewegung.
„Noch ist ohnehin nicht die Zeit, in der Trolle Winterschlaf halten.“, fügte Leander hinzu. „Mit etwas Glück ist der Bewohner nicht zu Hause. Der Geruch des Trolls würde die Pferde verschrecken, auch wenn er seit einem halben Jahr nicht mehr hier war.“
Drukil musste Leander in Gedanken zustimmen, aber zugleich wurde er das Gefühl nicht los, dass in dieser Höhle etwas lauerte, das er nicht aufwecken wollte. Die anderen stiegen nun auch ab und gingen in die Höhle. Während Drukil noch überlegte, ob er ihnen folgen sollte, setzte sein widerborstiges Pferd sich von alleine in Bewegung und nur weil die Höhle deutlich höher war als ein Reiter stieß Drukil sich nicht den Kopf. Rasch stieg er ab und folgte seinen Freunden.
Innen ragten seltsame Steinsäulen auf wie die Zähne eines Ungeheuers, Drukil musterte sie unbehaglich. Das waren keine Tropfsteine… Der Bach entschwand in einer kleinen Öffnung an der Seite, da aber dennoch im Eingangsbereich überall Wasser auf dem Boden stand, waren die anderen schon unterwegs in Innere. Wenn es nach Drukil gegangen wäre, hätte er lieber etwas Nässe ertragen, aber er wurde ja nicht gefragt. Schweren Herzens folgte er den anderen, bis die Dunkelheit sie alle verschluckte.

Sie waren komplett durchnässt, auch ihr Zunder, es war ihnen also nicht möglich, eine Fackel zu entzünden. Bald schon war jegliches Licht verschwunden und nur Leander konnte sie in dieser vollkommenen Finsternis leiten. Die Pferde staksten ihnen hinterher und setzten ihre Schritte spürbar widerstrebend. Der Boden war eben, die Gefahr zu Stolpern war also recht gering. Leander berichtete ihnen, dass die meisten Höhlen im Gebirge von sogenannten Arpachen gegraben worden waren, riesigen Insekten, deren Mandibeln sich sogar durch Stein graben konnten und die gewaltige unterirdische Bauten anlegten. Heute aber seien die ameisenähnlichen Wesen selten geworden und die meisten ihrer verwinkelten Gänge seien verlassen. Aber Drukil fürchtete andere Gefahren, die sich in der Dunkelheit verbergen mochten, auch deutlich mehr.
Allmählich konnte er wieder Umrisse erkennen. „Hier gibt es Licht“, rief er, doch da seine Worte laut von den Höhlenwänden widerhallten, wünschte er schon im nächsten Moment, er wäre leise geblieben. Alle erstarrten, doch nichts regte sich, keine Bestie erschien, um über sie herzufallen. Schließlich folgten sie dem Lichtschein deutlich leiser als bisher, auch die Pferde setzten ihre Hufe instinktiv behutsamer auf.
Sie traten um eine Biegung und Chada hielt Leander zurück, der schon weiterlaufen wollte. Vor ihnen erstreckte sich ein großer Raum - vielleicht zwanzig mal zwanzig Schritt - mit zwei weiteren Ausgängen, ebenfalls von Arpachen gegraben, aber mit Fellen ausgelegt. Die Decke zeigte bedenkliche Risse, doch wurde gestützt von einem guten Dutzend steinernen Streben wie schon im Eingang, die scheinbar willkürlich im Raum verteilt waren. Die Arpachen hatten genau gewusst, wie viel Fels sie entfernen konnten. In der Mitte, in einem Kreis ohne Felle, loderte die Rote Katze, deren Rauch durch die Risse in der Decke verschwand. Daneben saß eine Gestalt, die mit einem langen Stock in den Flammen stocherte. Sie hatte einen muskulösen Körper und eine graubraune Haut. Um die Hüften hing ein langer zottiger Pelz und die Füße steckten in Fellstiefeln, ansonsten war der Fremde vollkommen nackt. Der Kopf erschien zu groß im Vergleich zum Körper, die Augen waren bernsteinfarben, der Mund breit und schief. Von der archaischen Kleidung abgesehen hatte die Gestalt kein einziges Haar am Leib, der Kopf, die Brust, der Rücken, alles war kahl. Die Ohren liefen nach oben hin spitz zu, die Beine hatte er angewinkelt vor sich. Von den Proportionen seiner Gliedmaßen her hätte er ein Mensch sein können. Nur dass er selbst im Sitzen mehr als doppelt so groß war.
„Krahder!“, entfuhr es Drukil.
Sofort blickte die Gestalt auf und knurrte ungehalten. „Kra itul mituk, asan´torl ifin Dor´bosak!“, sagte der Sitzende langsam mit einer Stimme wie rauer Fels.
Sofort trat Leander vor und rief beschwichtigend: „Isuk! Zweth´irat motl garab! Sokul … Sokal vrangas … äh … vrangan isam. Iroor ...“
Die Gestalt lachte schallend. „Wahrlich lange ist es her, dass jemand in der Zunge meines Volkes mit mir sprach, auch wenn es selten so gebrochen erfolgte.“, antwortete er in der Gemeinen Sprache, wenn auch mit deutlichem Akzent. „Nein, kleiner Bär, ich bin kein Krahder. Ich bin ein Riese. Der letzte Riese!“
Noch ehe Drukil über die Anrede staunen konnte, fragte Thorn angespannt: „Wo ist da der Unterschied?“
Der Riese schüttelte traurig den klobigen Kopf. „So viel Zeit ist vergangen, dass die Völker dieser Welt nicht mehr wissen, was wir Riesen einst waren. Ehe alles sich veränderte.“ Er musterte die Helden. „Aber ihr seid ja ganz durchgefroren. Kommt, setzt euch an mein Feuer und wärmt euch auf. Seid willkommen in meinen Hallen. Mein Name lautet Nar´Al´Pan! Aber ihr dürft mich auch Pan nennen.“
Vorsichtig näherten sich die Helden der Roten Katze. Drukil betrachtete die tanzenden Schatten, die sie an die Wand warf. Sie banden die Pferde an eine Steinsäule und traten wachsam auf Nar´Al´Pan zu. Der lächelte sie an und winkte sie zu sich. „Ich habe selbst nicht viel, aber ich denke, dass ich euch ein wenig Suppe anbieten kann. So klein, wie ihr seid, braucht ihr sicher kaum etwas.“ Er griff nach einer Tonschüssel groß wie ein Waschzuber und füllte eine dunkle Flüssigkeit hinein, die in einem steinernen Kessel an einem Dreibein aus kleinen Baumstämmen über den Flammen brodelte. Die Schüssel stellte er vor den Helden ab und legte noch einen gewaltigen Holzlöffel dazu.
Schließlich nahm Chada die Kelle auf und tunkte sie in die Suppe, nahm einen vorsichtigen Schluck. Sie betrachtete ihren Gastgeber, dann sagte sie: „Wir danken für Eure Gastfreundschaft, Nar´Al´Pan. Doch sagt, was unterscheidet Riesen von Krahdern?“
Pan lehnte sich zurück und auch die fünf Neuankömmlinge ließen sich jetzt in die weichen Pelze fallen, Thorn erst, nachdem er die Pferde getrocknet und gefüttert hatte. In seinen Händen wurde auch Drukils Pferd lammfromm.
„Vor langer Zeit, als die Welt noch jung war, lebten alle Wesen an dem Platz, den die Natur ihnen zugewiesen hatte. Auch wir Riesen. Wir bewohnten dieses Gebirge, und unser Reich war Fels und Eis, nicht Feuer und Tod. Wir zogen jagend durch diese Berge, akzeptierten den Platz, den wir seit der Schöpfung innehatten. Niemand versuchte, die anderen Völker des Gebirges zu unterjochen oder nach den Sternen zu greifen. Wir folgten den alten Traditionen und siedelten, wo es uns gefiel. Heute haben die Völker das Gebirge zerstört, ihr müsstet es sehen, wie es früher war. Als noch keine Zwerge ihre Gemäuer hinterließen, als noch keine Drachen vom Himmel fielen, als noch keine Krahder die Wälder rodeten. Die Welt war ein besserer Ort damals.“
Drukil nickte zustimmend. Es war nicht gut, die Natur zu verändern, immer nach mehr zu streben. Man musste akzeptieren, was war, nur so verhinderte man Katastrophen wie solche, die das Gebirge heimgesucht hatten.
„Ihr sagt das, als wäret Ihr selbst dabei gewesen?“, bemerkte Leander und ließ es wie eine Frage klingen.
„Das war ich auch!“, bestätigte Nar´Al´Pan. „Ihr müsst wissen, ich war nicht irgendein Riese. Meine Familie und ich, wir waren die Giganten, die Herrscher und Götter unseres Volkes. Ich … bin ein Gott!“
„Es gibt nur eine Göttin!“, widersprach Chada zaghaft.
Leander stieß ihr seinen Ellenbogen in die Seite und raunte: „Könntest du bitte davon absehen, ihn zu reizen?“
Pan lächelte milde. „Mag sein, das ihr Menschen nur eine Göttin habt, aber wir Riesen hatten einige, fünfzehn an der Zahl. Nur ich bin übrig.“
„Mutter Natur ist die Göttin aller Wesen.“, entgegnete Chada, doch in einem versöhnlichen Tonfall.
„Das kann schon sein. Aber deswegen ist sie noch nicht die einzige.“
Chada holte Luft, doch Leander schüttelte unmerklich den Kopf und sie besann sich und widersprach nicht.
Nar´Al´Pan lachte leise in sich hinein. „Wir waren Götter, wenn auch nicht die euren. Mein Großvater Sol´Fan´Dar hatte sich seinen Platz als Stammesführer erkämpft, er und seine Familie hatten damit das Recht, aus dem Quell des Blutes zu trinken, jeden Tag einen Schluck vom Blut der Ewigkeit zu trinken, das ewige Jugend und Stärke verlieh.“
„Ihr lebt also nicht aufgrund Eurer Göttlichkeit, sondern nur dieser Quelle wegen so lange.“, konnte Chada sich nicht verkneifen.
„Ja, der Quell des Blutes machte uns zu Göttern. Damals. Als jeder noch seinen Platz kannte und niemand sich auflehnte gegen die natürliche Ordnung.“ Er seufzte schwer.
Drukil entspannte sich zunehmend. Dieser Riese war so anders als die Krahder. Der Hautwandler genoss es, seine strapazierten Beine auszuruhen. Er badete in der angenehmen Hitze der Roten Katze, auch wenn der Bär in ihm sie noch immer fürchtete. Er kostete von der dunklen Suppe und wurde schläfrig in den weichen Pelzen, die so angenehm dufteten. Den anderen erging es ähnlich, nur Leander und Ken Dorr blieben angespannt. Die ewig Misstrauischen. Hatten sie den Unterschied zwischen Riesen und Krahdern noch nicht erkannt?
„Aber es gab einige, die sich dieser Ordnung widersetzten. Als erstes waren es die Himmelsechsen und die kleinen Wesen, die sich selbst Dvarkûsim nennen.“ Drukil brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Nar´Al´Pan damit die Zwerge meinte.
„Sie schlossen ein Bündnis, das wider ihre Natur war und nicht lange halten konnte. Sie lehnten sich gegen die Ordnung auf. Und so kamen die Dvarkûsim an die Oberfläche und die Himmelsechsen in den Boden. Dort fanden sie einen Zugang zu einem Ort, den sie Krahal nannten. Sie veränderten ihn, versuchten, ihn zu beherrschen. Sie wurden mächtig und zugleich machtlos, denn ohne Krahal vermochten sie nicht mehr zu leben. Aber das war nur der Anfang. Denn vor etwa eintausend Jahren gab es einen unseres Volkes, der ebenfalls gegen die bestehende Ordnung rebellierte. Sein Name war Nomion, und er wollte erreichen, was uns nicht gegeben war. Er wollte den Quell des Blutes nicht länger nur für die Giganten, sondern für alle Riesen. Zusammen mit einem Aufrührer namens Borg startete er eine Rebellion gegen uns, gegen seine eigenen Götter. Er verstieß gegen alle Gesetze und tötete meine Familie. Nur ich war nicht dort, ich war damals in der gleichen Höhle, in der wir heute sitzen. Denn meine Aufgabe, schon seit Urzeiten, war es das Blut der Ewigkeit, das wir aus dem Quell gewannen, zu verstecken und zu bewachen.“ Der Riese deutete auf den Gang hinter sich.
„In dieser Höhle hier ist dieser Quell des Blutes?“, fragte Leander neugierig.
Pan schüttelte traurig den Kopf. „Nur das Blut der Ewigkeit, das wir aus dem Quell des Blutes zapften und vor gierigen Riesen verbargen, die ihren Platz nicht anerkennen wollten. Der Quell selbst wurde beim Aufstand zerstört. Daran sieht man, dass man sich nicht gegen die Natur auflehnen sollte. Nomion wollte das Blut der Ewigkeit für alle Riesen, und stattdessen hatte niemand es mehr. Niemand außer mir, doch der Verräter hatte alle Getreuen töten lassen, warum also hätte ich einem der Abtrünnigen etwas geben sollen? Die Vorräte genügten, um mich eintausend Jahre am Leben zu erhalten, und sie werden für noch einmal die Hälfte der Zeit reichen, bis der letzte Tropfen durch meine Kehle geronnen ist. Dann werde ich nicht länger ein Gott sein und sterben. Auch der letzte Riese wird vergangen sein.“
„Konnten nur Riesen vom Quell des Blutes trinken?“, wollte Leander wissen.
Nar´Al´Pan riss zornig die gelben Augen auf. „Nur Riesen durften davon trinken, so waren die Gesetze der Natur und die Gesetze unseres Volkes. Alles andere wäre Ketzerei!“ So schnell wie er wütend geworden war, so schnell beruhigte er sich wieder. „Nomion war ein Hexer, der die Ordnung der Welt verdrehte. Er hatte das Blut der Ewigkeit für alle Riesen – also auch für sich selbst – gewollt, und er hatte versagt. Doch die Unsterblichkeit, die er nie erringen sollte, suchte er auf andere Weisen. Er entwickelte Tränke, erforschte die Nekromantie, und merkte nicht, dass er sich mit jedem Tag weiter von den alten Traditionen entfernte und von dem, was es ausmachte, ein Riese zu sein. Borg wurde der neue Herrscher der Riesen, und Nomions Fähigkeit, die Gebeine auferstehen zulassen, ließ das neue Volk so vermessen sein, sich für unsterblich zu halten. Die Krahder, die Unsterblichen, nannten sie sich, dabei hatten sie alles, was zuvor noch an Unsterblichkeit in ihrem Volk war, verloren. Die Krahder bauten sich in kurzer Zeit ein eigenes Reich im Süden auf, wo das Gebirge von der Flammenden Ebene begrenzt wurde. Doch in ihrem Streben nach Macht kamen sie schon bald in Konkurrenz mit den anderen Völkern des Gebirges, mit den Himmelsechsen, den Dvarkûsim, den Trollen. Sie führten einen Krieg nach dem anderen, auf einen scheinbaren Sieg folgte gleich die nächste Niederlage. Irgendwann starb Nomion, kurz darauf gab es ein großes Beben und die Himmelsechsen wurden geschwächt. Sie ließen neue Wesen für sich kämpfen, die niemand je zuvor gesehen hatte, aber schließlich starben sie selbst fast aus. Auch die Dvarkûsim zogen sich zurück in ihre Stollen. Alle hatten sie viel verloren, nur weil niemand von ihnen mit dem zufrieden sein wollte, was er hatte.“
„Ihr habt vollkommen recht, Nara … Dingsbums … Pan!“, ereiferte sich Drukil. „Die Völker sollten das Los anerkennen, das die Natur ihnen zugedacht hat. Mit ihren Versuchen, die Natur zu beherrschen, richten sie sie zugrunde!“
„Ja!“, rief Nar´Al´Pan, vor Erregung ließ er seine gewaltige Faust auf den Höhlenboden krachen. „Aber ich bin ein Riese, kein Krahder. Ich folge den alten Traditionen und Gesetzen, bis das Blut der Ewigkeit aufgebraucht ist.“
Leander berührte Drukil leicht am Arm und zischte: „Drukil! Stachel ihn nicht auch noch an. Die Riesen jener Zeit …“ Drukil schüttelte seine Hand ab.
„Die Krahder haben bekommen, was sie verdient haben!“, rief Drukil. „Wir haben sie vernichtet, weil sie zu viel wollten!“
Ihr habt sie vernichtet?“, staunte Nar´Al´Pan. „Glückwunsch! Das war allerhöchste Zeit, sie haben ihre wahre Natur verleugnet und sich der verderbten Hexerei zugewandt.“
„Außerdem waren sie Sklavenschinder!“, bestätigte Drukil.
„Wirklich? Ich wusste nicht, dass sie so tief gesunken sind!“
„Aber natürlich!“, bestätigte Thorn. „Sie haben regelmäßig Raubzüge unternommen, um neue Sklaven zu beschaffen. Die Menschen und Zwerge in ihrem Reich wurden grausam behandelt.“
Nar´Al´Pan brach in lautes Gelächter aus. „Ach so, das meint ihr! Ich dachte schon, sie hätten einander versklavt! Stimmt, ich habe gehört, dass sie die Menschen und Zwerge, die ihnen dienten, später Sklaven nannten. Zu meiner Zeit haben wir sie nie so bezeichnet.“
„Soll das heißen, dass es zu Eurer Zeit auch schon Sklaven gab?“, fragte Chada entsetzt.
„Aber nein!“ Er deutete auf die Pferde, die noch immer am Tropfstein angebunden waren. „Oder bezeichnet ihr sie etwa als Sklaven?“ Thorn schnappte nach Luft. „Früher war die Welt noch besser, als jeder an seinem Platz war. Die Himmelsechsen als Herrscher der Lüfte, die Giganten als Herren des Gebirges, die Dvarkûsim als Bewohner ihrer Stollen und die Menschen … als Beute.“ Er lächelte.
Ken Dorr sprang auf. „Vielen Dank, Nar´Al´Pan, für Eure Gastfreundschaft. Wir haben uns jetzt aufgewärmt und ziehen weiter, wir werden Euch in guter Erinnerung behalten und niemandem etwas von dem Blut der Ewigkeit verraten.“ Er verbeugte sich galant und machte Anstalten, zu den Pferden zu gehen.
„Ihr wollt schon gehen?“, fragte Nar´Al´Pan enttäuscht. „Ich halte mich an die alten Traditionen. Und ich dachte, ihr versteht das. Ich dachte, ihr versteht, dass ich euch jetzt fressen muss…“
Pan riss seinen Stock aus der Roten Katze und schwang ihn wie eine Keule, das glühende Ende hinterließ einen roten Halbkreis in der Luft. Ken Dorr ließ sich geistesgegenwärtig fallen, ehe das Holz ihn erreichte, ansonsten wäre er zerschmettert worden. Chada erhob sich schnell und fingerte nach ihrem Bogen, doch wegen der Nässe war die Sehne nicht eingespannt. Thorn kam mühsam auf die Beine und versuchte, sein Schwert zu ziehen, aber unglücklicherweise verhakte es sich in der Scheide. Leander kam überraschend agil hoch, konnte jedoch nicht viel mehr tun als seinen Stab schützend vor sich zu halten und auf die Geräusche in der Höhle zu lauschen.
Drukil selbst sprang auf und wich einige Schritte zurück, bis er über eine Ausbuchtung im Boden stolperte. Nein, nicht im Boden erkannte er, im Fell. Es war der Kopf des Tieres, auf dessen Pelz er es sich gemütlich gemacht hatte. Jetzt wusste er, woher der angenehme Geruch kam. Warum bloß war ihm das nicht früher aufgefallen? Es war ein Bärenfell…
„Widersetzt euch nicht!“, brüllte Nar´Al´Pan erbost und stand rasch auf. Jetzt erst war zu erkennen, wie gewaltig er wirklich war. Drukil reichte ihm vielleicht bis zum Knie, sein monströser Kopf stieß fast an die Höhlendecke, sein glühender Speer zischte durch die Luft und malte feurige Muster. „Ihr seid nichts als Nahrung! Das ist euer Platz in der Welt. Lehnt euch nicht dagegen auf!“
„Hierher!“, brüllte der sich aufrappelnde Ken Dorr und winkte zu dem Ausgang, der von Nar´Al´Pan aus gesehen hinter dem Feuer lag.
Drukil wollte aufstehen, doch da raste die furchterregende Waffe des Riesen auf ihn zu. Rasch rollte er sich zur Seite, keinen Moment zu früh, denn die Spitze bohrte sich neben ihn in den Bärenpelz und hinterließ den Gestank schmorender Haare. Er sprang auf und rannte zu dem Eingang, auf den Ken Dorr gedeutete hatte.
Chada und Thorn liefen ebenfalls dorthin, doch Leander benötigte etwas länger, um herauszufinden, wohin seine Freunde eilten. Diese Momente waren die, die ihm fehlten, um zu entkommen. Während er noch auf den Eingang zurannte, trat Nar´Al´Pan einen Schritt um die Rote Katze herum und schwang seine Waffe. Leander hörte das Pfeifen und warf sich zur Seite, doch die glühende Spitze traf ihn dennoch am Bein und riss ihn fort. Er wurde gegen die Wand geschleudert und sackte kraftlos zu Boden, sein Stab wirbelte durch die Luft und verfehlte Drukil nur um Haaresbreite. Pan grinste hämisch und griff Leander am Mantel. Er hob ihn mühelos hoch und blickte dann auf den Eingang, an dem die anderen sich versammelt hatten. Thorn hatte inzwischen sein Schwert in der Hand, Chada war auf ihre Dolche ausgewichen. Auch Drukil zog sein Schwert.
Nar´Al´Pan war kein Narr, er wusste, dass er in dem engen Gang seine unhandliche Waffe nicht so gut einsetzen könnte. Also blieb er davor stehen und musterte die Helden abschätzend. „Wenn ihr nicht kommen wollt, dann werde ich eben zuerst euren Freund verspeisen.“
Da regte sich Leander. Er zappelte leicht und stöhnte vor Schmerzen, aber dennoch sprach er den Riesen an. „Nar´Al´Pan, wir haben die Krahder vernichtet! Kennt Ihr keine Dankbarkeit?“, fragte er schwach.
Für einen Moment zögerte Pan und Drukil hielt den Atem an. Würde der Gigant sich umstimmen lassen? „Ja, ihr habt die Krahder vernichtet. Und ich bin euch wirklich dankbar dafür! So wie die Menschen ihren Nutztieren dankbar seid, wenn sie ihnen helfen, die Felder zu bestellen. Aber das hindert sie auch nicht daran, ihre Pferde und Ochsen zu schlachten, wenn die rechte Zeit gekommen ist.“ Mit diesen Worten schüttelte er Leander kräftig durch und der Seher schrie auf.
„Überlegt Euch was!“, wisperte Ken Dorr und trat aus dem schützenden Eingang. Nar´Al´Pan musterte ihn interessiert und grinste angesichts des winzigen Dolches, den der Dieb in der Hand hielt. Doch der ließ sich nicht einschüchtern. „Ihr sagt, niemand solle sich gegen die natürliche Ordnung auflehnen. Doch diese Ordnung ist nichts anderes als das Recht des Stärkeren, die Tyrannei derjenigen mit den größten Muskeln und dem wenigsten Grips. Eine Tyrannei, in der Ihr an der Spitze standet. Kein Wunder, dass Ihr diese Ordnung bewahren wolltet.“
Der Gigant brüllte auf und ließ den schlaffen Leander fallen. Der Seher rührte sich nicht, offensichtlich hatte er das Bewusstsein verloren. Nar´Al´Pan stampfte auf den Dieb zu und ließ seinen glühenden Speer durch die Luft sausen, doch Ken Dorr wich dem Hieb des Stockes aus und entfernte sich vom Eingang. „Eure Ideen sind der Feind jeden Fortschritts, nach Euren Forderungen müssten die Völker wie Tiere hausen. Ihr verdammt alles Neue, ohne zu erkennen, dass das Alte nichts Schützenswertes ist. Ihr seid kein Gott, nur ein einsamer Riese in einer verlassenen Höhle, der vergangenen Zeiten nachtrauert!“
„Was tut er?“, flüsterte Drukil entsetzt, als Pan zornig brüllte und eine Reihe ungepflegter Zähne entblößte.
„Er verschafft uns Zeit.“, antwortete Thorn. „Wir müssen etwas unternehmen, er wird nicht ewig ausweichen können!“
„Worauf warten wir dann noch?“
„Wir können ihn nicht einfach angreifen, er hat alle Vorteile auf seiner Seite. Wir brauchen einen Plan!“
Chada beteiligte sich nicht an dem Gespräch, sondern steckte hastig ihre Dolche weg und zog eine Bogensehne hervor. Ihr Bogen war gegen den Riesen gewiss eine hilfreiche Waffe, nur er besaß eine noch größere Reichweite als der baumlange Speer, doch Drukil befürchtete, dass sie zu lange brauchen würde. Leander schwebte in Gefahr, und auch Ken Dorr, den Drukil zwar nicht mochte, aber auch nicht im Stich lassen wollte.
Momentan machte der allerdings nicht den Eindruck, in Bedrängnis zu sein; geschickt umtänzelte er den Giganten, ohne jemals vom Speer gestreift zu werden, dessen Spitze inzwischen auch kaum noch glühte. Er lächelte sogar, während er Pan verhöhnte. „Das Blut der Ewigkeit in dieser Höhle reichte, um Euch eintausend Jahre am Leben zu erhalten. An Nomions Stelle hätte ich auch dagegen protestiert, dass die Giganten den Quell des Blutes für sich beanspruchten und gewaltige Mengen horteten, anstatt den anderen etwas abzugeben.“
„Sei still, du jämmerlicher Mensch!“, heulte Nar´Al´Pan wütend. „Er hat gegen seine Gesetze verstoßen und seine Götter verraten.“ Sein Speer zuckte hin und her und plötzlich gelang es Ken Dorr nur noch mit sichtlicher Mühe, stets im letzten Moment auszuweichen. Der Riese hieb so fest auf den Boden, dass Drukil die Erschütterung spüren konnte und Funken aufstoben. Sie trudelten durch die Luft und lösten sich dicht über dem Fell auf. Sein Blick huschte zur großen Roten Katze in der Mitte des Raumes.
„Ich habe eine Idee! Bring Leander in Sicherheit!“, rief er und hastete in den Raum.
Damit zog er die Aufmerksamkeit Nar´Al´Pans auf sich, doch Ken Dorr spottete schnell: „Ihr vergrabt Euch in Euren Erinnerungen, glaubt an Gesetze, denen schon seit Jahrhunderten niemand mehr folgt, und seid ein Gott, der von aller Welt vergessen wurde. Das Spinnrad, an welchem der Hüter der Zeit den Faden der Geschichte immer weiter spinnt, könnt Ihr nicht zurückdrehen. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Ihr seid blind und taub, verschließt Euch vor der bitteren Realität und darbt in Eurer Höhle, Blut saufend, nachdem Ihr selbst schon so lange keines mehr vergossen habt!“
Pan schrie derartig laut, dass Drukil einen besorgten Blick zur rissigen Decke warf. Dann lief er weiter zum Feuer in der Mitte, während Thorn zu Leander rannte und ihn schulterte.
„Sei still, du Wicht! An meinen Händen klebt mehr Blut als an denen von euch allen zusammen. Schon seit Jahrhunderten kommen unvorsichtige Reisende hierher! Eine Gruppe Dvarkûsim, ein Haufen Kreaturen, eine Schar Agren, ein junger Troll, eine kleine Himmelsechse, ein grüner Priester! Ich habe sie alle gefressen und ich werde auch euch fressen, ganz den alten Traditionen folgend.“ Mit einer Geschwindigkeit, die man dem Riesen gar nicht zugetraut hätte, wechselte er plötzlich mitten in seinem Hieb die Richtung. Ken Dorr gelang es, sich fallen zu lassen, doch jetzt war er wehrlos. Der Gigant versetzte ihm spöttisch einen leichten Tritt, der ihn quer durch den Raum beförderte.
Drukil vergewisserte sich, dass Thorn zurück zur Seitenhöhle rannte, dann näherte er sich den Flammen. Sie loderten unaufhörlich hin und her, tanzten in ihrem Bett aus Glut. Der Bär in ihm protestierte, er hasste und fürchtete die Rote Katze. Drukils Wahrnehmung verengte sich, die Flammen zuckten hypnotisch hin und her und ließen eine unkontrollierbare Panik in ihm aufsteigen.
der bär kämpft, seine angst ist stärker als die furcht des pelzlosen um seinen gefährten. er weicht von der roten katze zurück und will brüllen, doch sein mund ist ungewohnt. alles ist ungewohnt. er fällt hart auf den boden aus totem haar.
Drukil atmete schwer. Der Bär in ihm wurde wirklich zu stark! Noch nie hatte er die Kontrolle übernommen, während Drukil die Haut trug! Doch jetzt gab es Wichtigeres. Er stand auf, griff widerstrebend einen der aus den Flammen ragenden Äste und hielt ihn in die Höhe. „Schau mal, was ich hier habe, du stinkender Koloss!“, schrie er.
Empört fuhr Nar´Al´Pan herum und fixierte den Ast. „Glaubst du, ich habe Angst vor deiner mickrigen Fackel?“, lachte er.
Thorn stöhnte leise, offensichtlich hatte er sich mehr erhofft. Doch Drukil ignorierte ihn. „Vor dem Leuchtstock vielleicht nicht, aber gewiss vor dem, was ich damit anrichten kann!“ Er warf den Ast beiseite auf eines der trockenen Felle, das sofort in Flammen aufging.
„Nein! Meine Höhle!“ Ken Dorr und Drukil waren vergessen. Nar´Al´Pan rannte zum Brandherd und stampfte ihn mit seinen Stiefeln aus, doch Drukil zog einen weiteren Stock aus den Flammen. Kurz zitterte er angesichts seines waghalsigen Planes. War die Rote Katze nicht viel gefährlicher, als der Gigant es jemals sein könnte? Doch dann holte er weit aus und schlug mit seinem Scheit zu, mitten hinein in die Glut.
Die Pferde wieherten beunruhigt. Brennende Holzstücke und glühende Kohleklumpen regneten durch die Höhle und schlugen überall auf den Pelzen auf. Augenblicklich flammten allerorts kleine Brände auf, dichter schwarzer Qualm stieg empor, kratzte in der Lunge und biss in den Augen. Drukil hatte die Rote Katze entfesselt, und sie würde zu einem Löwen heranwachsen, würde fressen, bis sie alles verschlungen hatte.
„Raa ik´dul satin!“, brüllte Pan zornentbrannt. Der Rauch stieg mit der warmen Luft nach oben, verdeckte dem Riesen die Sicht und ließ dessen Augen tränen. Drukil rannte schnellstmöglich zur Seitenhöhle, die nicht mit Fellen ausgekleidet war, während der Gigant mit seinem Speer blindlings umherwedelte. Dann jedoch hielt er inne. „Ich höre dich, kleiner Bär“, schrie er triumphierend. „Und meine Rache wird grausam sein.“
Mit weiten Schritten lief er in die gleiche Richtung, er würde Drukil schon bald eingeholt haben! Da zischte ein Pfeil durch die Luft wie eine zornige Hornisse und traf Nar´Al´Pan ins Bein. Zwar war der Pfeil für den Riesen nicht mehr als einen Wespenstich, aber er verwirrte ihn. Pan schlug nach dem vermeintlichen Angreifer, ohne zu ahnen, dass der Verursacher seiner Verletzung viele Riesenschritte entfernt war. Das verschaffte Drukil einen Vorsprung, doch er musste den immer größer werdenden Bränden ausweichen. Plötzlich stolperte er über einen Fellfetzen. Nar´Al´Pan suchte nicht länger nach dem geheimnisvollen Angreifer, doch er hatte offenkundig die Orientierung verloren. So leise wie möglich erhob sich Drukil, dann jedoch atmete er eine Wolke des beißenden Qualms ein und musste husten. Sofort lief Pan auf ihn zu.
In diesem Moment erhaschte Drukil durch die Rauchschwaden einen Blick auf Ken Dorr. Der Dieb war anscheinend ziemlich zäh, denn er stolperte trotz des brutalen Tritts noch umher, allerdings in die falsche Richtung, weg von dem Eingang, in dem die anderen sich versammelt hatten. Vor dem Feuer konnte er natürlich auch in einem der beiden anderen Gänge Schutz suchen, aber es wäre besser, wenn sie sich nicht aufteilten.
Ken Dorr ging seinen Weg allerdings nicht grundlos. Er erreichte die Pferde, die noch immer fest an dem Tropfstein angebunden waren und schnitt sie mit seinem Schlangendolch eilig los. Für einen Moment staunte Drukil über Ken Dorr, der sich durch die Flammen quälte, um die armen Tiere zu befreien, dann jedoch erkannte er, dass Berechnung dahintersteckte. Während sich der Rauchschleier nämlich wieder zuzog und Ken Dorr vor Drukils Blicken verbarg, rannten die Pferde panisch umher, suchten nach einem Ausweg aus dem Inferno. Ihre Hufe klapperten selbst auf den Fellen laut, die Höhlenwände gaben die Geräusche vielfach verstärkt zurück. Nar´Al´Pan schüttelte sich und hatte nun auch die Möglichkeit verloren, sich anhand seines Gehörs zu orientieren. Blindlings schlug er umher, haschte nach den Rössern. Drukil nutzte die Gunst der Stunde und rannte durch die immer größeren Flammen in den rettenden Seitengang.
Selbst hier drinnen war es heiß und stickig, Rauch hing in der Luft und erschwerte das Atmen. Chada hielt ihren Bogen in der Hand und hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Sie fixierte Nar´Al´Pan, doch anscheinend war sie sich nicht sicher, ob sie wirklich abfeuern sollte. „Wo ist Ken Dorr?“, fragte sie Drukil.
„Als ich ihn zuletzt gesehen habe, noch in der Haupthöhle. Er hat die Pferde befreit, wahrscheinlich hat er sich in einen der anderen Ausgänge zurückgezogen. Und bitte, sei nicht zu laut! Pan könnte uns hören.“
„Er weiß doch, wo wir sind!“, entgegnete Chada deutlich leiser.
Wie als Antwort brüllte der Riese in diesem Moment: „Ihr wollt davonreiten, das höre ich! Aber das lasse ich nicht zu! Ich werde Eure Pferde erschlagen, Eure Körper zermalmen, Euer Fleisch verspeisen, Eure …“ Der Rest seiner Drohung mündete in einen Hustenanfall.
Im nächsten Moment ertönte ein schmerzerfülltes Wiehern und Drukil meinte, einen großen Schatten durch die Höhle segeln zu sehen. Dann knirschte es ekelerregend und das Wiehern verstummte.
Thorn trat mit leidendem Gesichtsausdruck zu ihnen. „Das war nicht Ambra! Oh Herrin, bitte mach, dass das nicht Ambra war.“
Wie ein Sendbote von Thorns Göttin tauchte zwischen den Flammen ein grauer Schemen auf. Er entpuppte sich tatsächlich als Thorns heißgeliebter Hengst, das weiße Fell von Ruß verschmiert. Auf seinem Rücken war Ken Dorr, er hing mehr als dass er saß. Der Dieb sackte herab, doch Drukil fing ihn auf und bettete ihn neben Leander. Ambra lief zu Thorn und ließ sich kurz streicheln und die Taschen abnehmen, dann machte er kehrt und lief zielstrebig in die flammende Höhle zurück.
Nar´Al´Pan stampfte durch seine Wohnung und geriet immer mehr in Rage. Unter seinen Füßen brannten die Felle und der Rauch erfüllte die ganze Luft, gewiss war es eine Qual, sich nicht zurückzuziehen. Doch der Gigant zeigte keine Anzeichen von Schwäche, sondern schlug unermüdlich mit seiner Keule nach den Pferden, auf denen er die Helden glaubte. Auch wenn er noch kein weiteres erwischt hatte, so bemerkte Drukil doch besorgt, dass der Rauch wieder spärlicher wurde, die Flammen kleiner. Die Pelze würden nicht ewig brennen! Bald schon würde die Rote Katze verhungern.
Ein weiterer Pfeil löste sich von Chadas Bogen und verschwand im Dunst. Nar´Al´Pans Kreischen zeugte von einem glücklichen Treffer. Er sprach nicht länger, entweder war ihm im Rauch die Puste ausgegangen oder Drukil und seine Begleiter hatten ihn zu sehr zur Weißglut gebracht. Er schlug nur weiter berserkerhaft um sich, sein nächster Hieb traf eines der Pferde und Drukil erblickte kurz einen zerschmetterten Kopf mit schwarzem Fell, welchen er als den seines eigenen Reittiers identifizierte. Ein weiterer Stoß traf eine der steinernen Streben, die unter der rohen Gewalt sofort zerstob. Kopfgroße Gesteinsbrocken sprühten in alle Richtungen, ein weiteres gequältes Wiehern erklang, dem Nar´Al´Pan sofort folgte.
Drukil, Chada und Thorn konnten nur hilflos zuschauen, die Flammen, durch die Nar´Al´Pan bedenkenlos stapfte, waren für sie deutlich gefährlicher. Der Riese schlug nach dem verletzten Pferd, dessen Geräusche verstummten. Erneut traf er dabei eine der Steinsäulen und Drukil starrte beunruhigt zur Decke. Nur Rauchwolken waren zu sehen, doch er erinnerte sich an die Risse. Wie viele Streben konnte Nar´Al´Pan noch gefahrlos zerstören?
Schließlich erloschen fast alle Flammen, die Pelze qualmten nur noch. Langsam konnte Drukil auch die beiden verbliebenen Pferde und den Riesen erkennen. Ambra verschwand gerade in dem Eingang, aus dem die Helden gekommen waren, und Leanders Stute folgte ihm. Nar´Al´Pan ortete die Hufgeräusche und eilte zum Ausgang, er vermutete wohl, dass die Helden gerade flüchteten.
„Wir müssen jetzt angreifen, solange er noch nicht sehen kann!“, raunte Thorn und Drukil stimmte ihm mit einem Nicken zu. Also rannten die beiden in die Haupthöhle und kämpften sich durch die Wand aus Qualm und Asche. Ein Pfeil zischte über ihre Köpfe. Offensichtlich hatte Chada erneut getroffen, denn Nar´Al´Pan brüllte und schwenkte seinen Speer in einem großen Kreis umher. Hätte irgendjemand versucht, jetzt an ihm vorbeizukommen und in die Freiheit zu flüchten, das Holz hätte ihn unweigerlich zerquetscht. Doch noch waren Drukil und Thorn zu weit entfernt und Pan zertrümmerte nur zwei der Steinsäulen. Nadelspitze Gesteinsgeschosse wurden durch die Höhle katapultiert, ein faustgroßer Stein flog so nahe an Drukils Kopf vorbei, dass er den Luftzug spüren konnte.
Da erscholl von oben ein bedrohliches Knirschen. Sofort packte Drukil Thorns Arm und zerrte ihn zurück. Der Krieger runzelte verwundert die Stirn, aber schließlich beugte er sich Drukils Bemühungen und rannte mit ihm zurück in den Seitengang. Der Hautwandler hoffte nur, dass der belastbarer war.
Doch die Decke brach nicht ein, nur einige Steinchen rieselten herab. Nar´Al´Pan hatte die drohende Gefahr nicht bemerkt und schlug weiter ins Leere. Doch langsam verklangen die Geräusche der beiden überlebenden Pferde und der Riese schlug schon bedächtiger zu.
Chada legte einen weiteren Pfeil an. Gerade, als sie die Sehne loslassen wollte, überkam auch sie ein Hustenreiz. Es gelang ihr, alle Geräusche zu unterdrücken, doch der Pfeil verfehlte Nar´Al´Pan deutlich und prallte wirkungslos auf die Wand.
Drukil starrte besorgt zur Decke, doch ein so kleiner Pfeil konnte natürlich nichts bewirken. Im nächsten Moment schlug Pan nach dem Geräusch, das der Pfeil verursacht hatte. Seine Keule splitterte und wurde ihm aus der Hand gerissen, so fest hatte er getroffen. Im Gestein zeigten sich Risse, die sich in alle Richtungen ausbreiteten, dann erbebte der Raum.
„Zurück!“, rief Drukil und packte Leander, der selbst in seiner Ohnmacht vor Schmerzen stöhnte. Thorn hob Ken Dorr hoch und gemeinsam folgten sie dem Gang, fort von der rauchverhangenen Höhle.
Auch Nar´Al´Pan hörte Drukils Ruf und die Schritte der Flüchtenden, außerdem war der Rauch zu großen Teilen verschwunden. Er brüllte erzürnt und folgte ihnen, doch dann erbebte die Höhle erneut. Im Laufen sah Drukil sich um und betrachtete fasziniert die gewaltigen Steine, die von der Decke regneten. Pan wurde immer öfter getroffen, Platzwunden und Schrammen verunzierten seine graue Haut. Schnell kauerte er sich auf den Boden und rollte sich zusammen. Doch dann bebte es erneut und der letzte Damm war gebrochen. Ein Wasserfall aus Felsbrocken strömte von der Decke, löschte die letzten Reste der Roten Katze und begrub den vor Schmerz und Angst schreienden Riesen unter sich.

Auch in den Seitengang rollten die Felsen, doch die fünf Gefährten hatten sich weit genug zurückgezogen. Weil der Einsturz die Rote Katze erschlagen hatte, wurde es vollkommen finster. Knapp hundert Herzschläge vergingen, bis das Rumpeln und Zittern verstummte und Drukil sich sicher sein konnte, nicht doch noch zerquetscht zu werden.
Ein leises Rascheln und Schaben ertönte, dann flammte ein roter Lichtschimmer auf und offenbarte Thorn, der das Blut, das an seinem Hinterkopf durch das blonde Haar rann, nicht zu bemerken schien. Er beugte sich über ein Rotes Kätzchen, das gierig etwas Zunder verschlang, immerhin zum Trocknen war die Zeit mit dem Riesen nützlich gewesen. In der Hand hielt der Krieger einen kleinen silbernen Quader.
„Ein Fornâcam.“, erklärte Chada auf Drukils fragenden Blick hin. „Ein Funkenschenker. Eine Erfindung der Zwerge. Im Inneren wird ein Feuerstein an eine Stahlplatte geschlagen, um Funken zu erzeugen.“
In Ambras Satteltaschen waren praktischerweise auch einige der Leuchtstöcke verstaut gewesen. Thorn hielt das mit Pech bestrichene Ende in die Rote Katze und bald schon war die nähere Umgebung erhellt.
Als erstes versorgten sie die beiden Verwundeten. Leander hatte ein gebrochenes Bein, das sie mit einem nicht entzündeten Leuchtstock und einigen Stofffetzen schienten, und mehrere gebrochene Rippen, doch Chada behauptete, das würde alles wieder zusammenwachsen. Ken Dorr war sogar noch glimpflicher davongekommen, von unzähligen Prellungen abgesehen war nur eine große Beule am Kopf zu erkennen.
Leander und Ken Dorr im Gang lassend betrachteten Drukil, Chada und Thorn das Ausmaß der Zerstörung. Der gesamte Boden war von Geröll bedeckt, die verkohlten Felle waren nur noch an wenigen Orten auszumachen. Insbesondere im Eingangsbereich, wo Nar´Al´Pan die beiden Säulen zertrümmert hatte, türmten sich die Steine bis weit in die Höhe. Der Riese war verschüttet, doch zu ihrer aller Entsetzen mussten sie feststellen, dass das auch für den Eingang galt, durch den sie gekommen waren. Die Barriere ragte weit nach oben, bis sie in den Wolken aus Rauch und Gesteinsstaub verschwand.
Thorn kletterte empor, doch kam schon bald enttäuscht wieder zurück. „Kein Durchkommen!“, verkündete er. „Der Eingang ist komplett begraben. Und da oben sieht alles verdammt instabil aus, wir sollten also besser nicht versuchen, den Haufen wegzuräumen.“
Drukil hatte derartiges schon befürchtet. Er begutachtete das Geröll. „Das liegt wie eine Mauer. Hier käme nicht mal ein Luftzug durch. Immerhin können wir davon ausgehen, dass Pan, sollte er noch leben, da unten ersticken wird.“
„Und wir auch!“, ergänzte Chada. „Wenn keine Luft durchkommt, dann bedeutet das auch unser Ende.“
Thorn schüttelte bedauernd den Kopf. „Keine Sorge, Chada! Bis dahin sind wir längst verdurstet. Wir konnten nur die Taschen retten, die Ambra getragen hat, es sind keine Vorräte dabei.“
Drukil kraxelte auf dem unsicheren Grund durch die Höhle, die beiden anderen folgten. Unterwegs bemerkte er ein Stück Holz in einer ungewöhnlichen Form, beinahe eine Hand. Er zog den Stab aus dem Schutt heraus. „Wenn wir den hiergelassen hätten, hätte Leander uns das nie verziehen.“, erklärte er den anderen, ehe sie weitergingen. Im Schein von Thorns Leuchtstock war zu erkennen, dass der zweite Gang ebenfalls verschüttet war. Sie würden also wohl keinen Blick auf das geheimnisvolle Blut der Ewigkeit werfen können.

Nachdem sie die Haupthöhle genau erkundet hatten kehrten sie in den Seitengang zurück. Wohin auch immer er führen mochte, es war für die Helden die letzte Möglichkeit, aus ihrem steinernen Gefängnis zu entkommen.
Vorsichtig erkundeten sie den Gang. Er mündete in eine weitere Höhle von deutlich kleineren Ausmaßen als die Eingangshalle. Links lag ein Haufen aus fein säuberlich abgenagten Knochen, neben den vielen Tierknochen erkannte Drukil auch die Gebeine von Menschen oder Zwergen. Weiter hinten waren ordentlich aufgereiht verschiedene Gegenstände, deutlich zu klein für einen Riesen. Es handelte sich wohl um die persönlichen Besitztümer von Nar´Al´Pans Opfern, oder zumindest um das, was nach den vielen Jahren, die vielleicht vergangen waren, noch von ihnen übrig war.
Verrostete Kettenhemden und Waffen mit zwergischen Symbolen. Eine Steintafel mit groben Runen in einer ihnen allen unbekannten Sprache. Ein Holzstab, der aussah, als hätte er schon viele Jahrhunderte überstanden. Ein kleiner Berg aus mattschwarzen Schuppen. Eine Kiste mit angelaufenen Silbermünzen.
Chada hockte sich auf den Boden und hob ein kleines goldenes Objekt aus dem Staub. Es handelte sich um einen Anhänger aus purem Gold, einen filigranen Baum. Ein Symbol, das Drukil am Baum der Lieder häufig gesehen hatte.
„Hat Pan nicht gesagt, er hätte einen grünen Priester gefressen?“, fragte Thorn vorsichtig.
Chada nickte traurig, dann stand sie entschlossen auf und ließ den Baum in eine Tasche ihres Gewandes gleiten. „Suchen wir nach einem Ausgang!“
Wie sich herausstellte, gab es keinen. Im Schein des herunterbrennenden Leuchtstocks suchten sie alle Wände ab, doch die kleine Höhle entpuppte sich als Sackgasse.
Sie waren gefangen!
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s – Folgt der Dunkelheit!

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:10

s – Folgt der Dunkelheit!

Frühe Nacht, 40. Herbsttag 76 A.Z.
Nar´Al´Pans Höhle, Graues Gebirge

„Hättet ihr nicht wenigstens etwas Licht dalassen können?“, rief ihnen Ken Dorrs hohe Stimme bei ihrer Rückkehr entgegen. Thorn runzelte die Stirn. Offensichtlich war der Dieb wieder erwacht. Er trat näher ans provisorische Lager, das sie Ken und Leander gebaut hatten. Chada und Drukil folgten ihm, und im nervösen Schein der qualmenden Fackel sahen sie, dass ihr ungeliebter Begleiter sich aufgesetzt hatte. Er blinzelte dem Licht entgegen und rieb sich die Platzwunde auf der Stirn. Sein Haar und Spitzbart waren von Blut und Ruß verschmiert.
„Licht ist in unserer Situation zu kostbar.“, erwiderte Chada resigniert.
Ken Dorr schüttelte enttäuscht den Kopf. „Als ich erwacht bin, hatte ich keine Ahnung, was genau passiert ist, ob ihr diesen Riesen besiegt habt oder andersrum, wo ich mich befinde, nichts! Wenn ich nicht genau wüsste, dass es sich anders anfühlt, ich hätte geglaubt, ich sei tot.“
„Wie fühlt sich Tot-sein an?“, fragte Thorn neugierig.
„Das kommt darauf an, welches Tot-sein Ihr meint. Die Erinnerungen an mein Dasein als Bleicher König sind verworren und schemenhaft, als wäre ich in einer Art Rausch gewesen. Ich war nicht bei vollem Bewusstsein und das, was ich an Erinnerungen behalten habe, würde ich am liebsten so schnell wie möglich wieder vergessen.“ Er erschauderte. „Nachdem ich dann besiegt wurde ist da nur noch … nichts. Falls ich während meines Todes etwas erlebt habe, dann ist jegliche Erinnerung verschwunden.“
„Du hast nichts erlebt.“, behauptete Chada mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. „Deine Seele ruhte in den Händen von Mutter Natur, die dich auf dein nächstes Leben vorbereitete. In Anbetracht deiner Vergehen wäre bis dahin allerdings noch einige Zeit vergangen.“
Ken Dorr nickte amüsiert. „So erzählt man es sich, ja. Je schlechter du im Leben warst, desto länger dauert es, bis Mutter Natur deine Seele von Bosheit und Chaos läutern kann. Zum Glück war ich kein besserer Mensch, sonst hätte ich vielleicht nicht wiederauferweckt werden können.“
„Ich glaube, das ist nicht die Lehre, die du aus deinem Tod ziehen solltest.“, meinte Thorn skeptisch.
„Oh, sicher, je mehr Gutes ich tue, desto schneller kann ich nach meinem Tod mit dem nächsten Leben beginnen, das ist wohl das, was ich lernen soll. Aber immerhin tue ich momentan auch etwas Gutes, schließlich helfe ich euch.“
„Aus Eigennutz!“, bestätigte Drukil.
„Es ist doch gleichgültig, warum ich etwas Gutes tue. Hauptsache, es ist gut!“, widersprach Ken Dorr.
„Für deine Seele ist es nicht egal. Nicht das Ergebnis zählt, sondern das Motiv. Wenn du ein reines Herz hast und etwas Gutes tun willst, dann bist du ein guter Mensch, selbst wenn du eine Katastrophe auslöst.“, entgegnete Chada.
„Euch zu helfen macht mich hoffentlich zu einem besseren Menschen. Aber wer weiß, vielleicht ist es ja auch andersherum. Vielleicht helfe ich euch, weil ich bereits ein besserer Mensch bin. Schließlich hatte Mutter Natur ein Jahr Zeit, um meine Seele zu läutern.“
Thorn bezweifelte, dass Ken Dorr sich wesentlich verändert hatte. Er half ihnen, um das Joch des Ewigen Rates abzuwerfen, der ihn zu einem Herrscher ohne eigene Macht machen wollte. Aber er hätte keinerlei Skrupel, sich gegen sie zu stellen, wenn er sich davon einen größeren Vorteil verspräche, daran zweifelte Thorn nicht. Und aus diesem Grund vertraute er dem Dieb kein bisschen.
„Aber ich schlage vor, wir beenden unsere theologischen Gespräche und wenden uns den aktuellen Problemen zu.“, forderte Ken schließlich. „Was genau meintet Ihr mit unserer Situation? Anhand der verqualmten Luft nehme ich an, dass wir noch immer in der Höhle des wahnsinnigen Giganten sind. Da Ihr friedlich umherlauft und Leander und mich hier unbeaufsichtigt zurücklasst nehme ich außerdem an, dass Nar´Al´Pan besiegt ist. Aber ansonsten wäre ich froh über eine Zusammenfassung dessen, was sich seit meiner Abwesenheit ereignet hat.“
„Der Gigant ist unter Felsen verschüttet worden, die auch den Eingang blockieren. Wir haben sie kontrolliert, aber da kommt nichts durch. Auch der zweite Gang ist verschüttet, der dritte mündet in eine kleine Kammer ohne weiteren Ausgang. Wir haben nur, was wir am Leibe trugen und den Inhalt der Taschen von Thorns weißem Pferd: Leuchtstöcke, Seile und die Zeltplanen, auf denen ihr liegt. Dafür weder Essen noch Trinken noch einen Ausgang.“, antwortete Drukil knapp.
„Welch ermutigende Situation.“, lautete Ken Dorrs Antwort. „Aber Ihr müsst das positiv sehen: Der Schwarze Herold wird Eure Überreste nicht finden, womit es ihm nicht möglich sein wird, Euch bis in alle Ewigkeit zu foltern. Das ist doch auch etwas.“
„Wie toll!“, gab Thorn gereizt zurück. „Dinge positiv zu sehen gehört nicht gerade zu deinen Talenten, oder?“
Ken kam nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Moment regte sich Leander. Der Seher hob seinen Kopf und röchelte. Rasch eilte Thorn an seine Seite, dicht gefolgt von Chada. „Wie geht es dir, Leander?“, fragte er vorsichtig. Der Angesprochene reagierte nicht, doch immerhin erstarb das Röcheln. Hoffentlich war das ein gutes Zeichen…
Plötzlich bebte Leanders Körper. Sein Mund öffnete sich weiter, als gesund sein konnte, die Zunge verrenkte sich darin zu seltsamen Formen. Dann setzte sich Leander vollständig auf. Nicht ein Schmerzenslaut ob der gebrochenen Rippen entrang sich seiner Kehle. Der Seher schloss seinen Mund. Chada tippte ihm an die Schulter, doch noch immer erfolgte keine Reaktion.
Auch Drukil beugte sich herab und zog ein besorgtes Gesicht. Der Hautwandler war von Leander gesundgepflegt worden, so hatte es der Seher zumindest erzählt. Gewiss schmerzte es Drukil, diesen Dienst nun nicht erwidern zu können.
Stocksteif saß Leander da. Dann begann er plötzlich zu sprechen. „Folgt der Dunkelheit!“, rief er mit glasklarer Stimme. Alle vier zuckten zusammen, während Leander dasaß, als sei nichts geschehen.
„Hallo? Kannst du mich hören?“, rief Thorn verzweifelt. Was war nur los mit ihm?
„Ist … so etwas normal für ihn? Macht er das öfter?“, wollte Ken Dorr wissen.
„Definitiv nicht.“, antwortete Chada verstört.
Thorn versuchte, Leander wieder hinzulegen, doch der ließ sich nicht bewegen. Er presste die Arme an den Körper und war so unbeweglich wie der Fels unter ihm, nur sein Mund bewegte sich, formte immer wieder die gleichen lautlosen Worte: Folgt der Dunkelheit! Folgt der Dunkelheit! Folgt der Dunkelheit!
„War das eine Prophezeiung?“, überlegte Chada.
Thorn schüttelte den Kopf. „Das klang nicht wie eine Prophezeiung. Und außerdem hat er uns erzählt, dass er als künstlicher Seher – was auch immer das sein mag – keine Prophezeiungen von sich geben kann. Aber vielleicht ist es eine Vision?“
„Kein gewöhnliches Traumbild zumindest. Wenn er sich früher so aufgeführt hätte, dann hätten wir das mitbekommen.“, widersprach Drukil.
Ken Dorr erhob sich von seinem ungemütlichen Lager und fixierte Leander. „Es klang wie eine Botschaft. Vielleicht sollten wir mehr über seine Worte nachdenken und weniger über seinen Zustand.“ Die Empörung der anderen quittierte er mit einer abwehrenden Handbewegung. „Es sieht nicht so aus, als würde sich Leanders Zustand ändern.“, meinte er. „Versuchen wir lieber, der Dunkelheit zu folgen.“
Thorn hob die Fackel höher, der unstete Lichtkreis verschob sich in die Höhe, doch der Großteil ihrer Umgebung blieb in der Finsternis der Höhle verborgen. „Hier ist überall Dunkelheit! Wie sollen wir ihr folgen, wenn wir von ihr umgeben sind?“
Eine Weile schwiegen sie alle. Dann geriet die Plane um Leander plötzlich in Bewegung. Der Seher erhob sich in einer einzigen fließenden Bewegung und ignorierte dabei die Tatsache, dass eines seiner Beine gebrochen war. Er machte einen Schritt in Richtung der Haupthöhle und Thorn überlegte, ob der Untergrund aus Geröll für ihn ein Problem darstellte. Vermutlich nicht.
Leander legte seinen Kopf in den Nacken, seine Binde rutschte beiseite und entblößte ein flatterndes Augenlid. „Lauscht dem schwarzen Schrei des roten Hahns!“, schrie der Seher in die Dunkelheit.
Thorn bemerkte, dass die Hand, mit der er die Fackel hielt, zitterte. Vorsichtig trat er näher an Leander heran, doch der stand nur unbeweglich dort, das Gesicht nach oben gereckt, die Augen flatternd, die Lippen stumm bewegend. Auch die anderen traten näher und gruppierten sich besorgt um ihren Gefährten, der noch immer mit keinem Zeichen deutlich machte, ob er sie irgendwie bemerkt hatte.
Schließlich klatschte Ken Dorr in die Hände und sagte: „Noch ein Hinweis! Das müssen wir nutzen, um hier rauszukommen. Hat irgendjemand von euch eine Idee, was mit diesem roten Hahn gemeint sein könnte?“
„Leander hatte eine Vision eines gigantischen blutroten Hahns, der auf einem der Steinbäume dieser Rietburg sitzt.“, erinnerte sich Drukil. „Ob er irgendetwas hiermit zu tun haben könnte?“ Thorn brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass Drukil von einem Turm sprach. So vieles war dem Hautwandler noch immer fremd.
Eine Weile hingen alle ihren eigenen Gedanken nach, während Chada die Atmung und den Puls des Sehers überprüfte. „Wie kann ein Schrei schwarz sein?“, fragte Thorn schließlich. „Ein Geräusch hat keine Farbe!“
„Möglicherweise handelt es sich um eine sinnbildliche Schwärze.“, überlegte Chada, die anscheinend keine Unregelmäßigkeit festgestellt hatte. „Vielleicht geht es um den Inhalt des Schreis. Wenn es eine Drohung ist, oder die Ankündigung eine nahenden Unheils, dann könnte ein Schrei schon irgendwie schwarz sein.“
„Oder der Hahn schreit das Wort schwarz.“, ergänzte Ken eine weitere Möglichkeit. „Aber ich wüsste nicht, wie uns dieser Hahn jetzt weiterhelfen könnte.“
„Leander hat doch gesagt, wir sollen auf diesen Schrei lauschen. Warum also reden wir jetzt die ganze Zeit?“, fragte Drukil mürrisch.
Damit schwiegen sie alle. Thorn versuchte angestrengt, irgendetwas anderes zu hören als das Atmen seiner Gefährten und das Knistern der Fackel. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf sein Gehör. Da! War da nicht ein leises Knirschen gewesen, das aus der Haupthöhle drang? So, als würde der Fels sich regen? Er war sich nicht sicher, aber er hoffte, es sich nur eingebildet zu haben. Noch mehr Einstürze konnten sie nun wirklich nicht gebrauchen! Er lauschte weiter, doch hörte nichts, was auch nur ansatzweise mit einem Hahnenschrei zu vergleichen wäre.
Plötzlich erklangen deutlich Schritte! Bildete er sich das jetzt nur ein? Nein, da ging jemand, bewegte sich von ihm fort! Er schlug die Augen auf, eben noch rechtzeitig, um Leanders hochgewachsenen Gestalt in der Dunkelheit verschwinden zu sehen. Auch die anderen hatten die Schritte gehört und die Augen geöffnet, verwirrt starrten sie sich an. Thorn hastete hinter Leander her, der gemessenen Schrittes auf die Haupthöhle zumarschierte, die anderen folgten. Thorn war sich nicht sicher, doch es schien ihm, als berührten die Füße den Boden gar nicht, wegen des langen Mantels und der Dunkelheit war das nicht auszumachen.
Ehe er genauer nachsehen konnte hatte der Seher den Eingang der großen Höhle erreicht und blieb stehen. Noch immer hatte er den blinden Blick nach oben gerichtet.
Thorn wusste nicht, ob er das alles eher faszinierend oder unheimlich finden sollte, aber er tendierte zu letzterem. Kurz meinte er, erneut ein Knirschen zu vernehmen, das aus Richtung des ehemaligen Eingangs drang. Als er hochgeklettert war hatte er gesehen, wie instabil dort alles war, wenn ihre Lage nicht ohnehin schon aussichtslos wäre, er hätte gefürchtet, dass ihnen bald der steinerne Himmel auf den Kopf fallen könnte.
Da erscholl Leanders klare Stimme erneut: „Atmet den Odem der Flammen!“ Die Silben hallten laut von den Höhlenwänden wider. Im nächsten Moment verlor Leanders Körper jegliche Spannung und sackte in sich zusammen. Im letzten Moment fing Thorn den Seher auf und ließ dabei die Fackel fallen. Die letzte Lichtquelle erlosch und hinterließ eine allumfassende Schwärze.

Kurz darauf, nachdem sie Leander wieder auf die Zeltplanen gebettet und eine neue Fackel entzündet hatten, dachten sie über den Sinn der dritten Botschaft nach. Der Odem der Flammen. Was meinte Leander damit?
Behutsam legte Thorn die Fackel auf einen flachen Stein und beobachtete die zuckenden Flammenzungen. Drukil betrachtete sie mit einem gewissen Unbehagen, er hegte trotz seiner Tätigkeit als Brandstifter im Kampf gegen Nar´Al´Pan eine gewisse Abneigung gegen Feuer.
Chada dagegen kannte diese Abneigung nicht. Sie beugte sich so nahe über das Feuer, dass die Hitze schon schmerzhaft sein musste. Eine kurze Zeit saß sie bewegungslos da, dann zuckte sie zurück und hustete heftig. Sie rieb ihre tränenden Augen und blinzelte.
„Nichts … Besonderes zu erkennen!“, würgte sie hervor. Sie kam Thorns Frage zuvor: „Keine Sorge, mir geht es gut! Ich habe heute schon genug Rauch eingeatmet, die ganze Höhle war voll davon. Dagegen ist das hier gar nichts.“ Der Krieger schmunzelte. Sie kannte ihn einfach zu gut. Für einen Moment lächelten sich die beiden an und die Welt umher verschwand.
„Rauch! Das könnte der Odem der Flammen sein!“, zerstörte Ken Dorr den Moment des Friedens. „Das Feuer atmet ihn aus, und Menschen können ihn einatmen.“
„Wenn Chada nach dem Atmen des Rauches irgendwelche bahnbrechenden Erkenntnisse gehabt hätte, dann hätte sie uns die schon mitgeteilt!“, antwortete Thorn schärfer, als er beabsichtigt hatte.
„Es gibt einige Kräuter, die man verbrennt und deren Rauch man einatmet. Angeblich macht man daraufhin einzigartige Erfahrungen. Vielleicht…“
„Wir haben keine solchen Kräuter, Ken Dorr!“, unterbrach Chada. „Und selbst wenn bezweifle ich, dass die Erkenntnisse, die wir aus ihnen gewinnen könnten, uns wirklich weiterbrächten.“
„Wo wir gerade von Rauch sprechen…“, merkte Drukil zögerlich an, „was ist eigentlich damit geschehen? Du sagtest zurecht, die ganze Höhle war voll davon, aber wohin ist er verschwunden?“
„Verschwunden?“, warf Ken Dorr ein. „Ihr seid gut. Hier hängt alles voll davon!“
Thorn grinste. „Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was vorhin hier war!“, rief er begeistert.
„Und wenn schon! Wir sind durch einen Eingang gekommen, ein paar Steine werden den Rauch nicht davon abhalten, dadurch zu verschwinden.“
Das liegt wie eine Mauer. Hier käme nicht mal ein Luftzug durch. Das waren Drukils Worte gewesen, und auch wenn er vielleicht ein wenig übertrieben hatte, so stimmte es doch, dass der Eingang sehr gründlich verriegelt gewesen war. Vielleicht nicht gründlich genug, um alles abzuhalten, aber doch zu dicht, als dass innerhalb von den zwei Stunden, die seit dem Einsturz vielleicht vergangen sein mochten, fast der gesamte Qualm des Feuers abzog. „Drukil hat recht!“, sagte Thorn fest. „Es muss einen weiteren Ausgang geben, und mit etwas Glück wird er groß genug für uns sein. Leander sagte: Folgt der Dunkelheit! Was, wenn er damit die Schwärze meinte, die aus dem Feuer aufstieg?“
Ken blickte unsicher umher. „Habt Ihr etwa nicht alle Wände untersucht?“, fragte er skeptisch.
„Die Wände schon. Aber womöglich befindet sich der Ausgang ja nicht in der Wand.“, überlegte Chada. Ihre grünen Augen blickten nachdenklich zur Höhlendecke, und Thorn fragte sich unwillkürlich, ob es Zufall gewesen war, dass Leander während der Verkündung seiner kryptischen Botschaften das Gesicht gen Himmel gewandt hatte. Die Decke der Haupthöhle war von Rissen übersät gewesen, dahinter könnte sich durchaus eine weitere Öffnung verbergen, vielleicht ein anderer Gang der Arpachen, mit etwas Glück vom Einsturz freigelegt.
„Ich habe das Gefühl, dass der Rauch ungewöhnlich schnell nach oben gestiegen ist.“, befand er.
„Nach oben zu steigen hat Rauch nun mal an sich.“, sagte Ken Dorr zweifelnd. „Und außerdem: Selbst wenn wir einen Ausgang finden, wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass er groß genug und begehbar ist, bis wir ins Freie kommen? Und wie wollen wir den bewusstlosen und verletzten Leander in ein Loch in der Decke bekommen?“
„Jetzt hör endlich auf zu jammern!“, fuhr Drukil den Dieb unfreundlich an. „Wenn du einen besseren Vorschlag hast, dann nenne ihn, ansonsten halt dein vorlautes Maul und komm mit!“
„Ich versuche nur, die Situation realistisch zu sehen. Ich möchte lediglich keine unwahrscheinlichen Hoffnungen schüren.“, erwiderte er beleidigt, erhob sich aber dennoch.
Auch die anderen standen auf, und Thorn griff die Fackel, musterte die Rauchfahne, die zur Haupthöhle wehte. „Finden wir heraus, wie unwahrscheinlich unsere Hoffnungen wirklich sind.“


Mondhoch, 40. Herbsttag 76 A.Z.
Nar´Al´Pans Höhle, Graues Gebirge

An einer Wand der großen Höhle wehte der Rauch der Fackel geradewegs nach oben, also begannen sie damit, Geröll aufeinanderzutürmen. Thorn erklärte sich dazu bereit, den instabilen Berg zu erklimmen und stand schon bald auf dem obersten Stein. „Noch keine Öffnung in Sicht!“, rief er nach unten, auch wenn er, da er die Lichtquelle bei den anderen gelassen hatte, ohnehin nicht viel erkennen konnte. „Bringt mir das Seil, damit ich euch hochziehen kann, wenn ich etwas finde.“
Sie hatten ein Zwergenseil dabei, pechschwarz und nahezu unzerstörbar. Nachdem er es sich um seine Hüften geschlungen hatte, begann er mit der Klettertour. Er konnte fast nichts sehen, mit jedem Schritt, den er an Höhe gewann, war weniger zu erkennen. Fast blind arbeitete er sich die Felswand hoch. Glücklicherweise gab es genug Risse in der Wand, an denen er Halt suchen konnte, aber er wollte sich nicht ausgerechnet auf ihre Stabilität verlassen müssen. Er suchte immer wieder nach neuem Halt und musste mehrmals umkehren. Zwischendurch warf er einen Blick nach unten und staunte, wie hoch er bereits war. Er befand sich jetzt gewiss zehn Schritt über dem kleinen Lichtkreis. Die anderen starrten angestrengt in die Dunkelheit, aber konnten ihn mit Sicherheit nicht mehr sehen. Wenn er zurückdachte, dann konnte er sich nicht erinnern, dass die Höhle so groß gewesen war, anscheinend hatte der Einsturz tatsächlich den Weg freigemacht. Allerdings könnte Thorn in dieser Dunkelheit nur einen Schritt neben dem rettenden Ausgang vorbeiklettern, ohne ihn zu bemerken. Angestrengt spähte er neben sich in Dunkelheit. War da irgendwo ein Ausgang? Oder befand er sich über ihm? War da nicht ein besonders auffälliger Schatten?
Er lehnte sich etwas zur Seite, doch dadurch belastete er seine rechte Hand etwas mehr. Mit einem bedrohlichen Knacken brach der Vorsprung, an den Thorn sich krallte. Ein erstickter Schrei entrang sich seiner Kehle, dann brach er auch schon ab. Auch die Beine konnten ihn plötzlich nicht mehr halten, nur mit einem Arm klammerte er sich fest an die brüchige Wand. Sein Körper sackte ab und ein schmerzhafter Ruck fuhr durch die gespannten Muskeln, aber es gelang ihm dennoch, sich zu halten.
Unten hatte man seinen Schrei vernommen, und auch die herabfallenden Steine waren nicht unbemerkt geblieben. Chada eilte an die Felswand und sah nach oben, Thorn erkannte selbst auf diese Entfernung die Furcht in ihren grünen Augen. „Thorn? Ist alles in Ordnung?“
Er wünschte, er hätte beruhigend antworten können, doch er konnte keinen Atem mit einer Erwiderung verschwenden, außerdem wäre es eine Lüge gewesen. Denn es war nicht alles in Ordnung, er spürte, wie er immer weiter abrutschte. Verzweifelt strampelte er, um mit seinen Füßen irgendeinen Halt zu finden, allerdings wurde damit der Zug auf seine linke Hand noch weiter verstärkt. Ausgerechnet die Hand, in die Toras seinen Wurfdolch gejagt hatte. Der halbe Mond, der seitdem vergangen war, hatte noch nicht genügt, um sie vollständig genesen lassen.
Er merkte, wie er endgültig abrutschte. Seine andere Hand kratzte über den unnachgiebigen Fels, doch die Finger fanden keine Risse! Mit etwas Glück überlebe ich sogar!, schoss ihm durch den Kopf, dann verlor er den letzten Halt.
Plötzlich schlossen sich kalte Finger um sein Handgelenk. In einer stahlharten Umklammerung hielten sie Thorns Arm und zogen den Krieger nach oben. Erleichterung durchflutete ihn. Er war gerettet! Er wurde unsanft über die raue Felswand geschleift, dann über eine Kante gezerrt. Nur einen halben Schritt über ihm hatte sich der Ausgang befunden! Befreit lachte Thorn.
„Vielen Dank!“, sagte er dann leise und versuchte vergeblich, seinen Retter in der Dunkelheit zu erkennen. „Wer seid Ihr?“
Keine Antwort erklang, nur ein schlürfendes Atemgeräusch, das Thorn alle Haare zu Berge stehen ließ. Im nächsten Moment schloss sich eine weitere Hand um seine Kehle, und eiskalte glatte Tentakel tasteten über sein Gesicht.
Er hätte aufgestöhnt, wenn noch Luft durch seinen Hals gepasst hätte. Vom Regen in die Traufe! Er war nicht aus Hilfsbereitschaft gerettet worden, sondern von einem Höhlenwicht auf Nahrungssuche. Und jetzt lag er in einer denkbar ungünstigen Situation! Seine eine Hand wurde auf den Boden gepresst, sein Hals von klammen Fingern gewürgt. Eine freie Hand hatte er zwar, aber was könnte die schon helfen? Sein Schwert hatte er auf seine Klettertour selbstverständlich nicht mitgenommen, und zu schlagen würde auch nicht helfen, aus Erfahrung wusste er, dass Höhlenwichte keine Schmerzen spürten.
Erneut erklang das röchelnde Geräusch und ein fauliger Geruch stieg Thorn in die Nase. Er musste sich befreien! Er stemmte seine Füße in den Boden und versuchte, seinen Körper in die Luft zu stemmen, doch sofort legte sich ein schweres Gewicht auf seinen Oberkörper und Kälte zog durch seine Kleidung, lähmte ihn noch mehr. Die Luft wurde ihm knapp, er musste schnell handeln. In seiner Verzweiflung kam ihm nur eine Möglichkeit in den Sinn, der Umklammerung wenigstens für einen Moment zu entkommen. Mit aller Kraft stieß er seine Füße in den Boden, schleuderte sich und seinen Angreifer nach hinten. Mitten in die große Leere, aus der er soeben gekommen war.
Der Höhlenwicht quiekte entsetzt und der Druck um seinen Hals verschwand. Erleichtert sog Thorn frische Luft ein und fuchtelte gleichzeitig mit den Händen und Füßen durch die Luft. Sein Körper schrammte über den Fels, Kleidung und Haut wurden aufgerissen, doch dieses mal fanden seine Finger Halt in einem Riss im Gestein. Mit aller Kraft krallte er sich in den Spalt. Sein Körper weigerte sich, den abgewendeten Sturz zu akzeptieren und fiel noch ein wenig weiter, ehe es Thorn gelang, die Wucht abzufedern. Seine Arme wurden zu unangenehmer Länge gezerrt. Plötzlich fühlte es sich an, als würde jemand seine linke Schulter mit glühenden Messern traktieren! Der Arm fiel schlaff nach unten. Er biss die Zähne zusammen und versuchte, Schmerzenslaute zu vermeiden, aber ein gepeinigtes Wimmern entwich dennoch seinen Lippen.
Er bekam kaum mit, wie der Körper des Höhlenwichtes an ihm vorbei flog und unten auf den Steinen aufschlug, wie Chada entsetzt zu dem verdrehten Leichnam hastete, und auch nicht Ken Dorrs spöttischen Kommentar: „Ich glaube nicht, dass das unser geschätzter Kletterer ist.“ Seine ganze Konzentration richtete sich darauf, den Schmerz zu verdrängen und Halt zu finden. Die Höhle war nur wenige Schritt über ihm, das wusste er. Wenn es ihm gelänge, mit nur einer Hand dorthin zu gelangen, dann könnte er sich dort ausruhen.
Mühsam hob er einen Fuß in die Luft und zischte gequält. Dann tastete er mit dem Fuß über den Stein, bis er einen Vorsprung gefunden hatte. Der andere Fuß folgte, jetzt musste er den Arm bewegen. Er stemmte seinen Ellenbogen in eine kleine Ausbuchtung und stützte sich darauf, während er seine Hand, soweit er es in dieser Situation vermochte, nach oben streckte und mit den zerkratzten Fingerkuppen nach Halt suchte. Endlich fand er etwas und konnte den Ellenbogen wieder entlasten. Er atmete schwer und versuchte, sich zu besinnen. Niemals könnte er es bis nach oben schaffen!
„Thorn? Antworte doch!“ Es war Chadas Stimme, die ihm die nötige Willenskraft verlieh. Alle Herausforderungen des Körpers werden vom Kopf entschieden!, meinte er die Worte seines alten Lehrers Harthalt zu hören. Du kannst nicht siegen, wenn du nicht daran glaubst.
Ja, es stand ein hartes Stück Arbeit vor ihm. Aber immerhin wusste er jetzt, dass es tatsächlich einen Weg gab. Er biss die Zähne zusammen und hob sein Bein.

Mit letzter Kraft hievte er seinen Körper über die Kante, kurz wedelten seine Füße durch die Luft, dann zog er sich gänzlich auf den rettenden Boden. Er keuchte erschöpft und stand langsam auf. Schmerz zuckte durch seinen Schädel und Sterne tanzten vor seinen Augen, als sein Kopf an die Decke stieß. Er stöhnte, dann tastete er mit der gesunden Hand seine Umgebung ab. Bald fand er, was er gesucht hatte, ein großer Fels lag in dem Gang. Thorn wusste nicht, ob er aus dem Boden wuchs oder nur darauf lag, aber er war in jedem Fall schwer genug.
Er wickelte das Zwergenseil um den Fels und verknotete es, was sich mit einer Hand und in der Dunkelheit als gar nicht so einfach entpuppte. Dann warf er das andere Ende in Richtung der Haupthöhle und hörte, dass es nach unten fiel. Ermattet ließ er sich an die Wand sinken und versuchte seinen schmerzenden Arm zu entspannen.
Er wartete, bis Chada erschien und Licht in sein Leben brachte – im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie hatte eine entzündete Fackel dabei. Keine schlechte Leistung, mit nur einer Hand hier hoch zu klettern. Aber er hatte es auch ohne Seile und ohne Licht geschafft.
Als Chada ihn sah verzog sie erschrocken das Gesicht, doch er lächelte matt und versuchte, ihre Sorgen zu zerstreuen. „Du siehst aus, als hätte man dich durch eine Dornenhecke gestreift.“, sagte sie mitleidig, dann legte sie die Fackel beiseite und widmete sich seiner Schulter. „Ausgekugelt.“, meinte sie fachkundig und drückte seinen Oberkörper sanft auf den Boden. Plötzlich zog sie am Arm und drehte in gleichzeitig ein, was Thorn zu einem lauten Schrei veranlasste. Dann jedoch spürte er, wie der Schmerz fast augenblicklich verebbte, nur noch ein unangenehmes Gefühl blieb in der Schulter zurück.
„Das nächste Mal klettere ich! Das bin ich noch aus meiner Kindheit gewohnt!“, meinte Chada.
„Das hier ist kein Baum mit ausladenden Ästen!“, widersprach Thorn kopfschüttelnd, während er vorsichtig aufstand und seinen linken Arm prüfend schüttelte. Kurz betrachtete er die Fackel auf dem Boden und bemerkte, dass der Rauch hinten in dem Gang verschwand. Sie hatten ihren Ausgang gefunden! „Na los, holen wir unsere Sachen und dann nichts wie weg von hier!“
„Wir holen garantiert nichts!“, widersprach Chada scharf. „Dein Arm muss sich ausruhen, du kannst jetzt keine Wand herunterklettern.“
„Aber Chada, ich habe jetzt ja ein Seil zur Verfügung. Außerdem fühlt sich mein Arm dank deiner wie immer großartigen Hilfe schon viel besser an!“
Sie küsste ihn schnell. „Habe ich vier Jahre lang bei Reka die Kunst des Heilens erlernt oder du?“, fragte sie schnippisch. „Sei bloß froh, dass es nicht den anderen Arm erwischt hat.“ Sie winkte kurz und ließ sich dann am Seil zurück in die Tiefe gleiten, die Fackel ließ sie zurück. Thorn hörte, wie sie den anderen unten Anweisungen gab, ihre Sachen in die Zeltplanen zu verpacken. Dann entfernten sie sich und es wurde still.


Späte Nacht, 40. Herbsttag 76 A.Z.
Nar´Al´Pans Höhle, Graues Gebirge

Thorn musste kurz eingedöst sein, denn er erwachte von einem bedrohlichen Knirschen. Dieses Mal hatte er es sich ganz gewiss nicht eingebildet! Die Fackel war erloschen, doch Thorn konnte auch so zuordnen, dass dieses verhängnisvolle Rumpeln aus Richtung des Eingangs zu ihnen drang. Ob sich die Barriere, die sich dort gebildet hatte, jetzt von selbst auflöste? Da er gesehen hatte, in welchen Zustand sich der Fels darüber befand, wäre das kein Grund zum Jubeln.
Ehe er der Sache genauer auf den Grund gehen konnte näherten sich die anderen wieder, in Thorns Augen wirkte es, als schlenderten sie gemütlich zum Seil. „Beeilt euch! Hier kann jeden Augenblick noch mehr einstürzen!“, rief er nach unten, dann widmete er sich dem Entzünden seiner Fackel.
Bald darauf kam Ken Dorr elegant nach oben, er schien das Seil geradezu hinaufzugleiten wie eine Schlange. Thorn kam nicht umhin, seine Kletterkünste zu bewundern, aber er war sich auch bewusst, dass der Dieb sie wohl in wenig ruhmreichen Situationen gewonnen hatte.
Chada und Drukil gaben von unten ihr Gepäck an. Es war in Zeltplanen verschnürt und wurde an das Seil geknotet, anschließend von Thorn und Ken hochgezogen. Aus einem der so entstandenen Beutel ragte ein Holzstab und Thorn wollte schon fragen, warum sie den alten Stab aus der Seitenhöhle mitgenommen hatten, bis ihm aufging, dass es sich um Leanders Geh- und Sehhilfe handelte.
Der Seher wurde kurz darauf hochgezogen, er war fest in eine Plane eingewickelt und gut verschnürt, nur der Kopf ragte hervor. Auch wenn Thorn sich alle Mühe gab, so konnte er nicht ganz vermeiden, dass der Körper immer wieder unsanft an die Felswand stieß. Doch auch davon wachte Leander nicht auf, seit seinem merkwürdigen Anfall hatte er sich nicht mehr geregt.
Gerade als Ken Dorr den Ohnmächtigen über die Kante hob ertönte erneut ein Knirschen, dieses mal nicht leise, sondern laut und deutlich. Vergeblich spähte er in die undurchdringliche Dunkelheit. Drukil ging mit einer Fackel näher zum Geröllhaufen am Eingang und offenbarte, dass die Steine langsam in Bewegung gerieten. „Komm zurück!“, schrie Thorn den Hautwandler an. „Ihr müsst hochkommen! Der Berg fällt gleich in sich zusammen!“
Kaum hatte er seine Worte gesprochen geschah genau das Gegenteil dessen, was er befürchtet hatte. Der Schutthaufen fiel nicht in sich zusammen. Er explodierte.
Mannsgroße Steine flogen durch die Luft und prallten an die gefährdeten Wände. Drukil ließ entsetzt seine Fackel fallen und hastete zurück zum Seil, das Chada schon zur Hälfte erklommen hatte. Das unsichere Licht der Fackel offenbarte zwischen den Staubwolken einen großen Körper, der sich langsam emporrichtete, den auf ihn niederdonnernden Steinen zum Trotz. Graue Haut, von Brandwunden, Schrammen und Blutergüssen übersät. Gelbe Augen in der Dunkelheit. Eine raue Stimme, wild und zornig. „Itor aara ifandul!“
Chada schwang sich über die Kante und starrte entsetzt auf den gigantischen Körper. „Das ist unmöglich!“, hauchte sie.
„Wer weiß schon, wozu ihn dieses Blut der Ewigkeit befähigt?“, entgegnete Ken Dorr deutlich gefasster. Thorn sagte gar nichts, zu überraschend kam das Überleben Nar´Al´Pans. Der letzte Riese war nicht gestorben, obwohl unzählige Zentner Stein auf ihn niedergegangen waren! Er wirkte regelrecht ausgeruht, von oberflächlichen Wunden abgesehen war ihm scheinbar nichts geschehen. Er sah sich um, erblickte Drukil und brüllte hasserfüllt. Rachedurst stand ihm auf die hohe Stirn geschrieben.
Da erbebte die Höhle erneut. Wie schon vor einigen Stunden brachen Felsen aus der Decke, doch das meiste schien bereits überstanden zu sein. Dennoch hielten die Steine den zornigen Giganten auf und Drukil packte das Ende des Seils, als Nar´Al´Pan noch viele Schritt entfernt war. Mit vereinten Kräften zogen Thorn, Chada und Ken Dorr den Hautwandler empor, während der seine Füße benutzte, um Abstand zur Wand zu halten.
Schnell war er oben angelangt und alle vier griffen sich wahllos einige Gepäckbeutel. Thorn nahm die Fackel und Chada und Drukil hoben den bewusstlosen und noch immer eingepackten Leander hoch, dann rannten sie fort, folgten dem Rauch und ließen die große Höhle, Nar´Al´Pan, das Wutgeschrei des Giganten und das Blut der Ewigkeit zurück.

Der Ausgang mündete in ein unübersichtliches Gewirr aus feuchtkalten Tropfsteinhöhlen. In diesem unterirdischen Irrgarten wies ihnen einzig der Rauch der Fackel den Weg. Einmal kamen sie an einen schmalen Spalt, durch den sie unmöglich passten, doch glücklicherweise gelang es ihnen, nach einem kleinen Umweg wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Bald darauf stießen sie an das Ufer eines unterirdischen Flusses, dessen Lauf sie folgten. Zwar hatte es am vergangenen Nachmittag geregnet, aber zu dieser Jahreszeit rauschte nicht so viel Wasser durch die Kavernen wie nach der Schneeschmelze, daher konnten sie trockenen Fußes neben dem Wasserlauf entlang gehen. Sie tranken ausgiebig und wuschen sich zumindest das Gesicht mit dem eiskalten Wasser.
Irgendwann verschwand der Strom in einem düsteren Loch im Boden, doch der Rauch wies ihnen einen Weg, bei dem sie auf weitere Klettereien verzichten konnten. Kurze Zeit später rochen sie zum ersten Mal seit vielen Stunden wieder frische Luft. Sie erreichten eine kleine Höhle. Ein Gang führte wieder ins Innere des Berges, doch niemand verspürte mehr Lust auf Erkundungsgänge. Denn auf der anderen Seite befand sich ein Ausgang. Es war inmitten der Nacht, noch knapp über den Berggipfeln stand der zunehmende Mond am wolkenlosen Himmel, begleitet von unzähligen goldenen Sternen.
Von ihnen waren allerdings nur wenige zu erkennen, denn Bäume standen vor dem Höhleneingang. Drukil sog tief Luft ein und verkündete glückselig lächelnd: „Ein Wald! Endlich!“
Sie beschlossen, die Nacht in der Höhle zu verbringen, obwohl sie alle die bedrückende Enge am liebsten hinter sich gelassen hätten. Der Ort versprach Schutz vor Kälte und ungebetenen Besuchern. Und diesmal warnte auch Drukil nicht vor etwaigen Gefahren, sondern verkündete zuversichtlich: „Diese Höhle ist ein Ort der Sicherheit und des Friedens, hier ist der beste Unterschlupf weit und breit. Das spüre ich!“ Nachdem die Instinkte des Hautwandlers sie davor gewarnt hatten, Nar´Al´Pans Höhle zu betreten, zweifelte niemand mehr Drukils Beobachtungsgabe an. Einzig Ken Dorr drängte, zumindest eine Nachtwache aufzustellen, eine Forderung, von der er rasch abließ, nachdem Thorn ihm sagte, niemand hielte ihn davon ab, Wache zu halten.
Sie breiteten ihre Decken und Zeltplanen auf dem Boden aus, betteten Leander in ihre Mitte und sich selbst darum. Schon nach kurzer Zeit wurden sie alle von der Erschöpfung übermannt.


Morgendämmerung, 41. Herbsttag 76 A.Z.
Höhle im Trummwald, Graues Gebirge

Früh am nächsten Morgen erwachte Thorn, ohne den Grund dafür benennen zu können. Draußen wurde es gerade erst hell. Ein Blick über das Schlaflager zeigte ihm, dass Drukil fehlte. Besorgt ließ er seinen Blick über die Umgebung schweifen, kam jedoch zu dem Schluss, dass der Hautwandler wohl nur kurz fort war. Also betrachtete er stattdessen Chadas schlafendes Gesicht und versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen.
Schließlich sah er ein, dass ihm das wohl nicht vergönnt war. Er stand auf und musterte missbilligend seine eigene Kleidung. Erst jetzt, wo die Lichtverhältnisse besser waren, konnte er sich ausgiebig betrachten. Zerrissen, blutverschmiert, schwarz von Ruß. Ihm graute vor der Vorstellung, wie sein Gesicht aussehen mochte. Es wurde dringend Zeit für ein Bad, doch leider hatten sie keine Wechselkleidung mehr dabei. So vieles hatten sie in Nar´Al´Pans Höhle zurücklassen müssen, Gebrauchsgegenstände, Vorräte und das Leben von drei treuen Reittieren. Sicher könnten die Agren sie mit dem Nötigsten versorgen, er würde sich nur noch etwas gedulden müssen. Die Flüsse waren ohnehin eisig.
Thorn beschloss, jetzt doch nach Drukil zu suchen. Auch dessen Schwert lag noch in Pans Höhle, es war schon das zweite, das er innerhalb eines Mondes verlor. Die meisten von Chadas Pfeilen waren ebenfalls zurückgeblieben, aber sie unternahm ja auch keine Alleingänge.
Seufzend ging Thorn zu dem noch unerforschten Gang. Wahrscheinlicher war, dass Drukil in den Wald gegangen war, aber dort würde er ihn ohnehin nicht finden.
Er war nur einige Schritte weit gekommen, da stockte er plötzlich. Vor ihm erhob sich ein gewaltiger Schatten, den Thorn bis eben noch für einen Felsen gehalten hatte. Jetzt jedoch bewegte sich der Schatten plötzlich. Nar´Al´Pan! Er hat uns gefunden! Augenblicklich verwarf Thorn seine Gedanken. Der Riese hätte ihnen niemals folgen können, und auch dieser Gang hier war zu klein für ihn. Außerdem ähnelte ihm die Form des Schattens nicht im entferntesten, was er vor sich sah glich eher einem großen Tier.
Ein Tier, das jetzt näher kam. Vorsichtig wich Thorn zurück, darauf bedacht, keine hektischen Bewegungen zu machen. Dann trat das Wesen ins Licht und Thorn erkannte einen riesigen Bären mit dunkelbraunem zottigen Fell und bernsteinfarbenen Augen. Das Tier blickte ihn mit einer Mischung aus Furcht und Agressivität an und entblößte scharfe Zähne. Die Ohren waren zurückgelegt, der Nacken gestreckt. Ein dunkles Brummen erscholl.
Thorn lachte laut auf. Natürlich! Die Höhle lag in einem Wald! Deshalb war Drukil nicht an seinem Platz gewesen! Der Bär spannte seine Muskeln an, bereit zum Sprung. „Beruhige dich, Drukil! Ich bin es doch!“, rief Thorn laut.
Der Bär und der Krieger sahen sich wachsam an, dann erscholl Drukils Stimme wesentlich leiser: „Besser, du beruhigst dich! Sonst weckst du noch die anderen!“
Thorns Lächeln erlosch schlagartig. Die Stimme war nicht vom Bären gekommen. Sondern von hinten… Sein Blick huschte zum linken Bein des Bären. Kein silberner Reif lag darum.
Im letzten Moment entkam er den zuschnappenden Kiefern, dann drehte er sich um und rannte in die Höhle zurück. „Bär!“, rief Thorn im Laufen und hörte, wie das Tier die Verfolgung aufnahm. Er erreichte die Höhle und warf sich zur Seite, während das Untier an ihm vorbei raste, ehe es wenden konnte. Warum nur hatte er sein Schwert nicht dabei? Es lag nur wenige Schritte entfernt!
Drukil näherte sich dem Höhlenbären, doch ein Tatzenhieb warf ihn von den Beinen. Chada erwachte und blinzelte schlaftrunken das gewiss drei Schritt lange Monster an. Der Bär schlug nach Thorn und der Krieger rollte sich zur Seite. Sofort setzte das Biest nach, dem nächsten Hieb konnte er nicht vollständig ausweichen. Die schiere Kraft presste die Luft aus seinen Lungen, die Krallen hinterließen rote Striemen auf seinem linken Arm und zerrissen die ramponierte Kleidung noch weiter. Warmer Atem schlug ihm ins Gesicht, doch ehe die todbringenden Zähne oder der nächste Hieb ihm den Garaus machen konnte, brüllte der Bär plötzlich auf und sprang zurück. Ein tiefer Schnitt klaffte in seiner Flanke, und Ken Dorr grinste Thorn an. Dann setzte er nach, eine weitere Wunde öffnete sich, und das Ungetüm wich noch weiter zurück, dann lief es in den dunklen Gang.
„Feigling!“, rief Ken Dorr spöttisch hinterher. Dann folgte er dem Bären und auch Thorn holte sein Schwert und lief in den Gang.
Der Bär erwartete sie bereits, seine Augen weit aufgerissen. Er knurrte bedrohlich, doch Thorn meinte auch Furcht herauszuhören. Jedenfalls traute er sich nicht, wieder anzugreifen, und auch Thorn und Ken Dorr blieben eingeschüchtert stehen.
„Jetzt seht Ihr, weshalb ich eine Wache aufstellen wollte.“, meinte Ken Dorr spitz, während er und der Bär sich belauerten. „Stellt Euch nur vor, was geschehen wäre, wenn dieses Monstrum uns in der Nacht attackiert hätte!“
Thorn schauderte und hielt sein Schwert fester. „Ich möchte meine Schuld nicht auf andere abwälzen, aber Drukil behauptete, dies sei ein Ort der Sicherheit.“
„War es ja auch!“, sagte Ken spöttisch. „Der beste Unterschlupf weit und breit! Wer kann es ihm verdenken, dass er dabei aus der Perspektive eines Bären gesprochen hat?“
„Wie auch immer! Wir werden dafür sorgen, dass Drukils Worte in Zukunft tatsächlich zutreffen.“ Er trat einen Schritt auf den massigen Bären zu, welcher ungehalten knurrte.
„Hört sofort auf!“, schrie Drukil plötzlich. Er holte sie ein, dicht gefolgt von Chada.
Thorn starrte Drukil verblüfft an. „Wie bitte? Dieses Ungeheuer hätte mich fast aufgefressen!“
„Dieses Ungeheuer ist eine Bärenmutter, die ihre Kinder beschützen möchte!“ Thorn fragte nicht nach, woher Drukil das wusste. Die Einschätzung des Hautwandlers erwies sich als richtig, denn im Dämmerlicht hinter der Bärin konnte Thorn drei kleine Körper ausmachen.
Langsam trat Drukil zurück und winkte den anderen, ihm behutsam zu folgen. Als die ungebetenen Besucher zurückwichen entspannte sich die Bärenmutter sichtlich, doch sie blieb noch immer wachsam.
„Wenn ihr sie ermordet hättet, dann hätten die Jungtiere verhungern müssen.“
„Ich fürchte, es ist bereits zu spät!“, erwiderte Ken Dorr gelassen. „Das Gift in ihrem Körper genügt, um eine ganze Herde Ochsen zu töten.“
„Du hast doch gewiss ein Gegengift?“, wollte Chada wissen, in ihren Augen lag Mitgefühl für die tapfere Bärin.
„Nur ein Narr behandelt seine Waffe mit einem Gift, gegen das er sich nicht zu schützen weiß.“, meinte Ken verächtlich. „Aber weder möchte ich mein Gegenmittel an dieses Wesen verschwenden noch denke ich, dass es die Essenz freiwillig schlucken wird. Gebt Euch keine Mühe, in spätestens fünfhundert Herzschlägen ist das Tier gestorben.“
Drukil schlug fest nach dem Dieb, der nur knapp ausweichen konnte. „Gib ihr das Gegenmittel!“
Ken hob die Hände und sagte beschwichtigend: „Ich schlage vor, wir vermeiden schnelle Bewegungen, solange sie noch bei Kräften ist.“ Er nickte vorsichtig zur Bärin. „Es tut mir leid, Drukil. Aber Ihr wollt sicher auch nicht, dass ich kein Gegenmittel mehr besitze, sollte sich einer von euch versehentlich an meiner Klinge verletzen. Das Gegengift lässt sich nur aus dem Gift einer Vypera gewinnen, und die sind so weit im Süden nicht beheimatet.“
„Das Risiko gehen wir ein.“, sagte Thorn rasch, vor allem, um Drukil zu besänftigen.
Ken Dorr drehte sich kopfschüttelnd um, wohl um seine Sachen zu holen, doch dann erstarrte er. „Ich kann sie nicht retten. Das Gegengift ist noch immer in den Satteltaschen meines Pferdes. Also unter Geröll in Nar´Al´Pans Höhle begraben.“
Drukil spuckte zornig aus. „Du bist böse, Ken Dorr! Böse und verdorben! Mögest du an deinem eigenen Gift verrecken!“
Der Dieb lächelte kalt. „Böse? Oh, es ist so einfach, andere als böse zu verurteilen! Dachtet Ihr nicht eben noch, dieser Bär sei böse? Aber jetzt plötzlich wollt Ihr ihn um jeden Preis retten! Taten können böse sein, aber Personen? Wesen?“
„Wer böse Taten begeht, der ist selbst böse.“, antwortete Thorn, auch jetzt hauptsächlich in dem Streben, Drukil vom bevorstehenden Tod der Bärin abzulenken.
Ken Dorr widersprach: „Gut und böse sind doch vor allem abhängig von der eigenen Perspektive! Wieso maßt ausgerechnet Ihr Euch an, darüber urteilen zu können? Niemand würde sich selbst als böse bezeichnen, aber andere zu verdammen, das ist einfach. Meint Ihr, der Gigant, dem wir vor kurzem erst entkommen sind, sieht sich selbst als böse an?“
„Ihn würde ich auch nicht böse nennen!“, rief Drukil noch immer erbost. „Er gehorcht Gesetzen, die er für wahr hält, er denkt tatsächlich, dass sein Handeln auch für die restliche Welt am besten ist, dass man seinen Platz akzeptieren sollte. Du jedoch denkst nur an dich selbst!“
„Nar´Al´Pan ist also nicht böse? Was ist dann mit Nomion?“
„Der Hexer, der ganze Völker versklavte, Kriege begann und Teile seines eigenen Volkes abschlachten ließ?“, hakte Thorn nach. „Nun, ich denke schon, dass man ihn möglicherweise böse nennen könnte.“
„Oh, keine Frage, so könnte man ihn nennen. Aber Ihr habt Pan gehört, Nomion wollte das Blut der Ewigkeit für alle Riesen, nicht nur für selbsternannte Götter. Er kämpfte für Gleichheit und Gerechtigkeit, ebenso wie Ihr. Natürlich auf Kosten seiner Gegner, auf Kosten aller Nicht-Krahder. Aber ich glaube, für sein Volk wollte er tatsächlich das beste. Ist er deswegen also böse? Oder nur deshalb, weil er auf der falschen Seite steht?“ Ken atmete schwer. „Ja, ich denke zuerst an mich. So wie diese ganze verdammte Welt. Alles, was wir an Gutem tun, tun wir doch nur, wenn es auch für uns selbst das beste ist. Wir fürchten ein schlechtes Gewissen, die Strafe irgendwelcher Götter, wir wissen, dass es glücklich machen kann, anderen zu helfen. Aber auch wir tun nur das, wovon wir den größten eigenen Nutzen erhoffen. Ich bin nicht anders als alle anderen, ich habe nur durchschaut, dass wir uns Tag für Tag selbst anlügen. Und ich habe die Lügen abgelegt, ich tue nicht so, als ginge es mir um andere. Oder zumindest dann nicht, wenn es mir nicht einen Vorteil verschafft.“, schränkte er ein.
„Ken Dorr!“, rief Chada laut und zog damit alle Aufmerksamkeit auf sich. „Ich unterbreche deine kleine Rede ja nur ungern, aber sollte die Bärin nicht – deinen eigenen Worten zufolge - inzwischen längst tot sein?“
Alle Blicke hefteten sich auf das massige Tier, das kaum geschwächter wirkte als zuvor. Ken blinzelte überrascht, dann schraubte er den Griff seines Dolches ab und musterte das fast leere Glasgefäß. „Eine Herde Ochsen!“, murmelte er fasziniert. „Mindestens! Beeindruckend! Es scheint fast so, als könne das Gift ihr nichts anhaben. Ob das wohl bei allen Bären so ist?“ Er sah die Helden fragend an, dann überlegte er: „Wir könnten Experimente an den Jungtieren ...“ Diesmal konnte er Drukils Schlag nicht rechtzeitig ausweichen.

Sie beschlossen, die Tiere in Ruhe zu lassen. Die Bärin war verwundet, würde also wahrscheinlich nicht von selbst angreifen. „Woher kommt eigentlich dieser Dolch?“, wollte Thorn von Ken Dorr wissen.
„Ich weiß nicht, woher er ursprünglich stammt. Sein Vorbesitzer war ein übler Halunke, der ihn gewiss nicht auf ehrliche Art bekommen hat. Aber der Dolch war viel zu schade, um an so einen Tagedieb vergeudet zu werden. Er füllte salziges Wasser hinein, um die Wunden seiner Gegner brennen zu lassen, Gift konnte er sich nicht leisten. Welch eine Verschwendung! In seinem jetzigen Zustand könnte er allerdings nicht viel mit diesem Schmuckstück anfangen.“ Er bemerkte die entsetzten Blicke der Helden und ergänzte schnell: „Ihr denkt doch nicht etwa, ich hätte ihn ermordet? Nein, das waren die Stadtwachen Werftheims. Er wurde für seine Vergehen hingerichtet, und das lange nachdem ich den Dolch in meinen Besitz gebracht hatte.“
„Und woher bekommst du das Gift?“, fragte Chada skeptisch.
„Ich habe vor einigen Jahren eine Abmachung mit einem bemerkenswerten Händler getroffen. Er überließ mir seine Vorräte gegen ein geringes Entgelt, er wollte sie eiligst loswerden. Ich habe Gift und Gegengift an verschiedenen Orten versteckt, falls ich es benötige. Aber hier im Grauen Gebirge gibt es solche Orte natürlich nicht.“
„Besser du entsorgst das, was jetzt noch im Dolch ist.“, meinte Thorn. „Nur ein Narr behandelt seine Waffe mit einem Gift, gegen das er sich nicht zu schützen weiß.“
Kens Blick war fast so giftig wie seine Waffe, doch ehe er zu einer Erwiderung ansetzen konnte, erklang eine vertraute Stimme: „Schön, euch wiederzuhören. Könnte jemand mir verraten, wo wir uns befinden?“
„Leander!“, schrie Chada und Thorn warf einen besorgten Blick zum Eingang in die Bärenhöhle. Doch auch bei ihm überwog die Freude die Besorgnis, also eilte auch er zu seinem erwachten Gefährten.
Leander hatte keine Erinnerung an den mysteriösen Vorfall in Nar´Al´Pans Höhle. Er wusste auch nicht, weshalb er die Worte gesprochen hatte, die ihnen allen die Flucht ermöglicht hatten. Kurz erzählten ihm die anderen von den übrigen Ereignissen, die sich während seiner Bewusstlosigkeit ereignet hatten, dann brachen sie so schnell wie möglich auf. Die Bärin könnte schließlich jederzeit auf die Idee kommen, dass ihre neuen Mitbewohner doch eine Bedrohung für ihren Nachwuchs darstellten. Leander stützte sich auf seinen Stab und versuchte, sein Bein bestmöglich zu entlasten. Dennoch war ihnen allen klar, dass es bis zu den Agren noch ein anstrengender Weg werden würde.
Thorn trat als erstes hinaus in den jungen Tag. Dort stockte er. Er traute seinen Augen kaum. Doch andererseits: Warum war er überrascht? Ambra hatte schon früher bewiesen, welch ein treues Tier er war. Die braune Stute, auf der Leander geritten war, begleitete Thorns weißen Hengst noch immer. „Leander!“, rief er. „Ich glaube, wir haben eine Möglichkeit gefunden, dich etwas komfortabler zu transportieren.“ Ambra wieherte zustimmend und Thorn lächelte müde. Sie waren hungrig, verletzt, hatten den Großteil ihres Gepäcks verloren … aber sie waren nicht geschlagen. Der Ewige Rat würde sich noch wünschen, die Helden von Andor beseitigt zu haben, als er die Gelegenheit dazu hatte!
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Zwischenspiel VI – Die Balance des Meeres

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:11

Zwischenspiel VI – Die Balance des Meeres

Mondhoch, 41. Herbsttag 76 A.Z.
Klippe
Falkenkralle, Hadrisches Meer
Die See lag spiegelglatt da und der zunehmende Mond malte einen schmalen silbernen Strich auf die Wasseroberfläche. Er wirkte wie eine riesige, metallisch glänzende Schwertklinge und beinahe könnte man sich vorstellen, dass einst mit einem solchen Schwert Wasser von Land getrennt worden war, zeigte die Spitze des Schwertes doch stets auf das Land, auf dem der Betrachter stand. Auf der Falkenkralle stand zur Zeit allerdings niemand, nur eine verspätete Möwe flog mit großem Abstand darüber hinweg. Sie interessierte sich nicht für etwaige Schwerter, die Schönheit des Meeres oder das Wesen, das jetzt aus den tiefsten Tiefen des Ozeans aufstieg. Es roch nach totem Fisch, aber die Möwe wusste instinktiv, dass sie den muskulösen Fangarmen besser nicht zu nahe kam. Also flog sie nur noch schneller davon.
Die zuckenden Tentakel dagegen blieben. Zwischen ihnen hob sich ein monströser Körper aus dem schäumenden Wasser. Die Augen funkelten bösartig und das zerfurchte Maul öffnete sich leicht.
„Oktohan! Endlich!“ Im seichten Wasser nahe der Klippe schob sich der Oberkörper einer Frau aus dem Schatten, gefolgt von einem schlangenhaften Körper. „Nur noch Arkteron fehlt.“
In diesem Moment warf die See im Umkreis vieler Meilen plötzlich hohe Wellen und aus Gischt und Sturm formte sich ein finsteres Wesen. Wäre die Möwe jetzt noch in der Nähe gewesen, der plötzliche Wind hätte sie hilflos umhergewirbelt.
„Endlich sind wir wir wieder vereint!“, rief Kenvilar laut aus. „Auch wenn die Zeiten düster sind, so haben die letzten Ereignisse durchaus ihr Gutes. Die Balance des Meeres ist wiederhergestellt.“
Die kolossalen Tentakel zuckten zustimmend. Doch der Sturmwind brauste erbost, bis er sich zu einer Stimme formte: „Das ist den Preis nicht wert. All die Risiken, die Gefahren. Unsere Aufgabe droht zu scheitern wie nie zuvor. Unsere Existenz steht auf dem Spiel, und noch mehr.
„Beruhige dich, Herr der Stürme! Mir ist das alles mindestens ebenso bewusst wie dir. Ich sage lediglich, dass der Ewige Rat durchaus auch Vorteile hatte. Selbstverständlich muss er so früh wie möglich vernichtet und alle Zeugen beseitigt werden, damit das verschollene Wissen erneut in Vergessenheit gerät, doch immerhin bisher haben wir Gewinn gemacht.“
Wie willst du den Rat denn vernichten? Ein Gespenst ist in den Besitz des Baumes des Vergehens gekommen. Dieser Schwarze Herold ist kein Gott, aber er ist auch kein Sterblicher mehr. Du weißt, was das bedeutet: Er kann den Baum vollumfänglich kontrollieren. Und wir können ihn nicht einfach zerschmettern wie die anderen.
„Ihn zu besiegen wird nicht unsere Aufgabe sein. Er sieht die sogenannten Helden von Andor als seine Widersacher, und damit macht er sich zu ihrem Feind. Sie werden diese Aufgabe übernehmen. Sie werden die Quelle finden. Wir dagegen müssen den zukünftigen Baum des Anbeginns in der Himmelssäule schützen und gleichzeitig den Ewigen Rat bei Laune halten.“
Oktohans gigantische Fangarme zuckten wild durch die aufgewirbelte Luft und rissen Felsen aus der Klippe.
„Nein! Wir werden mit jedem zusammenarbeiten, der uns nützlich ist, auch mit deinen Mördern. Und solange das Gespenst existiert, können wir uns nicht offen auflehnen, denn auch über uns besitzt es Macht. Doch ich weiß, wie wir es zufriedenstellen können.“ Kenvilar grinste unheilvoll. „Wir werden dieser lächerlichen Vereinigung folgen müssen, bis es den Helden gelungen ist, das Gespenst zu vernichten. Dann schlagen wir zu, vernichten den gesamten Ewigen Rat, die Helden von Andor und machen Jagd auf alle anderen, die von den Bäumen erfahren haben. Wir werden das Wissen darum ausmerzen, so wie wir es schon seit der Erneuerung der Dreieinigkeit tun. Und dieses Mal werden wir keine Schriftrolle übersehen! Wenn das nächste Mal ein Seher Visionen von den Bäumen empfängt, werden wir rechtzeitig zur Stelle sein. Denkt daran, niemand ist allwissend, auch nicht unser wahrer Feind. Und mich nennt man nicht umsonst die Tückische!“
Sie brach in ein lautes Gelächter aus, das noch weiter reichte als die Sturmwinde Arkterons. Einige Meilen entfernt hörte es auch eine verspätete Möwe und geriet in Panik. Sie flatterte erschöpft, immer schneller und schneller, und ihr Herz pochte ein trommelndes Stakkato, bis es unter der Anstrengung schließlich zerbarst. Ein gefiederter Körper schlug aufs Wasser auf und für kurze Zeit zeigten sich Kreise in der spiegelglatten See. Dann beruhigte sie sich wieder und das einzige, was blieb, war der silberne Strich, den der zunehmende Mond auf die Wasseroberfläche malte.
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t - Geopfert

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:11

t – Geopfert

Früher Nachmittag, 41. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

Eara ließ den Brief sinken. Andere hätten ihn erneut gelesen, hätten sich die entsetzlichen Worte immer und immer wieder angesehen, auch wenn sie sich schon längst ins Gedächtnis gebrannt hatten. Doch sie wusste, dass das nichts am Inhalt geändert hätte. Warum also etwas Überflüssiges tun?
Andere wären vielleicht bemüht gewesen, Ruhe zu bewahren, aber Eara war ruhig. Nicht einmal ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt, auch wenn das Pergament dazu wahrlich genug Anlass geboten hätte.
Der Ewige Rat. Das Leben hielt doch immer wieder neue Überraschungen bereit. Eigentlich hatte sie vorgehabt, hier in Hadria zu bleiben, in der Annahme, dass die übrigen Helden von Andor die neueste Bedrohung auch ohne ihre Hilfe abwehren könnten. Aber damals hatte sie auch noch nicht gewusst, dass es sich nicht um eine neue, sondern um sehr viele alte Bedrohungen handelte. Dieser Gefahr konnten die Helden sich nicht alleine stellen. Noch würde sie bleiben, jetzt zu gehen, hieße all ihre Bemühungen zunichte zu machen. Aber sobald die Vereinigung vollzogen wäre, würde sie Hadria verlassen, bis der Ewige Rat vernichtet wäre.
Ein lautes Klopfen störte sie in ihren Gedanken. Kraft ihres Willens öffnete Eara die Tür zu ihren Gemächern und gewährte Torven und Variah Einlass.
„Wir haben die Waffen überprüft.“, sagte der Oberste des Turmes. „Beide Bolzenwerfer funktionieren rein mechanisch, Dunkle Magie ist nicht im Spiel“
„Aber dass Mortol und dessen Mörder eine verbesserte Version des Bolzenwerfers hatten, ist noch nicht das Seltsamste: Entscheidend ist, dass sie überhaupt welche besaßen. Wir haben alle anderen Exemplare inzwischen gefunden, die Federhämmer wurden nicht umgebaut und sind noch immer bei ihren rechtmäßigen Besitzern.“
„Und warum erzählt ihr mir das, wo ihr doch sonst stets darauf bedacht seid, mir möglichst geringen Einfluss zu verschaffen?“, fragte Eara gelangweilt.
Torven schnaubte verächtlich. „Wir mögen unterschiedlicher Ansicht sein, was die Vereinigung angeht, aber auch wir wollen diese Verschwörung so schnell wie möglich beenden. Sie haben einen Hohen Zauberer erpresst und ermordet, das können wir unmöglich dulden! Also haben wir beschlossen, in dieser Sache miteinander und auch mit dir zusammenzuarbeiten.“
Eara nickte knapp. „Das ist begrüßenswert. Wir werden diese Verschwörer stoppen, bevor noch mehr Unheil geschieht. Ich bedanke mich für die Information, die ihr mir gebracht habt, auch wenn ich bald ohnehin davon erfahren hätte.“
Variah lachte falsch. „Aber Souveränin, wir sind nicht nur hier, um diese Information zu übermitteln, sondern auch, um über unser weiteres Vorgehen zu entscheiden. Es gibt nur zwei mögliche Gründe dafür, dass die Verschwörung im Besitz von mindestens zwei Bolzenwerfern mehr war, als es überhaupt geben dürfte.“
„Ich würde eher sagen, es gibt nur einen möglichen Grund.“, unterbrach Eara. „Nämlich den, dass mindestens zwei weitere Bolzenwerfer produziert wurden, anscheinend direkt in überarbeiteter Form.“
„Die Frage ist doch, wer sie produziert hat!“, entgegnete Torven aufbrausend. „Waren es die Verschwörer irgendwo in einem verborgenen Unterschlupf, oder … haben sie sie vom Mechanicus selbst?“
„Was? Das ist lächerlich!“, rief Eara und legte Empörung in ihre Stimme. „Hedal interessiert sich nicht für Politik, er würde niemals Waffen herstellen, und die Verschwörung verabscheut er, weil sie seine eigenen Erfindungen als Waffen umfunktioniert. Auf keinen Fall arbeitet er mit ihnen zusammen!“
„Er interessiert sich nicht für Politik?“, fragte Variah spöttisch. „Und wieso hängt dann ein großes Emblem über seiner Tür, das ihn als Gegner der Vereinigung ausweist?“
„Embleme, wie auch ihr beide sie tragt.“ Eara deutete auf die Broschen mit dem brennenden Turm, die die beiden Obersten auf ihre Roben gesteckt hatten. „Das macht ihn noch nicht zum Verschwörer!“
„Das nicht!“, gestand Torven ein. „Aber wer außer ihm wäre in der Lage, einen Bolzenwerfer zu erfinden, der ohne Magie funktioniert? Wer außer ihm wäre imstande gewesen, so schnell eine solche Waffe zu fertigen und sie den Verschwörern auszuhändigen?“
„Wir sollten zu ihm gehen und mit ihm darüber sprechen anstatt über ihn hinweg.“, schlug Eara vor.
Variah grinste. „Genau darum wollten wir dich bitten. Wir drei, alle erbitterte Gegner, die gemeinsam zu ihm gehen. Wir demonstrieren Stärke und Geschlossenheit, wir zeigen, dass eine unbedeutende Verschwörung uns nicht kleinkriegen wird und dass wir auf die Vereinigung nicht angewiesen sind, um zusammenzuarbeiten.“
Eara nickte, stand auf und ergriff ihren schwarzen Stab. Den Brief aus dem Süden ließ sie in ihrer Kammer zurück. Zuerst gab es andere Dinge, um die sie sich kümmern musste, später würde sie ihn vernichten.


Später Nachmittag, 41. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

Hedal sah überrascht auf, als er seinen hohen Besuch bemerkte. Er legte ein kleines bläuliches Objekt beiseite und blickte Eara fragend an. Anhand Torvens säuerlichem Gesichtsausdruck erkannte die Souveränin, dass dem Obersten nicht entgangen war, an wen der Mechanicus sich zuerst richtete.
„Hedal!“, rief er streng. „Was kannst du uns hierzu sagen?“ Er zog ein kupfernes Rohr aus den Taschen seines Gewandes und legte es vor Hedal auf den Tisch.
Der Mechanicus betrachtete es mit gerunzelter Stirn. „Das ist die Waffe, mit der Mortol von einem Mitglied der perfiden Konspiration liquidiert wurde, nicht wahr?“
„Richtig.“, bestätigte Torven. „Und das hier ist der Bolzen!“ Er reichte dem Mechanicus das unscheinbare Metallgeschoss.
Hedal warf Eara einen unsicheren Blick zu. „Die Waffe funktionierte ohne Dunkle Magie.“, berichtete diese. „Keiner von uns dreien weiß, wie es möglich ist, dass sie dennoch so effizient war. Erkläre es uns und äußere auch einen Verdacht, wer eine solche Waffe herstellen könnte, wenn du einen hast.“
Hedal nickte eingeschüchtert und betrachtete die Waffe dann ausgiebig. Nachdem er sie aufgeschraubt hatte, verkündete er: „Es ist eigentlich ziemlich profan. Von meinen zwanzig Klappen wurden fünfzehn separiert, dadurch ist der Beschleunigungsweg expandiert. Außerdem wurde, um ein komprimiertes und dementsprechend leichteres Projektil auf einem fixierteren Weg fliegen zu lassen, die Breite des Rohrs reduziert.“
„Und dein Verdacht?“, fragte Variah nach.
„Was das betrifft müsst ihr jemand anderen konsultieren. Ich habe weder Indizien noch Hypothesen über die Herkunft der Waffe, ich kann lediglich registrieren, dass sowohl Bolzenwerfer als auch Projektil signifikant optimiert wurden.“
„Nun, Hedal, um ehrlich zu sein, wir haben eine Möglichkeit in Betracht gezogen, die dir nicht gefallen wird.“, offenbarte Torven.
„Er war es nicht!“, kam Eara Hedals Antwort zuvor. „Welches Motiv hätte er?“
„Er hätte zumindest die Möglichkeit dazu, das ist mehr, als wir von der Verschwörung bisher annahmen.“
„Es ist richtig, keine Possibilität außer Acht zu lassen, aber ich kann replizieren, dass ich bei der Invention dieser Kreation“, ein weiterer unsicherer Seitenblick zu Eara, „keine Subvention gegeben habe.“
Variah trat näher und hob das Objekt auf, an dem Hedal gearbeitet hatte. Als sie es berührte zuckte sie schmerzerfüllt und ließ es wieder fallen. Auf ihrer Haut zeigten sich Brandspuren. „Ein Bolzen aus Arkanum?“, zischte sie. „Geradezu perfekt dazu geeignet, eine Dunkle Magierin zu ermorden, nicht wahr? Auf die Erklärung bin ich gespannt!“
Hedal sah seine drei Gäste verzweifelt an. „Das war nur ein Objekt zum Experimentieren. Gut geeignet, um die Duktilität und Stabilität von reinem Arkanum zu valutieren, mehr nicht.“ Er wandte sich an Torven. „Bitte, du vertraust mir doch, oder? Du bist mein Oberster.“
„Ich würde es gerne, Hedal.“, erwiderte Torven ernst.
„Ich vertraue dir.“, sagte Eara. „Ich weiß, dass du niemals jemandem einen Schaden zufügen wollen würdest.“ Hedal nickte begeistert.
Was soll das, Eara?, erklang Torvens Stimme in ihrem Geist. Wir wollten geschlossen auftreten! Aber jetzt versuchst du nur, seine Sympathien zu erkaufen! Wenn er doch zur Verschwörung gehört, dann schadest du dir damit selbst, begreife das doch! Eara schüttelte die geistige Verbindung ab.
„Wem gebührt deine Treue, Hedal?“, fragte Variah, die von dem kurzen und recht einseitigen Gespräch nichts mitbekommen hatte.
„Den Orden! Und Hadria!“, erwiderte der Mechanicus schnell.
„Und wem in den Orden? Der Versammlung? Deinem Obersten? Oder der Souveränin?“
Hedal blinzelte und seine Hände zuckten fahrig. „Warum sollte man da differenzieren müssen?“, fragte er vorsichtig. „Ich habe konstatiert, wem meine Loyalität gehört.“
„Aber wenn du entscheiden müsstest, Hedal, wem würdest du dann gehorchen?“ Variahs Stimme wurde plötzlich unendlich sanft. „Würdest du deinem Obersten gehorchen, dem Repräsentanten aller Zauberer des Turmes? Der für Individualität und Freiheit steht? Der dich verdächtigt, weil es bedauerliche Hinweise dafür gibt? Oder Eara, der Souveränin, die alle Zauberer in einem Orden zusammenpanschen möchte? Die die Vielfalt unterdrücken wird? Die ihr falsches Vertrauen bekundet und ihren Verdacht hinter deinem Rücken weiter pflegt?“
Hedals Blicke wanderten unsicher zwischen Eara und Torven hin und her. „Wieso musst du überlegen, wenn die Brosche über deiner Tür dich doch als Gegner der Vereinigung markiert?“, setzte Variah nach.
„Aber deshalb habe ich doch keine Aversion gegenüber Eara! Sie hat mir immer so viele extraordinäre Objekte dediziert.“
„Wo wir gerade davon sprechen, ich habe unten noch zwei Behälter für dich.“, sagte Eara beiläufig. „Darin …“
„Hedal!“, fauchte Variah aufgebracht. „Lass dich nicht von ihr kaufen!“
Der Mechanicus sah die drei Besucher unentschlossen an, doch er sagte nichts. Nur seine Blicke huschten nervös hin und her. Eara entging nicht, dass seine Augen vor allem an ihr hängen blieben. Die beiden Obersten bemerkten es allerdings auch.
Torven schnaubte empört und wandte sich ab. Noch im Gehen raunte er Eara zu: „Wenn er doch zur Verschwörung gehört, dann werden die nächsten Zauberer deinetwegen sterben!“ Mit diesen Worten verließ er das Laboratorium, dicht gefolgt von Variah.

Als Eara sich sicher sein konnte, dass die beiden Obersten verschwunden waren, sagte sie zum Mechanicus: „Wie bereits erwähnt, habe ich dir etwas mitgebracht. Ich bin mir sicher, es wird dich interessieren.“
Hedal starrte nur ins Nichts und zeigte keine Reaktion. Von seiner gewohnten Neugier war nichts zu bemerken. Seine schlanken Finger lagen reglos auf der Tischplatte und in seinen Augen lag eine unheimliche Leere.
„Grubengas!“, enthüllte sie schließlich. „Zehn Gallonen!“ Noch immer zeigte Hedal nicht, ob er ihre Ankündigung zur Kenntnis genommen hatte, doch Eara fuhr unbeirrt fort: „Es hat mich einiges gekostet, daran zu kommen.“ Vor ihrem inneren Auge stieg ungebeten das von weißem Haar umkränzte Gesicht der verräterischen Nukia auf. Die Stimme der Schwäche jammerte erbärmlich, und Eara stieß sie beiseite. „Ein winziger Funke, und alles fliegt in die Luft. Überlege nur, was du damit alles anstellen könntest.“
Jetzt endlich zeigte Hedal eine Reaktion, wenn auch nicht die erhoffte. Seine Hand ballte sich zur Faust. „Bomben und Granaten.“, murmelte er abfällig. „Tod und Destruktion!“ Er stand auf und in seinem Gesicht spiegelte sich Zorn. „Soll das mein Werk sein? Mortol ist gestorben! Meinetwegen! Meine Kreation hat seine Existenz beendet! Ich kann das nicht mehr, Eara!“
Eara packte ihn an den Schultern und hielt ihn fest. „Die Menschen sterben wie die Fliegen, Tag für Tag!“, sagte sie nachdrücklich. „Deine Erfindungen dagegen werden sie noch in Jahrhunderten erfreuen.“
Der Mechanicus riss sich los und sah sie in einer Mischung aus Verzweiflung und naiver Entschlossenheit an. „Nicht, wenn sie nur Leid effizieren. Ich muss aufhören! Ich hätte niemals so etwas kreieren dürfen! Eara, Mortol ist tot. Ich habe ihn umgebracht!“ Er schrie geradezu und die Schuld grub tiefe Falten in sein Gesicht.
„Das ist Unsinn, und das weißt du. Nicht du hast ihn ermordet sondern ein Magier aus der Verschwörung. Du warst dabei nur die Waffe.“
„Aber ich bin eine Waffe mit einem autonomen Willen. Ich kann stipulieren, keine Waffe mehr zu sein.“ Er lief einige rastlose Kreise, während Eara überlegte, wie sie ihn wohl am ehesten von seinem Vorhaben abbringen konnte. Ehe sie zu einem Entschluss gekommen war fuhr Hedal sie an: „Ein Mensch ist tot. Wie kannst du so indifferent sein?“ Tränen schwammen in seinen Augen. Eara wusste jetzt, was sie zu tun hatte.
„Ich bin nicht gleichgültig!“, behauptete sie und passte ihr Verhalten an ihre neue Rolle an. Der Mund von unterdrückter Trauer verzogen, die Schultern von dem Gewicht der Schuld nach unten gezogen, ein leichtes Zittern in der Stimme, Veränderungen, die klein waren, aber unterbewusst einen großen Eindruck machten. Nichts allzu Melodramatisches, damit hätte sie sich nur unglaubwürdig gemacht. Die Körpersprache bot so viele versteckte Möglichkeiten, da musste sie sich nicht gleich mit einer Sturzflut aus Tränen behelfen.
„Ich habe einige Tage mit Mortol verbracht und ihn in dieser Zeit kennen und schätzen gelernt.“, sagte Eara bitter. Sie folgte den Worten, die die Stimme der Schwäche ihr einflüsterte, ließ sie zu und dachte sich ihren Teil. Was gab es besseres, als selbst die eigene Schwäche auszunutzen?
„Seine liebenswerte Art. Sein gutmütiges Wesen. Seine Wissbegierde.“ Seine bestenfalls durchschnittliche Intelligenz. Seine Unfähigkeit, den Mund zu halten. „Er hat sich als guter Gefährte erwiesen.“ Abgesehen von der Nacht, als er beinahe versucht hätte, mich zu ermorden und der Tatsache, dass er das entscheidende Gespräch mit dem Herrn der Schatten verschlafen hat. „Auch ich bin entsetzt über seinen Tod und wünschte, er könnte ungeschehen gemacht werden.“ Denn dann hätte er einige Namen für mich, um seine Haut zu retten.
Hedal liefen die Tränen inzwischen über die Wangen und Eara umarmte ihn sanft. Sie tätschelte seinen Rücken und nutzte die Gelegenheit, um ihr Gesicht wieder zu entspannen. Sie war wirklich außer Übung!
Sie legte noch mehr Emotionen in ihre Stimme, etwas Mitgefühl, ein Quäntchen Melancholie. „Er wurde als Kind von grausamen Menschen in die Abhängigkeit getrieben. Er führte einen Kampf, den er nicht gewinnen konnte: Er bekämpfte seine Sucht und damit sich selbst. Dennoch hat er sich diesem Kampf tapfer gestellt, hat stets nach Möglichkeiten gesucht, seiner Falle zu entkommen. Er wollte doch nur ein Leben führen, das nicht von seiner Sucht bestimmt war. Er wollte so sein, wie alle anderen! Und dieser Wunsch wurde ihm niemals erfüllt. Er hatte es nicht verdient zu sterben!“
Hedal schluchzte los und Eara verbannte die Stimme der Schwäche wieder in den tiefsten Winkel ihres Bewusstseins, sie brauchte sie nicht mehr. Ihre nächsten Worte füllte sie mit Abscheu und Verachtung aus. „Seine Schwäche wurde von der Verschwörung gnadenlos ausgenutzt. Sie haben ihn erpresst, Hedal! Sie haben ihn benutzt und weggeworfen. Als er bereit war, die Verschwörer zu enthüllen, wurde er skrupellos ermordet. Diese Menschen schrecken vor absolut nichts zurück! Sie haben Mortol auf dem Gewissen, und wenn wir nichts tun, dann werden weitere folgen. Sie werden erneut morden, mit deinen Erfindungen und ohne. Aber ich versuche, sie aufzuhalten! Kannst du mir vertrauen? Glaubst du mir, dass ich alles daran setze, sie aufzuhalten?“ Der Mechanicus nickte schwach, noch immer von Schluchzern geschüttelt.
„Du kannst Dinge erfinden, das ist deine große Stärke. Und meine Stärke ist es, diejenigen zu bekämpfen, die anderen schaden wollen. Das tue ich schon seit dem Ende meiner Ausbildung, mein halbes Leben lang. Mit deiner Hilfe kann ich meine Aufgabe besser erfüllen.“ Sie ließ Hedal los und blickte ihm fest in die Augen. „Bitte! Tue, was ich dir sage! Ich will doch auch nur, dass das alles endet. Lass dich nicht von der Verzweiflung übermannen! Lass nicht zu, dass Mortols Opfer umsonst war! Tue, was auch er getan hat: Kämpfe!“
Hedal schluckte und sein Gesicht verzog sich vor Hass. Es gehörte schon viel dazu, ein solches Gefühl im kindlichen Hedal zu wecken. Beinahe war sie stolz auf sich. Doch sie konnte das Gefühl rechtzeitig auslöschen, ehe es sich in ihr ausbreitete. Auch Stolz war nur ein Mittel der leisen Stimme, die sie zur Schwäche verführen wollte. „Versprich mir, dass du nicht erneut zögern wirst, sondern dass du deine Fähigkeiten in den Dienst des Guten stellst!“, forderte sie. Hedal nickte zögernd. „Versprich es!“
„Ich verspreche!“, brachte er zwischen zwei Schluchzern hervor.
Eara strich ihm beruhigend über den Rücken. Sie hatte erreicht, was sie wollte.


Sonnenhoch, 45. Herbsttag 76 A.Z.
Speisesaal in der Feste von Yra, Hadria

Eara betrat den Versammlungssaal. Die neunzehn mächtigsten Zauberer der beiden Orden saßen bereits auf ihren Plätzen und mieden mit ihren Blicken den leeren Fleck auf der Feuerseite. Noch immer war Mortol nicht ersetzt worden. Da in der Versammlung jedoch ohnehin keine Entscheidungen mehr getroffen wurden, fiel das nicht weiter ins Gewicht.
Eara stellte sich in die Mitte des Raumes und stampfte mit dem Ende ihres neuen Stabes auf den Boden, um sich die Aufmerksamkeit zu sichern, die ihr eigentlich schon längst gehörte. „Ich weiß, dass ich Euch zu nichts verpflichten kann.“, hob sie an. „Daher betrachtet meine folgenden Worte als Vorschlag, nicht als Befehl.“ Sie legte eine kleine Kunstpause ein. „Warum genau gibt es diese Versammlung noch? Ihr könnt keine Entscheidungen fällen und verschwendet Eure Zeit damit, in diesem Raum zu hocken. Die Hälfte von euch könnte in diesem Augenblick einem Dutzend Novizen Unterricht erteilen, und die andere Hälfte in Nordgard der Bevölkerung helfen. Stattdessen rauft ihr euch regelmäßig zu diesen sinnlosen Treffen zusammen. Ich will weder eure Entschlossenheit anzweifeln, noch möchte ich verurteilen, dass ihr regelmäßig Zeit mit Zauberern des anderen Ordens verbringt, aber muss es wirklich diese sinnlose Zusammenkunft sein?“
Wie erwartet waren die Zauberer entrüstet. Eara verdrehte ob der empörten Zwischenrufe demonstrativ die Augen. Sie erstarrte, als sie über sich an der Decke ein seltsames silbriges Konstrukt hängen sah. Es war nicht größer als ihr Kopf und bestand im Wesentlich aus einem kleinen Kasten aus irgendeinem Metall, umgeben von einem komplizierten Räderwerk. Ein Gewicht hing herab und senkte sich mit jedem Augenblick ein Stück weiter. Es war ein Uhrwerk, begriff Eara. Doch zu welchem Zweck hing es dort?
Erneut wanderten ihre Augen über den Metallkasten. Eine dünne Schnur ragte heraus, daneben war ein dunkler Klumpen auf eine Metallstange gespießt. Sie verfolgte die Verbindungen, was auf die Entfernung gar nicht so leicht war. Was würde geschehen, wenn das Gewicht noch weiter herabsank? Das große Zahnrad würde zu der Stelle gelangen, an der die Zähne plötzlich aufhörten. Dann würde es durch das Gewicht schnell herumgerissen werden. Und dadurch würde auch der Metallstift mit dem seltsamen Klumpen herumschnellen. Der Klumpen würde auf die Schnur treffen und … ja, was dann? Was war das für ein Ding? Dunkelgrau, scheinbar organisch, von seltsamen Rillen überzogen. Wie die Haut einer Robbe. Oder ein Stück Rinde. Aber das Ding war nicht flach, sondern hatte eher die Form einer halbierten Schüssel. Eine Schüssel allerdings, die randvoll mit brauner Suppe gefüllt war. Vielleicht auch beige, in der Dunkelheit war die Farbe nicht genau auszumachen. Ohne ihre vom andauernden Gebrauch der Dunklen Magie veränderten Augen hätte sie die Maschine nicht ein mal sehen können. Aber halt, war da nicht auch etwas Licht? Ein oranges Glimmen?
Und plötzlich wusste sie, was der Klumpen war, was überhaupt die ganze Konstruktion für einen Zweck hatte. Zunderschwamm war ein Baumpilz, der im getrockneten Zustand über Stunden hinweg glühen konnte. Die Arati nutzten ihn täglich, aber seine Anwendungsmöglichkeiten waren eigentlich in der ganzen Welt bekannt. Der glühende Zunderschwamm würde die weiße Schnur treffen, die Schnur würde abbrennen, bis das Feuer im Inneren des Metallkastens verschwand. Ein Kasten, der seinen Inhalt nicht nur verbarg, sondern vor allem auch festhielt. Ein winziger Funke, und es fliegt in die Luft. Grubengas!
Wenn das Grubengas explodierte, dann würde dadurch die Decke beschädigt, wahrscheinlich einstürzen. Das zumindest war wohl der Plan der Verschwörer. Auf einen Schlag wären die Souveränin und alle Hohen Zauberer ausgeschaltet. Kurz stutzte Eara. War das nicht doch etwas übertrieben, selbst für die Verschwörung? Bisher war es immer nur um ihr eigenes Leben gegangen, aber dann wäre es deutlich klüger gewesen, die Maschine irgendwo in ihren Gemächern zu platzieren. Mit der Vernichtung der Zusammenkunft wäre jegliche Autorität in Hadria zerschlagen. Das Ergebnis wäre, dass die Zauberer wie üblich die Hauptschuld dem jeweils anderen Orden aufbürden würden. Aber ohne die Hohen Zauberer hätte das keine Versammlung zur Folge, sondern einen Bürgerkrieg. Ein zweiter Ordenskrieg! Die Verschwörer hatten ihre Pläne anscheinend nicht ausreichend durchdacht. Im Gegensatz zu Eara.
Blitzschnell kontrollierte sie, mit welcher Geschwindigkeit sich das Zahnrad drehte und wie viel Zeit noch blieb, bis die Schnur sich entzünden würde. Nicht allzu viel, stellte sie fest, aber genug. Dann senkte sie ihre Augen und überprüfte, ob ihre Starre jemandem aufgefallen war, aber die Zauberer waren mit ihrer Empörung noch viel zu beschäftigt. Also durchdachte sie ihre Optionen.
Welche Möglichkeiten hatte sie? Sie könnte die Zauberer jetzt natürlich warnen. Die Falle aufzuhalten wäre jetzt, wo sie entdeckt worden war, nicht das geringste Problem. So viel feine Mechanik, die man zerstören konnte. Der Anschlag würde die Zaubererschaft erzürnen, aber vielleicht gab es noch eine bessere Möglichkeit.
Wenn sie bis zur Explosion wartete, um die Versammlung dann im letzten Moment mit ihrer Dunklen Magie zu retten, dann hätte das zwar eine zerstörte Decke zur Folge, dafür aber wäre der Hass auf die Verschwörung gewaltig, die Bedrohung sähe größer aus und die Orden würden näher zusammenrücken. Zudem würden sich einige der Hohen Zauberer vielleicht verpflichtet sehen, sich für die Rettung ihres Lebens zu revanchieren.
Flüchtig überlegte sie, einen der Hohen Zauberer sterben zu lassen, um den Zorn auf die Verschwörung noch weiter anzufeuern. Die Stimme der Schwäche kreischte verzweifelt, aber sie kam auch so zu dem Schluss, dass das ein zu hoher Preis für eine vergleichsweise kleine Wirkung gewesen wäre und ließ davon ab.
Langsam verstummten die Protestrufe. Eigentlich hätte Eara jetzt ihre Versuche fortgesetzt, die Versammlung zu ihrer eigenen Auflösung zu überreden, aber diese Gelegenheit war deutlich besser. Ein flüchtiger Blick nach oben zeigte ihr, dass es noch nicht so weit war. Doch obwohl die Maschine mit normalen Augen nicht zu erkennen war, konnte es durchaus geschehen, dass einer der anderen Zauberer sie mit seinen magischen Fähigkeiten bemerkte. Also beschloss sie, das ganze ein wenig zu beschleunigen. Die Dunkelheit um sie herum schwoll an und ein einzelner Strang wand sich zur Decke, wo er am Gewicht zog. Der leichte Widerstand, den sie dabei verspürte, deutete auf eine geringe Menge an Arkanum in der Konstruktion hin. Da Eara die Zeit nicht genau einschätzen konnte, blickte sie unvermittelt nach oben und rief: „Was ist das?“ Die Hohen Zauberer richteten ihre Blicke in die Dunkelheit.
Im nächsten Moment erfolgte die Explosion. Der metallische Kasten wurde unter dem Druck zerrissen, scharfkantige und glühende Bruchstücke flogen durch die Luft, begleitet von verbogenen Zahnrädern und Zunderschwammfetzen. Gleichzeitig durchfuhr ein Beben die gemauerten Steine und die ersten brachen aus ihrer gemörtelten Verankerung. Eara war natürlich vorbereitet und hielt die Zerstörung auf, kaum dass sie begonnen hatte. Als die ersten Hohen Zauberer erschrocken schrien, war die Gefahr bereits gebannt. Die Metallsplitter legte Eara vorsichtig neben ihr auf dem Boden ab, die Steinquader hielt sie in der Luft.
Sie wartete und ließ die Zauberer ihre eigenen Schlussfolgerungen treffen. Aufmerksam beobachtete sie die Versammlung, in der Hoffnung, der Spion könnte sich verraten, aber sie alle wirkten aufrichtig erschrocken. Einige erkannten die Situation sofort, andere brauchten etwas länger, die langsamsten wurden vom hereinplatzenden Boridas unterbrochen, dem Wächter vor der Tür, der sich erschrocken erkundigte, was vorgefallen sei. Er erfasste die Situation allerdings schneller als die meisten Hohen Zauberer und ließ sofort einige Zauberer kommen, die die Steine wieder mit der Mauer verbanden, während die Versammlung sich anschwieg.

Eine Stunde später traf die Versammlung sich erneut. Eara ließ die Hohen Zauberer gar nicht erst zu Wort kommen. „Wir wären beinahe Opfer der Verschwörung geworden!“, rief sie theatralisch. „Das zeigt erneut, wie gefährlich sie ist und dass wir zusammenhalten müssen, um ihr widerstehen zu können.“
Zu ihrer Befriedigung registrierte sie, dass die Zauberer der Versammlung selten so zustimmend gewirkt hatten. Dann jedoch wurde sie von Torven unterbrochen: „Mit Verlaub, aber inzwischen handelt es sich doch weniger um eine Verschwörung als um einige Einzeltäter. Ihr habt sechs Personen gesehen, Souveränin. Inzwischen wurden vier Mitglieder der Verschwörung enttarnt.“
Eara schüttelte den Kopf und setzte ein nachsichtiges Lächeln auf. „Weder Nukia noch Mortol konnten bei dem Treffen, das ich beobachtet habe, dabei sein. Außerdem sind Marnus und Nukia nach allem, was wir wissen noch immer am Leben und können uns schaden. Das bedeutet, wir haben nicht vier von sechs besiegt, sondern nur zwei von mindestens acht.“
Torven knirschte mit den Zähnen, doch konnte ihrer Argumentation nur schwer etwas entgegensetzen.
Eara wartete kurz, dann sagte sie: „Wir müssen zusammenhalten! Gleichzeitig dürfen wir aber auch nicht zu vertrauensselig sein. Einer der Verschwörer sitzt – wenn wir Mortols letzten Worten Glauben schenken können – noch immer in dieser Versammlung. Ich bitte euch alle daher inständig darum, mir jeden zu nennen, dem ihr misstraut. Gebt diese Bitte auch an alle anderen Zauberer weiter. Jeder der einen Verdacht hat, soll in zwei Stunden vor meinen Gemächern stehen.“
Koraph hob seine faltige Hand und winkte leicht damit. Der Alte hatte seinen Körper auf achtzig Sommer altern lassen, und dennoch konnte er schon längst keinen Zauber mehr wirken, da er seine gesamte Energie darauf richtete, nicht endgültig dem Lauf der Natur zu unterliegen. Freilich war es nicht Eigennutz, der ihn dazu trieb, seine Gebrechlichkeit war gewiss kein Genuss. Mit seinem Wissen stand er den jüngeren Zauberern zur Verfügung, er hatte selbst miterlebt, wie sich Orweyn in den Eisernen Turm einschloss. Zweihundert Jahre. Eine lange Zeit. In den Chroniken von Yra wurde kein Zauberer diesen Alters erwähnt, vermutlich war Koraph also tatsächlich der älteste Zauberer, der je gelebt hatte.
Eara nickte ihm zu, es kam nur selten vor, dass er das Wort ergriff. Noch seltener kam es allerdings vor, dass jemand sie um Erlaubnis bat, sprechen zu dürfen.
„Ich wollte Euch im Namen aller Zauberer nochmals großen Dank aussprechen, Eara. Wenn Ihr nicht gewesen wärt, dann hätte der Tag ein schlimmes Ende nehmen können.“
Eara nickte huldvoll, aber Koraph war noch nicht fertig. „Außerdem möchte ich die Gelegenheit nutzen, um eine alte Geschichte zu erzählen.“
Auf diese Ankündigung folgte verblüfftes Schweigen. Eine Geschichte? Auch Eara glaubte kurz, sich verhört zu haben. Doch Koraph vergewisserte sich kurz, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte, dann begann er tatsächlich zu erzählen.

Vor langer Zeit, ehe sich die Zauberer in zwei Orden aufspalteten, ehe sich ein Turm aus Eisen über Hadria erhob, ehe die Magischen Waffen geschmiedet worden waren, zu einer Zeit, in der Orweyn die Dunkle Magie erforschte, da lebte ein junger Zauberer namens Larran. Larran war klug und begabt, aber auch sehr aufbrausend. Er war ein Weggefährte Orweyns, und er war begeistert von der Dunklen Magie und den Möglichkeiten, die sie bot. Larran verschrieb sich der Dunklen Magie mit Haut und Haar und wurde schon bald sehr mächtig. Er setzte die Magie jeden Tag ein, auch für die kleinsten Dinge, und mit jedem Tag wurde sie mehr ein Teil von ihm. Ohne, dass er es bemerkte, begann die Dunkle Magie, ihn zu verschlingen.
Nur ein alter Zauberer namens Sarol bemerkte die Veränderung, die Larran durchlief.
Ich habe einen Verdacht, doch ich muss ihn erst überprüfen, sagte er eines Tages zu Orweyn. Wenn ich mich irre, dann könnte ich jemanden kränken. Wenn ich recht habe, dann könnte es gefährlich sein, meinen Verdacht offen auszusprechen. Sage niemandem etwas, ich fürchte, die Person, von der ich spreche, könnte auch jetzt bereits ahnen, dass ich etwas weiß. Orweyn wusste nicht, was er davon halten sollte und vergaß Sarol. Der jedoch führte in seiner Kammer Experimente durch und kam zu dem Schluss, dass seine Befürchtungen gerechtfertigt waren.
Larran indessen war vollkommen der Finsternis anheimgefallen. Von ihm war nichts mehr zu sehen als pure Dunkelheit, die ihn stets umgab. Seine Macht wuchs und wuchs, und die Dunkelheit wuchs mit.
Da besuchte ihn Sarol.
Suche mich in vier Stunden in meiner Kammer auf, sagte der Alte und verschwand ohne weitere Worte. Larran war natürlich neugierig und kaum waren die vier Stunden verstrichen, da ging er zu Sarols Kammer. Der Alte erwartete ihn und berichtete, er habe herausgefunden, dass die Dunkle Magie gefährlicher sei als bislang angenommen. Gerade Larran sei gefährdet, denn sie sei zu stark in ihm. Larran lachte, doch Sarol ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen. Er sagte, die Dunkle Magie habe einen eigenen Willen, und wenn Larran nicht achtgab, dann würde sie bald schon zu dem Schluss kommen, dass sie Larrans Körper nicht mehr benötigte. Er sei nur ein Wächter seiner Macht, sagte er ihm. Nun wurde Larran zornig, denn er bildete sich sehr viel auf seine Macht ein, und Sarol hatte immerhin behauptet, sie könnte nicht ihm gehören. Da die Dunkle Magie in ihm so stark war, wurde sein Zorn noch verstärkt, und ehe er sich beherrschen konnte, griff er Sarol an. Auch ein Wächter kann gefährlich sein, rief Sarol verzweifelt, doch zu spät. Es entbrannte ein Kampf, in dem der Sieger schon zu Beginn feststand. Larran war Sarol um ein Vielfaches überlegen. Doch der Kampf lockte auch andere Zauberer an. Nun wussten sie nicht, wie es überhaupt zu dem Kampf gekommen war und auch nicht, wer von den beiden im Recht war. Bevor sie sich einigen konnten, entfesselte Larran so viel Dunkle Magie wie noch nie in seinem Leben zuvor, überwand Sarol und tötete ihn sofort. Doch dann spürte er eine Veränderung. Zu oft hatte er Dunkle Magie angewandt, zu mächtig war sie geworden. Die Dunkle Magie in ihm begann sich zu regen und wandte sich gegen den Magier. Sie wuchs und meuchelte ihn. Dann verließ sie ihn, einer schwarzen Wolke gleich, um Tod und Verderben zu säen. Doch inzwischen waren genug andere Zauberer anwesend und gemeinsam gelang es ihnen, die Dunkle Magie zu besiegen.

„Koraph … deine Geschichte in allen Ehren, aber was hat sie mit unserer Situation zu tun?“, wollte Torven vorsichtig wissen, nachdem klar war, dass nichts mehr kam.
Koraph klatschte einmal in die Hände. „Was ich damit sagen möchte, ist, dass wir gemeinsam gegen die Bedrohung vorgehen müssen. Aber auch, dass Ihr, Souveränin, vorsichtig sein solltet, was den Einsatz Dunkler Magie betrifft.“ Er zwinkerte ihr zu.
Variah, die schon während der ganzen Geschichte unruhig geworden war, hielt es nun nicht länger aus. „Diese Mär ist Humbug!“, rief sie. „Ich habe schon von dieser Geschichte gehört, und sie hat niemals stattgefunden.“
„Natürlich hat sie niemals stattgefunden.“, bestätigte Koraph lächelnd. „Ich muss es wissen, denn ich habe sie so ähnlich erdacht. Nicht gerade eben, sondern vor sehr langer Zeit. Orweyn trug es mir auf, dem jungen Novizen, ehe er in den Eisernen Turm ging. Er gab nur grobe Vorgaben. Doch auch wenn sie so niemals stattgefunden hat, so stammt die Befürchtung, dass die Dunkle Magie sich gegen ihren Träger wenden könnte, doch von ihm.“
„Orweyn wollte nur Angst verbreiten.“, meinte Variah abfällig. Koraph lächelte noch immer, doch sagte nichts. Er starrte Eara nur fest an, in seinen wässrigen Augen blitzte es, und die Souveränin nickte unmerklich. Sie hatte die Botschaft verstanden. Geschickt, das musste sie anerkennen. Wer es darauf anlegte, konnte jedes Gedankengespäch im Umkreis von etwa hundert Schritt mitanhören, ohne bemerkt zu werden. Eine Botschaft in eine unverfängliche Geschichte zu packen wirkte dagegen harmlos.
Wann immer Koraph den alten Sarol gesprochen hatte, hatte er seine Tonlage ein wenig verändert, und zusammengesetzt ergab sich eine Botschaft: Ich habe einen Verdacht, doch ich muss ihn erst überprüfen. Wenn ich mich irre, dann könnte ich jemanden kränken. Wenn ich recht habe, dann könnte es gefährlich sein, meinen Verdacht offen auszusprechen. Sage niemandem etwas, ich fürchte, die Person, von der ich spreche, könnte auch jetzt bereits ahnen, dass ich etwas weiß. Suche mich in vier Stunden in meiner Kammer auf. Auch ein Wächter kann gefährlich sein.
Hoffentlich hatte die betreffende Person die Nachricht nicht auch mitbekommen.


Später Nachmittag, 45. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

Wie von ihr gefordert standen zwei Stunden später an die fünf Dutzend Zauberer vor ihren Gemächern. Eara ließ sie einen nach dem anderen ein und hörte sich ihre Überlegungen an. Es stellte sich jedoch heraus, dass die meisten gekommen waren, um von ihrem eigenen Leid zu klagen oder einen Rivalen anzuschwärzen. Eara lauschte einer hanebüchenen Geschichte nach der anderen, in der Hoffnung, doch noch etwas Wissenswertes zu erfahren.
Ein Zauberer des Turms erzählte, ihm sei sein Glücksbringer gestohlen worden und er sei davon überzeugt, die Verschwörung stecke dahinter. Eine Magierin des Feuers kam allen Ernstes, um sie von ihrer Politik der Einigung abzubringen. Ein Novize berichtete, sein Lehrer habe ihn für zwei Stunden in die Ecke gestellt, nur weil er etwas zu laut gewesen war.
Dolor kam mit einem Pergament an, auf das er die Namen derer notiert hatte, die seiner Ansicht nach gut zur Verschwörung gehören könnten. Es entpuppte sich als eine alphabetisch geordnete Liste aller Zauberer des Turms. Deprimierend war nicht der Vorfall selbst, sondern die Tatsache, dass Dolors Beitrag von allen, die sie sich anhören musste, noch der Hilfreichste war.

Insgesamt benötigte sie für die etwa sechzig Zauberer und Novizen knapp zwei Stunden und als der letzte verschwunden war, dämmerte es bereits. Während sie die kalten Gänge entlangeilte, um zu Koraph zu kommen, überlegte sie, ob es sich um eine Falle handeln könnte. Aber eigentlich schätzte sie Koraph nicht so ein. Er galt als Befürworter der Politik der Einigung und sie bezweifelte, dass das nur gespielt gewesen war. Dass man ihn erpressen könnte wie Mortol hielt Eara in seinem Fall für undenkbar.
Schließlich blieb sie vor Koraphs Tür stehen und klopfte höflich an. Da keine Antwort erklang, pochte sie etwas heftiger. Mit Koraphs Ohren stand es nicht mehr zum Besten. Erneut antwortete niemand.
Hatte sie zu lange gebraucht? Oder nahmen Koraphs Nachforschungen mehr Zeit in Anspruch, als er vermutet hatte? Ein drittes Mal klopfte sie an die Tür, diesmal mit der Spitze ihres Ebenholzstabes, dann öffnete sie sie vorsichtig.
Es roch nach Kräutern und kalter Asche. Ein erloschener Kamin füllte die Rückwand aus. An allen anderen Wänden hingen getrocknete und fein säuberlich beschriftete Heilkräuter. Durch ein Fenster auf der rechten Seite war die untergehende Sonne zu sehen. In der Ecke nahe des Kamins, neben einem großen Tisch, lag eine mit Federn gefüllte Matratze auf dem Boden.
Eara trat in den Raum und sah sich um, in der Hoffnung, Koraph könnte sich irgendwo verstecken. Natürlich war das nicht der Fall, der Alte hätte sich wohl kaum unter den Tisch gesetzt, um auf sie zu warten. Sie wollte schon gehen und draußen warten, da fiel ihr Blick auf einen zusammengefalteten Stofffetzen auf dem Laken. Eine Nachricht für sie? Sie griff ihren Stab fester und trat näher. Ein dunkelblaues Licht erschien zwischen den drei Spitzen ihres dunklen Stabes und beleuchtete den Stoff. Eara streckte ihre Hand aus und er flog hoch. Noch im Flug faltete er sich auf.
Die Zeichen waren in kindlicher Druckschrift geschrieben, die keinen Hinweis auf den Verfasser gab. Der Fetzen war tatsächlich eine Nachricht für sie. Aber nicht von Koraph.

Dies ist eine Botschaft an Eara, die Souveränin Hadrias
Verehrte Souveränin,
der Hohe Zauberer Koraph hat Dinge erfahren, die er nicht hätte erfahren sollen. Zugleich hat er Hinweise übersehen, die ihn hätten warnen müssen. Zum jetzigen Zeitpunkt befindet er sich an einem Ort, den Ihr nicht kennt, und nimmt unsere Gastfreundschaft in Anspruch. Sein Wissen ist zu gefährlich für uns und für ihn selbst.
Damit er wieder in sein eigenes Heim zurückkehren kann, benötigen wir einige Zusicherungen von Euch:
I. Die Vereinigung der Orden des Feuers und des Turmes wird beendet. Ihr unternehmt keine Anstrengungen mehr, um die beiden Orden zu vereinigen und haltet Eure Verbündeten davon ab, diese Versuche fortzusetzen.
II. Alle Zauberer erhalten eine Begnadigung für jedwedes Verbrechen, das sie im letzten Mond begangen haben.
Wenn Ihr die Erfüllung der zwei genannten Punkte in einer Frist von drei Tagen vor der versammelten Zaubererschaft versprecht, dann wird Koraph wohlbehalten zurückkehren und wir werden jegliche Versuche, Eure Pläne zu vereiteln, augenblicklich einstellen. Wenn Ihr Euch weigert oder mit jemandem über diesen Brief sprecht, dann müssen wir dafür sorgen, dass Koraph nicht länger ein Risiko für uns darstellt.
Wir erwarten, dass Ihr Verständnis habt und Euren Stolz überwinden könnt, anstatt das Leben eines beliebten und mit Euch verbündeten Zauberers für Eure eigene Macht zu opfern.
In Hoffnung auf eine Einigung,
die Allianz der Entscheidung (auch genannt die Verschwörung)



Abenddämmerung, 45. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

„Koraph war alt und schwach, seine Macht benötigte er, um seinen Körper am Sterben zu hindern. Und seine Warnung hat er in eine Geschichte verpackt, weil er genau wusste, dass einer der Verschwörer anwesend war und vermutlich einen Bolzenwerfer besaß.“, sagte Eara den zweiten Teil einer Stunde später zu den beiden Hitars. Die drei saßen in Earas Gemächern, die Hitars blickten entsetzt auf die Botschaft.
„Könnten wir bitte davon absehen, von Koraph in der Vergangenheit zu sprechen?“, fragte der stellvertretende Oberste des Turms unbehaglich.
„Besser wir gewöhnen uns daran.“, erwiderte Eara kalt. „Wenn er jetzt noch lebt, dann nicht mehr lange.“
„Ihr wollt ihn also tatsächlich … opfern?“ Der andere Hitar runzelte missbilligend die Stirn. „Das behagt mir nicht. Ihr hättet uns gar nicht erst einweihen sollen, so wie es gefordert war.“
„Ich habe nicht vor, diesen Erpressern nachzugeben. Ich habe euch hiervon berichtet, damit wir unser weiteres Vorgehen abstimmen können, nicht, damit wir über diese Punkte diskutieren.“ Sie bemerkte die Zweifel der beiden. „Hört zu, was sollen wir eurer Meinung nach tun? Nachgeben? Auf der einen Seite steht die Vereinigung der beiden Orden, die das Leben in Hadria noch für Generationen verbessern wird. Auf der anderen Seite steht das Leben eines alten Mannes, der vielleicht ohnehin nur noch ein Jahr zu leben hätte. Seine Entführung und der Mord an ihm werden die Zauderer unter den Zauberern noch mehr auf unsere Seite bringen.“
„Eara!“, rief der Hitar des Turms erbost. „Wir können Koraph doch nicht einfach aufgeben! Schon Nukia zu verkaufen kam mir grenzwertig vor, aber Koraph ist unschuldig.“
„Wenn ich nach ihm suchen lasse, dann weiß die Allianz der Entscheidung, dass ich jemanden eingeweiht habe und er stirbt auch. Mir wäre es auch lieber, wenn wir sein Leben retten könnten, aber das können wir nicht. Also sollten wir versuchen, das beste aus dieser Situation zu machen.“
Die beiden Stellvertreter wirkten noch immer nicht überzeugt, aber selbst wenn sie anderer Meinung waren, konnten sie nichts tun. „Ich schlage vor, ich kläre die Zauberer morgen früh auf. Das scheint mir ein guter Zeitpunkt zu sein. Falls wir ihn vorher finden, umso besser, ansonsten erfahren sie es beim Frühstück. Dann berichten wir ihnen außerdem genauer von dem Anschlag. Ich werde davon berichten, dass die Verschwörung Grubengas benutzt hat, danach unterbricht mich einer von euch beiden und sagt, dass das auf Verbindungen zum Schwarzmarkt hinweist.“
„Aber Ihr habt doch das Grubengas vom Herrn der Schatten herbringen lassen!“, entgegnete der Hitar des Feuers.
„Das wissen die Zauberer doch nicht. Wir behaupten einfach, die Verschwörung sei über kriminelle Verbindungen daran gekommen, das wird im Vergleich zwar nur einen geringen Unterschied machen, aber es kostet uns nichts.“
Die Hitars schüttelten geschlossen den Kopf. Der Zauberer in brauner Robe sagte entschlossen: „Wir werden die Zaubererschaft nicht anlügen.“
„Uns ist außerdem aufgefallen, dass Ihr der Versammlung Nukias Tod verschwiegen habt. Klärt sie auf!“, forderte der andere.
Eara verschränkte die Arme vor der Brust. „Alles, was die Verschwörung größer und gefährlicher erscheinen lässt, lässt sich gegen sie verwenden. Wenn wir jetzt die volle Wahrheit erzählen, dann werden dadurch vielleicht noch mehr Menschen sterben. Wollt ihr das wirklich?“
„Wenn die Vereinigung funktionieren soll, dann erfordert das gegenseitiges Vertrauen und Wahrheit. Wir werden nicht lügen, und wenn Ihr das weiterhin tut, dann werden wir die Zauberer aufklären!“
Eara blickte die Hitars ruhig an. Sie glaubten tatsächlich an ihre Worte. Warum waren so kluge Menschen manchmal so schrecklich naiv? Wenn eine Lüge sich besser eignete, um den Menschen etwas Gutes zu tun, warum sollte man dann unbedingt auf der Wahrheit beharren? Verdammte Prinzipienreiter!
„Also gut, wie ihr meint.“, gab Eara schließlich nach. Sie könnte die beiden jetzt nicht überzeugen und sie brauchte sie noch. „Ich werde aufdecken, dass Nukia inzwischen tot ist und dass die Verschwörung das Grubengas wohl von Hedal hat.“
„Apropos: Wie konnte die Allianz daran kommen?“, hakte der braune Hitar nach. „Diese Bombe war doch eindeutig vom Mechanicus gebaut. Aber er behauptet doch immer, dass er keine Waffen herstellt. Ist er wirklich auf unserer Seite?“
„Ich habe bereits mit ihm darüber gesprochen.“, sagte Eara. „Er hat das Ding erfunden, um baufällige Gebäude abreißen zu können und im Tagebau Gänge freisprengen zu können, nicht als Waffe. Das war natürlich unbedacht, aber so ist Hedal nun mal.“
Die Hitars wirkten nicht allzu überzeugt, aber sie widersprachen nicht.


Abenddämmerung, 46. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

Die ganze Nacht hindurch suchten die beiden Hitars die Feste von Yra ab. Sie durchkämmten den Turm der Erleuchtung, die Fingertürme, den zugänglichen Teil des Eisernen Turms. Aber sie waren nur zu zweit und konnten ohne Erklärung nicht einfach die privaten Kammern der Zauberer durchsuchen, daher fanden sie nichts.
Eara stellte sich am nächsten Morgen im Speisesaal vor die Zauberer und las den Erpresserbrief der Verschwörung vor. Dann hielt sie eine kurze Rede, in der sie wie üblich die Verschwörung verdammte, die Vereinigung der Orden lobte und alle Zauberer bat, nach möglichen Verschwörern und nach Koraph Ausschau zu halten.
Im Laufe des Tages fanden sich immer wieder Zauberer und Novizen vor ihrer Tür ein, um ihr einen abwegigeren Verdacht nach dem anderen zu präsentieren. Niemand konnte ihr ernsthafte Indizien gegen einen Zauberer zeigen.
Am Abend klopfte Gundeyn an ihre Tür, erschöpft wie immer. „Souveränin!“, keuchte er, seine Sommersprossen waren nicht mehr zu erkennen, so rot war sein Gesicht angelaufen. „Ein Zauberer hat Koraph entdeckt!“
Eara sprang auf und griff ihren Stab. „Wo?“, fuhr sie Gundeyn an.
Der dicke Novize führte sie eilig in die Gärten und zeigte auf einen Busch, um den sich bereits eine Menschentraube gebildet hatte. Eara scheuchte die Zauberer mit ihrem Stab beiseite und bahnte sich ihren Weg durch die Menge.
In der Mitte lag der Leichnam des alten Koraph. Eine dünne Schneeschicht bedeckte seinen Körper, anscheinend war er schon länger hier. Seine Augen waren geschlossen worden, doch auch auf den Lidern sammelte sich das Blut, das aus einer flachen Wunde in der Stirn geronnen war. Ein einziges Wort, mit einem Messer in die faltige Haut geritzt: GEOPFERT
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u – Die nicht eintreffende Prophezeiung

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:12

u – Die nicht eintreffende Prophezeiung

Abenddämmerung, 43. Herbsttag 76 A.Z.
Südlich des Trummwaldes, Graues Gebirge

Als die kleine Gruppe die letzten Bäume des Trummwaldes hinter sich ließ, war die Sonne schon längst hinter den Berggipfeln versunken. Die in oranges Licht getauchten Berge zerfaserten immer mehr in ein eintöniges, verwaschenes Grau. Doch trotz der zunehmenden Dunkelheit schlug niemand eine Pause vor. Sie wussten alle, dass es nicht mehr weit war bis zur Höhle der Agren.
Chada erinnerte sich noch gut daran, wie sie nach ihrem Sieg über den Urtroll mit den Agren ein großes Fest gefeiert hatten. Zwar war auch diese Feier von anderen Ereignissen überschattet worden, aber das Gelage würde sie niemals vergessen. Apfelnüsse in Hülle und Fülle. Fleisch mit einer unbekannten, aber durchaus wohlschmeckenden grünen Soße. Nach der langen Zeit des Hungerns war dieses Mahl einfach fantastisch gewesen.
Auch jetzt hungerten sie. Leander hatte mehrere Brüche, deshalb hatten sie sich entschlossen, auf schnellstem Weg zu den Agren zu reisen. Bisher schienen alle Verletzungen unkompliziert zu sein, aber falls doch etwas geschah, dann wäre es gut, Hilfe in der Nähe zu haben. Zwei Übernachtungen hatten sie bereits hinter sich gebracht, im Regen und ohne Zelte. Die Blätter hatten einen Teil des Wassers abgehalten, aber dafür noch den gesamten folgenden Tag getropft. Erst gegen Abend hatten sie noch einen Blick auf die Sonne erhaschen können, davor hatte das Graue Gebirge seinem Namen alle Ehre gemacht.
Besorgt betrachtete Chada den abendlichen Himmel. Nicht mehr lange und es wäre zu dunkel, um weiterzumarschieren. An diesen steilen Hängen konnten sie nicht einfach blindlings in die richtige Richtung laufen, zu groß war die Gefahr, einen losen Stein oder einen im Fels klaffenden Riss zu übersehen. Die fünf Menschen könnten sich ja vielleicht noch festhalten, aber die beiden Pferde?
Chada stellte sich innerlich schon darauf ein, anhalten zu müssen. Eine weitere Nacht in der Kälte der Gipfel. Hoffentlich wurde es nicht allzu windig. Sie setzte einen Schritt vor den anderen und musterte aufmerksam den Boden vor ihren Füßen. Gleichzeitig lauschte sie auf ihre Gefährten. Halb erwartete sie, dass Leander erneut einen mysteriösen Hinweis ausrufen würde, um ihnen den Weg zu weisen. Leider blieb das aus.
Chadas Gedanken wanderten zurück zu dem merkwürdigen Ereignis. Wenn die unheimlichen Worte nicht gewesen wären, dann hätten sie bei Nar´Al´Pans Erwachen noch immer in der Höhle gesessen. Was dann geschehen wäre, wollte Chada sich lieber nicht ausmalen. Aber woher war die Botschaft gekommen?
Thorn vermutete eine bislang unbekannte Variation von Leanders Gabe. Chada hatte ihm zugestimmt, aber in ihrem Herzen reifte noch ein weiterer Verdacht. War es Zufall, dass sie noch kurz vor Leanders Worten über Mutter Natur gesprochen hatten? War es Zufall, dass Leander während seiner Worte den Kopf nach oben gewendet hatte? Vielleicht. Aber je länger Chada darüber nachdachte, desto seltsamer und unerklärlicher kam ihr Leanders Verhalten vor. Die Worte ähnelten in nichts seinen sonstigen Visionen. Und immerhin waren sie auch unterwegs, um eines der Herzen der Mutter zu verteidigen. Natürlich würde sie niemals erfahren, ob sie mit ihrer Theorie recht hatte. Aber schon allein die Vermutung spendete ihr Trost. Sie konnten ein wenig göttlichen Beistand auch wahrlich gebrauchen.
Chada hatte sich früher nie für sonderlich religiös gehalten. In ihrer Kindheit hatte sie mehrfach Ärger bekommen, weil sie sich geweigert hatte, irgendwelche religiösen Dogmen widerspruchslos hinzunehmen. Gebetet hatte sie so gut wie nie. Doch als sie den Baum der Lieder dann verlassen hatte, musste sie feststellen, dass die meisten Menschen mit Mutter Natur noch weniger anfangen konnten als sie. Sie war gewissermaßen in einem Tempel aufgewachsen und auch wenn sie sich gelegentlich mit einigen Priestern angelegt oder allzu freche Fragen über die Schriften der vierundzwanzig Propheten gestellt hatte, so hatte sie die Existenz der Heiligen Mutter niemals angezweifelt.
Doch der normale Andori, auch wenn er vielleicht öfter betete als sie, tat dies häufig nur, weil es ja auch nichts schaden konnte, nicht jedoch aus Überzeugung. In anderen Regionen war es sogar ärger, die meisten hatten noch nie von den Propheten gehört. Aber so etwas war ihr deutlich lieber als die blasierten Priester, die gemütlich im Baum der Lieder saßen und immer nur wiederholten, Mutter Natur werde schon alles richten. Zum Glück war auch das nur eine kleine Minderheit.
In den Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sich Chadas Haltung gegenüber Mutter Natur nicht nennenswert verändert. Sie betete eigentlich nie, schließlich sagte auch irgendeiner der Propheten – den Namen hatte sie vergessen – dass die Menschen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen müssten. Doch die Gewissheit, dass da etwas war, was auf sie achtgab und höher war als sie, hatte sie stets mit Zuversicht erfüllt. Und jetzt wurde sie das Gefühl nicht los, dass etwas ihnen geholfen hatte, das größer war, als sie ermessen konnte.
„Ist das da vorne die Höhle, nach der wir suchen?“, kam Ken Dorrs fragende Stimme von weiter vorne. Chada hob den Kopf und blieb dabei vorsichtshalber stehen. Das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein gebrochener Hals.
Ken zeigte auf etwas, was kaum mehr war als ein Schatten, nur wenig dunkler als seine Umgebung. Chada runzelte die Stirn, aber ihre scharfen Augen konnten ihr jetzt nicht weiterhelfen. Von außen kannte sie die Höhle nur bei Tageslicht. Vorsichtig gingen Ken Dorr, Chada und Drukil zu diesem dunklen Fleck, Thorn und Leander folgten zu Pferde.
Tatsächlich wartete eine Höhle auf sie. Ob es allerdings wirklich diejenige war, in der sie einst mit den Agren gefeiert hatten, wusste sie nicht. Drukil ging voran und blieb im Eingang stehen. „Hier gibt es Agren!“, rief er.
„Sicher, dass es nicht doch ein Bär ist, der in der Höhle lebt?“, fragte Ken Dorr vorsichtig. Sein Vertrauen in Drukils Fähigkeiten war seit dem Vorfall mit der Bärenmutter offensichtlich noch nicht vollständig wiederhergestellt.
„Die Bärin hat nicht in der Höhle gelebt!“, gab Drukil beleidigt zurück. „Sie hätte dort niemals genug Futter gefunden und es ist auch noch nicht Zeit für den Langen Schlaf. Sie hat dort nur übernachtet und Schutz vor dem Sturm gesucht. Und ja, ich bin mir sicher, dass dies eine Agrenhöhle ist!“
Chada glaubte Drukil. Sie entspannte sich und betrat das finstere Loch. Die anderen folgten nach drinnen. Thorn stieg ab und kramte eine Fackel aus Ambras Satteltaschen. Die übrigen warteten, während er sie entzündete. Der mit dem schwarzen Zwergenseil auf dem Rücken seiner Stute festgemachte Leander erkundigte sich, ob irgendwelche Spuren zu sehen waren.
Noch während Thorn sich mit dem Fornâcam abmühte, erklangen plötzlich hastige Schritte und ein Agrenkind erschien. Die zerzausten, hellbraunen Haare umhüllten ein flaches, rundes Gesicht. „Wer ist da?“, fragte das Kind vorsichtig.
„Ich bin Chada.“, stellte sie sich vor.
„Chada? Etwa die Heldin von Andor?“, fragte das Agrenkind aufgeregt. In diesem Moment flammte die Fackel auf und beleuchtete die vier Helden, die zwei Pferde und den Dieb. „Tatsächlich!“, staunte der Kleine. „Wisst Ihr noch, Chada? Wir haben uns schon kennengelernt! Ich bin Darn!“
Jetzt erinnerte sich Chada wieder. Das Agrenkind, das damals den Ent gespielt und ihre Tinte verschüttet hatte! „Und, willst du noch immer ein Held werden?“
Darn nickte begeistert. „Das will ich! Aber … was wollt Ihr?“
Chada kniete sich neben den Jungen. „Wir müssen mit der Ältesten Rhona sprechen. Deshalb sind wir ins Gebirge gekommen. Kannst du uns sagen, wo sie ist?“
„Oh, Ihr habt Glück! Sie hat viele Pflichten und streift immer durch diese Berge, aber hier ist unsere größte Kolonie, deswegen ist sie oft hier. Auch jetzt gerade! Ich kann euch zu ihr bringen.“ Er stutzte. „Aber warum habt ihr Leander denn ans Pferd gefesselt? Und wer ist … der alte Mann da?“
„Alter Mann?“, rief Ken Dorr empört.
Ehe er mehr verraten konnte, sagte Leander schnell: „Ich bin hier festgebunden, weil ich verletzt bin. Und dieser Mann ist unser Begleiter, er unterstützt uns. Sein Name ist Alrik.“
Drukil sah Leander irritiert an, doch der kleine Darn bemerkte es nicht. „Uuiii!“, rief er. „Wie unterstützt er Euch? Kann er gut kämpfen?“
„Das kann ich, aber das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Früher war ich ein Spion des großen König Brandur. Ich war in seinem Auftrag im Norden unterwegs und habe die Helden kennengelernt, als auch sie das Hadrische Meer bereisten. Jetzt helfe ich ihnen mit meinen vielen verborgenen Qualitäten.“ Die Lüge kam glatt und rasch über Kens Lippen. Der Dieb zuckte mit keiner Wimper und Darn lauschte ihm fasziniert.
„Ihr müsst mir mehr erzählen! Über die anderen Helden weiß ich alles, aber von Euch habe ich noch nie gehört.“
Ken Dorr nickte gnädig. „Ich mache dir einen Vorschlag: Du bringst uns jetzt zur Ältesten und unterwegs erzähle ich dir alles, was du wissen willst.“

Der junge Agren lief zielstrebig durch die Höhle. Im Gegensatz zu den labyrinthischen Gängen, die sie hatten durchqueren müssen, um aus Pans Höhle in die Freiheit zu entkommen, formte der Fels, den der Schein von Thorns Fackel nun entblößte, eher einen gewunden Schlauch. Es gab Nischen, der Weg wurde breiter und schmaler, einmal musste Leander, der noch immer auf der braunen Stute saß, den Kopf einziehen, aber Abzweigungen kamen – abgesehen von einem Seitengang ganz zu Beginn ihres Marsches - keine.
Chada ließ sich zurückfallen, bis sie neben Leander ging. „Wirklich? Alrik?“, zischte sie. „Wozu die Lüge?“
„Die Agren haben während unserer Rückreise viele Tage mit den Andori verbracht. Sie werden wissen, wer Ken Dorr war. Und sie werden auch wissen, dass er als Bleicher König das Graue Gebirge terrorisiert hat. Wenn wir ihre Hilfe wollen, dann sollten wir nicht zugeben, dass wir mit jemandem umherziehen, der ihrem Volk so viel Leid bereitet hat.“
„Das behagt mir nicht. Ich würde eher sagen, wenn wir ihre Hilfe wollen, dann sollten wir sie nicht belügen.“
Leander zuckte nur mit den Achseln und Chada eilte wieder nach vorne, wo sich Darn mit Ken Dorr – oder „Alrik“ - unterhielt. Sollte sie das Kind aufklären? Sie entschloss sich, vorerst nichts zu sagen, um alle Optionen offenzuhalten.
„Jede gute Waffe braucht einen Namen!“, behauptete Darn gerade.
„Wirklich?“ Ken Dorr lächelte. „Dann werde ich meinen Dolch Vypera nennen, nach der Schlange am Griff.“
„Ist das normal, dass Waffen nach Tieren benannt werden? Euer Dolch heißt wie eine Schlange, Chada Bogen heißt Auerdachs. Wisst Ihr, was ein Auerdachs ist? Ich kenne nur den Dachs und den Auerhahn. Findet Ihr es nicht auch ungewöhnlich, das man einen Bogen wie einen Dachs nennt?“
Auerdachs? Chada musste unwillkürlich schmunzeln. „Darn?“, fragte sie dann. „Ist das hier nicht die Höhle, in der wir damals das Fest gefeiert haben?“ Sie war sich nicht sicher, aber die Felsen kamen ihr bekannt vor.
Der junge Agren hielt kurz inne. „Ja, das ist sie. Ihr habt ein gutes Gedächtnis! Aber unsere Kolonie befindet sich noch tiefer im Berg.“ Anschließend wandte er sich wieder an Ken Dorr: „Besitzt Ihr noch mehr Waffen?“
Chada schüttelte belustigt den Kopf und trottete dem Kind hinterher.


Frühe Nacht, 43. Herbsttag 76 A.Z.
Kolonie der Agren, Graues Gebirge

Nach knapp einer Stunde erreichten sie eine gewaltige Höhle, deren Wände und Decke im Dunkeln verschwanden. „Hier müsst Ihr Eure Fackeln ausmachen.“, forderte Darn. „Wenn wir Feuer machen, dann nur abseits unserer Kolonie.“
Als das Licht erlosch, hüllte sie nicht die Finsternis ein, die Chada erwartet hatte. Stattdessen drang ihnen ein sanftes grünes Leuchten entgegen, auf das Darn zusteuerte. Bald schon schälten sich seltsame Kuppeln von etwa sechs Schritt Durchmesser aus dem Zwielicht. Sie sahen aus wie gigantische, herabgefallene Schwalbennester. Darn lief zielstrebig zwischen ihnen hindurch und hatte sogar aufgehört, Ken Dorr mit Fragen zu löchern.
Die Kuppeln besaßen jede eine große Öffnung in der Form eines Halbkreises. Sie waren mit Grasvorhängen bedeckt, zwischen denen das grüne Licht hervordrang. Waren das die Häuser der Agren? Wozu brauchte man in einer Höhle überhaupt Häuser? Und woraus bestanden sie? Chada berührte eine der Wände. Sie fühlte sich an wie rauer Stein. Im schwachen Licht konnte sie keine Fugen entdecken und auch keine Spuren einer Bearbeitung. Der Boden schien nahtlos in die Kuppelwände einzugehen. Was waren das nur für Gebilde?
Vor ihnen begannen vereinzelte Flecken an Wänden und Boden grün zu leuchten. Chada betrachtete eine der Lichtquellen und stellte fest, dass es sich um ein überraschend trockenes Moos zu handeln schien. Sie riss eine kleine Menge vom Fels, woraufhin das Leuchten der Pflanzen in ihrer Hand augenblicklich erlosch. Anschließend verzichtete sie auf weitere Experimente.
Insgesamt bestand die merkwürdige Siedlung aus etwa sechzig der Kuppeln, die kreisförmig angeordnet waren. Je weiter sie ins Zentrum gelangten, desto mehr von den leuchtenden Moosen wuchsen auf den Wänden und dem Boden. Wurden die seltsamen Pflanzen Druck ausgesetzt, so ging das Leuchten zurück, weshalb ihnen ihre Fußspuren folgten.
In der Mitte lag ein runder Platz, der vollständig von dem trockenen Moos bedeckt war. Hell waren die Pflanzen nicht, sie tauchten die Umgebung allenfalls in ein fahles Dämmerlicht. Chada fühlte sich an den Geheimen See in Cavern, dem Reich der Schildzwerge, erinnert. Der Platz schien der Versammlungsort der Kolonie zu sein. Knapp einhundert Agren waren hier zusammengeschart, unterhielten sich gedämpft und aßen eine bunte Mischung aus Pilzen, Apfelnüssen, Kräutern und Fleisch.
Beim Eintreffen der kleinen Gruppe verstummte die Menge. Im Zentrum erhob sich Rhona, die Agrenälteste. Ihr Haar war schlohweiß, schimmerte in diesem Licht jedoch grünlich, und sie stützte sich auf einen Stock aus Wurzelholz. Ihr Blick wanderte über die Helden, blieb etwas länger an Ken Dorr hängen und richtete sich dann auf Darn. „Du ungezogener Junge!“, rief sie. „Deine Eltern machen sich schon Sorgen um dich. Bleib nicht nochmal ohne Ankündigung so lange weg!“
„Ja, Älteste!“, murmelte Darn zerknirscht. Dann deutete er auf die Helden: „Aber schau mal, wen ich mitgebracht habe: Die Helden von Andor!“
„Ja, das sehe ich. Aber ich kann nicht behaupten, dass ich mich über ihre Anwesenheit freue. Sie haben unsere schrecklichsten Feinde besiegt. Dass sie jetzt hier sind, kann wohl nur bedeuten, dass wir erneut schreckliche Feinde haben.“ Rhona formulierte das nicht als Frage, sondern als Gewissheit. „Aber setzt euch zu uns und esst mit uns. Man kann Bedrohungen nicht abwehren, indem man sie ignoriert.“
„Rhona, wir …“, begann Chada, doch die Älteste unterbrach sie harsch. „Wenn es nicht sehr dringend ist, dann nach dem Essen! Führt vorher die Pferde aus der Siedlung, die Hufe schaden dem Moosteppich. Und falls eines der Hufeisen einen Funken schlägt, steht hier alles in Flammen.“
Chada dachte daran, wie trocken die Moose gewesen waren. Sie bezweifelte zwar, dass ein einzelner Funken ausreichen würde, aber sie begriff jetzt, weshalb sie ihre Fackel hatten löschen müssen.
„Wir haben einen Verletzten dabei“, rief Chada und deutete auf Leander.
Rhona zögerte kurz, dann knurrte sie: „Bindet ihn los und versorgt ihn!“
Chada blinzelte überrascht, bis sie begriff, dass diese Aufforderung an eine Gruppe Agren und nicht an sie gerichtet gewesen war. Die Bergbewohner gingen zum Seher und lösten geschickt die Knoten. Dann trugen sie ihn in eine der Kuppeln und blieben fort. Derweil brachten Thorn und Drukil die Pferde weg.
Chada setzte sich auf den Moosteppich und die Agren reichten ihr wortlos Körbe mit Nahrung. Noch immer schwiegen sie, alle Augen waren auf sie und Ken Dorr gerichtet. Chada versuchte, die bohrenden Blicke zu ignorieren und widmete sich dem Essen.

Mit der Zeit beruhigten sich die Agren. Sie hatten schon früher mit den Helden von Andor gespeist, nachdem sie über die überraschende Ankunft hinweggekommen waren, gewöhnten sie sich schnell an den Besuch. Dennoch blieb die Besorgnis. Niemand hatte Rhonas Worten widersprochen, die Gäste brachten schlechte Nachrichten. Daher schwang in allen Worten und Gesten der Agren eine gewisse Beklemmung mit, die sich bis zum Schluss des Mahls nicht lösen sollte.
Chada hatte großen Hunger und war froh über die Gelegenheit, sich den Bauch vollschlagen zu können. Doch schon nach kurzer Zeit kam einer der Agren zu ihr und teilte ihr mit, Rhona wünsche sie zu sprechen. Also legte sie den Korb beiseite und folgte der Aufforderung.
Rhona und Chada zogen sich zwischen die Kuppeln zurück, noch in Sicht-, aber außer Hörweite der Speisenden auf dem leuchtenden Platz. „Also, dann berichte mal!“, forderte die Älteste.
„Ich dachte, erst nach dem Essen?“, meinte Chada, leicht verärgert, dass man sie aus ihrem Mahl gerissen hatte.
„Nach dem Essen erzähle ich meinem Volk von den Schrecken der Zukunft. Aber … auf meine Weise. Ich möchte keine Hysterie!“
Chada musste kurz überlegen, dann sagte sie lapidar: „Einer unserer Gegner hat eine Möglichkeit gefunden, die Toten zum Leben zu erwecken. Ich spreche nicht von Nekromantie, sondern von wahrer Wiederauferstehung.“ Rhona riss überrascht ihre müden Augen auf, doch Chada war noch nicht fertig. „Er hat Feinde hinter sich versammelt, die wir längst besiegt glaubten, und strebt nach Rache und Weltherrschaft. Um ihn aufzuhalten, sind wir hier.“
Rhona klammerte sich an ihren Stock und fragte brüchig: „Welche Feinde?“
„Unter anderem den letzten Drachen und den ersten Krahder.“ Die Älteste schluckte schwer, doch erwiderte nichts. „Ich weiß, es sieht düster aus, aber nicht alles ist verloren. Wir brauchen die Hilfe der Agren.“
„Was können wir tun?“, wollte Rhona niedergeschlagen wissen.
„Erstens: Hrals letzte Prophezeiung. Grone sagte mir, sie sei für diejenigen, die das Ende der Sklavenschinder verbrannten. Inzwischen wissen wir, dass wir diejenigen sind.“
„Ach ja, wisst ihr das? Erklär es mir, Chada.“
Chada zögerte. Rhona war vertrauenswürdig, aber das Wissen um die Herzen der Mutter war gewiss nicht ohne Grund verborgen gewesen. Gut vorstellbar, dass die Bewahrer Themauras´ Text bewusst vergessen hatten, denn gewiss hätte die Geschichte von der gewaltigen Macht des Baumes der Lieder viele machthungrige Eroberer angezogen. „Ich kann nicht alles verraten, es tut mir leid. Nur so viel: Der Schwarze Baum in Krahd war ein Sinnbild des Endes. Und ihn haben wir verbrannt.“
Rhona legte den Kopf schief, doch schließlich akzeptierte sie die Erklärung. „Du scheinst dir sehr sicher zu sein. Das muss mir genügen.“ Sie setzte sich auf den Höhlenboden und forderte Chada mit einer Handbewegung auf, es ihr gleichzutun. Nachdem sie beide saßen, lehnte sich Rhona an die Wand der Kuppel.
„Hral, der Weise, lebte vor fast zwei Jahrtausenden in diesem Gebirge.“, murmelte sie und Chada beugte sich etwas vor, um sie besser verstehen zu können. „Hral besaß die Gabe des zweiten Gesichts. Bei ihm war sie stärker ausgeprägt als bei jedem anderen, der vor ihm gekommen war oder nach ihm kommen sollte. Er wusste schon Jahre im voraus, wann er sterben würde. Als der Tag seines Todes gekommen war, bat er die fünf Ältesten seines Volkes und seine drei Schülerinnen zu sich. Er sagte ihnen, dass er jetzt seine letzte Prophezeiung verkünden werde. Doch diese Prophezeiung sei anders als die übrigen. Denn sie werde, wenn sie die richtigen Ohren erreicht, nicht eintreffen, und zwar in beiden möglichen Ausgängen. Die Versammelten wollten mehr wissen: Würde sich die Prophezeiung also erfüllen, wenn sie die richtigen Ohren nicht erreiche? Sei es Aufgabe derjenigen, die von ihr hören müssten, das Eintreffen zu verhindern? Doch Hral schwieg.“
Auch Rhona schwieg und wenn die Älteste Chada nicht so ernst angeblickt hätte, sie hätte befürchtet, die Agrenfrau könnte eingeschlafen sein. „Schließlich sagte er, dass es Aufgabe der Agren sei, seine Worte weiterzugeben, bis der Richtige von ihnen hören würde. Dies sei von größter Bedeutung, denn das Überleben unseres Volkes hinge davon ab. Angemessen beeindruckt lauschten die Ältesten und Schülerinnen also der Prophezeiung des Weisen.“
Chada konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht endlich nach der Prophezeiung zu fragen. Selbst Grone war schneller zum relevanten Teil übergegangen.
„Ich sehe deine Ungeduld, Chada. So höre die letzte Prophezeiung von Hral, dem Weisen.“ Rhona atmete tief ein, dann sagte sie feierlich:
Wenn der gezeichnete Verkünder entsteht,
und in falscher Ordnung wieder vergeht,
finden die, welche ohne Argwohn verbrannten,
der Sklavenschinder Ende, das sie nicht erkannten,
den reglosen Herrscher in ewiger Wacht,
den Wächter, der aus Stehen Werden macht,
wo zusammenflossen Blut der Ewigkeit,
der Staub des Todes und das Wasser der Zeit,
und wenn sie nur seinen Namen sagen,
wird er erwachen und das Unheil vertagen.

Kannst du dir das merken?“ Chada nickte, während sie sich die Prophezeiung Wort für Wort einprägte. Von Leander wusste sie, welche Bedeutung kleinste Veränderungen in einer Weissagung haben konnten.
„Gut, denn ich will das nicht wiederholen müssen. Gibt es noch etwas, womit ich dir helfen kann?“
„Ja! Es wird dir nicht gefallen, aber wir müssen mit dem Orakel der Geister sprechen. Wir brauchen Antworten, die uns nur das Orakel geben kann.“
Rhona presste ablehnend ihre Lippen zusammen. „Grone hätte niemals davon erzählen dürfen.“, murrte sie.
„Aber jetzt brauchen wir es. Was genau hat es mit dem Orakel auf sich?“
„Die drei Schülerinnen, von denen ich erzählt habe, führten Hrals Vermächtnis nach dessen Tod fort. Sie erreichten nie dieselbe Meisterschaft, aber sie konnten simple Voraussagen über die nähere Zukunft von sich geben. Zumindest mit Hilfe von Hrals Stab, dem einzigen Relikt ihres alten Meisters. Ihnen gelang es jedoch nicht, neue Schüler zu finden. Es heißt, alle drei starben am selben Tag, doch weil sie noch keine Nachfolger gefunden hatten, entschlossen sie sich, zu bleiben. Sie rissen ihre Existenzen aus dem Kreislauf der Wiedergeburt; ihre Seelen konnten nicht länger in den Körper eines jungen Agren eingehen. Das war der Preis, den sie zu zahlen hatten, um ihre Aufgabe fortführen zu können. Ihre Geister nisteten sich in einem Versteck ein und sie nannten sich fortan das Orakel der Geister oder die Drei Schwestern. Mit ihrem Tod veränderte sich ihre Gabe. Jede Frage, die man ihnen stellte, konnten sie wahrheitlich beantworten. Doch Wissen ist Macht, und in den falschen Händen konnte diese Macht gefährlich sein. Also wurde die Existenz des Orakels von uns geheim gehalten.“, erzählte Rhona sichtlich unwillig.
„Wenn sie alle Fragen beantworten können, heißt das dann, sie sind … allwissend?“
„Vielleicht. Oder aber sie wissen nicht alles, sondern nur die Antworten auf das, was sie gefragt werden. Erst in dem Moment, in dem die Frage sie erreicht, kennen sie auch die Antwort, das ist meine Theorie.“
Chada nickte langsam. „Hrals Stab, den du erwähnt hast. Ist es …“ Sie warf dem Wurzelstab, den Rhona in der Hand hielt, einen vielsagenden Blick zu.
Die Älteste lachte gackernd. „Oh nein! Das hier ist nur ein ganz gewöhnlicher Stock. Ich weiß zwar nicht, ob Hrals Stab irgendwelche besonderen Eigenschaften besaß, aber den Drei Schwestern bedeutete er alles. Sie nahmen ihn mit in ihr Versteck, doch vor eineinhalb Jahrtausenden wurde er gestohlen. Von einem Menschen mit dem zweiten Gesicht, heißt es! Es war das einzige Mal, dass jemand, der kein Agren war, zu den Drei Schwestern fand. Was aus dem Mann oder dem Stab geworden ist, weiß niemand.“
„Wir sind anders!“, behauptete Chada unbehaglich. „Sag, Rhona, wo befindet sich das Versteck der Drei Schwestern?“
„Das Orakel der Geister ist ein gut gehütetes Geheimnis. Ich muss mich auf die Verschwiegenheit von euch allen verlassen können.“
„Das kannst du, Rhona. Wir sind die Helden von Andor, du kennst unsere Taten.“
„Ich kenne die Taten der meisten von euch. Aber einer aus eurer Gruppe ist mir unbekannt.“
Chada zuckte zusammen. Sie hatte Ken Dorr tatsächlich vergessen. Konnte sie wirklich für dessen Verschwiegenheit garantieren? „Ich sehe an deiner Reaktion, dass meine Bedenken nicht unberechtigt waren. Wer ist dieser Mann? Er weckt in mir ein dunkles Gefühl, Erinnerungen, die ich für immer begraben wollte. Wer ist … Alrik?“
Wenn wir ihre Hilfe wollen, dann sollten wir nicht zugeben, dass wir mit jemandem umherziehen, der ihrem Volk so viel Leid bereitet hat, hatte Leander gesagt. Aber sie forderte das Vertrauen der Agren ein, da konnte sie unmöglich selbst lügen. „Ich sagte doch, dass alte Feinde wiedererweckt wurden.“, meinte sie vorsichtig, „Nun, er ist einer von ihnen. Doch er hat sich entschlossen, uns zu unterstützen.“
Rhona sah sie prüfend an. „Bist du sicher? Ich mag ihn ganz und gar nicht. Seine Bewegungen, seine ganze Art, alles an ihm kommt mir auf schreckliche Weise bekannt vor. Er weckt diese Erinnerungen …“
„Erinnerungen an deine Zeit in der Winterburg?“, fragte Chada behutsam.
Rhona erstarrte. „Er war dort? Aber er ist kein Krahder. Und sonst waren da nur Skelette, keine Lebenden. War er … ein Diener des Bleichen Königs?“
„Rhona … er war der Bleiche König…“
Das Gesicht der Agrenältesten wurde schlagartig aschfahl. „Das ist nicht dein Ernst? Doch, natürlich ist es das. Wie konntest du ihn hierherführen? Wie konntest du auch nur annehmen, ich würde euch etwas über das Orakel der Geister verraten?“
„Rhona!“, unterbrach Chada die Älteste. „Er war ein Skelett, kein Mensch. Die Krahder waren das Übel, er dagegen nur ein Werkzeug.“
Rhonas Hand umklammerte den Wurzelstab so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. „Nein, Chada! Ich habe viele Skelette erlebt, und sie alle waren willenlose Marionetten. Aber der Bleiche König war anders. Sein Selbst war noch immer vorhanden. Seine …“
„Mag sein, dass ein Schatten seiner Persönlichkeit noch in ihm versteckt war, aber …“
„Nein, Chada, hör mir zu! Du irrst! Seine Persönlichkeit war in jener Zeit nicht versteckt, sondern offengelegt. Du siehst diesen Menschen lachen, siehst ihn mit Kindern sprechen, siehst ihn euch helfen. Aber in Wahrheit ist das nur eine Maske! Eine Fassade! Doch ich habe ihn gesehen, als er gezwungen war, jede Maske abzulegen. Ich konnte ihn durchschauen. Damals konnte er sich nicht hinter seiner klugen Worten verstecken, hinter seinen feinen Kleidern, hinter seinen Lügen. Er trägt das Gesicht eine Menschen, aber dahinter verbirgt sich ein Monster. Ich habe seine Grausamkeit gesehen, seine Skrupellosigkeit, seine Machtgier! Er würde mit Freuden über ein Reich aus Blut und Tod herrschen und auf einem Thron aus Knochen sitzen.“
Chada schloss die Augen. Rhonas Worte befeuerten nur die Zweifel in ihrem Inneren. Wie weit konnten sie dem Dieb trauen? „Bitte! Ich verstehe deinen Hass, aber du betrachtest ihn nicht unvoreingenommen. Unsere Feinde haben ihn in der Hand, und er hilft uns, um seiner Gefangenschaft zu entkommen. Er sehnt sich nur nach Freiheit.“
„Er blendet euch, Chada!“, sagte Rhona eindringlich. „Seine Worte sind Gift, das er euch großmütigen Helden ins Ohr speit. Seine Bosheit ist ein Ozean aus Feuer, der alles zu Asche verbrennt. Ich weiß, du willst es nicht hören, du willst an das Gute glauben, das in jedem von uns schlummert. Aber wenn in ihm jemals etwas Gutes existiert hat, dann hat es längst den Freitod gewählt angesichts seiner überwältigenden Bosheit. Ich habe Tarok erlebt, den letzten Drachen, den Schatten der Berge. Und ich habe gesehen, was die Krahder, die Herren der Toten, der Fluch des Gebirges, getan haben. Und glaube mir, der Bleiche König ist ebenso schlimm. Krahder und Drachen jagen uns seit Urzeiten, immer wieder fielen ihnen einige von uns zum Opfer. Aber er ist das Gift, das sich längst in unseren Körpern befindet. Er ist eine Seuche, die uns alle dahinraffen kann. Ich gebe dir einen guten Rat, Chada: Wenn du nicht willst, dass er dir bei nächster Gelegenheit einen Dolch ins Herz rammt, dann musst du ihm zuvorkommen!“
„Das würde nicht viel bringen. Er ist schon einmal von den Toten zurückgekehrt, er würde es auch ein zweites Mal tun.“ Chada seufzte. „Rhona, ich verstehe, dass du ihm nicht vertrauen kannst. Aber was, wenn ich verspreche, dass wir ihm nicht mehr über das Orakel der Geister verraten, als unbedingt notwendig?“
Rhona sprang auf, agiler als Chada ihr zugetraut hätte. „Ich werde euch nichts verraten, keinem von euch. Jedes Wort, das er erfahren könnte, wäre eines zu viel. Sucht woanders nach euren Antworten!“
Chada kniete sich vor die Älteste. „Rhona, bitte, nirgendwo anders werden wir erfahren können, was wir brauchen. Der Anführer unserer Feinde ist selbst ein …“
„Ich habe mich wohl nicht klar genug ausgedrückt.“, zischte Rhona mit mühsam unterdrückten Zorn in der Stimme. „Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um zu verhindern, dass der Bleiche König auch nur eine Silbe über das Orakel der Geister erfährt. Ich schwöre es bei Berg, Baum und Bach. Ich schwöre es bei meinem Namen, meinem Leben und meiner Seele. Ich schwöre es bei tobendem Sturm, loderndem Feuer und kaltem Eis. Ich schwöre es bei der gleißenden Sonne, dem wandelhaften Mond und den tausend Sternen ohne Namen.“ Sie schüttelte sich. „Morgen früh verschwindet ihr alle von hier. Und wenn ihr hundert Verwundete bei euch hättet.“


Mondhoch, 43. Herbsttag 76 A.Z.
Kolonie der Agren, Graues Gebirge

„Ich will jetzt nicht sagen, ich habe es dir ja gesagt, aber …“, äußerte Leander etwas später. Er lag auf einem Bett aus Grasmatten, sein Bein war neu geschient worden und ein breiter Verband aus groben Leinen umwickelte seine nackte blaue Brust. Sein Stab und Umhang lagen neben seinem Lager auf dem glühenden Moosteppich.
„Schon gut!“, gab Chada zu. „Es war womöglich ein Fehler, Rhona zu verraten, wer Ken Dorr wirklich ist. Aber ich hätte sie nur ungerne angelogen, und wenn sie mich dabei erwischt hätte, dann hätten wir vermutlich schon jetzt verschwinden müssen.“
Chada, Thorn und Drukil hatten sich in einer der Kuppeln um Leander versammelt und besprachen ihr weiteres Vorgehen. Chada hatte ihnen so detailliert wie möglich von ihrem Gespräch mit Rhona berichtet.
„Ich denke, es war richtig, die Wahrheit zu sagen.“, behauptete Thorn, auch wenn Chada das Gefühl hatte, er sagte das nur ihretwegen.
„Lasst uns nicht weiter darüber sprechen.“, schlug Leander vor. „Ich hatte meine Genugtuung und wir können es nicht mehr ändern. Viel interessanter ist doch diese Prophezeiung. Ich nehme an, es ist mal wieder meine Aufgabe, sie zu analysieren?“
„Du bist hier der Seher.“, sagte Drukil trocken.
„Nun gut. Bevor wir die Prophezeiung betrachten, sollten wir zunächst auf Hrals Vorbemerkung eingehen: Wenn sie sie richtigen Ohren erreicht, wird die Prophezeiung in beiden möglichen Ausgängen nicht eintreffen. Das ist für einen mit dem zweiten Gesicht gesegneten eine … interessante Formulierung. Es gibt eben nicht viele verschiedene Zukunften mit möglichen Ausgängen, versteht ihr? Die Zukunft ist festgeschrieben, von alternativen Möglichkeiten sprechen wir nur aufgrund unseres begrenzten Kenntnisstandes. Jemand, der alles über die Gegenwart wüsste, könnte auch jede Einzelheit der Zukunft vorhersagen. Es scheint, als habe Hral genug gesehen, um die Zukunft auf zwei Möglichkeiten zu reduzieren, doch welche tatsächlich eintreten wird, konnte auch er nicht sagen, nur dass die Prophezeiung sich in beiden Fällen nicht erfüllen wird.“
Chada kniff nachdenklich ihre Augen zusammen. Die Vorstellung einer festgeschriebenen Zukunft behagte ihr gar nicht. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie würde den Seher ein andermal dazu befragen.
„Das Wissen über Hrals Unwissenheit bringt uns doch nichts.“, murrte Drukil ungeduldig. „Wichtig ist der Wortlaut der Prophezeiung.“
Leander lächelte versonnen. „Der Wortlaut? Nein Drukil, der ist unbedeutend. Der Sinn ist entscheidend, aber bei dieser Prophezeiung kann der Wortlaut uns nicht weiterhelfen. Wie lange ist Hrals Tod jetzt her? Zweitausend Jahre? Zweitausend Jahre der mündlichen Überlieferung und der Wortlaut soll sich nicht verändert haben?“
„Dann können wir doch gar nichts mit Sicherheit wissen.“, entgegnete Thorn verärgert. „Wenn wirklich das Überleben der Agren daran hängt, dass die Prophezeiung die richtigen Ohren erreicht, dann werden sie sie schon wortgetreu überliefert haben. Gehen wir einfach davon aus, es habe sich nichts verändert.“
Leander schüttelte nachdenklich den Kopf. „Rhona hat die Prophezeiung in der Gemeinen Sprache vorgetragen. Im Drachenland, dem heutigen Andor, wurde sie wohl erstmals vor acht Jahrhunderten vereinzelt gesprochen. Vor zweitausend Jahren gab es sie noch gar nicht und …“
Der Seher unterbrach sich. „Es sei denn … der Ursprung der Gemeinen Sprache ist ungeklärt, sie beinhaltet Wörter aus dem zwergischen, der vergessenen Barbarensprache, der alten Sprache Andors und weiterer Zungen. In wenigen Jahrhunderten hat sie es geschafft, sich über die gesamte bekannte Welt auszubreiten, aber woher sie kommt ist ein Rätsel. Sie könnte durchaus von den Agren stammen! Warum haben die Vorfahren des Gebirgsvolkes sich vor langer Zeit ausgerechnet hier angesiedelt? Weil alle anderen Orte schon besetzt waren! Auf der vergeblichen Suche nach einer Heimat müssen sie weit herumgekommen sein, wenn sie schließlich so verzweifelt waren, das karge Gebirge zu wählen. Sie haben gewiss Ausschnitte vieler unterschiedlicher Sprachen aufgeschnappt. Möglicherweise haben sie ihre Erfahrungen zu einer einzigen Sprache zusammengefügt!“
„Leander!“, protestierte Drukil. „Was interessieren uns diese Sprachen?“
„Wir sind hier einem gewaltigen linguistischen Rätsel auf der Spur!“ Aufgeregt setzte Leander sich auf, stöhnte gequält und ließ sich wieder zurücksinken. „Wenn die Agren wirklich seit zweitausend Jahren nahezu unverändert die Gemeine Sprache sprechen, dann wäre das …“
„Leander!“, sagte Chada scharf. „Dieses Rätsel wird nicht jetzt gelöst, wir haben andere Probleme!“
Leander räusperte sich. „Nun gut! Ich muss ohnehin noch darüber nachdenken. Gehen wir also davon aus, dass die Prophezeiung Wort für Wort weitergegeben wurde und analysieren wir sie auf dieser Basis. Wenn der gezeichnete Verkünder entsteht, und in falscher Ordnung wieder vergeht. Ich muss gestehen, der Anfang hinterlässt mich ratlos. Der gezeichnete Verkünder… Was könnte damit gemeint sein? Es klingt nach einer Person, aber eine Person entsteht nicht einfach. Ist es also ein Gegenstand? Oder etwas Immaterielles?“
Leander redete munter weiter, ohne eine Antwort zu erwarten. „Das Wenn ist vielleicht am interessantesten. Ich denke, es ist von einem Sobald die Rede, nicht von einem Falls. Die Weissagung erfüllt sich also während oder unmittelbar nach dem Inhalt der ersten beiden Verse. Das bedeutet, dass das Entstehen und Vergehen des gezeichneten Verkünders sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne ereignen. Aber mehr Vermutungen habe ich dazu noch nicht. Also die nächsten beiden Verse: Finden die, welche ohne Argwohn verbrannten, der Sklavenschinder Ende, das sie nicht erkannten.
„Das sind wir!“, rief Thorn überzeugt.
„Tja, so scheint es.“, antwortete Leander geheimnisvoll. „Aber das kommt darauf an, ob das Ende im Besitz der Sklavenschinder gemeint ist – das wäre der Schwarze Baum – oder die Vernichtung der Sklavenschinder. Letzteres wären wir selbst, und falls jemand uns verbrennt, könnte sich die Prophezeiung auch auf ihn beziehen.“
Chada, Thorn und Drukil schwiegen beklommen. „Oh, keine Sorge!“, meinte Leander. „Es heißt, dass das Ende ohne Argwohn verbrannt und nicht erkannt wurde. Auf den Schwarzen Baum bezogen trifft all das zu. Wir sollten nur keine Möglichkeit von vornherein ausschließen. Anschließend heißt es, dass wir – oder unsere Verbrenner – etwas finden, und zwar: Den reglosen Herrscher in ewiger Wacht, den Wächter, der aus Stehen Werden macht. Ein ewiger, regloser Wächter und Herrscher. Er macht aus Stehen Werden, zweifelsohne eine der rätselhaftesten Passagen der Prophezeiung. Und wo wird dieser Herrscher gefunden? Wo zusammenflossen Blut der Ewigkeit, der Staub des Todes und das Wasser der Zeit.
„Das Blut der Ewigkeit!“, rief Thorn aufgeregt. „Das hat doch schon der Gigant erwähnt.“
Leander nickte. „Richtig. Nar´Al´Pans Worten zufolge verlieh dieses Blut den Riesen gewaltige Kräfte und Unsterblichkeit. Und dass er seit zwei Jahrtausenden in einer Höhle lebt, spricht für sich. Wird der Wächter also dort gefunden, wo sich einst der Quell des Blutes befand? In der Prophezeiung heißt es Zusammenflossen, nicht Zusammenfließen. Den Staub des Todes und das Wasser der Zeit hat Nar´Al´Pan allerdings nicht erwähnt, es ist also auch möglich, das ein anderer Ort gemeint ist.“
„Aber der letzte Teil ist am wichtigsten, nicht wahr?“, fragte Chada. „Und wenn sie nur seinen Namen sagen, wird er erwachen und das Unheil vertagen. Wir sagen den Namen des schlafenden Herrschers und vertagen das Unheil.“
„Du bist zu voreilig, Chada.“, maßregelte Leander streng. „Erstens heißt es nirgends, dass dieser Wächter schläft. Das Erwachen könnte sich auch auf eine Maschine beziehen, oder er erwacht durch die Macht des Schwarzen Herolds aus dem Tod. Beide Varianten wären denkbar, und dazu noch etliche weitere. Zweitens ist die Formulierung Und wenn sie nur seinen Namen nennen offen gehalten, es ist keineswegs sicher. Und drittens, und das ist der wichtigste Einwand, vergisst du, dass diese Prophezeiung sich eben nicht erfüllen wird. Es wird nicht stattfinden.“
„Heißt das, das Unheil wird nicht vertagt?“, hakte Thorn besorgt nach. „Aber wäre das nicht schlecht?“
„Es wurde schon unvorstellbares Leid geweissagt. Eine Prophezeiung muss nicht zwangsläufig von etwas Gutem künden.“, erwiderte Leander. „Doch des einen Unheil mag des anderen Glück sein. Vielleicht gilt das Unheil, das nicht vertagt wird, auch dem Ewigen Rat? Hral sagte, dass das Überleben der Agren davon abhinge, dass diese Prophezeiung die richtigen Ohren erreicht. Etwas, was zum Überleben der Agren führt, wird vermutlich auch für uns gut sein. Außerdem kann es auch sein, dass es gar nicht erst zu diesem Unheil kommt, vielleicht nicht einmal zum Entstehen und Vergehen des gezeichneten Verkünders. Allein dadurch, dass der Richtige von der Prophezeiung erfährt.“
Das musste Chada erst überdenken. Dass sie von der Prophezeiung erfahren hatten, sollte dazu führen, dass nichts von ihr eintraf? „Wäre diese Weissagung dann nicht ziemlich sinnlos?“, fragte sie vorsichtig. „Wenn nicht einmal der Anfang stattfindet, wie kann sie dann verhindert werden, nur dadurch, dass wir von ihr hören?“
Leander lächelte leicht. „Manchmal können kleine Ursachen große Wirkungen haben. Ein winziger Kiesel kann eine Lawine auslösen. Ein Kiesel, der von dir losgetreten wurde. Und den du nur deshalb angestupst hast, weil du mit deinen Gedanken bei den Worten der Prophezeiung warst. Und diese Lawine verhindert die Entstehung des gezeichneten Verkünders. Mag sein, dass wir niemals davon erfahren, aber das Wissen um die Weissagung hätte dann ihre Erfüllung verhindert.“
„Das wären aber ziemlich viele Zufälle.“, murrte Drukil.
„Was ist schon zufällig?“, fragte sich Leander gedankenverloren. Er schüttelte müde den Kopf. „Nun denn, sind noch Fragen offengeblieben?“
„Ein ganzer Berg!“, rief Thorn. „Aber du kannst nur eine davon beantworten: Warum lassen wir dich über die Prophezeiung sprechen, wenn du unsere Fragen nicht beantwortest, sondern nur neue auftust?“
„Weil ich die richtigen Fragen stelle.“, antwortete Leander leicht geschmeichelt. „Aber du hast natürlich Recht, es sind noch etliche Fragen offen. Fragen, die wir vielleicht niemals, ganz gewiss jedoch noch nicht jetzt, beantworten können.“
„Dann lasst uns nicht länger darüber sprechen.“, forderte Drukil. „Besser, wir denken an die nähere Zukunft! Rhona hat uns das Wissen um das Versteck der Drei Schwestern verweigert. Was also tun wir?“
„Die Älteste sagte doch, dass schon einmal ein Mensch zum Orakel fand.“, überlegte Chada. „Der Dieb des Stabes. Der selbst die Gabe des zweiten Gesichts besaß. Wir haben so jemanden auch dabei! Meinst du, du könntest das Orakel der Geister finden, Leander?“
„Vielleicht … Aber wir sollten uns nicht zu sehr auf das Orakel fixieren. Es gibt sicher noch andere Möglichkeiten, die Antworten zu finden, die wir suchen.“, wich der Seher aus. Chada meinte ein gewisses Unbehagen aus seiner Stimme herauszuhören.
„Stimmt etwas nicht, Leander?“, erkundigte sie sich. „Gibt es ein Problem mit deiner Gabe? Mir ist aufgefallen, dass du sie seit Monden nicht mehr eingesetzt hast.“
„Ich habe euch doch von meinen Visionen berichtet.“, knurrte Leander verärgert.
„Visionen, die dir im Traum erschienen. Früher konntest du sie bewusst hervorrufen. Du hast uns mit deinem Wissen über die Zukunft weitergeholfen. Aber jetzt, wo die Bedrohung größer ist denn je, setzt du es einfach aus? Ich will dich nicht drängen, aber wenn da irgendetwas ist, dann ...“
„Da ist nichts. Ich habe es einfach nicht für nötig gehalten. Meine Traumvisionen waren besorgniserregend genug. Sie machen mir Angst! Auf weitere Einblicke kann ich verzichten, das ist alles.“
Chada hatte das Gefühl, dass der Seher ihnen etwas verschwieg. Sie machen mir Angst! In diesen Worten schwang eine tiefere Wahrheit mit.
Ehe sie nachfragen konnte vernahm sie plötzlich ein Scharren vor der Tür. Sie riss ihren Kopf herum und meinte durch den Grasvorhang einen Schemen zu erkennen, der vor dem Ausgang der Kuppel stand. Wenn Ken Dorr gelauscht hat, dann kann er sich auf etwas gefasst machen!
Sie sprang auf und hechtete zum Eingang. Eindeutig war da eine Gestalt! Der Fremde setzte sich jetzt in Bewegung, anscheinend war ihm klar geworden, dass er bemerkt worden war. Doch Chada war schneller. Sie sprang mit einem großen Satz durch den Vorhang und dem Lauscher genau auf den Rücken.
Der Unbekannte wurde zu Boden gerissen und blieb liegen. Chada stellte sich neben ihn. Auch Thorn und Drukil kamen aus der Kuppel und starrten den Körper verblüfft an. Doch inzwischen war Chada klar, dass es nicht Ken Dorr war. Es war ein Agren. Ein besonders kleiner …
„Bitte, bringt mich nicht um!“, wimmerte Darn. „Ich wollte nicht lauschen. Aber es war alles so fürchterlich interessant und ich bin doch so neugierig und Ihr interessiert mich doch so sehr und …“
„Was hast du gehört?“, intonierte Thorn mit Grabesstimme. „Antworte, wenn dir dein Leben lieb ist.“
„Ihr sucht das Orakel der Geister! Und Leander hat Angst vor Visionen!“, jammerte der kleine Agren. „Das ist alles, wirklich! Bitte, verschont mich!“
„Thorn, hör auf! Du machst ihm Angst!“, rief Chada kichernd.
„Wie Ihr befehlt, meine Königin!“ Er grinste schelmisch. „Niemand wird dich umbringen, Darn.“, sagte er dann beruhigend. „Wir sind nicht erfreut, dass du uns belauscht hast, aber das wäre dann doch übertrieben! Was hast du überhaupt hier gemacht?“
Darn hob seinen Kopf vom Boden und setzte sich umständlich hin. „Oma hat mir gesagt, dass ich mich bei Euch entschuldigen muss. Ich habe euch schon seit dem Essen gesucht. Aber als ich Euch dann reden gehört habe, musste ich einfach horchen.“
„Woher wusste deine Oma, dass du uns belauschen würdest?“, fragte Drukil verwirrt.
„Das wusste sie nicht. Sie ist sehr klug, aber sie kann nicht in die Zukunft gucken.“, antwortete Darn nicht minder überrascht.
Drukil runzelte die Stirn. „Aber du sagtest, sie hat dir befohlen, dich zu entschuldigen.“
„Ach so! Das war für was anderes.“, murmelte Darn kleinlaut. „Es tut mir leid, dass ich Euch eine Stunde lang hierhergeführt habe, anstatt den kurzen Weg zu nehmen, der nur den zehnten Teil der Zeit braucht.“ Plötzlich begann Darn zu strahlen. „Aber ich dachte, dass Ihr vielleicht noch mal zu der Halle wolltet, in der damals das Fest gefeiert wurde. Außerdem hat Alrik mir so spannende Sachen erzählt. Wo ist Alrik überhaupt?“
„Alrik ist nicht hier.“, sagte Drukil säuerlich. Währenddessen beugte sich Chada zu Thorn hinüber und raunte: „Ich bin noch keine Königin. Ich wurde nicht gekrönt.“
„Dann nenne ich dich in Zukunft meine Prinzessin! Nein, widersprich nicht. Du bist die Tochter eines Königs, das macht dich zu einer Prinzessin.“
„Aber ich fühle mich nicht wie eine Prinzessin!“
„Ich kann dich auch Bastard nennen, wenn du möchtest. Das ist auch nicht falsch.“ Chada gab ihm belustigt einen Klaps auf die Schulter.
Thron grinste nur. Dann blickte er zu Darn und flüsterte: „Eigentlich müsste ich wohl schimpfen. Aber ich kann diesem kleinen Kerl einfach nicht lange böse sein.“
„Ja, so geht es mir auch!“, wisperte Chada lächelnd zurück.
Drukil schien in dieser Hinsicht keine Hemmungen zu haben. „Was fällt dir ein? Ich hoffe, deine Oma hat dich bestraft! Und lass dich nie wieder beim Lauschen erwischen, hast du verstanden?“, rief er.
„Ich hatte wirklich nicht vor, mich erwischen zu lassen.“, gab Darn eingeschüchtert zurück. „Es tut mir wirklich leid, ein bisschen zumindest. Aber vielleicht kann ich es ja wiedergutmachen! Ich habe nämlich gehört, dass Ihr auf der Suche nach den Drei Schwestern seid, aber nicht wisst, wo sie sind.“
„Du meinst, du kennst ihr Versteck?“, fragte Chada entgeistert.
„Ja!“, bestätigte Darn stolz. „Oma redet im Schlaf, wisst Ihr? Und ich habe ihr oft zugehört. Ich weiß zwar nicht genau, wo das Versteck ist, aber ich weiß, dass es sich in einem toten schwarzen Baum in einem der Wälder des Gebirges befindet.“
„Weißt du noch mehr?“, fragte Thorn aufgeregt. In seinen Augen leuchtete die Hoffnung heller als das fahle Moos um sie herum.
Darn blickte niedergeschlagen zu Boden. „Nein! Aber Ihr seid doch so klug, ich dachte, das reicht euch vielleicht!“
„Helfen tut es uns auf jeden Fall!“, sagte Chada milde. „Danke, Kleiner. Ich nehme deine Entschuldigung an.“
Darn blickte hoch und strahlte. „Oh, das freut mich! Könntet Ihr bitte Oma nichts davon sagen, was ich Euch erzählt habe? Die Älteste wird immer so schnell sauer, und ich habe Oma schon genug verärgert.“
„Die Älteste ist deine Großmutter?“, vergewisserte sich Drukil erstaunt.
„Aber ja! Oma Rhona! Bitte sagt ihr nichts!“
„Werden wir nicht!“, versprach Thorn. „Wenn du ihr auch nichts erzählst!“
„Das tu ich bestimmt nicht!“, sagte Darn eifrig nickend. Er stand auf und verabschiedete sich noch, dann verschwand er im trüben Dämmerlicht.

„Wollen wir wirklich den Hinweisen eines Jungen folgen, der uns absichtlich in die Irre geführt hat und regelmäßig seine eigene Großmutter belauscht?“, fragte Drukil mürrisch, nachdem sie wieder zu Leander in die Kuppel gegangen waren. Der Seher hatte jedes Wort mitgehört und Chada hoffte bloß, dass die Agren schlechtere Ohren hatten.
„Allzu viel konnte er uns ja auch nicht sagen.“, meinte Thorn enttäuscht.
Leander faltete seine Hände auf dem Bauch. „Viel wusste er vielleicht nicht, aber genug.“, überlegte er. „Ein toter, schwarzer Baum. Wenn die Geister darin wohnen, muss er ziemlich groß sein. Erinnert euch das nicht an etwas? Ich sage nur: Das Herz des Todes und des Vergehens, das Zentrum der Hexerei und das Heiligtum der Krahder.“
„Der Schwarze Baum wurde vollkommen zerstört.“, widersprach Chada. „Tote schwarze Bäume kann es viele geben, aber wenn es wirklich der war, dann ist nichts mehr von ihm übrig. Außerdem bezweifle ich, dass die Agren jedes Mal nach Krahd aufbrachen, wenn sie Fragen an das Orakel hatten.“
„Und Darn sagte, dass der Baum in einem der Wälder des Gebirges steht. Auch das trifft auf den Schwarzen Baum nicht zu. Deine Theorie kann nicht stimmen, Leander.“, ergänzte Thorn.
Der Seher hob eine Hand und streckte mahnend den Zeigefinger aus. „Und schon wieder seid ihr zu voreilig. Ich fragte, ob Darns Beschreibung euch an den Schwarzen Baum in Krahd erinnert, nicht ob er es tatsächlich sein könnte. Natürlich war er es nicht, damit habt ihr recht. Aber erinnert euch, was Ken Dorr uns berichtete, als er zum Baum der Lieder kam. Ihr müsst wissen, der Schwarze Baum in Krahd war gar nicht das erste Herz. Der ursprüngliche Schwarze Baum stand irgendwo im Grauen Gebirge.
Chada konnte über Leanders Gedächtnis nur staunen. Sie hatte dieses scheinbar unwichtige Detail schon längst vergessen, aber sie bezweifelte nicht, dass der Seher Ken Dorr wortgetreu wiedergegeben hatte.
„Also war der erste Schwarze Baum in einem der Wälder des Gebirges? Aber er wurde doch auch zerstört.“
„Er wurde so weit zerstört, dass die Macht in den jungen Schwarzen Baum in Krahd überging, aber das heißt nicht, dass er vollständig vernichtet wurde. Bestimmt sind noch Reste übrig.“, antwortete Leander geduldig.
Drukil seufzte. „Na und? Was bringt uns das alles? Sollen wir jeden Wald des Gebirges absuchen, bis wir den Baum finden? Bis dahin wurden all eure Freunde doch längst vom Ewigen Rat unterjocht.“
„Wir fragen Ken Dorr. Und wenn er es nicht weiß, dann lassen wir ihn den Schwarzen Herold fragen. Überlegt doch nur, welche Ironie es wäre, wenn der Herold selbst uns die Information geben würde, mit deren Hilfe wir ihn besiegen werden.“, schlug Leander amüsiert vor.
„Besiegen wollen.“, korrigierte Drukil düster.


Mondhoch, 43. Herbsttag 76 A.Z.
Kolonie der Agren, Graues Gebirge

Ken Dorr duckte sich unter dem Eingang und wedelte genervt mit seinen schlanken Händen, um den Vorhang beiseite zu halten. „Erst schickt Ihr mich weg, und dann holt Ihr mich wieder? Könntet Ihr Euch bitte entscheiden, ob Ihr mich in Eure Pläne einweihen wollt oder nicht?“
„Wir haben uns bereits entschieden.“, sagte Chada verärgert. „Wir weihen dich in so viel ein, wie nötig ist, mehr nicht.“
„Oh, klar! Noch immer vertraut Ihr mir nicht.“, sagte Ken Dorr leicht beleidigt. „Und ich kann es Euch wohl nicht mal übel nehmen.“
„Ken Dorr!“, mahnte Leander. „Beruhige dich! Wir können dir einfach nicht vertrauen, nicht bei dem, was du getan hast.“ Der Seher verzog gequält das Gesicht. „Wir haben dich hergerufen, weil wir deine Hilfe brauchen. Du weißt, dass wir ins Graue Gebirge kamen, um deinem Vorschlag zu folgen. Wir erhofften uns hier Antworten auf die Frage, welches die Schwäche des Schwarzen Herolds ist. Und wie es scheint gibt es tatsächlich jemanden hier, der all unsere Fragen beantworten kann. Doch wir wissen nicht, wo wir ihn finden. Wir wissen nur eines: Er lebt in den Überresten des ersten Herzens des Todes.“
Ken Dorr nickte wissend. „Ihr wollt wissen, wo es war.“ Er wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Ich bin mir nicht sicher. Der Schwarze Herold hat nur ein einziges Mal davon gesprochen, es nur am Rande erwähnt. Ein Schwarzer Baum, der im Herzen eines Waldes irgendwo im Grauen Gebirge stand.“
„Im Herzen welchen Waldes?“, fragte Thorn ungeduldig.
Ken lächelte. „Das ist die große Frage, nicht wahr? Er hat es gesagt, aber … es ist so lange her. Wie hieß der Wald? Irgendwas mit einer Quelle?“
„Es gibt im Grauen Gebirge keinen Wald mit einer Quelle im Namen.“, sagte Chada enttäuscht.
Ken Dorr schien den Einwand nicht gehört zu haben. „Quellwald?“, überlegte er angestrengt. „Nein, es klang anders. Brunnenwald?“
Plötzlich lachte Leander laut auf. „Nicht Quelle, Ken Dorr, sondern Born. Das ist es, woran du denkst!“
„Bornwald. Ja, das könnte es gewesen sein.“, bestätigte der Dieb.
„War es aber nicht.“, sagte Leander noch immer lächelnd. „Bronwald, nicht Bornwald. Der Name geht auf Bron zurück, das zwergische Wort für Turm.“
Das Orakel der Geister war also im Herzen des Bronwaldes in einem toten, schwarzen Baum? In Gedanken ging Chada ihre möglichen Reiserouten durch. Entweder sie würden nach Osten ziehen, am Sonnenfleck und dem Knutwald vorbei über Tiefenfall, die zerstörte Brückenfestung der Zwerge. Oder sie zogen nach Osten, vorbei am Noswald und über die Drei Wasser und den Schlachtengrund. Der letzte Weg war länger, aber die Kornschlucht ließ sich bei Nehals Stein leichter überqueren. Wenn man sehr schnell war, konnte man beide Strecken in je zwei Tagen überwinden. Leander war verletzt, deshalb würden sie vermutlich eher vier oder fünf benötigen.
Dennoch war es erfreulich, endlich wieder ein festes Ziel vor Augen zu haben, nicht nur eine schwache Hoffnung. Die Drei Schwestern würden ihnen verraten, was sie wissen mussten. Und dann müssten sie nur noch eine Möglichkeit finden, die Schwäche des Schwarzen Heroldes auch auszunutzen und der Ewige Rat wäre endgültig vergangen. Dank Ken Dorr würden die Überreste des Ewigen Rates auseinanderbrechen und mit etwas Glück wäre der Spuk in zehn Tagen schon vorbei. Doch so ganz wollte Chada das nicht glauben. Sie befürchtete, dass sie ihre bisher größte Bedrohung nicht so einfach würden besiegen können. Denn gewiss waren auch ihre Feinde nicht untätig …
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