von TroII » 28. November 2021, 19:02
g – Der Kult der Drei Mächte
Früher Vormittag, 20. Herbsttag 76 A.Z.
Klippenwacht, Hadrisches Meer
Thorn trat aus dem zentralen Hauptturm Klippenwachts und blinzelte in die Sonne, die über die Trümmer der östlichen Mauer strahlte. Die Sonne! Endlich! Wie hatte er sie in den letzten Tagen vermisst. Seitdem dieser Sturm begonnen hatte, hatte Thorn sie nicht mehr zu Gesicht bekommen, nur eine dunkelgraue, eintönige Wolkendecke. Doch die hatte sich jetzt endgültig aufgelöst.
Neben ihm trat Stinner ins Sonnenlicht. Die schwarzen Haare des Seekriegers wurden von der Meeresbrise aufgewirbelt und ein flüchtiger Ausdruck des Friedens legte sich über sein ernstes Gesicht. Ihm folgten Chada, Drukil und Leander. Der blinde Seher tat Thorn leid, denn ihm entging der Anblick der Sonne. Doch Leander lächelte, vermutlich konnte er ihre Wärme spüren.
Eara war schon fort, sie war ihnen noch auf dem Weg nach draußen entgegengelaufen, hatte Stinner gefragt, wann das nächste Schiff nach Hadria abfuhr und war dann verschwunden, um es noch zu erwischen. Leander hatte ihnen berichten müssen, was es mit ihrem überraschenden Sinneswandel auf sich hatte. Themauras war also ein Seher gewesen. Damit besaß dessen verschwundener Text eine ganz neue Bedeutung. Hoffentlich würde Eara ihn in Hadria finden.
Stinner ging voran und führte sie durch die Ruine. Er hatte recht gehabt, bei Tageslicht wirkten die Fortschritte noch beeindruckender. Zudem konnte man jetzt all die emsigen Arbeiter sehen, die hier tätig waren.
„Erzähl uns etwas über diesen Santalion, Stinner.“, verlangte Chada.
Der Seekrieger nickte und hob die Stimme: „Vor etwa einem Jahr gab es einen neuen Großangriff der Meereskreaturen auf die Nebelinseln. Viele fanden damals den Tod, doch als er ausgestanden war, schloss ich im Namen der Menschen Werftheims einen Pakt mit den Silberzwergen und Taren. Wir erneuerten das alte Seereich Varatanien und beschlossen, Klippenwacht wieder aufzubauen, um eine sichere Basis zu haben, von wo aus wir die Kreaturen bekämpfen könnten.“
„Und was hat das mit diesem Burschen zu tun?“, fragte Drukil ungeduldig.
Stinner blickte ihn finster an, bevor er fortfuhr: „Während ich noch auf der Suche nach Arbeitern war, trat ein Mann an mich heran, der mir ein Angebot machte: Sein Name war Mertos Bantor und er wollte ein kleines Grundstück auf Klippenwacht kaufen und dort ein Gasthaus errichten. Ich hielt ihn für bekloppt, denn damals war das hier ja noch ein ödes Niemandsland. Kaum jemand kam her und er bot mir gutes Geld für ein nahezu wertloses Grundstück. Selbstverständlich nahm ich sein Angebot an, denn wir waren ziemlich in Geldnot. Klippenwacht wieder aufzubauen verschlingt ein Vermögen! Die Rohstoffe sind nur der kleinste Teil. Wir beschäftigen momentan einhundertdreiundfünfzig Steinmetze, Maurer, Schmiede, Zimmermänner, Schreiner, Architekten und Statiker, ungefähr fünfhundert Tagelöhner, Gelegenheitsarbeiter und Wachen, dazu kommen noch sechsundzwanzig Baumeister der Zwerge und ein Dutzend Taren. Sie zu versorgen und zu bezahlen ist… teuer. Das meiste übernehmen die Silberzwerge für uns, aber wir freuen uns dennoch über jede Münze, die wir dazuverdienen können. Also habe ich ihm das Grundstück vertickt und vorerst geschah nichts. Nach drei Monaten waren wir soweit, mit dem Bau zu beginnen. Wir fuhren in die Ruinenstadt und begannen mit den Arbeiten. Einen halben Mond vor uns war auch Mertos Bantor hierhergekommen, zusammen mit seiner Frau Cera, seinem Sohn Santalion, seiner Tochter Kmarforia und einem halben Dutzend Holzwerkern, die schon vor dem Bau Geld verdienen wollten. Mertos ist, ehrlich gesagt, nicht der Allerhellste, und ich dachte, ich hätte ein gutes Geschäft gemacht. Doch als wir ankamen, stand die Fröhliche Nixe bereits. Wir begannen sofort mit dem Wiederaufbau, aber es kamen mehr Arbeitskräfte als erwartet und unsere Schlafplätze reichten nicht für alle. Wir ließen natürlich eiligst alles kommen, was für den Bau zusätzlicher Unterschlüpfen benötigt wurde, doch bis die standen, waren drei Tage um, in denen die überzähligen Handwerker entweder unter freiem Himmel schliefen oder ins Gasthaus gingen. Das Geld, das Mertos für die Fröhliche Nixe ausgegeben hatte, hatte er nach dieser Zeit schon zur Hälfte wieder eingespielt. Mit der Zeit wurde mir allerdings klar, dass die Idee wahrscheinlich nicht von ihm, sondern von seinem Sohn Santalion stammte. Er ist deutlich gewitzter als sein Vater und hat im Laufe der Bauarbeiten noch durch einige andere Projekte viel Geld eingespielt. Die Stege zum Beispiel, an denen die Schiffe anlaufen, hat die Familie Bantor auf eigene Kosten gebaut, und anschließend durften sie ein halbes Jahr die Pacht eintreiben.“
Die Gruppe bog um eine Ecke und Thorns Blick fiel auf das große dreistöckige Haus, das er schon am gestrigen Abend gesehen hatte. Die Fröhliche Nixe war massiv und schien, obwohl komplett aus Holz, für die Ewigkeit gebaut worden zu sein. Hier waren gute Handwerker am Werk gewesen. Stinner marschierte auf das Gasthaus zu, während er weitererzählte: „Während des Sturmes vor drei Tagen konnte ein Teil unserer Arbeiter dort drin Unterschlupf finden, für den sie nicht einmal bezahlen mussten.“
Thorn betrachtete das Gasthaus mit neuen Augen. „Sie konnten umsonst dort schlafen? Das war großherzig.“
Stinner lachte. „Vielleicht. Aber seitdem ist die Familie Bantor hier sehr beliebt und die Fröhliche Nixe wird noch regelmäßiger besucht als zuvor, langfristig werden also auch Santalion und Familie davon profitieren. Außerdem wurden die einfachen Unterschlüpfe während des Sturms wieder zerstört, also werden sie in nächster Zeit wohl wieder satte Gewinne einstreichen.“
Sie erreichten das Haus und Thorn bewunderte die lachende Holznixe, die an zwei Ketten über der Tür hing und langsam hin und her schaukelte. Stinner stieß die Tür auf und Thorn konnte nun auch den leeren Schankraum ausgiebig betrachten.
Die Inneneinrichtung unterschied sich nicht groß von der Taverne Zum Trunkenen Troll in Andor. Einfache Tische und Hocker, ein Boden aus geschrubbten Brettern, verglaste Gitterfenster und erloschene Laternen an den Wänden, am anderen Ende ein Tresen, hinter dem eine hagere Frau damit beschäftigt war, Schüsseln aus Holz mit einem Tuch abzuwischen und unter den Bar zu verstauen. Auf einem Regal hinter ihr standen eine Reihe von bauchigen Flaschen und ein großes Fass mit Zapfhahn, vermutlich mit alkoholischem Inhalt.
Beim Geräusch der sich öffnenden Tür blickte die Frau auf und Thorn erkannte zwischen den grauen Haaren ein zerfurchtes Gesicht mit einer eckigen Nase und kleinen schwarzen Augen. Plötzlich erbleichte die Frau, ihre Hände zitterten und die Schüssel in ihren Händen entglitt ihren Fingern und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden vor dem Tresen. Thorn ging nach vorne um sie aufzuheben, stockte jedoch, als er den Blick der Frau bemerkte. In ihren schwarzen Augen stand glühender, alles verschlingender Hass. Thorn blinzelte und als er seine Lider wieder hob, war der Hass verschwunden. Thorn kam zu dem Schluss, dass er sich ihn nur eingebildet hatte. Auch das Zittern hatte aufgehört und die Frau bekam langsam ihre Farbe zurück.
Jetzt eilte sie um den Tresen, hob die Schüssel auf und betrachtete ihre fünf Gäste. „Kmarforia!“, rief sie. „Kundschaft!“ Dann wandte sie sich an Stinner: „Ihr habt Euch hier lange nicht mehr blicken lassen! Was verschafft uns die Ehre Eures Besuches?“
„Cera, wir…“
Er wurde unterbrochen, als sich am hinteren Ende eine Tür öffnete, durch die schüchtern ein blondes Mädchen von etwa zwölf Sommern blickte. Ihr folgte ein junger Mann, den Thorn noch von gestern kannte. Santalion Bantor schob sich in die Gaststube und zog das Mädchen, bei dem es sich wohl um seine Schwester Kmarforia handelte, hinter sich her. Jetzt erkannte Thorn, dass der geschäftstüchtige Bursche jünger war, als er angenommen hatte, vielleicht neunzehn oder zwanzig Sommer. Als er jedoch ins Licht des Wirtshauses trat, stockte Thorn der Atem.
Ein Verfluchter! Gestern Nacht war das nicht zu erkennen gewesen, doch nun glitt Thorns Blick über den schmächtigen Körper in hellbrauner Wollkleidung. Die Arme und der Hals waren noch bleicher als Cera gerade eben geworden war, seine Haare leuchteten in einem grellen weiß. Santalion schien blass und farblos wie ein Gespenst. Das scharf geschnittene Gesicht wies deutliche Ähnlichkeit zu dem seiner Mutter auf, doch Thorn konnte sich nicht darauf konzentrieren, da sein Blick immer wieder auf die strahlend roten Augen fiel. Die rote Iris war von weißen Äderchen durchzogen, in deren Mitte die glutrote Pupille wie ein mit Blut gefüllter Brunnen wirkte, in dem man mühelos versinken konnte. Hinter ihm schnappte auch Chada nach Luft.
Santalion bemerkte ihre Blicke und zog eine farblose Augenbraue hoch, woraufhin Thorn peinlich berührt wegsah und versuchte, irgendwohin zu schauen, nur nicht in diese Augen, die seinen Blick wie magisch anzogen. Schließlich zog Santalion ein seltsames Konstrukt aus Silber und Horn aus einer Tasche und setzte es sich auf die Nase, woraufhin seine Augen nur noch undeutlich durch dunkelgrüne Scheiben zu erkennen waren.
„Die Helden von Andor!“, sagte er dann. „Na, haltet ihr es im Hauptturm nicht mehr aus? Es ist kalt und zugig da drin, das habt ihr sicher mitbekommen. Hier dagegen ist es immer warm. Mein unschlagbares Angebot: Zwei Betten zum Preis von drei! Was sagt ihr?“
„Du hast komische Augen.“, brummte Drukil. Thorn zuckte zusammen angesichts dieser Taktlosigkeit. Drukil hatte sich an ein Leben als Mensch gewöhnt, aber mitunter war er sehr direkt. Santalion lächelte jedoch nur amüsiert. „Ach, habt Ihr das auch schon bemerkt? Dafür habt Ihr einen komischen Bart, der in letzten Jahren garantiert weder in Kontakt mit einem Rasiermesser noch mit einem Bad gekommen ist.“ Kmarforia presste sich eine Hand auf den Mund und prustete. Drukil dagegen lachte schallend los und damit war die Situation gerettet.
„Wir sind nicht hier, weil wir hier übernachten wollen, sondern weil wir gerne mehr über das erfahren würden, was du in jener Nacht erlebt hast.“, sprach Chada.
Santalion nickte. „Ja, das war zu erwarten. Setzen wir uns. Schwesterherz, bring uns etwas zu trinken!“
Das blonde Mädchen eilte zur Theke, wo Cera ihr wortlos Wasser aus einem großen Krug in einige Humpen füllte. Santalion beobachtete die Szene aufmerksam und entspannte sich sichtlich, als seine Schwester das Tablett an ihren Tisch gebracht hatte. Er nahm sich wahllos einen der Humpen und trank einen Schluck, dann begann er gestenreich zu erzählen.
„In der Nacht, von der ihr vermutlich redet, begann gerade einer der schlimmsten Stürme, die das Hadrische Meer je erlebt hat. Arkterons Zorn war grauenhaft, und sein eisiger Atem erfüllte auch Klippenwacht. Großherzig, wie meine Familie nun mal ist, nahmen wir einige der Arbeiter bei uns auf und…“
Stinner erhob ich leise, was ihm einen irritierten Blick Santalions einbrachte. Er ließ sich allerdings nicht unterbrechen und setzte seine Geschichte fort, während Stinner zur Tür ging und Thorn zu sich winkte. Auch der Krieger erhob sich und schlich zur Türöffnung. „Was gibt es?“, raunte er Stinner zu.
„Ich muss weiter, hier gibt es noch zu viel Arbeit für mich.“
Thorn nickte. „Warum hast du uns nicht erzählt, dass er ein Verfluchter ist, Stinner? Das war gerade ziemlich peinlich.“
Stinner lächelte verlegen. „Hier haben sich schon alle daran gewöhnt. Und Thorn… benutze diesen Ausdruck bitte nicht, wenn er dabei ist. Er mag das nicht, was ich ehrlich gesagt auch gut nachvollziehen kann.“ Erneut nickte Thorn. „Ich hoffe, auch in meinem eigenen Interesse, ihr findet diesen Tempel rechtzeitig.“, fuhr Stinner fort. „Mein Wort hat Gewicht, ich könnte euch unterstützen. Ich könnte euch mein schnellstes Schiff zur Verfügung stellen und eine Belohnung für jeden versprechen, der etwas über diesen Tempel weiß. Aber …“
„Aber dann weiß jeder, was wir vorhaben.“, beendete Thorn den Satz. „Wir sind schon bekannt genug. Wenn wir überhaupt eine Chance haben, den Schwarzen Herold im Tempel des Meeres zu belauschen, dann würde sie dadurch zunichtegemacht. Am wichtigsten ist jetzt Unauffälligkeit.“
Stinner biss sich resigniert auf die Lippe. Dann überreichte Thorn einen kleinen Beutel und ein zusammengerolltes Pergament. „Hier ist etwas Geld, aber kein Wort zu niemandem. Das war eigentlich für die Bauarbeiten bestimmt.“
Thorn hob abwehrende die Hände, aber Stinner ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Jetzt nimm schon! Informationen über diesen Ewigen Rat sind zu wichtig, bei euch ist das Geld sinnvoller angelegt. Und die Lücke in der Kasse werde ich nach und nach aus eigener Tasche füllen.“
Widerstrebend nahm Thoen den Beutel entgegen, das beruhigende Gewicht an seinem Gürtel brachte sein Gewissen zum Verstummen. „Und das Pergament?“
„Darin steht, dass ihr in in meinem Auftrag unterwegs seid und dass euch alle erdenkliche Hilfe gewährt werden soll. Es ist alles andere als unauffällig, aber im Notfall könnte es euch helfen. Wie gesagt, mein Wort hat Gewicht.“ Stinner lächelte das raue Lächeln eines Seemanns. „Ihr könnt die Aldebaran II haben, wenn ihr irgendwo hinwollt. Leb wohl!“
„Leb wohl!“, sagte auch Thorn und die beiden umarmten sich kurz, dann ging Stinner wieder hinaus und Thorn zurück zur Erzählung. Allerdings hatte er die verpasst, denn als er ankam, hörte Santalion gerade auf zu berichten.
„Und?“, fragte Thorn.
„Er ist ein guter Erzähler, der aber leider auch nichts Relevantes weiß.“, antwortete Chada.
Santalion verschränkte erbost die Arme vor der Brust. „Der aber leider auch nichts Relevantes weiß?“, wiederholte er leise. „Vielleicht habt Ihr einfach die falschen Fragen gestellt. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass es Euch brennend interessiert, was es mit diesem Tempel der Mächte des Meeres auf sich hat.“
Santalion beobachtete offensichtlich belustigt die Reaktionen der Helden. Thorn riss die Augen auf, Leander verschluckte sich an seinem Wassr, Chada schnappte nach Luft und Drukil tat das alles gleichzeitig, was zu einem heftigen Hustenanfall führte. Kmarforia starrte neugierig zu ihnen herüber und Cera kam hinter dem Tresen hervor und stellte sich auffällig unauffällig in ihre Nähe. Thorn beschlich ihn in ihrer Gegenwart ein ungutes Gefühl.
„Und was weißt du darüber?“, stellte Leander die Frage, die ihnen allen auf der Zunge brannte, während Chada dem Hautwandler auf den Rücken klopfte.
„Nichts!“, antwortete Santalion mit einem schnellen Blick zu seiner Mutter. „Aber ich könnte vielleicht etwas herausfinden. Ich habe Kontakte in Werftheim…“
Cera trat hinter ihn und bohrte ihre knochigen Finger in seine Schultern. „Du kannst nicht fort, Santa! Wir brauchen dich hier und es wäre nicht gut für dich.“
Der Verfluchte - Thorn konnte es sich einfach nicht abgewöhnen, ihn so zu nennen - legte eine Hand auf die Finger an seiner Schulter und streichelte sie sacht. „Du kannst es mir nicht verbieten, Mutter! Nicht, wenn die Bezahlung stimmt.“, fügte er mit einem auffordernden Blick hinzu.
Thorn erkannte das Stichwort und erklärte hastig: „Wenn die Informationen, die du uns über den Tempel geben kannst, hilfreich sind, dann wird die Bezahlung stimmen.“
Ceras Finger bohrten sich noch fester in Santalions Schulter. „Kmarforia!“, rief sie. „Hol deinen Vater!“
„Mutter! Hör auf!“, bat Santalion. „Wenn Ihr bitte draußen warten könntet! Ich kläre das schnell.“, wandte er sich dann an die Helden. Chada stand wortlos auf und ging hinaus und die anderen folgten ihr. Als Thorn das Gasthaus verließ, meinte er erneut einen hasserfüllten Blick zu spüren, der sich in seinen Rücken bohrte, doch er drehte sich nicht um.
Der vierte Teil einer Stunde verging, bis Santalion aus dem Gasthaus trat. Er trug einen langen, braunen Kapuzenmantel, der fast seine ganze Haut bedeckte, und auf seiner Nase saß immer noch das seltsame Gebilde aus Horn, Silber und grünem Glas, von dem Chada Thorn erzählt hatte, sie habe so ähnliche Augengläser schon bei einem alten Bewahrer mit Sehschwierigkeiten gesehen.
„Ich habe sie überzeugt, mich gehen zu lassen.“, sagte er und es war unklar, ob er sich damit nur auf seine Mutter oder auf die ganze Familie bezog. „Habt ihr ein Schiff? Wir müssen nach Werftheim.“
Die Gruppe ging zu den Stegen, wo die Aldebaran II vor Anker lag. Thorn erinnerte sich noch lebhaft an die Abenteuer, die er damals zusammen mit Chada, Stinner und Kirr auf ihren Planken erlebt hatte. Sie hatten die Schwarze Kogge gejagt und schließlich vernichtet. Doch wie es schien, nicht so endgültig, wie sie dachten.
Die Aldebaran II war ein kleines Schiff, nicht größer als ihre Vorgängerin, das notfalls sogar alleine gefahren werden konnte. Nur mit der Hilfe von Stinner war es Thorn und Chada anfangs möglich gewesen, zur See zu fahren. Mit der Zeit hatten auch sie beide gelernt, was es hieß, ein Boot zu steuern. Doch seitdem Thorn den Einmaster zuletzt gesegelt hatte, waren über eineinhalb Jahre vergangen. Das meiste war längst wieder vergessen und er nahm nicht an, dass es bei Chada deutlich besser aussah. Ihm war also etwas mulmig zumute, als er vor dem Boot stehen blieb. Aber vielleicht könnte Santalion ihnen helfen?
Ehe er jedoch an Bord gehen konnte konnte, rannte plötzlich jemand den Steg entlang auf sie zu. Schon auf den ersten Blick erkannte Thorn Santalions Schwester Kmarforia. Ihre blonden Haare wirbelten um sie herum, als sie ihren Bruder auf Bauchhöhe umarmte.
„Viel Erfolg und leb wohl, Santa!“, wünschte sie mit schriller Stimme und Thorn fiel auf, dass er sie jetzt zum ersten mal sprechen hörte.
Santalion rieb ihr über den Kopf und verwuschelte ihre Haare. Dann beugte er sich hinab und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie strahlend nickte. Anschließend wandte sie sich zur Fröhlichen Nixe um, wirbelte dann jedoch plötzlich herum und blickte die Helden fest an. „Bringt Santa heil nach Hause, hört ihr?“, rief sie überraschend ernst und Thorn hatte das Gefühl, dass ihr Blick besonders ihn gefangenhielt. Ohne eine Antwort abzuwarten sprang sie zurück und rannte wieder davon.
Sonnenhoch, 20. Herbsttag 76 A.Z.
Hohe See südwestlich von Klippenwacht, Hadrisches Meer
Die Aldebaran II flog nur so über die Wellen, denn es wehte ein geradezu optimaler Nordostwind. Santalion hatte sich nicht als große Hilfe herausgestellt, sondern sich - zum Schutz vor der gleißenden Sonne, wie er sagte - gleich unter Deck verzogen, sodass es letztendlich an Chada und Thorn selbst hing, das kleine Schiff zu segeln. Drukil unterstützte sie dabei, indem er sich so gut er vermochte an ihre Anweisungen hielt.
Jetzt stand Chada am Steuer und Thorn betrachtete sie versonnen. Auf ihrem fein geschnittenen Gesicht erkannte er den Ausdruck ihres eisernen Willens, den er so sehr liebte. In ihren Augen standen Trotz und die Entschlossenheit, niemals aufzugeben. Wäre er der Schwarze Herold oder einer ihrer anderen Feinde, er wäre jetzt vom Schiff gesprungen.
Nur wenige Tage nach ihrem Streit im Grauen Gebirge hatten sie beschlossen, die bösen Worte beiseitezuschieben. Dennoch hatte er sie nicht vergessen, und Chada wohl auch nicht. Du bist bloß eifersüchtig! Thorn schüttelte seinen Kopf. Es war besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Du könntest mitkommen. An meiner Seite regieren. Sie hatte es nur gut gemeint. Auch wenn er den Gedanken an die pausenlose Mühsal hasste, die sie erwartete, konnte er doch nicht leugnen, dass Chada, im Gegensatz zu ihm, eine gute Königin abgeben würde. Sie beide hatten ihre Entscheidung getroffen, und sie beide konnten mit der des anderen leben.
Schon oft hatte Thorn sich gewünscht, einfach zu gehen. Sein Leben wäre gewiss deutlich glücklicher verlaufen, wenn er diesem Wunsch nachgegeben hätte. Aber auch ihn zeichnete ein eiserner Wille aus; der Wille, Unrecht und Leid nicht einfach hinzunehmen, sondern dagegen anzukämpfen. Doch mittlerweile war Thorn sich nicht sicher, ob er in diesem Kampf wirklich erfolgreich war. Jedes mal, wenn sie einen Feind besiegt hatten, war sogleich ein neuer gekommen, jedes mal, wenn sie eine Aufgabe erfüllt hatten, mussten sie sich sogleich um die nächste kümmern. Vielleicht lag es einfach in der Natur des Menschen, stets aufs Neue unglücklich zu sein. Vielleicht war die Welt einfach so eingerichtet, dass alles Gute stets etwas Schlechtes gebar, dass nichts jemals wirklich von Bestand war. Wenn das stimmte, dann wäre Thorn jedenfalls dazu verdammt, den Rest seines Lebens zu kämpfen, denn er hatte nicht vor, das Leid der Menschen, Zwerge und all der anderen Völker dieser Welt einfach hinzunehmen. Er würde diejenigen beschützen, die Schutz benötigten, wenn es sein musste, bis ans Ende seines Lebens. Doch er hegte noch immer die schwache Hoffnung, dass es nicht sein musste.
Chada bemerkte, dass er sie betrachtete und lächelte ihm zu. Thorn spürte eine Wärme in sich aufsteigen und erwiderte das Lächeln, dann ging er zur Tür, die ins Innere der Aldebaran II führte. Er musste mit Santalion sprechen.
Unten bemerkte er, dass er nicht der einzige war, der auf diese Idee gekommen war, denn der Verfluchte war bereits in ein Gespräch mit Leander vertieft. „Meinst du, ich weiß nicht, wie man mich nennt? Meinst du, ich habe keine Ahnung, was ich bin? Ich bin ein Verfluchter!“
Das Wort spie Santalion regelrecht aus und Thorn empfand sogleich Schuldgefühle. Nie wieder, schwor er sich, werde ich ihn so nennen, selbst wenn es nur in Gedanken ist.
Santalion hatte seine Ankunft noch nicht bemerkt und fuhr fort: „Solche wie ich werden in der Regel schon bei ihrer Geburt ausgesetzt, oder gleich ertränkt, um auch wirklich sicher zu sein, niemals von ihnen behelligt zu werden. Wir gelten als Unheilsbringer, Todesboten. Weil wir anders sind.“
„Du bist nicht als einziger anders.“, erwiderte Leander. „Sieh mich an! Meine Eltern wurden bei lebendigem Leibe verbrannt, als ich sechs Jahre alt war. Meine ganze Jugend hindurch wurde ich gequält, verfolgt und gedemütigt. Du hast es gut, glaub mir. Du hast wenigstens noch deine Familie, die dich im Zweifelsfall beschützt.“
Nach diesen Worten trat eine einträchtige Pause ein. Thorn wollte gerade zu seiner Frage ansetzen, als Leander erneut zu sprechen begann: „Deine Familie hat seltsame Namen.“
„Was soll an Bantor seltsam sein?“
Leander schnaubte. „Stell dich nicht dümmer als du bist. Santa-Lion. Das heilige Schwert. Kmar-Foria. Meeresmacht.“
„Ihr beherrscht die alte Sprache des Nordens?“, fragte der Verflu… Santalion erstaunt.
Leander lächelte milde. „Ich bin mit dieser Sprache aufgewachsen. Damals konnte hier jeder sie sprechen und sie galt noch nicht als alte Sprache. Auch wenn die Gemeine Sprache in Sachen Verständigung natürlich viele Vorteile bietet, das muss man anerkennen. Aber du weichst aus: Was hat es mit euren Namen auf sich?“
„Cera, meine Mutter. Sie hat einen… ungewöhnlichen Sinn für Humor.“
Erneut machte sich Stille breit und Thorn hatte nicht vor, diese Gelegenheit auch verstreichen zu lassen. „Santalion!“, sagte er. „Wie genau möchtest du uns helfen? Was kannst du tun, um diesen Tempel aufzuspüren?“
Der junge Mann zuckte zusammen und drehte seinen Kopf herum. Noch immer trug er seine dunkelgrünen Augengläser und Thorn fragte sich, ob er sie wohl nur besaß, damit andere Menschen ihm nicht andauernd in seine Augen starrten oder ob es einen tieferen Zweck erfüllten. „Seid gegrüßt, Thorn!“, rief Santalion. „Ich sehe, dass Begrüßungen Euch ebenso fremd sind wie Geduld. Aber gut, ich werde Euch erleuchten: In Werftheim habe ich einige Kontakte, unter anderem auch zum Kult der Drei Mächte. Wer könnte wohl mehr über den Tempel wissen als diese Religion?“
Thorn schüttelte sich. „Ich würde nicht so weit gehen, so etwas als Religion zu bezeichnen. Wie kommen Menschen nur dazu, die Mächte des Meeres anzubeten?“
„Es ist eigentlich ziemlich naheliegend.“, überlegte Leander. „Mutter Natur ist für die einfachen Fischer, Handwerker und Schiffsbauer hier nur irgendeine weit entfernte Gottheit, doch die Mächte des Meeres sind ein fester Bestandteil ihres Lebens. Man kann sie sehen, mit ihnen sprechen, sie berühren, auch wenn das vermutlich das letzte ist, was man tut. Ihre Existenz ist unbestreitbar, ihre Macht gewaltig und ihr Zorn grauenhaft. Wieso verwundert es dich, dass die Menschen lieber zu den Wesenheiten beten, vor denen sie sich fürchten, als zu irgendeiner weit entfernten metaphysischen Entität, von der ein paar Priester erzählen?“
Was für eine Ente? Auch wenn es Thorn wurmte, dass Leander nicht in der Lage war, verständliche Wörter zu benutzen, so war der Sinn des Gesagten doch klar. „Aber wieso sollte man zu den Mächten des Meeres beten, obwohl sie so grausam sind?“
Santalion schüttelte den Kopf. „Nicht obwohl“, antwortete er nachdrücklich, „sondern weil. Es ist klar, dass Arkteron Stürme rufen kann, also bittet man ihn darum, es in nächster Zeit zu unterlassen, damit die eigene Familie wohlbehalten nach Hause kommt. So entstand vermutlich der Kult.“
„Hm. Ich bin froh, wenn diese verblendeten Eiferer ein für alle mal verschwinden. Im Übrigen hättest du schon lange Stinner von deinem Wissen erzählen sollen, er versucht doch mit aller Macht, diese Leute auszuräuchern.“
Santalion hob eine Augenbraue. „Ich weiß auch nicht so viel, dass ich imstande wäre, eine Armee direkt in ihr Heiligtum zu führen. Außerdem ist es jetzt wohl eher vorteilhaft, dass der Kult noch existiert, sonst könntet Ihr die Möglichkeit, diesen Tempel zu finden, direkt vergessen.“
Thorn verschränkte die Arme. „Und dein Kontakt weiß etwas Nützliches?“
„Das müsst Ihr entscheiden. Er heißt Toras. Ein wirklich guter Dolchwerfer, aber das macht nichts, denn ehrlich gesagt sind seine Klingen deutlich schärfer als sein Verstand. Wenn wir ihn ein bisschen aushorchen, dann bekommen wir wahrscheinlich mehr über diesen Tempel heraus.“
Abenddämmerung, 20. Herbsttag 76 A.Z.
Hafen von Werftheim, Hadrisches Meer
Bei Sonnenuntergang lief die Aldebaran II in den Hafen Werftheims ein, womit sie die Strecke Klippenwacht – Werftheim in rekordverdächtiger Zeit zurückgelegt hatte. Selbst zu dieser späten Stunde war es hier noch äußerst belebt. Dutzende Schiffe liefen aus, aber vor allem ein, von winzigen Fischerbooten über kleine Einmaster wie der Aldebaran II bis hin zu einer gewaltigen dreimastigen Galeone, deren Ruder tief ins Wasser tauchten. Während Thorn und Chada versuchten, an einem Steg, zu dem sie von einem Hafenaufseher gelotst wurden, anzulegen, zeigte sich, dass ihre Fähigkeiten trotz der sensationellen Fahrt auf dem offenen Meer schon etwas eingerostet waren, denn zwischendurch verursachten sie zwei Zusammenstöße und hätten fast eines der Ruderboote über den Haufen gefahren.
Als sie mit einem lauten Knall gegen den Steg stießen, wurde Thorn von den Füßen geschleudert und erhob sich nur mühsam wieder, einen Fluch durch die zusammengepressten Zähnen zischend. Der Hafenaufseher legte eilig seine für Werftheim so typische Schwertlanze beiseite, wobei die gebogene Klinge im Sonnenschein gefährlich funkelte, und lief trotz der Lederrüstung behände näher. Dann streckte er die Arme aus und nahm das Tau, das Thorn ihm zuwarf, entgegen. Er band es an einen Pfahl und holte anschließend seine Lanze. Als die ganze Gruppe kurz darauf von Deck ging, musterte er sie kritisch. „Passt das nächste mal besser auf, ihr Dilettanten! Wenn ihr nicht segeln könnt, dann tut es auch nicht.“, murrte er unfreundlich
„Man kann nicht tun, was man nicht kann.“, erwiderte Santalion galant. „Wenn sie nicht segeln könnten, so hättet Ihr sie nicht segeln sehen können. Wenn sie aber wider Erwarten doch segeln, so ist das wohl ein eindeutiger Beweis ihrer Fähigkeiten. Ihr seht, Eure Forderung ist in jedem Fall hinfällig.“ Der Aufseher grummelte etwas Unverständliches und ging davon.
„Also, wohin jetzt?“, fragte Chada. Santalion rückte sich seine Augengläser zurecht und zeigte in Richtung der hölzernen Stadt. „Mein Bekannter lebt nahe der Schiffswerften. Folgt mir!“
Der Weg durch Werftheim glich dem Marsch eines Betrunkenen im dichten Nebel. Santalion führte sie zielstrebig voran, aber die Straßen waren so willkürlich gewachsen, dass sie unzählige Spiralen und scheinbare Umwege liefen, auch wenn es sich vermutlich um den schnellsten Weg handelte. Werftheim bot wie schon bei Thorns früheren Besuchen ein Bild geschäftigen Elends. Die vielen Händler und Handwerker, die selbst jetzt noch durch die Gassen eilten und von denen sich besonders viele noch am Marktplatz aufhielten, ignorierten die zerlumpten Bettler ebenso wie den Unrat zu ihren Füßen. Die Hütten wirkten größtenteils ärmlich und es war ihnen anzusehen, dass es sich in vielen Fällen um Provisorien handelte, die zum Teil allerdings schon Jahrzehnte standen. Das Holz war grau und ausgeblichen, an vielen Stellen oft auch faulig, in den Dächern klafften so viele Löcher, dass sie wie das Gebiss einer alten Vettel wirkten. Der letzte Sturm hatte einiges zerstört, aber in Thorns Augen führte das eher dazu, dass Werftheim sich wieder erneuern konnte, bis es bald wieder so heruntergekommen aussähe wie immer. Auf ihrem Weg wurden sie von mehr als einem Augenpaar neugierig beäugt. Insbesondere Leander mit seiner blauen Haut und der Binde vor den Augen erregte einige Aufmerksamkeit, doch auch Santalion, der in seinem braunen Kapuzenmantel und mit den Augengläsern auf der Nase wie ein bleiches Ebenbild des Sehers wirkte.
Nach einem besonders scharfen Knick in der Straße blieb Santalion plötzlich stehen und deutete auf eine kleine Hütte, die selbst für hiesige Verhältnisse - auch im Mondlicht erkennbar - besonders schäbig wirkte. „Hier wohnt Toras!“, flüsterte Santalion, auch wenn die Hütte noch lange nicht in Hörweite war. „Besser, ich spreche alleine mit ihm. Ihr wartet hier.“
Chada kniff ihre grünen Augen zusammen. „Da drinnen wohnt ein Mitglied des Kultes der Drei Mächte. Ich halte es für keine gute Idee, wenn du alleine dort hinein gehst. Ich habe die Absicht, die Bitte deiner Schwester zu erfüllen und dich heil zurückzubringen.“
Santalion nahm die Gläser ab und verdrehte seine roten Augen. Schon wieder spürte Thorn, wie er keine andere Wahl hatte, als hineinzublicken. Schließlich betrachtete er stattdessen den schlammigen Untergrund zu einen Füßen. Zumindest hoffte er, dass es sich bloß um Schlamm handelte…
„Ihr seid ja fast so schlimm wie meine Mutter!“, zischte Santalion Chada zu und zuckte dann mit den Achseln. „Von mir aus stellt Euch hinter die Hütte und lauscht unserem Gespräch, wenn Euch das beruhigt. Aber seid leise, um der Heiligen Mutter willen, man kann Euch von drinnen ebenso gut hören, wie Ihr uns werdet hören können!“
Während Santalion also gemächlich zur heruntergekommenen Hütte marschierte, schlichen die Helden von Andor geräuschlos näher. Als sie angekommen waren, erkannte Thorn, dass die Bezeichnung Hütte noch ein großes Kompliment darstellte. Es handelte sich eher um einen Verschlag, nur anhand der sorgfältig mit Stroh und Holzwolle ausgestopften Ritzen erkannte man, dass er bewohnt war. Während die Häuser Werftheims sich sonst Wand an Wand drängten, ließen sie hier einen Abstand von mindestens einem Schritt, fast, als wüssten die Gebäude selbst, dass ein Mitglied dieses verderbten Kultes hier hauste. Behutsam tappten sie um das Bauwerk herum und pressten ihre Ohren an die Rückwand. Im nächsten Moment erscholl von der anderen Seite ein Klopfen, gefolgt von den knarzenden Brettern der sich öffnenden Tür.
„Toras! Sei gegrüßt, mein alter Freund. Wie ich sehe, hast du noch immer kein Schloss.“ Drinnen raschelte es und man konnte hören, wie jemand aufstand.
„Nein!“, rief eine quäkende, missmutige Stimme. „Ob du es glaubst oder nicht, ich bewohne nach wie vor eine kleine Hütte, jaja.“
Santalion lachte. „Aber Toras, ich bezog mich doch auf die Tür. Nicht mal einen Riegel besitzt du.“
„Jaja, wozu auch, hier gibt es doch eh nichts, was sich zu stehlen lohnt.“
Von der anderen Seite der Wand erklangen leise Schritte. „Ach Toras, ich habe dich vermisst, ob du es glaubst oder nicht.“
„Ha, willst du mich etwa umarmen?“
„Selbstverständlich nicht, ich weiß doch, wie selten du deine Hemden wäschst.“
Toras knurrte. „Jaja, scharfzüngig wie eh und je. Hast dich gar nicht verändert. Noch genau so unverschämt wie damals. Und wahrscheinlich bist du auch nicht bloß hier, um einen alten Freund zu begrüßen.“
„Zufälligerweise gibt es tatsächlich noch einen anderen Grund für meine Anwesenheit. Ich möchte…“
„Pah, das sieht dir ähnlich. Vor drei Jahren verschwindet ihr einfach spurlos, nach allem, was man hört, treibt ihr euch seitdem ausgerechnet mit diesem Stinner herum. Aber kaum bist du wieder da, möchtest du schon etwas, jaja.“
„Toras, bitte!“, sagte Santalion beschwichtigend. „Ich bin hier, weil ich Gerüchte gehört habe, du seist Mitglied im Kult der Drei Mächte.“
„Gerüchte? Als ob du das nicht ganz genau wüsstest.“
„Nun, nicht immer stimmt das, was man hört, mit der Wahrheit überein. Manchmal belauscht man Dinge, die falsch sind.“
„Was? Was willst du damit sagen? He, was machst du da?“
Eine kurze Zeit lang war kein Geräusch zu hören. Selbst Leander verzog nur angestrengt das Gesicht und, da er sich die Blicke der anderen wohl denken konnte, schüttelte lautlos den Kopf.
Nach einer Weile begann Santalion wieder zu sprechen: „Toras, erinnerst du dich noch an jenen Abend des Lichttags, damals vor vier Jahren?“
„Ich erinnere mich noch an den Mittag. Und an den Morgen darauf, jaja.“
„Um dein Gedächtnis etwas aufzufrischen: Du lagst zusammengeschlagen in der Gosse, in einer Pfütze aus deinem eigenen Blut.“
„Das war der Teil den ich vergessen wollte. Vielen Dank, Santa!“
„Ich habe dich gefunden und den ganzen Weg zum Heiler geschleppt. Meine Augengläser habe ich dabei verloren, ich musste danach noch einen ganzen Mond lang tagsüber mit geschlossenen Augen herumlaufen, um nicht zu sehr geblendet zu werden.“ Aha, das war also der Grund für seine Gläser.
Aus der Hütte drang ein widerliches Schmatzen, dann sagte Toras: „Sieh´s positiv, deine neuen Gläser sind viel schöner, jaja.“
„Und erinnerst du dich noch an…“
„Schon gut, Santa, sag, was du willst!“
„Ich will, dass du mir vertraust. Habe ich dich jemals im Stich gelassen? Habe ich dich jemals verraten?“
„Sag, was du wirklich willst!“
„Der Tempel der Drei Mächte! Ich weiß, dass es ihn gibt, aber was weißt du darüber?“
„Der Tempel des Meeres? Nicht mehr als du, dass muss dir doch bewusst sein. Irgendwas hatte es mit Arkterons heiligem Tier zu tun, jaja. Warum fragst du?“
Arkterons heiliges Tier? Was sollte das sein? Vermutlich eine stinkende Ratte! „Reine Neugierde. Ich habe mich den Mächten des Meeres auseinandergesetzt, habe alles verschlungen, was ich über sie finden konnte. Toras, ich möchte eurem Kult beitreten. Ich und einige Freunde, wir haben in ihren Lehren Erleuchtung gefunden.“
Meinte Santalion damit etwa sie, die Helden von Andor? Das war lächerlich, sie hatten Oktohan, eine der drei Mächte, getötet. „Du bist ein Jahr lang ausgerechnet in der Nähe von diesem Stinner, der unseren Kult zerschlagen will, und dann möchtest du plötzlich… aufgenommen werden? Das klingt sehr verdächtig, jaja. Das musst du doch verstehen!“
„Und deshalb, mein alter Freund, habe ich dich um Vertrauen gebeten. Bitte, wann findet die nächste Versammlung statt, wie kommt man dorthin?“
Erneut erklang dieses grauenhafte Schmatzen. „Also schön! Die nächste Versammlung ist in der Nacht nach dieser hier, jaja. Unser Heiligtum befindet sich unter einem leerstehenden Haus in der Böttchergasse, mit einem Dreieck über der Tür. Im Keller gibt es einen Zugang.“
„Danke, Toras! Bitte richte dem Kult aus, dass ich und meine vier Freunde ihn noch heute Nacht aufsuchen werden. Und selbstverständlich auch morgen, zu ihrer Versammlung.“
„Kann ich gerne machen, jaja. Aber wehe, du verrätst uns!“
Eilige Schritte erklangen und dann öffnete sich wieder die Tür. Thorn machte einen Schritt nach vorne, um Santalion abzupassen, wurde jedoch blitzschnell von Chada am Umhang gepackt. Zum Glück, denn es war nicht Santalion, sondern Toras, der Anhänger des Kultes, welcher herausgetreten war. So war Thorn im Schatten des Verschlags nicht auszumachen, hatte jedoch einen guten Blick auf den Mann.
Toras war dürr und klein zugleich, er trug eine verdreckte braune Hose und eine grobes Hemd, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr auszumachen war. Am schlimmsten war jedoch sein Kopf, denn sowohl die Glatze als auch das Gesicht waren mit feuerroten, feucht glänzenden Pusteln bedeckt, die im Nachtlicht ekelerregend schimmerten. Dann eilte die Gestalt davon und im nächsten Moment öffnete die Tür sich erneut und dieses mal kam wirklich Santalion heraus.
„Weshalb hast du gesagt, dass wir sie aufsuchen werden?“, fragte Thorn aufgebracht. „Wir kennen den Versammlungsort des Kultes und die Zeit ihres nächsten Treffens, wir hätten sie einfach stürmen können! Irgendeinen hätten wir schon erwischt, der uns mehr über diesen Tempel sagen könnte. Aber jetzt müssen wir den Kult schon vorher mindestens ein mal aufsuchen, um keinen Verdacht zu erregen. Verflucht, du hättest uns gar nicht erwähnen sollen!“
Santalion wartete, bis Thorn sich einigermaßen beruhigt hatte, dann erklärte er: „Ich dachte, wir schauen uns besser schon vorher mal dort um. Außerdem wäre es vielleicht nicht das beste, mit gezogenen Waffen hineinzustürmen.“
„Warum nicht? Hat der Kult Wachen? Tödliche Fallen?“
Santalion lächelte hintergründig und seine roten Augen funkelten. „Das würde mich sehr überraschen. Nein, ich hatte etwas anderes im Sinn. Aber lasst euch am besten überraschen.“
Doch mit dieser Antwort wollte Thorn sich nicht abspeisen lassen. „Man wird uns erkennen. Hast du daran auch schon mal gedacht? Ich war daran beteiligt, einen der unheiligen Götter dieses Kultes zu töten!“
Santalion behielt sein Grinsen bei und hob die Hände. „Zwei von uns tragen bereits einen Kapuzenmantel. Wenn der Rest es ebenso hält, können wir uns dadurch auch nicht mehr verdächtiger machen.“
Thorn schüttelte zornig den Kopf. „Wie sollen wir denn um diese Zeit an Kapuzenmäntel kommen? Wir wollen den Kult noch heute Nacht aufsuchen!“
Santalion starrte ihn ungläubig an. „Das hier ist Werftheim!“
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging los, das Gespräch schien für ihn beendet. Thorn holte tief Luft, doch Chada griff sanft seine Hand. „Beruhige dich, Thorn!“, sagte sie leise. Dann folgte sie dem jungen Mann und Thorn trottete schwer atmend hinterher.
Mondhoch, 20. Herbsttag 76 A.Z.
Untergassen in Werftheim, Hadrisches Meer
An geeignete Mäntel zu kommen, hatte sich tatsächlich als ziemlich einfach herausgestellt. Auch eine kleine Öllampe hatten sie noch erworben, mit deren Hilfe sie jetzt das gleichseitige Dreieck erkennen konnten, das über den Türrahmen der verfallenen Hütte gekerbt war. Durch die nach unten weisende Spitze wirkte es wie ein Pfeil, der sie geradewegs ins Innere der Hütte lenken sollte. Es war jetzt etwa fünf Stunden nach Sonnenuntergang, das bedeutete, sie hatten noch etwas weniger als zwei Tage, um den Tempel des Meeres, wie Toras ihn genannt hatte, aufzuspüren und dorthinzukommen. Thorn blickte die Straßen hinunter, doch zu dieser Zeit war selbst in Werftheim niemand mehr unterwegs. Santalion stand vorne und schirmte seine Augen gegen den Schein der Lampe ab, bis er sich entschloss, seine Gläser wieder zu benutzen. „Wollen wir?“, fragte er anschließend.
Das Innere der Hütte war unspektakulär. Alle Möbel, die hier früher einmal gestanden haben mochten, waren längst verschwunden und wahrscheinlich als Feuerholz wiederverwertet worden. Die Decke war kaum noch vorhanden und Thorn fürchtete, einer der verbliebenen maroden Balken könnte plötzlich abbrechen. Die einzige Besonderheit stellte der gemauerte Boden dar, doch der war unter einer dicken Dreckschicht kaum noch als solcher auszumachen. Eine ganze Reihe von verschiedenen Fußspuren verlief auf dem Boden, die zielstrebig zu einer deutlich erkennbaren Luke führte. Auch auf ihr prangte ein unsauberes Dreieck.
Santalion beugte sich herab, doch Thorn wollte nicht darauf vertrauen, dass der junge Mann mit seinen schmächtigen Armen sie stemmen konnte, also öffnete er sie still mit einer lässigen Handbewegung. Die Luke stellte sich allerdings als dermaßen leicht heraus, dass sie von Würmern zerfressen sein musste. Unwillkürlich fragte sich Thorn, ob sie es wohl aushielt, wenn sich jemand darauf stellte.
Santalion drehte den Kopf in seine Richtung und zog eine Augenbraue hoch, der Ausdruck in seinen Augen war wegen der grünen Gläser nicht zu erkennen. Dann stellte er die Lampe ab und kletterte ohne zu zögern an der wackeligen Leiter in die Tiefe. Thorn folgte als nächstes und bekam von Chada die Lampe gereicht. Während die Übrigen ebenfalls nach unten stiegen, ließ er den Lichtschein über schmucklose Ziegelwände und eine schiefe Türöffnung gleiten, die wohl ins Heiligtum führte.
Hinter der Tür veränderte sich der Keller plötzlich. Zwar war der ärmliche Raum, den sie nun betraten, noch immer aus rötlichen Ziegelsteinen gemauert, doch alles war regelrecht sauber. An der Wand brannte eine Laterne, und auf der den Helden gegenüberliegenden Seite befand sich eine weitere Türöffnung. Auf einem einzelnen Hocker saß eine ausgemergelte Gestalt, die beim Eintreffen der Neuankömmlinge den Kopf hob.
Thorns Gesicht war unter seiner Kapuze gut verborgen, und er hoffte, dass es bei den anderen ebenso war. Er erschauderte, als er den sitzenden Mann näher betrachtete. Seine Lider schienen nicht zu existieren, daher waren die schielenden Augen durchgehend geöffnet und starrten ohne zu blinzeln in die Gegend. Der Mund stand offen, die Zähne waren schwarz und verfault, und Speichel lief das Kinn hinab und tropfte auf das verschlissene Hemdchen. Seine komplette Haut war von roten Striemen bedeckt, die nicht natürlichen Ursprungs waren, und Thorn überlegte, ob im Kult der Drei Mächte wohl Selbstgeißelung praktiziert wurde. Auch wenn er keine Waffen bemerkte, wanderte Thorns Hand unmerklich näher zum unter dem Mantel verborgenen Schwert an seinem Gürtel. Der Wachtposten, so es sich denn um einen handelte, war allerdings anscheinend schon von Toras informiert worden, nuschelte etwas Unverständliches und ließ den Kopf wieder sinken.
Die Helden von Andor durchquerten den Raum und erreichten auf der anderen Seite einen langen Gang. Direkt neben der Tür hockte eine halb nackte Frau auf einem Haufen sauberen Strohs. Sie war ebenso ausgemergelt wie der Mann im letzten Raum. Kein einziges Haar spross aus ihrem Kopf und ihre Beine waren schwarz, vertrocknet, knorrig und tot. Ihr kahler Kopf lag auf ihrer Brust und sie schien zu schlafen. Auf der rechten Seite des Ganges befanden sich zwei Türen, die gemauerten Öffnungen ebenso schief wie alle bisherigen, doch die geschlossenen Holztüren waren passgenau gezimmert.
Die Gruppe durchquerte den Gang. „Was ist das hier nur für ein Ort?“, raunte Thorn Chada zu. „Alles hier ist krank und verdorben. Hier sammelt sich der Abschaum der Gesellschaft.“
Santalion blieb abrupt stehen und drehte sich zu Thorn um. „So könnte man es wohl auch sehen!“, zischte er verächtlich.
„Wie denn noch?“, erwiderte Thorn.
Santalion schüttelte ruckartig den Kopf. „Ich würde eher sagen, unsere Gesellschaft treibt ihren Bodensatz, ihren - wie habt Ihr es formuliert? - Abschaum, hierher. Ich sehe hier keine düsteren Kult, sondern eine Sammelstelle für die Entrechteten, die Geknechteten, die Ausgeschlossenen, die, die anders sind.“ Er wirbelte herum und fuhr fort, während sie ihren Weg fortsetzten. „Ich empfinde Abscheu bei diesem Besuch, Abscheu auf unsere Welt, die zulässt, dass diese armen Gestalten misshandelt und gequält werden. Habt ihr die Spuren der Gewalt gesehen, die Hagan angetan wurde?“, fragte er und Thorn wurde bewusst, dass er sich damit auf die Striemen des Wachpostens bezog.
Sie durchquerten die Tür in die nächste Kammer. Gleich zwei Lampen erhellten diesen Raum, den größten bisher. Erneut gab es zwei geschlossene Türen auf der rechten Seite, an der Rückwand befand sich ein großes, zweiflügliges Portal und links davon ein kleiner, offener Durchgang, der in einen dunklen Gang führte. In diesem Raum hielten sich gleich drei Personen auf, in der Mitte eine riesenhafte Gestalt, den Rücken zu ihnen gedreht, die einen Reisigbesen schwang und wohl den Grund für die Sauberkeit darstellte, und neben der zweiten Tür auf der rechten Seite zwei schwer erkennbare Personen, die eine groß und schlank, die andere klein, die in ein Gespräch vertieft schienen.
Santalion redete sich langsam in Rage, behielt seine gedämpfte Lautstärke jedoch bei. „Die Menschen können mitunter grausamer und gnadenloser sein, als man es sich vorstellen kann. Hierher kommen diejenigen, die Schutz vor ihrer Grausamkeit suchen. Diejenigen, die sich sogar von Mutter Natur verstoßen fühlen. Jeder hier hat eine Geschichte voller Brutalität und Trauer zu erzählen, kann berichten, welche Demütigungen und Qualen er selbst oder ein Freund erleiden musste. Wir Ausgestoßenen kennen einander. Toras zum Beispiel war einst ein erfolgreicher junger Söldner, dessen Wurfdolche immer ihr Ziel fanden, bis er eines morgens mit seinem Ausschlag erwachte. Von einem Tag auf den anderen hat er alles verloren. Oder seht ihr den Riesen da vorne? He, Bag!“, fügte er laut hinzu.
Der Mann mit dem Besen drehte sich schwerfällig um und Thorn erkannte, dass er nur aufgrund eines Buckels nicht noch größer war. Bag hatte eine hohe Stirn und vorstehende Augen, die verständnislos glotzten. Als sein Blick sich auf die fünf Gestalten in Kapuzenumhängen richtete, verzogen sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln. Er ließ den Besen fallen und trat einen gewaltigen Schritt nach vorne. Seine krummen Arme umschlossen Santalions Körper und drückten ihn fest, seine kolossalen Pranken tätschelten den Rücken. Bag brummte glückselig und ließ dann los, um mit den anderen Besuchern dasselbe zu tun. Danach hob er seinen Besen wieder auf und fegte weiter.
„Er ist wie ein kleines Kind, aber nach den Spuren auf seinem Körper zu urteilen wurde er eine Zeit lang als Ackergaul gehalten!“
Chada entfuhr ein unterdrückter Aufschrei und Drukil keuchte. Auch Thorn spürte, wie sein Herz sich zusammenzog, doch Santalion fuhr erbarmungslos fort: „Und die kleine Gestalt da drüben?“
„Ist das ein Kind?“, entfuhr es Thorn entsetzt.
Santalion lächelte bitter. „Nein, und auch kein Zwerg, obwohl Ausgrenzung bei ihnen vermutlich ebenso häufig vorkommt. Das ist Vudul. Er ist zwergenwüchsig. In der besten Zeit seines Lebens konnte er für einen Hungerlohn in einem Wanderzirkus unterkommen. Den Rest weigert er sich zu erzählen. Die Frau neben ihm ist Kanuta. Sie besitzt keine Absonderlichkeiten, aber sie hegt der Religion von Mutter Natur gegenüber einige … Antipathien, seit sie als kleines Mädchen von einem ihrer Priester…“ Er brach ab, doch auch so war allen klar, wie der Satz zu beenden war.
„Nein!“, hauchte Chada. „Welcher Priester würde so etwas tun? Wie kann er der Heiligen Mutter dienen und zugleich zu solchen Taten fähig sein?“ Santalion zuckte bloß mit den Achseln.
Thorn versuchte, die grausamen Bilder aus seinem Kopf zu verdrängen. „Weshalb erzählst du uns das alles?“, fragte er.
Santalion hob eine Augenbraue. „Weil ich euch zeigen wollte, weshalb ich dagegen war, dass wir uns hier mit Waffen Zutritt verschaffen.“
Santalion führte sie durch das Portal. Dahinter lag ein großer Raum mit nur einem kleinen Ausgang auf der anderen Seite. Bis auf die mitgebrachte Lampe war es stockdunkel. Einige einfache Bänke und Tische waren hier aufgestellt, an einem Ende befand sich ein steinerner Altar, der mit einem groben blauen Tuch bedeckt war. An den Wänden hingen Holztafeln, auf die in einfachen Formen Bilder geschnitzt waren. Thorn trat zu einer und hörte nur mit halbem Ohr, wie Santalion flüsterte: „Und hier haben wir wohl den Ort, an dem ihre Messen gefeiert werden. Ich denke, damit wissen wir genug, um morgen wiederzukommen. Ich bin zuversichtlich, dass Ihr alles erfahren werdet, was wir wissen wollt.“ Thorn beugte sich näher zu einer der Tafeln herunter und betrachtete das grobe Schnitzwerk. Zu sehen war die Figur einer Frau mit Schlangenkörper, die ein großes Schwert schwang.
Plötzlich öffnete sich das Portal und ein kleiner Mann ohne besondere Auffälligkeiten betrat die Halle. Er blickte verwundert auf die Anwesenden, doch als sein Blick auf Leanders blaue Haut fiel, lächelte er wissend. Unter den Ungewöhnlichen ist Auffälligkeit die beste Tarnung, schoss es Thorn durch den Kopf.
„Willkommen im Kult der Drei Mächte. Ich bin der Ehrwürdige Satarus, einer der drei Priester hier. Ihr müsst die Neuen sein, von denen Toras berichtete. Hier werdet ihr eine neue Heimat finden und die Schrecken der Welt hinter euch lassen, wenn ihr es wünscht. In unserer Mitte gibt es niemanden, der euch verletzen wird.“
Santalion holte tief Luft, doch Thorn brachte ihn mit einem warnenden Kopfschütteln zum Schweigen. Auch er hatte überlegt, dass dieser Priester vielleicht mehr über den Tempel des Meeres wissen könnte. Aber es war zu riskant, sich jetzt schon verdächtig zu machen. Morgen wäre der gesamte Kult versammelt, eine bessere Gelegenheit gab es nicht.
Der Ehrwürdige Satarus ging zu Thorn, betrachtete jedoch glücklicherweise nicht sein Gesicht, sondern die hölzerne Tafel an der Wand. „Du beschäftigst dich schon mit den Mythen des Kultes, wie ich sehe. Dieses Bild zeigt die göttliche Kenvilar, wie sie mit dem Heiligen Schwert Land von Wasser trennt und die Welt ordnet.“
Der Priester blickte Thorn erwartungsvoll an. Der räusperte sich und antwortete dann notgedrungen: „Die Weisheit in Euren Worten erleuchtet mich!“
Satarus runzelte die Stirn. „Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, noch mal jemand neuen zu treffen, der voller Inbrunst an das alles hier glaubt. Meine persönliche Einschätzung ist eher, dass die meisten Geschichten hier nach dem Genuss von berauschenden Kräutern entstanden sind. Aber ich werde dir nicht hineinreden, jeder sollte seine Verehrung zu den Drei Mächten auf die Art äußern können, die er für angemessen hält. Du kannst mich übrigens mit Du ansprechen, wir sind doch jetzt eine Familie. Wie heißt du, Bruder?“
Sie hatten sich auf dem Weg hierher falsche Identitäten ausgedacht, doch plötzlich war Thorns Kopf wie leergefegt. Er versuchte, eine glaubwürdige Antwort zu finden. Es gab doch wohl genug Namen, irgendeiner musste ihm einfallen!
Zum Glück sagte der Priester in diesem Moment: „Nein, du brauchst nichts zu sagen. Morgen Abend ist hier eine Versammlung des Kultes. Am besten, ihr stellt euch dort vor, dann müsst ihr nicht alles wiederholen. Ich lasse euch jetzt in Ruhe alles hier erkunden.“ Satarus drehte sich gemächlich um und verließ die Halle.
Santalion stellte sich zu Thorn und raunte: „Nicht ganz der grausame Kult, der regelmäßig Menschenopfer darbringt und das Blut von unschuldigen Jungfrauen schlürft, den Ihr erwartet hattet, was? Wo sind sie, die verblendeten Eiferer, von denen Ihr spracht?“
Später Vormittag, 21. Herbsttag 76 A.Z.
Hafen von Werftheim, Hadrisches Meer
Am nächsten Tag standen sie alle erst um die Mittagszeit auf. Bis zum Abend hatten sie nicht viel zu tun, also besprachen sie noch kurz den recht einfachen Plan. Sie würden sich, ebenso wie gestern, als Gläubige in den Kult einschleichen, der Versammlung beiwohnen und anschließend versuchen, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, um mehr über den Tempel herauszufinden. Falls sie vorher erkannt werden sollten, würden sie sich ihre Informationen notfalls mit Gewalt holen, der Kult hatte keinen allzu gefährlichen Eindruck gemacht und vielleicht würde schon der Anblick ihrer Waffen ausreichen, um jemanden zum reden zu bringen.
Nach der Besprechung ging Santalion, der sich in Werftheim am besten auskannte, einige Matrosen anheuern, mit denen sie in See stechen könnten, denn wer wusste schon, wie weit dieser Tempel von Werftheim entfernt war. Es wäre töricht, sich auch in Zukunft auf gute Winde zu verlassen.
Währenddessen ging Drukil mit Leander die Stadt erkunden und Thorn und Chada besuchten den Markt Werftheims, noch von ihren letzten Besuchen wussten sie, dass es hier die interessantesten Dinge aus aller Welt zu kaufen gab.
Sie schlenderten im Sonnenschein durch das bunte Getümmel voller Farben und Gerüche. Neben einem Stand, an dem Honigwein angeboten wurde, bat Thorn Chada zu warten, denn er musste eilig austreten. Als er zurückkam ging er auf direktem Wege zum Stand zurück, doch plötzlich erspähte er aus dem Augenwinkel einen bekannten Kapuzenmantel. War das etwa Santalion? Er wollte doch am Hafen nach Seeleuten suchen? Die Gestalt drehte sich um und Thorn erkannte die unverkennbaren grünen Augengläser. Er selbst wurde seinerseits anscheinend nicht gesehen, denn Santalion drehte sich wieder um und ging weiter. Was machte er hier? Aber gut, vielleicht hatte er am Hafen keine freien Matrosen gefunden und durchstreifte jetzt die Stadt auf der Suche nach welchen. In diesem Moment blickte Santalion erneut zurück. Es schien, als würden die Gläser seine Sicht einschränken, denn er bemerkte Thorn offensichtlich nicht. Es war dieser erneute Blick über die Schulter, der Thorns Misstrauen weckte.
Santalion zwängte sich durch die Menge und Thorn überlegte, was er jetzt tun sollte. Zu Chada gehen und ihr berichten? Aber was denn, bisher war ja noch nichts geschehen. Und bis dahin wäre der junge Mann garantiert verschwunden. Also heftete Thorn sich an die Fersen Santalions, der den Markt schon bald verließ und ins unübersichtliche Labyrinth der Gassen eintauchte. Hier waren nicht mehr so viele Leute unterwegs, daher musste Thorn aufpassen, um nicht gesehen zu werden. Doch so klug und schlagfertig Santalion auch sein mochte, in diesem Fall versagte er vollständig und bemerkte seinen Verfolger nicht.
Wohin Santalion ging, begriff Thorn erst, als er vorsichtig um eine scharfe Ecke bog und die armselige Hütte erblickte. Dass diese Stadt im Hellen aber auch so anders aussehen musste! Santalion blickte nochmals vergeblich zurück, dann klopfte er an die schiefe Tür und trat ein. Thorn rannte möglichst leise zum Verschlag und umrundete ihn umständlich. Weshalb suchte Santalion Toras erneut auf? Warum hatte er ihnen nichts davon berichtet? Die Lauschstelle, die Santalion ihnen gezeigt hatte, funktionierte immer noch bestens. Thorn presste lautlos sein Ohr auf die Holzwand und schloss die Augen.
„… dieses mal ungestört, Santa? Oder wieder ungebetene Lauscher?“, fragte Toras mit seiner üblichen quäkenden Stimme.
„Nicht, dass ich wüsste. Ich dachte gestern schon, du kapierst es nicht. Meine Anspielungen hast du alle überhört.“
„Jaja, aber dafür waren deine Gesten recht eindeutig.“
„Diese Pantomime war die letzte Möglichkeit, mich dir mitzuteilen. Ich konnte schlecht laut sagen, dass wir belauscht werden.“
„Wer waren sie? Die gleichen, die du in den Kult gebracht hast?“ Keine Antwort, aber wahrscheinlich hatte Santalion genickt. „Warum wolltest du, dass sie denken, du wärest neu im Kult? Wenn du ihnen doch genug vertraust, um sie dann einzuschleusen.“
Thorn schnappte nach Luft. Sollte das etwa heißen, dass Santalion nicht neu im Kult war? Dass er schon früher Mitglied gewesen war? Die Entrechteten, die Geknechteten, die Ausgeschlossenen, die, die anders sind. Ein Aussätziger, ein zurückgebliebener Riese, ein Zwergenwüchsiger. Würde ein Verfluchter nicht perfekt in diese Reihe passen? Und wie kam es eigentlich, dass Santalion zu jedem im Kult Namen und Hintergrundgeschichte gewusst hatte? Wir Ausgestoßenen kennen einander. Was waren sie doch für Idioten! Das war die verdammte Müdigkeit, gepaart mit den grauenhaften Geschichten, die Santalion ihnen erzählt hatte. Aber wie viel davon entsprach eigentlich der Wahrheit und wie viel war frei erfunden?
„Ich habe sie nicht eingeschleust, weil ich ihnen vertraue, Toras!“
„Jaja, das war wohl klar, sonst hättest du ihnen alles sagen können. Aber warum dann?“ Toras schmatzte laut. „Santa, ich habe einige beunruhigende Gerüchte über ihre Identität gehört. Satarus sagte, einer von ihnen hatte blaue Haut. Begleitet so jemand neuerdings nicht auch die Helden von Andor?“
Toras spie dieses Wort mit so viel Hass aus, dass Thorn unwillkürlich zusammenzuckte. Dabei stieß er an die Wand, an die er sein Ohr presste. „Santa, hast du das auch gehört? Was war das?“ Thorn hielt die Luft an.
Nach einer Weile atmete der Verfluchte - jede von Thorns Hemmungen, ihn so zu bezeichnen, war plötzlich verschwunden – tief ein und sagte: „Vermutlich nur eine Katze.“
„Jaja, nun gut. Aber sag, wer sind sie? Sind sie es wirklich?“
„Ich… ja, sie sind es wirklich.“
„Was?! Santa, wie konntest du so leichtsinnig sein. Wenn ich nicht genau wüsste, dass du uns schon längst alle an Stinner hättest ausliefern können, ich hätte dir Verrat unterstellt. Nach Oktohans Tod ist deine ganze Familie aus dem Kult verschwunden, sogar Cera! Und jetzt kommst du ausgerechnet mit denen zurück, die den göttlichen Oktohan ermordeten?“
Als Santalion antwortete, kam seine Stimme direkt von der anderen Seite der Wand und Thorn gab sich Mühe, noch leiser zu sein. „Aber genau das ist doch der Grund, Toras! Sie haben den König der Tiefe vernichtet! Und jetzt können wir Rache nehmen. Sie vertrauen mir, ich locke sie in den Kult und dort bereiten wir eine Falle für sie vor!“
„Eine Falle für die Mörder Oktohans? Sie werden uns mühelos besiegen!“
„Vertrau mir, mein Freund! Wir können hier und jetzt alles Weitere besprechen. Aber zuvor muss ich noch etwas überprüfen.“
Thorn begriff zu spät. Als die klapprigen Bretter nach Santalions Tritt nach außen fielen, war es nicht mehr möglich, sich zu verstecken. Er betrachtete den Verfluchten vor sich. Santalion blickte ihn gequält an. „Doch keine Katze also. Thorn, bitte, ich weiß nicht wie viel Ihr gehört habt, aber lasst uns versuchen, eine Erklärung zu finden …“ Thorn durchdachte seine Möglichkeiten. Santalion war noch unbewaffnet, doch Toras hatte schon in jeder Hand einen Dolch. Wahrscheinlich könnte er die beiden besiegen, aber dieses wahrscheinlich genügte nicht. Er musste ganz sicher gehen, dass er Chada und die anderen warnen konnte. Flucht war also wichtiger, als diesen Kampf zu gewinnen. Er sprang zurück, ergriff mit der Linken die Dachkante der Hütte hinter sich und zog sich daran hoch. Santalion versuchte, seinen Umhang zu erhaschen, doch zu spät. Die beiden könnten ihn nicht mehr einholen. Er zog sich am Dach hoch, um darüber zu verschwinden, doch in diesem Moment flog etwas Silbernes durch die Luft und bohrte sich in Thorns Hand. Schmerzerfüllt schrie der Krieger auf und ließ los. Wurfdolche! Toras benutzte Wurfdolche, das hatte Santalion selbst erzählt!
Er schlug hart auf dem Boden auf und die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Sein Kopf musste auf einen Stein geknallt sein, denn ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte seinen Schädel. Sein Blickfeld wurde an den Rändern dunkel.
„Jaja, den habe ich gut erwischt. Und hiermit beginnt unsere Rache!“, klang aus weiter Ferne eine triumphierende Stimme.
„Nein! Tu das nicht! Toras, halte ein, wir brauchen ihn noch!“ Das letzte, was Thorn noch wahrnahm, war das Gesicht Santalions, das sich über ihn beugte. Die Augengläser waren verschwunden und die roten Augen musterten ihn besorgt. Dann verschwand auch dieses letzte Bild und er nahm gar nichts mehr wahr.