i – Der Plan des Verfluchten
Früher Nachmittag, 21. Herbsttag 76 A.Z.
Markt von Werftheim, Hadrisches Meer
Chada wartete unruhig neben dem Stand, an dem Thorn sie zurückgelassen hatte. Der Honigwein duftete verführerisch und schließlich kaufte sie einen Becher, einfach um nicht untätig herumzustehen. Ihr Blick schweifte über den Markt von Werftheim. An den bunten Ständen wurden so viele faszinierende Dinge verkauft, technomagische Konstruktionen aus Hadria ebenso wie Schmuck aus Silber und Perlmutt aus Silberhall oder schlichte Fische aus der See, und für einen Moment hatte sie ihre Sorgen vergessen können und sich einfach amüsiert. Warum konnte es nicht ewig so bleiben?
Die Menschen zogen um sie herum, tratschten, begutachteten die Waren der Händler. All die gelben, blauen, aber überwiegend braunen und beigen Farben machten Chada ganz konfus. Doch einen blonden Krieger mit hellblauem Umhang konnte sie nicht entdecken.
Der zweite Teil einer Stunde verging, bis Chada einsah, dass Thorn nicht zurückkommen würde. Das war wirklich ungewöhnlich für ihn, normalerweise war er sehr zuverlässig. Es musste wohl etwas dazwischengekommen sein. Also machte Chada sich auf die Suche, ging zuerst in die Richtung, in die er verschwunden war und sprach wahllos Passanten und Händler an, doch niemand war imstande ihr weiterzuhelfen. Schließlich gab Chada auf und ging zurück zum Hafen, mit der festen Überzeugung, inzwischen müsste Thorn schon lange wieder bei der Aldebaran II zu finden sein.
Allerdings war er auch dort nicht. Drukil und Leander waren schon lange wieder angekommen und direkt nach Chada traf auch Santalion ein, drei kräftige, wettergegerbte Seemänner im Schlepptau, die ihren Segler fachkundig musterten und dann damit begannen, einige Leinen neu zu verknoten und andere kleine Fehler beseitigten. Chada, Drukil, Leander und Santalion verzogen sich unter Deck, wo Chada ihnen von Thorns Verschwinden berichtete. „Ich mache mir Sorgen um ihn!“, schloss sie ihren Bericht.
Santalion musterte sie erstaunt. „Sprechen wir über denselben Thorn?“, fragte er unschuldig. „Zwei Köpfe größer als ich? Ein großes und scharfes Schwert am Gürtel? Von seiner Kraft her wie ein Ochse?“
„Ja, über den sprechen wir!“, entgegnete Chada zornig. Dann besänftigte sie sich selbst und fragte: „Von euch hat ihn wohl niemand gesehen?“
Leander schüttelte demütig den Kopf. „Ich ganz sicher nicht!“
„Das ist nicht lustig!“, fuhr sie ihn an, doch Leander griff überraschend zielgenau ihre Hand und drückte sie sanft. „Santalion hat recht, Chada. Thorn kann in der Regel gut auf sich selbst aufpassen und es gibt sicher einen guten Grund dafür, dass er jetzt noch nicht da ist. Falls er noch nicht wieder aufgetaucht ist, wenn wir zum Tempel des Meeres reisen, dann kann einer von uns hier auf ihn warten.“
Daran, dass Thorn so lange fortbleiben könnte, wollte Chada nicht mal denken. Vielleicht gab es etwas wirklich Wichtiges, dem er nachgehen wollte, doch wenn er so lange verschwunden blieb, dann wäre das ein ernsthafterer Grund zur Sorge.
Santalion blickte sie durch seine dunkelgrünen Augengläser traurig an, dann sagte er: „Wir sollten uns ausruhen, damit wir heute Nacht frisch sind. Man weiß ja nie, was Unvorhergesehenes dazwischenkommen könnte.“
Frühe Nacht, 21. Herbsttag 76 A.Z.
Untergassen in Werftheim, Hadrisches Meer
Nach Sonnenuntergang schlich der halbvolle Mond über den sternenbedeckten Himmel und die vier falschen Kultisten schlichen durch die Gassen Werftheims zu der verfallenen Hütte mit dem Dreieck über der Tür. Sie trugen wieder die gleichen Mäntel wie in der letzten Nacht und Drukil hielt die kleine Öllampe, die gestern noch Thorn getragen hatte. Der Krieger war nicht mehr aufgetaucht und Chada konnte sich kaum auf ihre Unternehmung konzentrieren, da ihre Gedanken von der Sorge um Thorn dominiert wurden. Die von Santalion angeheuerten Matrosen warteten am Schiff auf ein Lebenszeichen, auch wenn es mit jeder Stunde unwahrscheinlicher wurde.
Drukil ging vor und öffnete die Klappe im Boden, dann stieg er die Leiter herunter, gefolgt von Santalion. Chada wollte schon folgen, doch Leander hielt sie zurück. „Bevor wir hineingehen möchte ich dich warnen.“, sagte er und in der Dunkelheit war unter seiner Kapuze nur schwach die Augenbinde zu erkennen, die wirkte, als schwebe sie dort in der Luft. „Ich vertraue Santalion nur eingeschränkt. Gestern kannte er jeden dort unten. Natürlich könnte das ein Zufall sein, doch wir sollten vorsichtig sein.“
Mit einem mal war Chada hellwach. „Was willst du damit sagen? Meinst du etwa, es könnte sein, dass Santalion ein falsches Spiel mit uns treibt?“
„Ich sage lediglich, dass wir auf alles vorbereitet sein sollten.“ Mit diesen Worten stieg auch Leander durch die Falltür nach unten, ohne auch nur mit seinem Stab zu tasten. Wie machte er das bloß immer?
Chada folgt ihm und wünschte sich mit einem mal, sie hätte Audax dabei. Ihr Bogen war natürlich deutlich zu groß, um ihn unter dem Mantel mitzuschmuggeln. Ein Stab auf dem Rücken wie in Leanders Fall erregte keine allzu große Aufmerksamkeit und die Schwerter von Thorn und Drukil ließen sich notdürftig verbergen, aber ein Langbogen? Unmöglich! Also war sie nur mit den zwei Dolchen ausgerüstet, die die Bogenschützen der Bewahrer stets dabei hatten, mit denen sie aber nie dieselbe Perfektion wie im Bogenschießen erlangt hatte.
Das Heiligtum des Kultes der Drei Mächte hatte sich nicht verändert, aber diesmal war der Schemel im ersten Gang unbesetzt, der sabbernde Hagan hatte seinen Wachtposten verlassen. Auch die Frau mit den toten Beinen lag nicht mehr an ihrem Ort und der Boden wirkte deutlich schmutziger als gestern. Anhand der schlammigen Spuren konnte Chada erkennen, dass viele Personen diesen Gang benutzt hatten, sie alle waren ins Heiligtum gegangen, aber kaum jemand war wieder herausgekommen. Die Versammlung hatte also vermutlich bereits begonnen.
Sie erreichten den großen Saal mit der Doppeltür, doch anstatt zur Versammlungshalle zu gehen, schlug Santalion zielstrebig den Weg zu dem offenen Gang links daneben ein.
In ihrer Vergangenheit war Chada je nach Sympathie als lebhaft, impulsiv oder sogar unbeherrscht beschrieben worden, auch jetzt hielt sie es nicht mehr aus. „Wohin gehst du?“, zischte sie und Santalion drehte sich wegen des feindseligen Tonfalls überrascht um. Chada ließ ihn gar nicht antworten. „Führst du uns jetzt zu deinen Freunden vom Kult?“
Santalion zog wie üblich eine Augenbraue hoch und fragte verwirrt: „Was meinst du damit?“
Chada zögerte. Was, wenn Leander zu weit gedacht hatte und sich alles nur als dummer Zufall herausstellte? Selbst der blinde Seher war lieber bereit gewesen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, als das Risiko einzugehen, Santalion unberechtigterweise als Verräter zu bezichtigen. In der Tat machte Leander, der sich auch zu ihrer Stimme umgedreht hatte, jetzt ein warnendes Gesicht, während Drukil nur komplett ratlos wirkte. Doch dann fällte Chada ihre Entscheidung.
„Du gehörst doch zu diesem Kult, nicht wahr?“
„Natürlich!“, erwiderte Santalion. „So wie wir alle. Wir haben doch darum gebeten, hier aufgenommen zu werden. Und jetzt lasst uns diesem Gang folgen, vielleicht begegnen wir dort einem Priester, der uns mehr über den Tempel erzählen kann, ohne dass wir uns der Messe anschließen müssen. Besser, wir meiden diese Halle.“
Wenn er wirklich schauspielerte, dann hervorragend. Chada wollte erneut ansetzen etwas zu sagen, doch Leander war schneller. Einen Augenblick dachte sie, er wolle alles als Reaktion von Chadas angespannten Nerven abtun, doch er hatte erkannt, dass sie seine Befürchtung verkünden wollte und kam ihr lediglich zuvor: „Du kennst jeden hier namentlich und auch noch eine Vorgeschichte dazu. Du bewegst dich durch diese Gänge, ohne auch nur ein einziges Mal eine falsche Tür zu benutzen.“ Woher wusste Leander denn überhaupt, dass es hier Abzweigungen gab?
Der Seher ergriff eine Hand Santalions und drückte sie so fest, dass der Verfluchte kurz das Gesicht verzog. „Dein Name bedeutet Heiliges Schwert, so wie in dem Mythos des Kultes, in welchem Kenvilar Wasser von Land trennt. Deine Schwester heißt sogar Kmarforia, übersetzt Meeresmacht. Der Kultist Toras vertraute dir nach nur wenigen Augenblicken und du wusstest schon vor deinem angeblich ersten Besuch diese Heiligtums, dass die Kranken und Ausgestoßenen sich hier versammeln würden. Die Ausgestoßenen, wie auch du selbst einer sein könntest. Es tut mir Leid, aber wenn das alles ein Zufall ist, dann ein ziemlich großer.“
Santalion wirkte noch immer ehrlich entrüstet, doch ehe er widersprechen konnte, ergänzte Leander: „Pass auf, was du sagst; du weißt, dass ich ein Seher bin. Solange ich dich berühre, kann ich deine Lügen spüren. Also, sprich mir nach: Ich, Santalion, war niemals Mitglied im Kult der Drei Mächte, bevor ich mit den Helden von Andor hierherkam.“
Jetzt erst flackerte Unsicherheit über Santalions Gesicht. Er blickte kurz zu der Hand, die Leander umschlossen hielt und öffnete den Mund. Auch wenn sein Gesicht schnell wieder starr war, konnte Chada doch erkennen, dass er fieberhaft überlegte. In diesem Moment hatte er verloren. Chada stürzte sich auf ihn und umschloss seinen bleichen Hals mit ihren Händen. Die Augengläser flogen durch die Luft und fielen zu Boden, die linke Scheibe zerbrach. Santalion wollte sich losreißen, doch Chada und Leander hielten ihn beide fest.
„Wo habt ihr Thorn hingebracht?“, fauchte Chada. Natürlich war es nur eine Vermutung, doch Santalion blickte sie ebenso schuldbewusst wie furchtsam an, vermutlich fürchtete er, sie wolle ihn erwürgen.Sie lockerte den Druck um seinen Hals und Santalion würgte und schnappte nach Luft. Im nächsten Moment war Drukil da und zog ihm die flache Seite seines Schwertes über über den Schädel. Leander spürte wohl, wie die Hand erschlaffte, und ließ sie los. Chada ließ den Bewusstlosen zu Boden gleiten und funkelte Drukil an, Tränen in ihren Augen.
„Warum?“, fragte sie nur.
„Stimmt, ich hätte ihn direkt töten sollen. Verdient hätte er es.“, interpretierte Drukil ihre Frage falsch. „Aber womöglich ist er noch nützlich.“
Chada schüttelte aufgebracht ihren Kopf und da ihre braune Kapuze schon lange nicht mehr auf ihrem Kopf saß, wirbelten ihre schwarzen Haare um sie herum. „Er hätte uns vielleicht etwas sagen können!“
Drukil deutete mit seinem Daumen über seine Schulter zum Portal in die großen Halle und brummte nur: „Soweit ich weiß, wollte er vermeiden, dass wir diesen Raum betreten. Wollen wir uns dort mal umschauen?“
Sie gaben jegliche Tarnung auf. Wahrscheinlich hatte Santalion den Kult ohnehin gewarnt. Also ließen die drei ihre hinderlichen Kapuzenmäntel fallen und zogen ihre Waffen. Leander holte mit der rechten Hand seinen Stab vom Rücken und vergewisserte sich, dass Santalion wirklich bewusstlos war, dann schlich er zielstrebig auf das Portal zu. Chada nahm sich vor, ihn bald zu fragen, wie er sich so gut orientieren konnte.
Die drei stellten sich einträchtig vor dem Tor auf, Chada in der Mitte, Leander links und Drukil rechts von ihr. Dann stieß Chada das Portal auf und sie stürmten in die Halle.
Im Gegensatz zu gestern war diesmal alles hell erleuchtet. Die Tische und Bänke waren an die Wände gerückt worden, um Platz zu schaffen. Allerdings nicht für eine harmlose Messe…
An allen Wänden des Raumes standen Mitglieder des Kultes der Drei Mächte, etwa ein Drittel davon durch entsetzliche Male, Krankheiten und Verletzungen entstellt, die anderen äußerlich relativ gewöhnlich. Sie alle trugen archaische Waffen, von einfachen Holzbalken bis hin zu Küchenmessern. Chada erkannte den riesenhaften Bag, der ein gewaltiges Stück Holz schwenkte, den zwergenhaften Vudul, ein Hackbeil haltend, das fast so lang wie sein Arm war, und die schlanke Kanuta, heute in einer blauen Robe und mit einem Langschwert, das sie unbedarft in beiden Händen hielt und das Chada eindeutig als Thorns identifizierte. Direkt gegenüber des Portals, auf dem Altar mit dem blauen Tuch, stand der Aussätzige Toras, in jeder Hand einen blitzenden Dolch. Nur der Ehrwürdige Satarus war nirgends zu entdecken, der elende Feigling!
Bei ihrem Anblick ließ Bag den Balken fallen und breitete die Arme aus, während ein Lächeln in seinem Gesicht spielte, doch Kanuta wies ihn scharf zurecht: „Nein, Bag! Das sind böse Menschen, sie werden nicht umarmt!“ Der bucklige Hüne grunzte enttäuscht und griff sich wieder seinen Balken.
„Möglicherweise hätten wir uns doch nicht hier umschauen sollen.“, raunte Drukil leise, während Leander angespannt das Gesicht verzog. Chada hob ihre Dolche höher und lotste die anderen unauffällig zurück zum Portal, doch zwei Kultisten warfen die schiefen Flügel zu und der Ausweg war versperrt.
„Endlich kommt unsere Rache, jaja!“, schmatzte Toras und der erste von seinen beiden Dolchen sauste durch die Luft. Drukil schlug ihn mit seinem Schwert zur Seite. Dem zweiten Dolch auszuweichen gelang ihm nicht ganz und er hinterließ eine klaffende Wunde in seinem Oberschenkel. Drukil brüllte wütend auf und knickte ein, während Toras triumphierend schrie. In seinen Augen glänzte blanker Hass, doch die übrigen Mitglieder des Kultes wirkten nur traurig, als sie notgedrungen auf die Helden zustürmten. Bag röhrte und schwang seinen gewaltigen Balken lustlos durch die Luft und Kanuta versuchte verbissen, ihr Schwert unter Kontrolle zu halten. Es war klar, dass die meisten Kultisten keine Kampferfahrung hatten und für den Sieg einen hohen Blutzoll bezahlen müssten.
Chada wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, diesen Kampf zu umgehen. Die Kultisten taten ihr leid und Chada würde sie nur ungerne verletzen oder töten. Doch sie durfte diesen Kampf nicht verlieren, schon allein um Thorn zu befreien!
Ehe jedoch der erste Schlag geführt wurde, öffnete sich am hinteren Ende des Saals die kleine Tür und ein kleiner Mann in einer blauen Robe trat heraus und erhob die Arme. „Haltet ein!“, rief er erbost und die Mitglieder des Kultes der Drei Mächte blieben ausnahmslos stehen. Auch die drei Helden ließen erleichtert die Waffen sinken. Satarus betrachtete die Helden unendlich wehmütig.
„Ich hatte gehofft, ihr würdet einfach gehen und uns vergessen. Es war eine dumme Hoffnung, aber wenn ich eines in meinem Leben gelernt habe, dann das Hoffnung immer dumm ist. Es heißt, die Hoffnung stirbt zuletzt, doch letztendlich muss auch sie sterben.“ Alle Anwesenden lauschten diesen Worten. Doch Satarus hielt sich mit seinen philosophischen Überlegungen nicht lange auf, sondern forderte die Helden unerbittlich auf: „Lasst Eure Waffen fallen! Wir wollen doch kein unnötiges Blutvergießen. Ich will, dass meine Schützlinge überleben, und Ihr wollt gewiss nicht den Tod Eures Freundes verschulden.“
Wenn Chada jetzt ihren Bogen gehabt hätte, sie hätte diesen selbstgefälligen Priester abgeschossen! Doch Audax lag weit entfernt an Bord der Aldebaran II, und mit ihrem Schuss hätte sie vermutlich nicht nur ihr eigenes Ende besiegelt. Doch dann kam ihr eine Idee!
„Wir sind bereit friedlich wieder abzuziehen! Wir tauschen das Leben von Santalion gegen das von Thorn. Gebt ihn heraus, und wir verraten Euch, wo Santalion ist.“
Satarus ballte seine Hände zur Faust, doch ehe er antworten konnte, schrie Toras wütend auf. „Nein! Ihr skrupellosen, verdammten Helden von Andor! Mögen die Drei Mächte euch verfluchen! Wo ist er? Wohin habt ihr Santa gebracht?“
Auch die anderen Kultisten waren entsetzt über die Ankündigung der Helden, ein aufgebrachtes Raunen ging durch ihre Reihen. Nur Satarus bewahrte Ruhe. „Beruhigt euch! Santalion kann nicht weit sein, sonst wären sie gar nicht erst in unsere Falle gegangen! Durchsucht diese Räume und wir finden ihn. Und Euch, Helden von Andor, rate ich dringendst, meinem Befehl nachzukommen. Das Leben des Kriegers steht auf Eures Messers Schneide. Lasst die Waffen fallen und ergebt Euch!“
Chada biss die Zähne zusammen. Sie wusste, dass es für sie keine Möglichkeit mehr gab, sich aus dieser Situation herauszuwinden. Zumindest keine, bei der Thorn überleben würde. Also öffnete sie ihre Hände und die beiden Dolche fielen klirrend zu Boden. Auch die beiden anderen legten ihre Waffen ab und Satarus nickte besänftigt. „Gut! Verbindet ihnen die Augen! Nicht bei diesem, seine eigene Augenbinde sollte wohl genügen. Und fesselt ihnen die Hände auf den Rücken und die Füße zusammen!“
Die Kultisten kamen den Anweisungen nach, die Gruppe ließ widerstandslos alles mit sich machen. Jeder von ihnen wusste, dass sie verloren hatten. Jetzt konnten sie nichts tun. Sie mussten versuchen, später zu entkommen.
Ein dunkles Tuch wickelt sich vor Chadas Augen und Fesseln wurden um ihre Füße und Hände geschlungen. Dann wurde sie von großen starken Armen sanft hochgehoben und sie vernahm ein trauriges Brummen. „Bringt sie in die Erste Kammer. Und holt auch den Krieger dorthin.“, hörte sie Satarus Stimme, dann ertönte ein dumpfes Knarzen und erstaunte und erfreute Rufe, als die Kultisten Santalion bemerkten, der wohl noch immer vor dem Portal auf dem Boden lag.
Chada wurde weitergetragen und sanft auf ungemütlichen, kalten, rauen, steinernen Boden gelegt. Schwere Schritte entfernten sich und kamen kurz darauf wieder, erneut etwas ablegend. Noch zwei weitere Male wiederholte sich diese Prozedur. Zweimal! Das bedeutete, dass Thorn auch wieder bei ihnen war. Und immerhin hatte man sie nicht geknebelt, sie könnten sich also sogar unterhalten! Als mit einem lauten Schlag eine Tür zufiel und ein Riegel zugeschoben wurde, versuchte sie bereits trotz ihrer Fesseln näher zu den anderen zu kriechen.
„Thorn!“, rief sie. „Bist du hier? Wie geht es dir?“
Keine Antwort kam zurück und Leander erwiderte anstelle von Thorn: „Beruhige dich, Chada! Er ist bewusstlos, das höre ich an seinem Atem. Lass ihm ein wenig Zeit, dann kommt er schon wieder auf die Beine. Natürlich nur, wenn wir so lange überhaupt noch leben.“, fügte er leise hinzu.
Chada sank das Herz unter ihren Gürtel anhand dieser mutlosen Worte. Es heißt, die Hoffnung stirbt zuletzt, doch letztendlich muss auch sie sterben. Wie wahr, Satarus! Sie konnten nichts sehen, hatten der Auffälligkeit wegen nicht mehr Waffen dabei als ihnen abgenommen worden waren und lagen gefesselt in einer dunklen Kammer. Chada hatte sich geirrt, sie würden nicht später entkommen können. Aus dieser Lage gab es kein Entkommen!
Späte Nacht, 21. Herbsttag 76 A.Z.
Untergassen in Werftheim, Hadrisches Meer
In der Dunkelheit verlor Chada jegliches Zeitgefühl, doch nach etwas, was sich wie eine Ewigkeit anfühlte, murrte Drukil: „Wie konnte das geschehen? Wie hat Santalion es geschafft, dass wir genau in die Falle gelaufen sind, obwohl wir ihn enttarnen konnten?“
Chada stockte. Tatsächlich, Santalion hatte sie augenscheinlich direkt an dem Hinterhalt vorbei geführt. Doch andererseits, wer wusste schon, was sie am Ende des Ganges erwartet hätte. Womöglich irgendeine Falle, in der sie alle ein schnelles Ende gefunden hätten, ohne ein Mitglied des Kultes in Gefahr zu bringen.
Sie teilte ihre Überlegungen den anderen mit, doch Leander widersprach: „Wenn es so wäre, dann hätte sich doch niemand in der großen Halle aufgehalten. Stattdessen war es dort gerammelt voll und wir wurden vom gesamten Kult erwartet. Wozu ein unnötiges Risiko eingehen, wenn es eine tödliche Falle direkt nebenan gibt? Ich würde sagen, dass Santalion wollte, dass wir ihm widersprechen. Er wollte, dass wir genau in die Falle des Kultes laufen, und deshalb hat er sich enttarnen lassen.“
Chada überlegte kurz, kam jedoch zu dem Schluss, dass das nicht stimmen konnte. „Wenn das seine Absicht war, dann hat er sie nicht sonderlich gut erfüllt. Ich war mit meinen Nerven am Ende und hoffte, Thorn hier zu finden, also habe ich Santalion auf seine verdächtigen Verbindungen zum Kult angesprochen. Aber er hätte unmöglich planen können, dass es geschieht, genau nachdem er uns gesagt hat, dass wir die Halle meiden sollen. Etwas später und wir wären ihm in den Gang gefolgt, etwas früher und wir wären vielleicht gar nicht erst so weit gegangen. Und was hätte er uns sagen wollen, wenn du ihn nicht ohnmächtig geschlagen hättest, Drukil?“
Auf diese Frage folgte erneut eine Stille, die nur von ihrem eigenen Atemzügen durchbrochen wurde. Plötzlich sagte Drukil laut: „Genug von diesen müßigen Überlegungen. Entscheidend ist doch nicht, wie wir hier herkamen, sondern wie wir hier wieder wegkommen! Hat irgendjemand von euch eine Idee?“
Chada dachte kurz angestrengt nach, doch ihr wollte nichts einfallen. „Könntest du dich nicht verwandeln, Drukil? Ich bezweifle, dass diese Fesseln das aushalten würden.“, schlug Leander vor.
Drukil seufzte deprimiert. „Ich bin zu geschwächt und hätte mich nicht unter Kontrolle. Wenn ich mich jetzt verwandle, dann töte ich euch alle.“
„Ich wünschte, Eara wäre hier. Sie könnte diese Fesseln mühelos zerreißen. Nun, vielleicht fällt mir noch etwas Besseres ein.“, überlegte Leander.
„Ich hoffe es doch.“, sagte Drukil leise. „Wenn wir wenigstens wüssten, wie es in diesem Raum aussieht!“
„Wir befinden uns in einer leeren Kammer von drei Schritt Länge und vier Schritt Breite. Die Wände sind schief, bestehen aus dem gleichen Material wie überall hier unten und es gibt nur einen Ausgang mit einer dicken und weitgehend schallisolierten Holztür.“, erklärte Leander bereitwillig.
Chada verdrehte unter dem Tuch die Augen. Der alte Angeber! „Wie machst du das?“, fragte sie dann aber doch.
„Ich höre den Raum.“ Chada schwieg ihn an, bis er sich erbarmte und erklärte: „Wenn ich einen Laut von mir gebe, dann kann ich hören, wie das Echo zurückkommt. Dadurch erfahre ich, in welcher Entfernung sich die Wände befinden, kann hören, aus welchem Material sie bestehen… Diese Wände hier zum Beispiel werfen ein gutes Echo, aber ein unscharfes, sie sind also aus irgendeiner Art Stein, allerdings nicht exakt zu einer glatten Wand zusammengesetzt. Von dort, wo die Holztür ist, kommt nur ein gedämpftes Echo zurück, wäre irgendwo ein Vorhang, dann könnte man von dort nichts hören.“
„Das ist Magie!“, hauchte Drukil.
Leander lachte leise. „Nein, das ist nichts Übersinnliches. Ihr könnt das auch! Ihr hört es, wenn sich eine Hand vor eurem Mund befindet, und ihr könnt auch diesen Raum hören. Ich besitze einfach mehr als ein Jahrhundert Erfahrung, ich weiß zu deuten, was ich höre. Und selbst ich gelange unter freiem Himmel an meine Grenzen. Aber dieser Ort hier ist eigentlich perfekt, es gibt keine Störgeräusche von außen und solide Steinwände. Probiert es doch auch mal! Schreit irgendetwas und versucht das Echo zu deuten.“
Die Zeit war wie dicker Sirup durch ein enges Stundenglas geflossen, Chada war also froh über die Abwechslung. Sie rief zusammenhanglose Worte und versuchte, daraus auf den Raum zu schließen. Doch so sehr sie es auch versuchte, alles was sie wahrnahm war ein undeutliches Echo aus unterschiedlichen Richtungen, das sich nicht zu einem eindeutigen Gesamtbild zusammenfügen wollte.
„Ich schaffe es nicht!“, klagte sie Leander schließlich.
„Keine Angst, wenn wir erst ein Jahrzehnt in dieser ungemütlichen Zelle verbracht haben, dann wirst du es auch können. Alles Erfahrungssache.“, ermunterte er sie ironisch.
Chada versuchte halbherzig, nach ihm zu treten, doch ihre Füße trafen keinen Widerstand. Gedanklich verfluchte sie Leander. Trotz der scheuernden Fesseln, der Kälte und des rauen Bodens hatte sie ihre missliche Lage einen Augenblick vergessen können, doch nun kehrte die Ausweglosigkeit ihrer Situation unbarmherzig in ihr Bewusstsein zurück.
Drukil stieß einen besonders lauten Schrei aus und danach direkt noch einen. Doch dazwischen hatte Chada etwa vernommen, das für sie wie der erste Sonnenstrahl an einem dunklen Morgen klang.
„Thorn!“, schrie sie euphorisch. Zurück kam neben ihrem üblichen Echo auch eine undeutliche Antwort, die eindeutig in der Stimme Thorns gelallt war. „Was?! Was willst du, Thorn?“
„Ich glaube, er hat nach Ruhe verlangt.“, erwiderte Leander gelassen, doch er konnte die Freude nicht ganz aus seiner Stimme verbannen. Sofort verstummte Chada schuldbewusst. Nach einer Weile erklang Thorns Stimme, jetzt schon etwas deutlicher, wenn auch noch immer brüchig: „Ha… Hat einer von euch etwas Wasser?“
Vor Freude schossen Chada Tränen in die Augen. Welch widersinnige Lage! Sie lag gefesselt und mit verbundenen Augen in einer Zelle und sah einem ungewissen Schicksal entgegen, und doch weinte sie vor Freude! Natürlich konnte niemand von ihnen Thorn Wasser geben, doch er erholte sich auch so schnell wieder. Bald schon war er so weit, zu berichten, was sich zugetragen hatte, nachdem er Chada auf dem Markt zurückgelassen hatte. Außer einem belauschten Gespräch war das allerdings nichts, den Rest der Zeit hatte er wohl bewusstlos verbracht.
Auch Chada schilderte nun, begleitet von einigen Einwürfen Drukils, was ihnen widerfahren war. Kaum hatte sie ihre Erzählung beendet, ertönte plötzlich ein Geräusch, dass Chada zugleich hoffnungsvoll erwartet und gefürchtet hatte. Das Klicken eines Riegels, der beiseite geschoben wird und das dumpfe Knarzen einer sich öffnenden Tür…
Die Tür ihres improvisierten Kerkers schloss sich mit einem Knall wieder. Dann wurde ihr plötzlich die Binde von den Augen gerissen und ein gnadenloses Licht strahlte ihr in die grünen Augen, welche sie schnell fest zusammenkniff. Selbst durch ihre Lider hindurch fühlte Chada sich geblendet.
Sie hörte leichte Schritte, dann stöhnten auch Drukil und Thorn auf. Im nächsten Moment wurde das Licht gedimmt, vermutlich war die Blende der Laterne herabgeschoben worden.
„Jetzt wisst Ihr, wie ich mich ohne meine Gläser fühle.“, sagte Santalion leise. Aus seiner Stimme klang kein Rachedurst, aber sie wusste, was Thorn mitangehört hatte. Langsam öffnete sie ein Auge und selbst der schmale Lichtschein der Laterne strahlte noch heller als die Sonne.
„Ich hoffe, Ihr könnt die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die Ihr in dieser Nacht zu erleiden hattet. Ich bedaure, was geschehen ist, aber es hätte schlimmer kommen können.“
Jetzt konnte Chada endlich ein wenig erkennen. Vor allem Santalion, der wegen seiner hellen Haut deutlicher zu sehen war als jeder andere. An seinem linken Auge bemerkte sie mit einer gewissen Genugtuung etwas, das wie eine Augenklappe wirkte, allerdings wohl eher dazu diente, die zerbrochene Scheibe zu ersetzen.
„Du kannst uns nicht länger zum Narren halten, Santalion!“, rief Thorn brüchig. Santalion seufzte schwer. „Ich konnte Euch leider weniger lange zum Narren halten, als ich es mir gewünscht hätte. Ich gestehe, ich habe Euch unterschätzt.“
„Und nun? Willst du deine Rache beenden und uns deinen unheiligen Göttern opfern?“, fragte Leander spöttisch.
Plötzlich heulte Santalion auf: „Ihr verdammten Narren! Ihr habt nichts verstanden! Ich wollte niemals Rache, und Menschenopfer gibt es in diesem Kult seit Jahrhunderten nicht mehr! Oh, warum konntet Ihr nicht ein klein wenig dümmer sein? Warum konntet Ihr mir nicht einfach in den Gang folgen?!“
Drukil lachte kalt. „Ja, das hättest du wohl gerne gehabt. Aber zu deinem Pech waren wir keine dummen Hündchen, die dir blindlings in ihr Verderben folgten.“
„Nein, zu Eurem Pech!“, rief Santalion aufbrausend. „Wäret Ihr mir gefolgt, dann wäret Ihr in eine Kammer gekommen, in der Euch das erwartet hätte, was Ihr hier wolltet. Aber stattdessen seid Ihr genau in die Falle getappt, von der ich Euch fernhalten wollte.“
„Und die du zufälligerweise selbst installiert hast.“, ergänzte Thorn gehässig. Um seinen Kopf und seine linke Hand schlangen sich je ein dicker Verband, beide blutverschmiert, und mit einem mal hasste Chada Santalion noch mehr. „Denkst du, ich hätte vergessen, was du gesagt hast?“
Santalion setzte sich schwer auf den kalten Boden und blickte die gefesselten Helden verzweifelt an. Beinahe hätte Chada ihm geglaubt, aber sie wusste, dass er gut schauspielern konnte. Schließlich erhob sich Santalion wieder und ging neben Leander in die Hocke. Er nahm die blaue Hand in seine weißen und sagte dann bedächtig: „Jetzt wirst du jede Lüge spüren, die ich spreche.“, erklärte er feierlich, aber Leander schüttelte belustigt den Kopf.
„Das war gelogen!“, gab er zu. „Ich besitze diese Fähigkeit nicht, in keinem Maße. Ich habe von so etwas auch noch nie gehört. Ich wollte nur hören, was du sagst, wenn du denkst, nicht lügen zu können. Deine Reaktion hat dich verraten.“
Chada war nicht überrascht, sie hatte es schon damals gewusst. Santalion aber zog seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt, und krümmte sich zusammen. Er zuckte, und Chada wurde nicht klar, ob er ein Lachen oder ein Weinen unterdrückte. Vielleicht auch beides.
„Also gut.“, sagte Santalion schließlich erstaunlich ruhig. „Dann werden ihr mir wohl einfach so glauben müssen.“ Er stand auf und tigerte in der Kammer umher, die tatsächlich aussah wie von Leander beschrieben.
„Alles begann am Tag meiner Geburt. Ich bin, wie ihr sicher bemerkt habt, ein Verfluchter. Wir werden in der Regel direkt ausgesetzt oder ermordet, denn es heißt, in unseren Augen brennt das dämonische Feuer.“
Chada unterbrach ihn. „Wer behauptet das? Kein Priester würde so etwas verkünden!“
Santalion lächelte sie traurig an. „Du musst doch inzwischen gelernt haben, dass Priester ebenso wie alle Menschen zu Taten fähig sind, die du dir nicht vorstellen möchtest. Außerdem besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was die Priester predigen und dem, was das Volk glaubt. Deshalb werden Verfluchte nach ihrer Geburt getötet. Doch meine Eltern sind nicht wie die meisten anderen. Sie weigerten sich, ihr kleines, unschuldiges Kind zu ermorden. Ihre Liebe war größer als ihre Furcht vor sozialer Ausgrenzung. Durch meine Existenz haben Mertos und Cera die ihre verloren. Der Hass der anderen Menschen war so groß, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in Werftheim ansiedeln mussten.“
Santalion blieb stehen und auch wenn die rote Iris im Halbdunkel nicht hinter dem grünen Glas zu erkennen war, war Chada sich sicher, dass er seine Zuhörer fest fixierte.
„Hier wurden sie fast schon automatisch Mitglied im Kult der Drei Mächte. Dieser Kult ist wegen der vielen Mitglieder, die als absonderlich gelten, der einzige Ort, an dem man man selbst sein kann und nicht nur ein Verfluchter oder ein Aussätziger. Ein Jahr nach meiner Geburt gaben mir meine Eltern den Namen Santa-Lion, nach dem Heiligen Schwert, das die Welt ordnet. Aufgrund der schlechten Erfahrungen, die sie gemacht hatte, wurde ich hier unten aufgezogen. Hier konnte ich mit anderen Kindern spielen, ohne ausgegrenzt oder gehänselt zu werden. Ich konnte mit Kindern spielen, denen anderswo das Gleiche widerfahren wäre. Die Dunkelheit tat meinen empfindlichen Augen gut und ich wurde hier Demut und Hilfsbereitschaft gelehrt. Der Ehrwürdige Satarus, schon damals der Hohepriester, bemerkte meine Begabungen und förderte sie. Satarus ist der Mörtel, der diesen Kult zusammenhält. Er ist in Werftheim ein angesehener Bürger, der seinen Wohlstand einzig darauf verwendet, die Menschen zu versorgen, die von niemandem sonst als solche angesehen werden. Er verbringt die Hälfte seiner Zeit hier unten und die andere Hälfte in der Halle der Hafenmeister. Er lehrte mich Lesen und Rechnen und er hörte auch von den Augengläsern, durch die ein Mensch die Welt schärfer wahrnehmen kann. Es war seine Idee, dass man die Welt vielleicht auch dunkler anstatt schärfer machen könnte, er schickte seine Vorschläge zu den Silberzwergen und ließ meine ersten Gläser anfertigen. So konnte ich die Welt dunkler sehen und zugleich meine auffälligen Augen verbergen.“
Santalion war ein guter Erzähler. Das hatte Chada schon in der Fröhlichen Nixe bemerkt, als er von seinen Erlebnissen in der Nacht mit dem Schwarzen Herold berichtet hatte, doch jetzt lief er zu wahrer Höchstform auf und so spürte Chada, wie seine Worte sie ebenso fesselten wie die Stricke um ihre Gelenke.
„Also wurde die Bestie, die ich als Verfluchter nun mal bin, auf die Welt losgelassen. Und es stellte sich heraus, dass ich gar keine Bestie war, sondern nur ein Junge, der sein wollte wie alle anderen auch. Da ich bisher fast mein gesamtes Leben hier unten verbracht hatte, kannte ich jedes Mitglied des Kultes und half ihnen, wo immer ich konnte. Zusammen mit meinen Eltern baute ich ein neues Geschäft auf, das einigermaßen lief. Zu dieser Zeit war ich fünf Jahre alt. Doch in der Zwischenzeit war etwas geschehen: Meine Mutter Cera, von der Gemeinschaft, die hier unten entstanden war, immer faszinierter und immer mehr von der Welt und ihrer Grausamkeit angeekelt, fand hier unten Erfüllung. Und sie begann zu glauben. Nicht nur sporadisch, wie die meisten hier unten, sondern so fest und echt wie ansonsten nur Toras. Als meine Schwester geboren wurde, bestand sie darauf, ihr einen Namen zu geben, der nicht mehr so unverfänglich war wie Santalion, sondern der ihre Verehrung angemessen zum Ausdruck brachte: Kmar-Foria, Meeresmacht, nach den drei Mächten des Meeres, zu denen sie betete.“
Ein trauriges Lächeln machte sich auf Santalions blassen Lippen breit und Chada wusste intuitiv, dass es nicht gespielt war.
„Jahre vergingen. Wir hatten inzwischen ein eigenes Haus, aber noch immer kehrten wir oft hierher zurück. Es waren glückliche Jahre. Bis eines schönen Tages vor vier Jahren Ihr in den Norden kamt. Ihr habt großartiges getan und auch den Niedersten geholfen. Im Kult erntetet Ihr große Sympathien. Doch eines Tages zogt Ihr in den Kampf gegen Oktohan, den König der Tiefe. Und das Unmögliche geschah: Ihr besiegtet ihn! Ihr habt eine unserer Gottheiten getötet! Meine Mutter hasste Euch dafür, doch die meisten hier waren eher erleichtert. Eine Wesenheit weniger, die unsere wenigen Freunde und Verwandten bedrohen konnte, dass wir zuvor noch zu diesem Monster gebetet hatten, kümmerte uns wenig. Doch wir wurden schnell eines Besseren belehrt: Denn mit dem Tod Oktohans verschwand in der Bevölkerung die Furcht vor den Mächten des Meeres und ihnen fiel ein, dass es doch diesen schönen Kult gab, der zu Wesen betete, die offensichtlich doch keine Götter sein konnten, denn sie waren ja sterblich. Der Schutz, den wir durch die Angst vor den Mächten des Meeres erhalten hatten, erlosch. Und wir wurden wieder zu dem, was wir schon immer waren: Zu Sündenböcken! Denn an allem Übel in der Welt ist man niemals selber Schuld, sondern immer ein anderer. Und je mehr dieser anders ist, desto besser.“
Chada schluckte schwer. Sie wusste, dass Santalion mit seiner pessimistischen Sicht auf die Menschheit nicht ganz Unrecht hatte. All das Leid, dass die Menschen von hier unten bereits erlebt hatten, stützte seine Worte.
„Die Übergriffe häuften sich, die Feindschaft wuchs. Wir waren schon immer ein Geheimkult, niemand außer den Mitgliedern unseres Kultes wusste, wer genau wirklich zu uns gehörte. Aber es gab Gerüchte, und insbesondere um meine Familie häuften sich diese Gerüchte. Schließlich mussten wir den Kult verlassen und uns offen von ihm distanzieren. Etlichen anderen ging es ebenso wie uns und der Kult der Drei Mächte schrumpfte binnen einem Mond auf einen Bruchteil seiner alten Größe zusammen. Meiner Mutter brach es das Herz. Cera wurde verbittert und von Hass zerfressen, doch noch immer liebte sie uns, daher stimmte sie unserem Austritt zu. Doch das war noch nicht das Ende.“
Santalions Stimme bebte vor melancholischer Erregung und seine Gesten wurden noch ausfallender.
„Nach einiger Zeit gab es den Angriff der Schwarzen Kogge, und infolgedessen wurde Stinner zum Anführer der Menschen des Hadrischen Meeres. Wir verspürten wieder Hoffnung, wir glaubten, jetzt könnte es mit unserem Kult wieder aufwärts gehen. Denn Stinner war dafür bekannt, dass für ihn alle Menschen Menschen waren, unabhängig von ihrem Äußeren. Doch wir haben uns geirrt. Stinner war das Schlimmste, was dem Kult der Drei Mächte passieren konnte!“
Thorn begehrte auf. „Das stimmt nicht!“, rief er schwach. „Stinner ist genau so, wie du ihn am Anfang beschrieben hast. Er achtet jeden Menschen.“
Santalion zog seine Augengläser herunter und steckte das Tuch weg. Seine Augen funkelten bedrohlich und er setzte seine Geschichte fort: „Ihr habt vollkommen recht, Thorn. Er ist genau so. Aber er ist noch etwas anderes: Er ist voller Hass. Doch dieser Hass richtete sich nicht gegen uns Kultisten, das wären wir gewohnt. Doch nein, er bemitleidet uns arme, fanatische Narren, die ohne Sinn und Verstand zu falschen Götzen beten. Sein Hass richtet sich gegen den Kult als solchen. Er hält uns für so schlimm, wie wir in den unzähligen Schauermärchen dargestellt werden. Und er richtete sein ganzes Streben darauf, den Kult der Drei Mächte zu zerschlagen, nicht aus Bosheit, sondern aus Unwissen. Er lässt uns für unseren Glauben gnadenlos verfolgen, unterdrücken und hinrichten. Dabei sind die meisten Mitglieder des Kultes nicht mal wirklich religiös.“
In Chada regte sich ein schwacher Protest. Santalion stellte die Tatsachen falsch dar! „Einer der Propheten, Doran Meschot, verbietet es ausdrücklich, Andersgläubige für ihre sogenannte Ketzerei zu strafen. Noch niemals wurde in einem Land, das zu Mutter Natur betete, jemand seines Glaubens wegen hingerichtet.“
Santalion lachte bitter. „Das kommt ganz darauf an, wie man es betrachtet. Denn offiziell lautet der Grund für eine Hinrichtung niemals Ketzerei, sondern Rebellion, Hochverrat oder Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung. Für den Liquidierten ändert das allerdings nichts. Plötzlich mussten wir wieder in Furcht leben, denn Cera konnte nicht davon lassen, heimlich zu den Mächten des Meeres zu beten. Wir beschlossen in Stinners Nähe zu ziehen, in der Hoffnung, dass er nach den Ketzern nicht direkt vor der eigenen Haustür suchen wird. Doch unser Leben ist nicht mehr wie früher. Die alten Zeiten sind vergangen. Schon zum zweiten mal hatte meine Familie alles verloren. Wir waren gezwungen, unsere alten Freunde hinter uns zu lassen. Und das… ist meine Schuld. Meinetwegen mussten Mertos und Cera ihre alte Heimat nach meiner Geburt verlassen. Meinetwegen mussten sie Jahre ihres Lebens in diesem dunklen Keller verbringen. Meinetwegen wurde meine Familie in diesen Kult getrieben. Meinetwegen ist meine Mutter heute von Hass, Trauer und dogmatischer Frömmigkeit erfüllt. Meinetwegen müssen meine Eltern und meine Schwester in ständiger Furcht leben, entdeckt zu werden. Doch ich habe vor, meine Schuld zu begleichen.“ Tränen rannen Santalions bleiche Wangen herab. Mit einem metallischen Schaben zog er einen Dolch aus seinem Gürtel und sah die Helden bedeutungsvoll an.
„Nein, Santalion!“, rief Thorn und Drukil schnaubte bestätigend. Chada erkannte, dass durch den Schnitt im Oberschenkel des Gestaltwandlers, den Toras Wurfdolch ihm beigebracht hatte, bedenklich viel Blut geflossen war. Doch das war jetzt wohl ihre geringste Sorge…
„Mit unserem Tod wirst du deiner Familie auch nicht helfen.“, fuhr Thorn fort, noch immer geschwächt durch seine Verletzungen. „Wir haben Oktohan erschlagen, aber der Tod dieses Untiers kann für dich doch kein Grund sein, uns zu meucheln.“
Durch den Tränenschleier blickten Santalions rote Augen auf den Dolch und eine Augenbraue wanderte in die Höhe, eine schrecklich vertraute Bewegung. „Ihr habt noch immer nichts begriffen! Ich hatte niemals vor, Euch ein Leid zuzufügen. Als ich die Botschaft des Schwarzen Heroldes vernahm, da mischten sich in mir Furcht und Hoffnung. Furcht vor den unheilvollen Ankündigungen und Hoffnung, endlich etwas unternehmen zu können. Ich überbrachte die Worte des Herolds Stinner. Ich überzeugte ihn, einen Falken zu schicken, mit dem er Euch persönlich zu sich rief. Denn es war allgemein bekannt, dass ihr, ebenso wie Stinner, selbst die Geringsten hochschätzt, dass die Bedrohten von Euch Beistand erhalten. Und Ihr wart Freunde von Stinner. Es war klar, dass Ihr den Tempel des Meeres suchen würdet. Und ich wollte Euch dafür direkt in den Kult bringen, damit Ihr alles mit eigenen Augen sehen könntet. Wenn Ihr bemerken würdet, dass wir keine verblendete Gemeinschaft von Fanatikern sind, sondern nur eine Gruppe von unterschiedlichsten Menschen, die in Frieden leben wollen, und wenn Ihr Stinner das sagen würdet, würde er dann nicht von seinen Repressionen gegen den Kult absehen? Würde er uns nicht vielleicht sogar zulassen?“
Chada spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog. War es so einfach? War das wirklich sein ganzer Plan gewesen, oder spielte er ihnen nur wieder etwas vor? Doch wozu, sie befanden sich in seiner Gewalt, er könnte tun, was er wollte. Er hatte es nicht länger nötig, sie anzulügen. Santalion hatte recht, sie waren wirklich Narren gewesen. Er hatte sie belogen, doch er hatte nichts Böses im Sinn gehabt. All die Feinde, die sie bisher gehabt hatten, ließen den Gedanken, jemand könnte ihnen die Wahrheit vorenthalten, ohne ihnen schaden zu wollen, gar nicht mehr zu. Warum hatte er ihnen nicht einfach von Beginn an die Wahrheit gesagt?
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fuhr Santalion fort: „Als Ihr ankamt, fürchtete ich zuerst, mein Plan sei zum Scheitern verurteilt. Ihr wart von Vorurteilen ebenso verseucht wie jeder andere, ihr hattet nicht das geringste Verständnis für den Kult. Ich wusste, nur, wenn Ihr den Kult selbst erlebt, könnte sich das ändern. Dennoch gab es drei Probleme: Erstens wurdet Ihr erkannt. Dass ich Toras klargemacht hatte, dass ich so tun wolle, als sei ich neu im Kult, hatte natürlich zu viel Neugierde geführt. Leanders blaue Haut war selbst hier unten zu auffällig, also rief Toras mich am nächsten Tag zu sich. Ich konnte Eure Identität nicht mehr leugnen, ich musste improvisieren. Ich ließ den Kult eine Falle stellen, in der eben jener Priester, der Eure Fragen beantworten könnte, in einem gesonderten Raum wäre, der auch durch einen zweiten Gang zu erreichen ist. Das zweite Problem war ein etwas zu neugieriger Krieger.“
Santalion lächelte Thorn besänftigend an. Chada sah ihn unter dem großen Verband um seinen Schädel die Augen niederschlagen.
„Natürlich belauschte Thorn ausgerechnet den Teil mit der Falle und ließ sich auch nicht mehr besänftigen. Doch dann gelang es, Thorn lebend zu fangen, wenn auch leider verletzt. Aber immerhin bot das sogleich einen Grund für den Ehrwürdigen Satarus, in einem abgetrennten Raum zu bleiben. Das dritte Problem war, dass Ihr mich etwas zu früh enttarnt habt. Nachdem Thorn das Gespräch belauscht hatte, war klar, dass ich nicht, wie anfänglich geplant, für immer so tun könnte, als sei ich zusammen mit Euch dem Kult zum ersten mal begegnet. Also wollte ich Euch aufklären, sobald ihr Thorn befreit und von Satarus die gewünschte Information erhalten hättet. Doch Ihr seid auch so darauf gekommen. Leider etwas zu früh... Den Rest kennt Ihr.“, schloss Santalion und plötzlich tat es Chada leid, dass sein Augenglas zerbrochen war.
„Wir kennen noch nicht den ganzen Rest.“, entgegnete Leander. „Eines hast du noch nicht verraten, nämlich, wie es jetzt weitergeht. Was hast du mit uns vor?“
Santalion hob den Dolch. „Es gibt nur eine Möglichkeit.“, sagt er und trat vor Leander. Dann stieß er zu.
Entsetzt schrie Chada auf. Doch Leander bekam entweder nichts vom Dolchstoß mit oder hatte Santalions Absicht schneller verstanden, jedenfalls bewegte er sich nicht. Santalion durchtrennte die Fesseln um die blauen Handgelenke mit beachtlicher Präzision, anschließend zerschnitt er auch die Stricke um die Füße des Sehers. Das gleiche wiederholte er bei den anderen Helden. Chadas Hände prickelten unangenehm, als das Blut wieder hineinschoss, ihre Handgelenke waren aufgeschürft.
„Bitte!“, wandte Santalion sich an die ehemaligen Gefangenen. „Ihr habt diesen Kult erlebt, Ihr habt möglicherweise nicht die besten Erfahrungen gemacht, doch verratet ihn nicht an Stinner. Denkt darüber nach, ob Ihr ihn nicht doch lieber davon überzeugen wollt, den Kult der Drei Mächte nicht länger zu verfolgen.“
Chada dachte an den rachsüchtigen Toras, dessen Dolche sowohl Thorn als auch Drukil verwundet hatten. Sie dachte an die alte Cera, deren Hass die Helden von Andor noch immer begleitete. Sie dachte an den grausamen Oktohan, an die Geschichten, die sie über die anderen Mächte des Meeres gehört hatte. Doch sie wusste, dass auch Gläubige von anderen Religionen zu schlimmen Taten fähig waren. Sie wusste, dass all die armen ausgestoßenen Kultisten sich hier unten eine Gemeinschaft aufgebaut hatten, in der es deutlich humaner zuging als draußen in den Gassen. „Wir versprechen gar nichts!“, antwortete sie leise.
Drukil trat zu Santalion und einen Moment fürchtete Chada, er wolle sich für den Dolch rächen, den er von Toras in sein Bein bekommen hatte, doch er sah ihn nur zweifelnd an und fragte: „Wo sind die anderen? Was macht der Kult der Drei Mächte?“
„Vor der Tür sind zwei Wachtposten, aber die stellen für Euch doch sicher kein Problem dar.“, berichtete Santalion. „Die übrigen versuchen sich zu einigen, was sie mit Euch tun wollen. Wir sollten von hier verschwinden, ehe sie zu einem Entschluss kommen.“
Im schwachen Schein der Lampe konnte Chada sehen, wie Thorn seinen bandagierten Kopf schüttelte. „Wir brauchen noch Informationen über den Tempel des Meeres.“
Santalions rote Augen huschten zweifelnd über seine Gestalt. „Macht Euch nicht lächerlich. Schaut Euch doch an, zwei von Euch sind verletzt, Ihr seid unbewaffnet und der Kult ist in Alarmbereitschaft. Ihr könnt froh sein, wenn Ihr von hier entkommen könnt.“
Chada nickte. „Es sieht wohl so aus. Lasst uns abhauen.“
Vor der Tür standen Kanuta und Vudun, sie trug Thorns Schwert am Gürtel, er hielt Leanders Stab, was urkomisch aussah, da der Zwergenwüchsige nur etwa halb so groß war wie der Stock des Sehers. Bei ihrem Auftauchen rissen beide panisch die Augen auf. Kanuta versuchte das Schwert aus Thorns Scheide zu ziehen, doch da war Chada schon bei ihr, rammte ihren Ellenbogen in den Bauch ihrer Kontrahentin und presste ihr die Hand auf den Mund.
Vudul fuchtelte mit dem viel zu langen Stab unbeholfen in der Luft herum, um die Helden auf Abstand zu halten. Als er Santalion erblickte, stockte er und rief: „Lauf! Warne die anderen!“
Diesen Moment nutzte Leander, um ihm seinen Stab zu entwinden. Vudul versuchte, ihn zu behalten, im nächsten Moment wurde Chada dadurch abgelenkt, dass Kanuta sich aus ihrem Griff zu befreien versuchte. Doch die Frau besaß keine Kampferfahrung und erstarrte endgültig, als Santalion vortrat, um Vudul überraschend seinen Dolch an den Hals zu halten.
„Santa! Was soll das? Was hat das zu bedeuten?“, fragte er, noch zu erstaunt, um sich verraten zu fühlen.
„Es tut mir Leid, Vudul. Aber ihr hättet sie getötet, um nicht von ihnen an Stinner verraten zu werden. Doch bedenke nur, welche Folgen das hätte: Sie sind Stinners Freunde. Er weiß, dass sie nach uns suchten, wenn sie von dieser Suche nicht zurückkehren, was würde er wohl tun? Er würde noch entschiedener gegen uns vorgehen! Was er dem Kult bisher angetan hat ist nichts im Vergleich zu dem, was er noch tun könnte. Es ist nicht garantiert, dass sie uns nicht verraten werden, aber wenn wir sie töten, dann ist unser Ende trotzdem sicher.“
Chada begriff nun endlich, was hinter Santalions scheinbarer Großherzigkeit steckte. Er hatte sie nicht um ihrer selbst Willen befreit, das war klar. Doch bisher war Chada davon ausgegangen, es ginge ihm um die Chance, sie könnten Stinner in seinem Kampf gegen den Kult der Drei Mächte umstimmen. Aber Santalion hatte vollkommen recht, Stinner bedeuteten Freundschaft und Ehre sehr viel. Er würde sich verpflichtet fühlen, Rache zu üben, um ihren Tod wiedergutzumachen, um wenigstens ihre Mörder noch der Gerechtigkeit zuzuführen. Wenn einer von uns hier unten stirbt, dann ist jegliche Hoffnung auf Überleben für den Kult verschwunden, wurde Chada klar.
Santalion wartete Vuduls Antwort nicht ab, sondern schlug ihn mit dem Knauf des Dolches gegen die Schläfe, sodass der kleine Mann die Augen verdrehte und zusammenbrach, ehe er wusste, wie ihm geschah.
In diesem Moment unternahm Kanuta einen erneuten Versuch, zu entkommen. Sie biss Chada in die Hand und entriss sich ihr. Ihre blaue Robe flatterte und Chada erkannte, dass sie eine weitere Priesterin des Kultes seine musste. Sie versuchte, den Gang hinunter zur großen Halle zu laufen, doch Leander streckte geistesgegenwärtig seinen Stab aus und Kanuta stolperte darüber. Ehe sie sich auch nur umdrehen konnte sauste das knotige Ende des Stabes zielgenau auf ihren Kopf zu und schlug sie bewusstlos.
Thorn gürtete zufrieden sein Schwert und Leander zog seinen Stab wieder auf den Rücken. Chada fand sich damit ab, dass ihre Dolche ebenso zurückbleiben würden wie Drukils Schwert.
Es stellte sich heraus, dass der Raum, in dem sie auf so unfreundliche Weise untergebracht worden waren, nicht grundlos die Erste Kammer genannt worden war. Sie war, wenn man von außen kam, die erste vom Hauptgang abzweigende und lag deshalb am nächsten am Ausgang. Dass der Kult seine Gefangenen ausgerechnet dort eingekerkert hatte, wo es zur Flucht nur noch ein kleiner Schritt war, zeigte, wie unerfahren seine Mitglieder in diesen Dingen waren. Die Helden von Andor machten sich eilig auf den Weg, das Heiligtum zu verlassen.
Sie waren noch keine drei Schritte weit gekommen, als hinter ihnen ein zorniger Aufschrei ertönte. Wie auf Kommando blieben Chada, Thorn, Leander und Drukil stehen, auch Santalion erstarrte. Die Kultisten waren am anderen Ende des Ganges erschienen, Toras an der Spitze.
„Nein!“, brüllte er hasserfüllt. „Sie sind entkommen! Sie haben Santalion in ihrer Gewalt! Lasst ihn gehen, Helden von Andor!“
Auch Satarus erschien; als er erkannte, dass seine Gefangenen tatsächlich ausgebrochen waren, erbleichte er. „Lasst sie nicht entkommen!“, rief der Ehrwürdige verzweifelt. „Sie dürfen diesen Ort nicht verlassen, sonst wird Stinner uns alle ermorden lassen!“
Am liebsten hätte Chada vor Frust aufgeschrien. Dieser gütige, kluge, offene Mann, den Santalion beschrieben hatte, entpuppte sich in dieser Situation als Narr! War er nicht imstande zu erkennen, dass die Helden wegen einer harmlosen Information hergekommen waren, nicht aufgrund von Stinners Verfolgung? Wenn sie nur kurz reden könnten, ließe sich vielleicht sogar alles aufklären. Doch diese Gelegenheit bekamen die Helden nicht, denn schon rannten, humpelten und hüpften alle Anhänger des Kultes der Drei Mächte nach vorne, Verzweiflung in ihrem Gesicht. Sie waren überzeugt, die Helden würden sie Stinner ausliefern und es schien unmöglich, sie davon abzubringen. Ganz vorne war der riesige, bucklige, gutmütige Bag, ein unglückliches Gesicht ziehend, direkt dahinter Toras, erneut einen Wurfdolch in jeder Hand.
„Verdammt, warum jetzt schon?! Flieht!“, flüsterte Santalion und die Helden von Andor rannten davon. Die Nacht in der Zelle hatte Chadas Muskeln steif werden lassen, Thorn und Drukil waren verwundet und Leander konnte ihren Weg nicht sehen und bei dieser Masse an Geräuschen wohl auch nicht hören. Dennoch fielen ihre Verfolger langsam zurück. Santalion rannte neben ihnen her, die übrigen Mitglieder des Kultes dachten wahrscheinlich, er verfolge sie ebenfalls.
Endlich erschien vor Chada der Raum mit der Leiter. Drukil kletterte als erster empor, gefolgt von Thorn, der dabei leicht schwankte. Dann folgte Leander und Chada, die noch immer unten wartete, erkannte erleichtert, dass sie es alle schaffen würden. Sie blickte nach oben und erklomm die ersten Sprossen, als plötzlich Thorns entsetzter Schrei erscholl: „Chada! Nein!“ Sie blickte überrascht zurück. Zu spät.
Auch Toras hatte erkannt, dass die ihm so verhassten Helden entkommen würden. Santalion unternahm aus irgendwelchen Gründen keinen Versuch sie aufzuhalten, das hieß, sie würden diesen Ort lebendig verlassen können! Sie würden den Kult der Drei Mächte an Stinner verraten, sie würden den Glauben an die göttlichen Mächte des Meeres auslöschen! Das durfte nicht geschehen! Sie aufzuhalten war er sich selbst schuldig, seinen Freunden im Kult und den Drei Mächten. Doch er wusste, dass die Helden in gewisser Weise seinem heiligen Kult nicht unähnlich waren. Auch sie achteten aufeinander, ließen niemanden zurück. Und das war ihre Schwäche. Wenn auch nur einer von ihnen fallen würde, würden die anderen bleiben. Und dadurch könnte man sie noch aufhalten! Sie waren zu weit entfernt, um sie noch einzuholen. Blieb nur eine letzte Möglichkeit: Toras hob seinen Arm und warf den Dolch.
Es war ein perfekter Wurf. Der Dolch beschrieb einen silbernen Bogen durch die Luft, rotierte elegant um die eigene Achse und flog rasend schnell auf die letzte Heldin zu, die noch immer an der Leiter hing. Die Entfernung war größer als alles, was Toras je geschafft hatte. Er wusste, der Segen seiner Götter lag auf der Waffe. Sie war wunderschön, alles an ihr war makellos. Der kleine silberne Wurfdolch war wie eine Naturgewalt, ein silberner Blitz, der sich genau in sein Ziel bohren würde: Das Herz der grün gewandeten Gestalt. Der Krieger mit blauem Umhang, der schon seine Erfahrung mit einem von Toras´ Wurfdolchen gemacht hatte, schrie etwas. Er streckte unendlich langsam seinen Arm herab, um seine Kampfgefährtin aus der Flugbahn zu stoßen. Er würde es nicht ansatzweise schaffen. Toras´ Triumph stand bevor.
Schwimm wie ein Fisch, lauf wie ein Hirsch, spring wie ein Hase, kämpf wie ein Bär, lautete eine Weisheit der Bewahrer. Chada hatte sich immer darüber gewundert, schließlich war ein Hirsch zu deutlich weiteren Sprüngen imstande als ein Hase, während ein Feldhase einen Menschen im Wettlauf durch dichtes Unterholz ebenso mühelos abhängen konnte wie ein Hirsch. Doch jetzt hätte Chada selbst der Hopser eines Hamsters genügt, um aus der Bahn des Dolches zu gelangen. Aber als sie das silberne Schimmern in der Luft als das identifizierte, was es war, war es schon lange zu spät. Sie hatte im Laufe der Jahre gute Reflexe erworben, doch all das nützte ihr nichts, denn der Dolch war zu schnell, zu scharf, zu tödlich.
Um den Sprung, den er bewältigte, hätte Santalion sogar ein Hirsch beneidet. Eben noch stand er einige Schritte entfernt, im nächsten Moment war er bereits genau dort, wo auch der Dolch war. Und der Dolch, der sich mit absoluter Sicherheit in ihr Herz gebohrt hätte, fand ein anderes Ziel. Santalion sackte zusammen und keuchte, dann spürte Chada von oben einen Stoß und sie fiel von der Leiter. Thorns Versuch, sie zu retten, kam deutlich zu spät. Chada prallte hart auf dem steinernen Boden auf, doch sie spürte es kaum. Sie kroch zu der Stelle auf dem Boden, an der der verwundete Santalion lag. Er hat eine ganze Reihe Rippen, an denen so ein Dolch abprallen kann, sagte sie sich, doch sie wusste, dass der Dolch eine solche Kraft aufgebaut hatte, dass er auch Rippen durchschlagen könnte. Aber dennoch, es gab Stellen, in die ein Dolch sich bohren könnte, ohne direkt tödlich zu sein. Sie hatte von Reka die Kunst des Heilens gelernt, auch Leander war darin bewandert, und Satarus, der Priester des Kultes.
Dann war Chada da und drehte Santalion auf den Rücken. Der Dolch hatte sich in die Brust genau zwischen zwei Rippen geschoben, knapp links der Mitte. Chada hatte schon öfter getötet als geheilt, sie wusste, wo bei einem Menschen das Herz lag. Und Santalion war ein Mensch, kein Monstrum, keine Bestie, kein Verräter, kein Verfluchter. Ansonsten hätte vielleicht noch Hoffnung auf Heilung bestanden, doch so kam jede Hilfe zu spät.
Toras erstarrte genau im Türeingang. Er versperrte den Durchgang für die anderen, doch das war egal. Vor ihm kniete die Frau in grün auf dem Boden, unter ihr eine schmerzlich vertraute Gestalt mit bleichem Haar und roten Augen. Santalion lag am Boden, und sein, Toras´, Dolch steckte in der Brust. Der Dolch, der doch für die andere bestimmt gewesen war. Der Dolch, der das falsche Ziel gefunden hatte. Toras war Söldner gewesen, schon oft hatte er mit seinen Dolchen getötet. Niemals hatte er es bereut, doch dieses eine mal wünschte er, er könnte seinen Wurf ungeschehen machen. Er spürte, wie ein gutturaler Ton sich seiner Kehle entrang. Tränen liefen über die roten Pusteln auf seinen Wangen. Dieser Dolch war von den Drei Mächten nicht gesegnet, sondern verflucht gewesen! Toras hob seinen zweiten Dolch. Chada kniete vor ihm, beachtete ihn gar nicht. Auch sie war ergriffen von Santalions Opfer, das Toras noch immer nicht verstand.
Ein einziges mal noch würde Toras töten, das wusste er jetzt. Danach nie wieder. Die grüne Gestalt kniete bewegungslos vor ihm. Warum nur hatte Santalion sich für diese wertlose Gottesmörderin geopfert? Toras hatte nicht vor, es zu erfahren. Er würde den Willen seines Freundes akzeptieren. Sein blanker Dolch hob sich und bohrte sich tief in seine eigene Brust. Das war der letzte Mord, den Toras begehen wollte.
Das Blut, das sich über Santalions Mantel ergoss, war so rot wie seine Augen. Santalion verzerrte das Gesicht vor Schmerz, doch als er Chada erkannte, die über ihm kniete, lächelte er fast. Mühevoll glitten seine weißen Finger in eine Tasche und zogen die Augengläser heraus. Das linke Glas war noch immer zerbrochen und sie waren von Blut bedeckt, doch Santalion streckte ihr sie entgegen. Chada war klar, dass er wollte, dass seine Familie von seinem Tod erfuhr. Sie ergriff die Gläser vorsichtig und schluchzte auf. Dann blickte sie erneut in diese roten Augen und sah die unausgesprochene Bitte darin. Überzeuge Stinner und rette den Kult! Chada beugte sich herab und hauchte Santalion etwas ins Ohr. „Ich verspreche es.“ Drei kleine Worte nur, doch das Flehen in seinem Blick verwandelte sich in Erleichterung.„Meine Schuld … beglichen.“, flüsterte er kaum hörbar.
Dann starb Santalion Bantor, Sohn des Mertos Bantor. Der tapfere selbstlose junge Mann, der nicht immer ehrlich zu ihnen gewesen war, aber niemals schlecht. Und sie war Schuld an seinem Tod. Ihre Unbeherrschtheit, ihre impulsive Art. Sie hatte Santalion enttarnt, ehe er sie genau dorthin führen konnte, wo sie Thorn und Satarus vorgefunden hätten. Ohne diese Tat wäre der Plan nicht so entsetzlich schiefgegangen. Sie hatte Santalion ermordet. Bringt Santa heil nach Hause, hört ihr? Kmarforias Stimme schien von den Wänden ihres Kopfes widerzuhallen, bis ihr Schädel bersten wollte.
Wenn einer von uns hier unten stirbt, dann ist jegliche Hoffnung auf Überleben für den Kult verschwunden. Niemals hatte Chada ihre eigenen Gedanken mehr gehasst. Santalion hatte sich nicht für Chada selbst geopfert, sondern damit seine Familie und seine Freunde im Kult sich nicht länger Verfolgung und Unterdrückung zu unterwerfen hatten. Wie hätte sie seine letzte Bitte ablehnen können?
Thorn war inzwischen herabgestiegen, er legte seine verbundene Hand auf ihre Schulter und zog sie sanft, aber bestimmt, von Santalions Leichnam fort, zu der wackeligen Leiter an der Wand. Er war nicht grundlos vorsichtig, doch Chada war sich sicher, dass der ganze Kult viel zu entsetzt über Santalions plötzlichen Tod war, um sie jetzt noch aufzuhalten.
Als sie das obere Ende der Leiter erreicht hatte warf sie noch einen letzten Blick zurück. Im Licht der Morgensonne, das durch die Löcher im Dach und die offene Falltür nach unten schien, konnte Chada trotz der Tränen in ihren Augen erkennen, wie ein Mann in einer blauen Robe zu der bleichen Gestalt trat und ihr die roten Augen schloss, während auch über sein Gesicht Tränen rannen. Chada erhaschte einen letzten Blick auf einen buckligen Riesen, der in seine gigantischen Arme zwei tote Gestalten presste und herzerweichend aufjaulte. Dann schlug die Klappe zu und verbarg Santalion vor ihren Augen.