Reka hatte sich nicht sehr verständnisvoll gezeigt und Leander keine Phiole von Maros Gift überlassen. Am Ende hatte Leander gar heimlich bei Rekas Schülerin Chada vorstellig werden müssen – ein Fakt, der ihn nicht mit Stolz erfüllte. Chada hatte ihm liebend gerne ein bisschen von Maros Gift gezapft und überreicht (natürlich ohne zu wissen, dass dies gegen Rekas Wünsche ging). Immerhin war bei solchen Aufträgen auf die Helden von Andor Verlass.
Nun stand Leander wieder in seiner Hütte und hielt in seinen Händen eine kleine Phiole mit schwarzen Schlangengift. Vypera-Gift, um genau zu sein. Als er und Callem noch klein gewesen waren, hatten sie gerne den Stummen Wald Narkons erkundet. Nun, der aufmüpfige Callem hatte das gerne getan, Leander war ihm meistens nur hinterhergestolpert.
So war es eines Tages gekommen, dass Leander auf eine Vypera gestoßen war und sich einen Biss eingeholt hatte. Einzig Callems rasches Eingreifen hatte sein Leben damals gerettet – sein Bruder hatte die Schlange mit einem einzigen Streich seines Dolchs aus dieser Welt befördert und sich dann rasch daran gemacht, Leanders Bein abzuschnüren.
„Nicht aufgeben, Leander. Guck mich an. Bleib bei mir!“, ertönte die ruhige Stimme Callems aus seinen Erinnerungen. Leander versuchte, nicht daran zu denken, wie es Callem wohl ging. Was, wenn ihn in der Zwischenzeit eine Vypera erwischt hatte und Callem sich nicht mehr daran erinnerte, wie man mit einer solchen Wunde umging? Hatte Varatans Fluch Callem und dessen Crew schon in den Wahnsinn getrieben? Waren sie überhaupt noch am Leben? Leander verwarf die aufblubbernden Sorgen gekonnt, wie er es schon so oft getan hatte, und wandte sich wieder dem Gift von Rekas silberner Hausschlange zu.
Vypera-Gift wirkte paralysierend und konnte zum Tod führen. „Schwarzes Eis“ wurde es in den zwielichtigen Kreisen des Nordens genannt, und nur ein rechtzeitig eingenommenes Gegengift konnte einen vor größeren Schäden bewahren. Leander hatte sich fest vorgenommen, das Gegengift nicht einzunehmen, ehe er erfuhr, wie er Callem befreien konnte.
Das Gegengift stand ein bisschen abseits in einem Flakon, den Leander einem fahrenden Händler namens Naraven abgekauft hatte. Trotz dessen Anwesenheit war das Unterfangen, das Leander plante, ein äußerst gefährliches. Das schien ja von Nöten zu sein, um seine Visionen zu triggern. Es konnte nur hoffen, dass er, wenn er sich nun Vypera-Gift einverleibte, eine Vision Callems empfangen würde. Es mochte eine exakte Wissenschaft gewesen sein, die Sprache der Zukunft zu erlernen, aber die Visionen der Zukunft auszulösen, das konnte er mit seinen aktuellen Kenntnissen noch nicht in genaue Regeln gießen. Er erinnerte sich daran, wie er sich einst mit Reka darüber gestritten hatte, wie schwammig die Lehre des Zukunftlesens doch war. Vielleicht hatte doch ein Ansatz der Wahrheit in den Worten der Kräuterhexe gelegen.
Sorgfältig zückte Leander seinen Dolch, wägte ein letztes Mal ab zwischen den Risiken seines Vorhabens, seinem Vertrauen in dessen Gelingen und seiner emotionalen Verbindung zu Callem. Dann atmete er tief durch, nannte sich selbst einen Narren und fuhr den Dolch durch seinen linken Handrücken. Diese Extremität könnte er wohl am problemlosesten verlieren, zum Laufen brauchte er beide Beine und rechts war seine dominante Seite.
Die Wunde brannte in der kühlen Abendluft. Leander stellte sich vor, wie sein blaues Blut auf den Boden tropfte. Alsbald steckt Leander sich einen Lederriemen in den Mund, biss darauf und ließ sorgfältig einige Tropfen des schwarzen Vypera-Gifts in die offene Wunde tropfen.
Normalerweise war Leander sehr geschickt darin, Schmerzen zu unterdrücken, aber das Vypera-Gift bot ihm diesbezüglich keine schlechte Herausforderung. Hinzu kam noch, dass Leander beim Kontakt mit dem Gift der Vorfall aus seiner und Callems Kindheit wieder vors innere Auge geführt wurde, was alles andere als angenehm war. Ein unterdrücktes Stöhnen entfuhr seiner Kehle.
Schon breitete sich ein Gefühl der Steifheit in Leanders Hand aus und strahlte in seinen Arm.
Dann wurde alles farbig.
Es war kalt. Und es war laut. Schnee und Wind peitschten in Leanders Gesicht, zerrten seine Kapuze von seinem Kopf und ließen sein langes schwarzes Haar umherwehen. Haar, das er schon seit Jahrzehnten nicht mehr besaß.
Er bibberte. Er schien sich in Hadria zu befinden, dem magischen Land von Eis und Schnee. Aus der Ferne war ein animalisches Röhren zu hören. Schreie und Rufe. Meereskreaturen, die dem aufgewühlten hadrischen Meer entstiegen. Nachtgors, die sich an den Schafherden und Einwohnern Hadrias weideten. Ein Trauerfest.
Doch nicht nur das Gebrüll der Kreaturen und die Hilferufe der Hadrier vernahm Leander. Nein, weiter draußen im Meer, so weit draußen, dass man es kaum mehr durch die Schneeschauer erblicken konnte, zuckten Blitze aus dem Himmel und erhellten die Silhouetten mehrerer gut gerüsteter Schlachtschiffe. Von dort waren weitere, eigenartigere Geräusche zu vernehmen:
Der Wind heulte mit einer Stimme, die Flüche vom Himmel schleuderte.
Das Meer flüsterte mit einer zischenden Stimme, die den Kreaturen Schwachstellen an den Schiffen verriet.
Und aus den Tiefen des Abyss erklang ein dumpfes Tröten, welches Leander gehofft hatte, nie wieder in seinem Leben zu vernehmen.
Arkteron, Kenvilar und Oktohan.
Die drei Mächte des Meeres waren entfesselt worden.
Leanders Vision zeigte ihm Hadria zu jener Zeit, als Seekönig Varatan die Mächte herausgefordert hatte. Seine Seefeste Klippenwacht war damals zu einer Ruine degradiert worden. Sein Volk hatte nach Werftheim flüchten müssen, auch wenn diese Nebelinsel damals noch nicht so geheißen hatte. Und die Heere der Mächte des Meeres hatten ihren Blick auf den Ort gerichtet, von dem Varatan seine magischen Waffen erhalten hatte. Hadria wäre in jenen Tagen beinahe überrannt worden. Und auch wenn damals das grausame Opfer Orweyns die Mächte hatte besänftigen können, hatten die Mächte Schnee und Eis mit sich gebracht, welches Hadria bis an den heutigen Tag noch bedeckten.
Warum erinnerte diese Vision ihn an jene schreckliche Zeit? Leander war damals dort gewesen, hatte den Angriff der Mächte mit eigenen Augen gesehen. Leander mochte es nicht, an diese Zeit zurückzudenken. Es war ein Gemetzel gewesen, ein sinnloses Gemetzel.
Orweyn, der mächtigste aller Zauberer, der einst den drei magischen Waffen in der hadrischen Unterwelt ihre Kraft verliehen hatte, hatte als erster erkannt, dass Varatans hochmütige Schlacht gegen die Mächte des Meeres nicht mehr gewonnen werden konnte. Er hatte als erster erkannt, dass die Dunkle Magie, die den magischen Waffen ihre Kraft verlieh, stets ihren Preis forderte. Und so hatte Orweyn sich vorgenommen, die magischen Waffen und jeden, der von der Dunklen Magie wusste, aus dieser Welt zu schaffen. Er hatte in Windeseile den Eisernen Turm erbauen lassen. Und kaum hatte dieser magische Turm über der Feste von Yra gethront, hatte Orweyn eine Versammlung der Festenbewohner einberufen, die das Schicksal Hadrias maßgeblich bestimmen sollte.
Leander erinnerte sich an eine andere Versammlung, die zeitgleich stattgefunden hatte. Er war als interessierter Gelehrter nach Hadria gezogen, nachdem Callem sich der finsteren Kenvilar und der Piraterie verschrieben hatte und Leanders Familie in Varatanien in Verruf geraten war. Leander hatte auch nur als interessierter Gelehrter der Versammlung einiger Magier in Nordgard beigewohnt, die sich ob der nicht abschwächen wollenden Angriffe der Kreaturen zu beraten ersuchten. Mit einem Krachen war Orweyn in der Runde erschienen, seinen grün schimmernden Hammer in der Hand und ein wirres Glitzern in den Augen.
„Die Mächte des Meeres müssen mit einem Opfer besänftigt werden!“, hatte er gegen den heulenden Wind aus dem Schlund Arkterons gebrüllt, „Ein jeder, der von der Dunklen Magie Kenntnisse besitzt, möge mir folgen! Die Magischen Waffen müssen weggesperrt und unser Wissen über sie getilgt werden. Wir versammeln uns bei der Feste von Yra und beenden diese Perversion der Natur ein für alle Mal!“
Eine junge Zauberin war aufgestanden und hatte protestiert. Orweyn hatte nicht lange gefackelt und seinen Hammer auf die Adeptin geschleudert. Leander hatte von Glück reden können, dem ausbrechenden tödlichen Getümmel lebendig entkommen zu sein.
Das nächste Mal, als er Orweyn erblickt hatte, hatte dieser sich eine üble Wunde am Bein zugezogen, aber zusätzlich zu seinem Hammer auch Varatans Helm errungen und eine Handvoll ähnlich denkender (oder aus reiner Furcht mit ihm mitziehender) Zauberer um sich geschart. Gemeinsam war diese Horde durch Nordhom gezogen, hatte Häuser gestürmt und jeden Zauberer gemordet, der sich ihnen nicht anschloss. Sie richteten insgesamt mehr Schaden an als die Armeen von Kreaturen, denn letztere hatten sich zu diesem Zeitpunkt größtenteils ins Meer zurückgezogen, wo die finstere Kenvilar verblüfft zugesehen hatte, wie Orweyn ihre Arbeit für sie tat.
Leander hasste Kenvilar dafür, seinen Bruder auf ihre Seite gelockt und dann im Stich gelassen zu haben. Doch noch mehr hasste er Varatan dafür, den Fluch über Narkon gesprochen zu haben. Wie er Orweyn mit Varatans Helm auf dem Kopf erblickt hatte, hatte er gehofft, dass Varatan inzwischen gefallen sei. Doch dem war nicht so gewesen. Varatan hatte den Untergang seines Flaggschiffs, der Tambur, irgendwie überlebt und sich durch das eisige Wasser des hadrischen Meers an die hadrische Küste geschleppt. Und Kenvilar, die Tückische, hatte von ihm abgelassen.
Damals hatte Leander sich gefragt, warum Kenvilar Varatan nicht nachgetragen hatte. Eine ihrer Töchter war genau wie Callem Teil der Besatzung der Schwarzen Kogge und nun schon seit Generationen auf Narkon gefangen. Hätte Kenvilar Varatan damals den Rest gegeben, so wäre die Besatzung und ihre Tochter vermutlich schon längst wieder auf freiem Fuß.
Heute hingegen fragte sich Leander, ob Kenvilar damals geahnt hatte, welche ungeahnten Ausmaße von Tod und Verderben Varatans Brut in diese Welt setzen würde. Vielleicht war die Menge an Pein, die der Dunkle Magier Varkur in diesen Landen verbreiten würde, in ihren Augen wertvoller als die Freiheit ihrer Tochter? Wer konnte schon wissen, ob ihre Tochter ihr überhaupt etwas bedeutete? Wer konnte schon wissen, ob sie überhaupt wollte, dass die Magischen Waffen unter Verschluss blieben? Vielleicht hätte sie es geliebt, wenn ein mächtiger Zauberer mithilfe der Waffen zu einer vierten Macht des Meeres aufgestiegen wäre.
Orweyn war sich jedenfalls sicher gewesen, dass die einzige Lösung für die drohende Gefahr darin bestand, die Magischen Waffen und alle überlebenden Dunklen Magier im einzig dafür erbauten Eisernen Turm einzuschließen. Nur einer hatte sich vor seinem Mob verstecken können. Zoren hieß er, ein einsamer Einzelgänger, welcher sich bereits seit einem gewaltigen Streit mit dem großen Orweyn von der Zauberergemeinschaft zurückgezogen und in seiner Spitzburg verschanzt hatte. Paranoid, wie er war, hatte er sich beim ersten Anzeichen von Trubel an einem anderen geheimen Ort versteckt, wo selbst die Zauber seiner einstigen Kollegen ihn nicht hatten aufspüren können. Leander hatte mit angesehen, wie Zoren in der Ruhe nach dem Sturm fassungslos durch die Gegend gestolpert war. Anschließend hatte er sich in seine Spitzburg zurückgezogen und war der Legende nach seither nie mehr hervorgetreten. Was er wohl den lieben langen Tag so trieb?
Leander hatte so lange in seinen Erinnerungen geschwelgt, dass ihm erst jetzt wieder bewusst wurde, dass er sich immer noch in einer Vision befand. Einer Vision, die durch Vypera-Gift induziert worden war. Wie lange war er bereits hier? Wie erging es seinem Arm? Er musste weiterziehen.
Die Vision klärte sich ein wenig und Leander Blick fiel auf den Innenhof der Feste von Yra. Niedere Zauberer rannten schreiend umher und trauerten über den Leichnamen ihrer gefallenen Kameraden. Dort drüben umarmte der junge Koraph schluchzend den Körper eines jungen Mannes und versuchte verzweifelt, eine Wunde an seiner Seite zu schließen, die den Zauberer schon längst aus dem Reich der Lebenden befördert hatte. Weit oben in den Himmel ragte der Eiserne Turm, und ein türkises Glühen umgab ihn.
Da oben stand Orweyn, vor dem Eingang zum Turm, seinen Hammer der Stärke locker an seiner Seite haltend, Varatans Helm der Macht auf dem Kopf und Varlion das Flammenschwert hoch in den Himmel gereckt. Er schubste gerade Hombudt, den Zauberer des Raums, ins Innere des Eisernen Turms.
Neben Orweyn rollte ein Braumeister der Feste von Yra ein riesiges Eichenfass ins Innere, aus dessen Seite einige Eiszapfen stachen. Über was für einen sagenumwobenen Inhalt mochte dieses Fass wohl verfügen?
Leander wusste genau, was als nächstes geschehen würde: Orweyn würde gen Himmel blicken und seine letzte Prophezeiung verkünden, mit den Magischen Waffen in den Eisernen Turm steigen und den Turm von innen verschließen, sich und alle überlebenden Dunklen Magier darin festsetzen und damit dem sicheren Hungertod überlassen. Der Turm würde verschlossen bleiben, bis sein Eingang Jahrzehnte später durch Varkur gesprengt werden würde – und auch dann würden die Magischen Waffen dort drinnen verbleiben.
Wie erwartet, reckte Orweyn seinen Hammer und das Flammenschwert gen Himmel und begann, zu seine Prophezeiung zu intonieren:
„Wenn Feuer und Turm miteinander ringen, das Ende aller naht, denn Qurun wird sie bezwingen.“
Qurun war ein hadrisches Wort für das Ende der Welt, die Personifizierung des Bösen, soviel wusste Leander. Doch nun änderte sich die Vision abrupt. Leander verlor kurzzeitig die Orientierung. Als er wieder aufblickte, sah er immer noch den Innenhof der Feste von Yra, doch aus einen anderen Perspektive. Und er nicht mehr Leander. Er war Orweyn. Er blickte durch die Augenlöcher in Varatans Helm der Macht auf eine gelb gefärbte Welt und hielt die beiden anderen magischen Waffen in seiner linken und rechten Hand. Leander spürte Orweyns Entschlossenheit und irre Gewissheit ebenso wie das Brennen der Wunde an seinem rechten Bein, das ihm jemand zugefügt hatte. Ob es Varatan oder ein elender Zauberer gewesen war, wusste er nicht mehr. Es war auch nicht relevant.
Durch Orweyns innere Augen erhaschte Leander einen Blick auf die Vision, die Orweyn damals empfangen hatte, und plötzlich war Qurun nicht mehr nur ein Ausdruck für das Ende der Welt, nein, er hatte ein Bild dazu vor sich: Eine riesige, schattenhafte Gestalt mit spitzen Klauen, langen Zähnen und Augen wie glühender Glut. Gewundene Hörner erhoben sich aus dem schwer im Schatten auszumachenden Schädel, und riesige Flügel trugen das Biest durch die Lüfte.
Unter dem grässlichen Wesen Qurun sah Leander Zauberer des Turms und des Feuers sich gegenseitig bekämpfen, auch wenn Orweyn ihnen diese Begriffe noch nicht zuordnen konnte. Sie schleuderten magische Blitze und Drachenfeuer aufeinander, während über ihren Köpfen Qurun lachte und sich auf dem Eisernen Turm niederließ.
Von Schrecken und Grauen erfüllt, zog sich Orweyn aus dieser düsteren Vision zurück, trennte sich wieder von Leander und verschwand im Innern des Eisernen Turms. Er sprach einige Worte in der Alten Sprache und das riesige Tor fiel krächzend ins Schloss, oder besser gesagt versiegelte sich magisch, denn ein Schloss gab es an diesem Tor gar nicht. Es war nie gedacht gewesen, dass dieser Eingang je wieder geöffnet wurde.
Die Schreie und das Stöhnen der Zauberer im Turm verstummte augenblicklich, das der Zauberer außerhalb blieb hingegen bestehen. Eine türkise Aura umwogte den Eisernen Turm nun, zog Schnee und Eis mit sich und hob diese Schwaden weit in den Himmel. Und wie diese himmelblaue Wogen in den Himmel getragen wurden, schwächte der Sturm, der über Hadria wogte, leicht ab. Die Mächte des Meeres waren besänftigt worden.
Doch Leander achtete nicht darauf. Nein, Leander sah vor seinem inneren Auge weiterhin die Vision, deren Anfang Orweyn gesehen hatte. Er sah, was Orweyn gesehen hätte, wenn er nur ein klein wenig länger mit dem Versiegeln des Turms gewartet hätte. Leander erblickte einige kleine Gestalten, die sich diesem grässlichen Geschöpf namens Qurun näherten und es zurückdrängten. Dort, dieser kleine grüne Bogenschütze, der Varatans Helm der Macht auf dem Kopf trug und gleich drei Pfeile auf einmal im schattigen Leib versenkte, das musste Chada aus dem Wachsamen Wald sein. Dieser Zauberer des Turms, der Varlion das Flammenschwert auf Qurun richtete und einen mächtigen Feuerstrahl in dessen Brust beschwort, das war Eara aus dem Hohen Norden. Oder der Krieger mit dem kalten Blick, der Orweyns Hammer der Stärke auf das Schattenwesen schleuderte, das war höchstwahrscheinlich Thorn aus dem Rietland. Die Helden von Andor, hier in Hadria, mit den Magischen Waffen gegen Qurun kämpfend? Kurz war Leander überrascht, dann lachte er auf. Nun, wer wäre schon so todesmutig, wenn nicht sie? Und wer hatte bessere Chancen, sich Qurun zu stellen?
Dann flackerte die Vision erneut etwas und zeigte Leander das Ende des Kampfes. Qurun sank besiegt zu Boden, die Schatten versiegten und anstelle des riesigen Ungetüms lag nur noch eine kleine Gestalt in einem grauen zerrissenen Gewand im kalten Schnee.
Leander erkannte im grässlichen Geschöpf namens Qurun den ältesten Widersacher der Helden von Andor.
Varkur, der Dunkle Magier.
Er war Qurun gewesen.
Und die Helden hatten ihn besiegt.
Varkur richtete sich mit letzter Anstrengung aus, spuckte Blut und rief etwas in den heulenden Wind. Dann sank Varkur, Sohn des Varkmar, in dunklen Nebel und schied aus diesem Leben.
Leanders sehendes Auge verschloss sich.
Nur langsam kam Leander wieder zu Besinnung. Als erstes merkte er, dass er auf seinem Hüttenboden lag und ihm der bittere Geruch nach Sternkraut in sein Riechorgan stach. Dann erinnerte er sich an seinen Plan, eine Vision über Callem zu erhalten. Der Plan hatte funktioniert. Das schwarze Gift hatte es tatsächlich geschafft, eine Vision zu triggern! Eine ungewöhnlich lebhafte und ungewöhnlich lange war es gewesen, und erneut hatte er in die Vergangenheit statt in die Zukunft geblickt.
Erschrocken wurde ihm bewusst, dass er zwar Maros Gift, nicht aber das Gegenmittel eingenommen hatte. Wie viel Zeit war vergangen? War seine Hand noch zu retten? Rasch versuchte er, sich aufzurichten, da traf ihn eine Hand unsanft auf der Brust und hinderte ihn daran.
„Ts, Ts, Ts“, erklang ein kritisches Schnalzen, „Wenn ich dir deinen Wunsch nach Schlangengift verweigere, hat das einen Grund. Das heißt nicht, dass du stattdessen einfach mein Mädel danach fragen sollst.“
Reka. Natürlich hatte Reka ihn gefunden.
Leander sank seufzend auf den Boden zurück. Erleichtert, dass sein Leben nicht mehr in Gefahr war. Aber auch furchtsam vor den Worten der Hexe. Und diese war noch nicht fertig mit ihm. Sie sprach weiter, und zum ersten Mal konnte Leander nicht einmal den Ansatz von Humor in ihrer Stimme erkennen:
„Du kannst von Glück sprechen, dass Chada mir rechtzeitig davon berichtet hat. Wenn ich einige Minuten später hier aufgekreuzt wäre, hätte ich dich nicht wieder zurückbringen können.“
„Ich habe doch gar nichts gesagt“, erklang die protestierende Stimme Chadas aus dem Hintergrund. Sie erinnerte Leander an die Vision, die er soeben erblickt hatte. Chada und die restlichen Helden würden Qurun besiegen. Und Qurun würde Varkur sein. Interessante Informationen, zweifelsohne, insbesondere da sie ihm erlaubten, sich keinen ausgeklügelten Mordplan für Varkur ausdenken zu müssen. Egal, was er tun würde, Varkur würde nicht ewig am Leben bleiben. Dennoch hatte ihm die Vision nicht das gezeigt, was er sich gewünscht hatte. Nichts zu Callem und wie man ihn von Varatans Fluch befreien könnte. Ganz hatte er seine seherischen Kräfte also nicht austricksen können.
„Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?“, sprach Reka. Leander versuchte, nicht daran zu denken, dass er entgegen ihres Wunsches Meres nach Narkon geschickt hatte, und entgegnete stattdessen:
„Wenn ich dich so sehr störe, warum hast du mich überhaupt gerettet?“
Reka blieb einen Moment stumm. Dann meinte sie: „Nenn mich verrückt, Leander, aber ich habe das Gefühl, dass du deine große Rolle in den Legenden von Andor noch nicht gespielt hast. Ich weiß, dass du viel Übles angerichtet hast in deiner langen Lebzeit. Aber ich glaube, dass du auch noch viel Gutes anrichten wirst.“
Leander gluckste schwach auf. Dafür konnte er die Hexe wirklich verrückt nennen.
Diesmal hatte sie auch keinen Eintopf für ihn übrig, als sie ihn verließ. Nein, Leander musste ihr danken dafür, dass sie sein Leben gerettet hatte. Und das tat er auch. Anschließend dirigierte er sie und Chada aber auch schon wieder unwirsch aus seiner kleinen Hütte hinaus und sortierte seine Gedanken im Angesicht seiner jüngsten Vision.
Er wusste nun, wie Varkur sterben würde. In Hadria. Durch die Hand der Helden, wie könnte es anders sein? Nur wie bald? Die Helden wirkten nicht so, als würden sie Andor so bald verlassen wollen. Varkur könnte sie natürlich in den Norden locken. Aber warum würde er das tun?
Leander studierte und knobelte an diesem Rätsel herum, bis ihm endlich ein Ansatz einfiel. Die Krahder aus dem Süden. Das Riesenvolk hatte vermutlich keine Ahnung davon, dass Tarok gefallen war, dass der Weg nach Andor für sie offen stand, ja, hatte vermutlich nicht einmal eine Ahnung davon, dass da im Norden ein Königreich lag, welches von aus Krahd geflohenen Ambacus gegründet wurde, und dass Mitglieder dieses Königsreichs einen der ihren erschlagen hatten. Sobald sie davon erfuhren, würden sie wohl mit Vergnügen Rache nehmen wollen.
Die meisten Krahder waren nun mal Feiglinge. Folglich müsste jemand die furchterregenden Helden von Andor aus dem Weg schaffen, damit sie in Andor einfielen. Und jemand müsste die Krahder über den freien Weg in den Norden informieren. Diese Rollen könnte Varkur übernehmen. Und dies gäbe Varkur einen guten Grund, in den Norden zu reisen und die Helden hinter sich herzulocken.
Kurz verzog Leander seine Mine, als er an die vielen Bauern der Andori denken musste, von denen bestimmt einige bei einem solchen Überfall der Krahder umkommen würden. Er unterdrückte die Gedanken. Die Bauern bedeuteten ihm nichts, und Krahder in Andor wären ganz nebenbei keine schlechte Gelegenheit für Leander, dunkles Wissen zu ergattern. Aber der Angriff der Krahder wäre nicht einmal das wichtigste, sondern nur ein Grund für Varkur, in den Norden zu ziehen. Wichtiger war, dass sie Helden von Andor Varkur in den Norden folgten und dem Dunklen Magier dort ein Ende bereiteten. Dass sie es möglich machten, dass Varatans Fluch gebrochen werden konnte.
Und wenn die Helden erst einmal im Norden fertig waren, würden sie zurückkehren wollen, vermutlich in Eile, wenn es in Andor dann nicht allzu rosig zu und her ginge. Und wenn ihr Schiff auf Narkon kenterte... Könnte Leander einen Pakt mit einer Macht des Meeres eingehen? Könnte er Arkteron, Kenvilar oder Oktohan dazu bewegen, das Schiff der Helden in die Stachelklippen Narkons zu dirigieren? Wer könnte schon mit Sicherheit Varatans Fluch die letzten Kraftreserven aufzehren lassen, wenn nicht die Helden von Andor?
Aus den wirren Gedanken in Leanders Kopf kristallisierte sich immer deutlicher ein grandioser Plan heraus. Erschöpft sank er in seinen Schaukelstuhl und atmete schwer durch. Es würde riskant werden. Aber um Callem zu befreien, hatte er schon viel Riskanteres durchgezogen.
Leander massierte seine Schläfen. Shan war vermutlich gerade auf der Suche nach Varkur, um dabei zu sein, wenn dieser Hademars Seele aus dem Drachenherzen befreite. Und Shan konnte die magischen Spuren ihres Schattens erheblich schlechter verbergen als Varkur die seinen. Wenn er Shans Spur folgte, würde er höchstwahrscheinlich auf Varkur stoßen können.
Danach müsste Leander seinen Plan nur noch Varkur unterbreiten. Nun, zumindest den Teil, der nicht Varkurs Tod beinhaltete. Am besten so, dass der Dunkle Magier das Gefühl hatte, von selbst drauf gekommen zu sein.
Entschlossen griff Leander nach seinem Stab.
Varkur, der Dunkle Magier, halb Mensch, halb dunkler Nebel, erreichte das Graue Gebirge. Langsam schälte sich sein Körper aus dem Nebel. Mit geschlossenen Augen stand er da, der eisige Wind schlug ihm ins Gesicht und der Schnee hüllte ihn mehr und mehr ein. Er war in Hochstimmung.
Einige Wochen hatte er nun schon vergeblich damit verbracht, Hademars Geist aus diesem verfluchten kleinen Steinchen zu befreien versuchen. Sein Kopf schmerzte von all den niederen Kreaturen, in die er Hademars Geist schon projiziert hatte, nur um kurze, unverständliche Antworten zu erhalten.
Hademars Seele, sein Geist, oder wie auch immer man das nennen wollte, hatte sich stets kontaktfreudig gezeigt. Selbst wenn er nicht gerade einen Gorlot steuerte, konnte der Nekromant den schwarzen Schemen unter der roten Edelsteinoberfläche des Drachenherzens mit einigem Geschick verformen. Ohnehin verkraftete Hademar die Zeit in Gefangenschaft überraschend gut. Aber vermutlich war er sich schon daran gewöhnt, körperlos zu sein. All die Jahre, die er seit dem Verlust seines Körpers damit verbracht haben musste, die Überreste seines Geistes langsam zusammenzusetzen und erstarken zu lassen... Varkur wollte sich nicht vorstellen, wie sich das hatte anfühlen müssen.
Varkur vermisste es, Hademar von Gesicht zu Gesicht gegenüberzustehen. Die beiden hatten gemeinsam gute Zeiten erlebt in Hadria. Ehe sie auseinander getrieben worden waren vom Schicksal. Oder besser gesagt von ihren persönlichen Rachefeldzügen und bösartigen Plänen. Dort waren sie nie auf einer Wellenlänge gewesen. Varkur hatte rasch handeln wollen, Kreaturen zu offenen Angriffen nutzen, den Drachen Tarok zähmen, die Völker fremder Länder gegeneinander locken, Könige umbringen und am Ende mit einer riesigen Armee unter seiner Kontrolle gen Hadria ziehen.
Hademar hingegen hatte sich so stark wie nur irgendwie möglich vom für ihn verhassten Andor fernhalten und im Geheimen seine Macht mehren wollen. Alte Schriften studieren, leere Festen erkunden, mächtige Formen der Magie meistern. Erst wenn er sich (fälschlicherweise) sicher gewesen war, dass niemand gegen ihn ankommen könnte, erst dann hatte er sich offenbart.
Am Ende war aus dem Dunklen Duo eine schwache Bekanntschaft geworden. Hin und wieder hatten sie sich Briefe gesendet und den jeweils anderen darüber aufgeklärt, wie viel besser ihre Angehensweise sich für sie bezahlt machte.
Am Ende hatte es für sie beide nicht funktioniert. Die Helden von Andor waren ihnen beiden in die Quere gekommen, immer und immer wieder. Varkurs Gesicht verzerrte sich beim Gedanken an sie zu einer grimmigen Fratze.
Einst waren Hademar und er zwei begeisterte Studenten der geheimen Magieformen in Hadria gewesen. Nun war Varkur ein halber Echsenmensch, umgeben von einem ihn verzehrenden brennenden Nebel, und Hademar war nichts weiter als ein schwarzer Schatten unter der Oberfläche eines kristallenen Runensteins, der hier und dort durch eine besessene Kreatur einige Worte sprechen konnte.
Aber nicht mehr lange. Hademar war es gelungen, Varkur in den letzten Wochen einige konkrete Hinweise zu übermitteln.
„Licht.“
„Mond.“
„Altar.“
Solche Wörter hatten die Gorlots, Wargors und Skrale gekrächzt, ehe die Verbindung gebrochen worden und sie wieder zusammengeklappt waren.
Varkur hatte einen genügend geübten Blick für die fließenden Bänder der Magie, um zu spüren, dass mächtige Drachenmagie Hademar in diesem Stein einschloss. Nach und nach hatte er es mit Hademars Hinweisen geschafft, den Prozess herauszufinden, der dies bewerkstelligt hatte. Das Licht des roten Mondes hatte den Stein in einem Ritual blutrot gefärbt. Ein Alter aus purem Roteisen hatte geholfen, dieses Licht zu kanalisieren. Das bedeutete, dass Zwerge involviert waren. Diese unterirdischen Ratten! Varkur hätte sie schon längst aus ihren engen Gängen ausräuchern sollen.
Heute hatte Hademar Varkur endlich in die unterirdische Kammer gelenkt, wo sein Geist eingesperrt worden war. Tief unter das Graue Gebirge war Varkur geflogen, hinein in die Korn-Schlucht, ins unterirdische Reich der Schildzwerge aus der Zeit, wo sie noch nicht einmal Schildzwerge genannt worden waren, nach links, dann zweimal rechts, nach oben und dann noch weiter nach unten, stets dem schwarzen Pfeil folgend, den Hademars schwarze Seele im Edelstein für ihn formte.
Nun stand er in einem kreisrunden Raum. Dieser war leer bis auf den Blutstein-Altar in seiner Mitte und eine riesige Gestalt am gegenüberliegenden Ende des Raumes. Dort lag ein versteinerter Drache, die Überreste des einst so edlen Kardòl, den rissigen Kopf in seinen stacheligen Schwanz verbissen. Aber Varkur war nicht seinetwegen gekommen.
Die Spuren des magischen Rituals waren nicht mehr frisch, aber dennoch deutlich zu erkennen. Hier war Hademar im Drachenherz eingeschlossen werden. Schlampige Arbeit, aber dennoch schwer zu durchbrechen. Varkur schüttelte seinen Kopf und platzierte das Drachenherz vorsichtig auf dem großen Alter aus purem Roteisen. Blutsteinaltar hatten ihn die Zwerge genannt, nach dem Blut der gefallenen Drachen, welches dem Stein seine Eigenschaften verliehen hatte.
Der rote Mond schien nicht, durch den gezackten Spalt in der Decke konnte Varkur nur den klaren Sternenhimmel erkennen. Das Sternbild des Hornfalken, wenn er sich nicht irrte. Ein gutes Omen. Er brauchte das Licht des roten Mondes nicht, um Hademar zu befreien.
Varkur schlug seine Ärmel zurück und enthüllte echsenhafte Klauen, die er knackend spreizte. Zeit, seinen alten Freund zurückzuholen.
Er ritzte sich seinen Handrücken auf und spritzte sein schwarzes Blut über den Altar. Sein Mund öffnete sich und enthüllte spitze Zähne, als er grinste und ansetzte, die entsprechenden magischen Worte der Alten Sprache auszusprechen, die Hademar befreien würden.
Urplötzlich wurde es kalt um Varkur. Der Dunkle Magier spürte, wie Etwas in seinen Geist eindrang und seine Gedanken in Eiseskälte tauchte. Alarmiert stolperte er nach vorne und stieß gegen den Blutsteinaltar.
Sein Körper fing sich von selbst. Von Horror erfüllt, spürte Varkur seine lange Zunge in seiner Mundhöhle umherwandern und seine scharfen Zähne entlanggleiten. Seine eigenen Lippen öffneten sich und er hörte seinen eigenen Mund krächzend sprechen: „Tut mir leid, Hadrier. Ich kann das nicht zulassen.“
Varkur versuchte zurückzuweichen, zum Schlag auszuholen, seinen Stab zu greifen, den er achtlos beiseite geworfen hatte.
Nichts konnte er tun. Alles erfolglos, sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.
Einzig der Nebel der Dunklen Magie gehorchte ihm noch. In Varkurs Auftrag wallte dieser durch den Raum, spaltete Stein und brach Felsen, suchte nach einem Gegner, dem er sich stellen konnte. Doch es gab keinen solchen Gegner. Denn der Gegner befand sich in Varkurs Kopf.
„Du verstehst das bestimmt“, sprach sein Mund nun, und wie ein Fremder in seinem eigenen Körper hörte Varkur die pure Finsternis aus sich sprechen, „Hademar ist ein mächtiger Nekromant. Wird er nun befreit, könnte er zur mächtigsten Person dieser Welt werden. Das darf ich nicht zulassen.“
War das die Dunkle Magie, die da aus ihm sprach? Hatte sie endgültig seine Menschlichkeit in sich aufgesogen, ihn endlich endgültig in ihre Gewalt gekriegt? Varkur ließ sich ergeben sinken. Nun, nicht wirklich sinken, er hatte ja keine Kontrolle über seinen Körper mehr. Aber er hörte auf, gegen die fremde Macht anzukämpfen. Die Dunkle Magie brannte schon seit Jahrzehnten in ihm, und je länger er von ihr Gebrauch gemacht hatte, desto öfter hatte sich dieses zweischneidige Schwert gegen ihn gewandt und ihm mehr seiner Menschlichkeit genommen. Er war dazu verdammt, früher oder später als ausgebrannte Hülle der Dunklen Magie zu dienen. Dieses Schicksal hätte ihn ohnehin irgendwann erreicht. Nur schade, dass es so viel früher als später der Fall gewesen war.
Ergeben nahm Varkur wahr, wie seine Hände sich öffneten und seinem Zauberstab geboten, zu ihm zu springen. Sein Stab tat wie geboten, und die Seelen der unzähligen darin eingefangenen gequälten Geister stöhnten auf, als die finstere Macht in ihre Energie griff und ihre Kraft entfesselte. Dann hoben sich Varkurs Hände, den Zauberstab fest umschlossen. Seine Kehle brach in einem dämonischen Lachanfall aus, als der Stab auf das Drachenherz niederfuhr, fest entschlossen, Hademar ein für alle Mal auszulöschen.
Stattdessen blieb der Stab kaum eine Handbreit über dem Drachenherz in der Luft stehen, als wäre er auf eine unsichtbare Wand getroffen. Varkurs echsenartige Augen rollten ohne seine Führung in ihren Höhlen umher und versuchten, im Dunkel die Ursache dieser Störung zu erkennen. Als wäre dies überhaupt möglich gewesen, so wurde der Raum noch kälter, und vor allem eines, dunkler. Kein Stern war mehr durch die Ritze in der Decke zu erkennen.
Immer finsterere Schatten flossen in den Raum und Varkur erkannte, dass das, was seinen Stab davon abgehalten hatte, das Drachenherz zu zersplittern, ein finsterer Tentakel aus purem Schatten war, der aus einem schattigen Gebilde zu strömen schien, welches sich soeben in den Raum zwängte.
Zwei große gelbe Augen leuchteten in dem Gebilde auf und die Schatten formten sich zu einem dunklen Schemen, der entfernt an die Gestalt einer Frau erinnerte. Varkur wäre zurückgezuckt, hätte er können, so sehr erinnerte ihn diese Erscheinung an seine N...
„Es ist sie nicht“, sprach er in Gedanken zu sich selbst, „Es kann nicht sie sein.“
Da sandte der Dunkle Magier seinen Nebel aus, der schwarz und bissig wie ein Tier auf die Schattenfrau zuglitt und sie umwallte. Oder vielmehr versuchte, sie zu umwallen. Die Schattententakel der Schattenhexe wogten und verformten sich zu einem breiten Schild aus purer Dunkelheit, welcher sich zwischen die Frau und seinen Nebel stellte und diesen zurückdrängte. Wie war das möglich?
Varkurs Körper schnellte nach vorne, als er von der finsteren Macht, die ihn kontrollierte, zum direkten Angriff dirigiert wurde. Varkurs Krallenhände stürzten sich auf den Schattenschild und durchbrachen dessen Oberfläche, sorgten für einen Spalt, durch den sein Nebel zur Hexe dringen konnte. Sie schrie nicht auf, aber ihre ganze Form zitterte und verschwamm. Gemeinsam stürzten sich Varkur und die Macht, die seinen Körper führte, auf die Schattenhexe.
Nun, da er sie genauer erkennen konnte, atmete Varkur erleichtert auf. Das war nicht N... Ni... es war sie nicht.
Die Schatten der Schattenhexe zerfaserten und flossen um Varkur herum, dessen Körper herumschleuderte und die Schattenhexe zu fassen versuchte.
„Narr“, drang eine flüsternde und doch durchdringende Stimme aus dem Schatten, „Ich bin auf deiner Seite, Dunkler Magier. Ich will genau wie du den Nekromanten aus dem Stein befreien.“
Schwarze Schemen flossen an Varkurs Körper hoch und verfestigten sich um seine Hand- und Fußgelenke. Mit übermenschlicher Kraft zerrte die Schattenhexe an ihm und bugsierte ihn wieder in die Nähe des Drachenherzens, Hademars Edelstein, der noch immer auf dem Blutsteinaltar lag.
Varkur ließ seinen Dunklen Nebel abziehen. Wenn diese Schattenhexe wirklich Hademar befreien wollte, waren sie wahrlich auf derselben Seite. Er spürte, wie seine Muskeln von der fremden Macht in seinem Körper versteift wurden und sich erfolglos gegen die Kontrolle der Schattenhexe zu wehren versuchte.
Schon hatten Varkurs Klauenhände den Edelstein wieder ergriffen und in die Höhe gehoben. Unruhig nahm Varkur war, wie die Schatten der Schattenhexe schwächer wurden, je näher sie dem Edelstein kamen. Das Licht der Gemme schwächte sie. Nichtsdestotrotz vermochte sie immer noch, seinen Körper zu führen. Ein unterdrückter Aufschrei entfuhr ihr, dann hielt sie den Stein mit Varkurs Händen in die Höhe und begann, einen Satz in der Alten Sprache zu sprechen.
Varkurs Kehle entfuhr ein Aufschrei und Varkurs Magen stellte sich auf den Kopf. Sein Körper sackte zusammen und ein keuchender Husten schüttelte ihn, als eine plumpe, blau-graue Masse aus seinem Körper floss und sich vor ihm zusammensetzte. Dann war es also doch nicht die Dunkle Magie gewesen, die ihn kontrolliert hatte. Nur ein fremder Geist.
Auf dem kalten Steinboden liegend, erkannte Varkur, wie der Geist kurz eine konkrete Gestalt annahm: Eine schwebende Masse von grauen Tüchern, auf der ein kleiner gemeiner Krahder-Kopf saß. Dann richtete der Geist eine siebenfingrige Hand auf die Schattenhexe und brüllte: „Wer wagt es, sich mir zu widersetzen?! Ich bin Nomion, der Meister des Urtrolls! Eine kleine Schattenhexe kann mir nicht in die Quere kommen!“
Nomions Form zerfaserte und stürzte auf die Schattenhexe zu. Er drang mühelos durch ihren Schattenschild und verschwand in der Dunkelheit, die die Schattenfrau umgab. Selbige kreischte auf. Ihre gesamte Gestalt waberte und zitterte, als sie sich gegen die Kontrolle des Krahder-Hexers zu wehren versuchte.
Gut, dachte Varkur, soll er nur versuchen, sie zu kontrollieren. Es kostete Nomion bestimmt einiges an Energie, einen neuen Körper zu übernehmen. Irgendwann müssten seine Reserven aufgebraucht sein. Und die Schattenhexe schien ihm einen angemessenen Kampf zu bieten.
Die ganze Welt drehte sich unschön, als Varkur seinen Körper in die Höhe stemmte. Erleichtert streckte und dehnte er sich. Sein Körper gehörte wieder ihm. Zeit, das zu tun, warum er überhaupt hierhergekommen war.
Varkur ergriff das Drachenherz, hob es in die Höhe und setzte erneut zum Satz in der Alten Sprache an, den Hademar aus seinem Gefängnis befreien würde.
Da wurde ihm von einem Schattententakel das Drachenherz aus der Hand geschleudert. Frustriert wollte er sich umdrehen, da umschlangen bereits weitere Tentakel seine Arme und Beine und zogen ihn nach vorne. Das Gesicht der Schattenhexe erschien vor ihm, doch nun waren ihre Züge noch unmenschlicher und ihre Ohren spitz wie die eines Krahders, als eine viel tiefere, doch immer noch geisterhafte Stimme aus ihrer Kehle erklang:
„Wie schon gesagt: Ich kann das nicht zulassen, Hadrier. Hademar darf nicht befreit werden.“
Offenbar war es Nomion gelungen, den Geist der Schattenhexe zu vergiften, ohne dass sie im Gegenzug den seinen hätte auslöschen können. Nomion schlang einen weiteren Schattententakel um Varkurs Kehle und drückte zu. Varkur hatte selbst gesehen, wie rasch die Absenz von Luft einem Köper das Leben ausquetschen konnte, und haderte nicht lange mit einer Antwort.
Verzweifelt saugte er die Dunkle Magie in sich ein, viel mehr, als er für eine lange Zeit aus ihr geschöpft hatte. Er spürte, wie in dieser lebensbedrohliche Situation ein letzter Damm in ihm brach, wie die Magie durch sein Adern jagte. Und wie sie ihm erlaubte, die Schatten zu packen, die ihn umgaben.
Mit letzter Kraft griff Varkur nach den Schatten der Schattenhexe, aber nicht mit seinen Klauen, sondern mit der Dunklen Magie. Er zog sie zu sich, leitete sie durch den Blutsteinaltar, verband sie mit der allgegenwärtigen Drachenmagie und versuchte verzweifelt, so viel wie möglich in sich aufzunehmen, um Nomions Angriff widerstehen zu können. Sein schwarzer Nebel drang in die Schatten ein, doch anders als vorher wurde er von diesen nicht abgewehrt. Stattdessen verbanden sich sein Nebel und die Schatten der Schattenhexe. Varkur zog und zerrte an der neuen Verbindung. Für einen kurzen Augenblick löste sich der Druck auf seine Kehle, flossen die Schatten von dem Körper der Schattenhexe weg und auf ihn zu. Varkur glaubte, inmitten der Dunkelheit die Gestalt einer jungen Frau mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen zu sehen. Dann ballten sich die Schatten wieder um sie und der Körper der Schattenhexe richtete sich wieder auf, noch größer als zuvor. Der Druck auf Varkurs Kehle verstärkte sich wieder.
Erneut zerrte Varkur an dieser seltsamen Verbindung seiner Dunklen Magie und des Schattens der Schattenhexe, noch stärker als vorher. Diesmal fühlte er, wie etwas vor ihm auseinanderriss, das Ziehen einer anderen Macht am Schatten versiegte und plötzlich unmöglich zu bändigende Mengen an Dunkler und Schattenmagie durch seinen Körper strömten, ihn transformierten.
Varkurs Muskeln schwollen an und seine Haut verschuppte vollends. Ein Prozess, den die Dunkle Magie schon seit Jahrzehnten an ihm vornahm, wurde in Sekundenschnelle ins Extrem getrieben. Vor Varkurs glühenden Augen wuchsen seine Klauenhände auf die zweifache, dreifache, vierfache Größe an. Seine Halsmuskeln spannten sich und schoben den kläglichen Rest von Nomions Schattententakeln mühelos zur Seite. Seine Kopfhaut spannte sich, als seine Hörner in die Höhe schossen, seine Kapuze zerrissen und die Schatten des Raumes durchbrachen.
Varkur fühlte, dass er plötzlich so viel mehr war als sein stetig wachsender Körper und der allgegenwärtige Nebel der Dunklen Magie. Er fühlte den verfluchten Schatten im Raum, wie er über den kalten Steinboden strich und die Dunkelheit liebkoste. Fast war es Varkur, als flüsterte dieser Schatten zu ihm: „Ich bin dein. Nutze mich!“
Probehalber befahl er dem Schatten im Geiste, sich um ihn zu versammeln. Prompt floss der Großteil der magischen Dunkelheit, die diesen Raum unter dem Grauen Gebirge erfüllt hatten, zusammen und umgab den sich transformierenden Körper Varkurs, verband sich mit seiner Schuppenhaut, stärkte seine Klauen, maskierte sein Gesicht.
Der Körper der Schattenhexe waberte weiterhin vor ihm, aber im Vergleich zu den Schatten, die Varkur nun umgaben, sahen die wenigen Fetzen von Dunkelheit, die noch um die Schattenhexe wogten, beinahe lächerlich aus. Varkur hatte der Schattenhexe soeben den größten Teil ihrer Macht entrissen. Die Schattenhexe, oder vielmehr ihr Körper, heulte auf und sank zusammen. Nomions Geist löste sich von ihr und nahm ein weiteres Mal Gestalt an, nur um kreischend das Weite zu suchen.
Die Schattenhexe richtete sich auf und blickte Varkur aus leeren Augen an.
„Wie... was?“, stammelte sie schwach.
Varkurs Körper saugte weiterhin ungehindert Dunkle Magie in sich auf, gestärkt durch die Kraft der Schattenseelen. Seine Klauenhände wurden zu schwer, um aufrecht stehen zu bleiben, und so stürzte Varkur auf sie. Seine unförmigen langen Hörner stießen bereits gegen die Decke des Zwergenraums. Die Schatten, die einst der Schattenhexe gehört hatten, wurden zu riesigen Schwingen, die sich hinter ihm erhoben und den ganzen Raum ausfüllten, ja, gar aus dem Raum hinausquollen. Und als er seine Stimme erhob, um die Schmerzen in seinem Innern auszudrücken, erklang an ihrer Stelle ein tiefes animalisches Röhren.
Varkur fiel kaum auf, dass nun auch die Schattenhexe hastig das Weite suchte. Er drehte und wendete sich, versuchte, im staubigen Steinraum Hademars Edelstein zu finden. Es gelang ihm nicht. Das Drachenherz war verschwunden. Und selbst wenn er es finden könnte, könnte er es in seinem jetzigen Zustand wohl kaum transportieren.
Varkur tauchte in den Strom der Dunklen Magie, der ungehindert in ihn hineinströmte, und versuchte, ihn zu versiegen zu lassen. Er spürte, wie seine Wandlung ein klein wenig stagnierte, aber es war, als würde er versuchen, den Fluss des Tatru mit einem einzelnen Holzstamm aufzuhalten. Erneut stieß Varkur mit seinen Hörnern gegen die Höhlendecke. Wenn diese Transformation so weiterginge, würde er bald hier unter dem Gebirge feststecken. Er musste hier raus, und zwar rasch!
Varkur brach durch die Tür des Raumes in den dahinter liegenden Gang. Ein Paar Gorlots heulten auf und sprangen davon, so schnell sie konnten. Varkur war schneller. Er vermochte sich nicht mehr an den genauen Weg erinnern, den er genommen hatte, um hierher zu kommen. So schrammte er blindlings durch die unterirdischen Gänge des Zwergenreichs, schlug Türen auf und Säulen um, kratzte tiefe Krallenspuren in uralten Stein und schlug mit seinen Hörnern Löcher durch die Höhlendecke. Seine Schattenflügel wogten um ihn herum, wie es einst sein finsterer Nebel getan hatte, zertrümmerten Stein, pulverisierten Fels und brachen Gorlot-Knochen, wo immer sie konnten.
Ein dumpfes Dröhnen erklang, als hinter ihm ein Gang nach dem anderen einstürzte. Varkur legte noch weiter an Tempo zu und holperte und polterte auf allen vieren durch das verlassene Zwergenreich, in der Hoffnung, die freie Luft zu erreichen, ehe sein hünenhafter Echsenkörper zu groß war, um sich fortbewegen zu können.
Er erreichte eine Sackgasse, prallte mit voller Wucht in eine Wand – er spürte es kaum, so sehr federten seine neuen Schatten den Aufprall ab – und hinter ihm stürzten Tonnen von Geröll hinunter, als der Gang zusammenstürzte und den Rückweg blockierte.
Es war stockfinster, nass und kalt. Varkurs Körper schwoll weiterhin an und presste gegen die Höhlenwände. Es wurde immer schwerer, sich noch zu bewegen. Erst als er quasi den ganzen Raum ausfüllte und physisch nicht mehr weiterwachsen konnte, spürte Varkur, wie der Strom der Dunklen Magie in ihn versiegte. Er befand sich nun in einem Raum irgendwo unter dem Grauen Gebirge, der seit Jahrzehnten, vielleicht gar Jahrhunderten von keiner Zwergenseele betreten worden war, eingequetscht in einem unmenschlichen Echsenkörper, umgeben von Dunkler Magie und fremden Schatten, die verzweifelt gegen den von allen Seiten auf ihn drückenden Felsen ankämpften.
Es grauenvolles Knirschen zog sich durch den Fels und Varkur hätte sich seine nun spitzen Riesenohren zugehalten, hätte er sich noch bewegen können. Er fürchtete, das ganze Graue Gebirge würde gleich auf ihn einprasseln und ihn endgültig aus dieser Welt holen. Varkur, der Dunkle Magier, erdrückt von einem Berg. Was für ein lächerliches Ende!
Krachend gab die eine Seitenwand des engen Raums nach, in dem Varkur eingeschlossen war. Varkurs purzelte aus der neu entstandenen Öffnung in Felswand ins Freie (und in den freien Fall), während der kleine Raum hinter ihm kollabierte. Die Höhle hatte direkt an der Korn-Schlucht gelegen und Varkur stürzte unkontrolliert in deren Tiefe!
Varkur ächzte, während der Wind an seinen Schwingen riss, doch konnte er seinen Fall mit den Schattenflügeln aufhalten. Tief unter sich glaubte er, einen riesige steinerne Gestalt mit einem abgebrochenen Horn in der Schlucht liegend zu erkennen. Dann zog sein Blick nach oben und blieb auf der Ruine der Zwergenbrücke Tiefenfall liegen, die die tief darunter ruhende Gestalt der Legende nach vor ihrer Fertigstellung bereits wieder eingerissen hatte. Mit seinen mächtigen Schwingen schleuderte er sich in die Höhe und katapultierte sich aus der Korn-Schlucht heraus.
Erleichtert stellte Varkur fest, dass der Strom der Dunklen Magie versiegt war und seine deformierte Schattengestalt nicht mehr immer größer wurde. Tatsächlich begann sein Körper schon damit, einen Großteil der Dunklen und Schattenmagie freizugeben. Varkur schrumpfte, die Schatten um ihn herum zerflossen, und mehr torkelnd als elegant landete der Dunkle Magier am Rande Tiefenfalls.
„Keine Sorge, wir sind nicht für immer verschwunden“, schien diese ungebändigte Kraft mit den flüsternden Stimmen hunderter Seelen zu wispern, „Wir werden wieder an deiner Seite stehen, wenn du uns wieder brauchst.“
Die fremden Seelen verflogen völlig und hinterließen Varkurs kleinen menschlichen Körper auf dem nackten Fels liegen. Es war eiskalt. Er drehte sich elend zur Seite und kauerte sich zusammen.
Da fiel sein Blick auf eine dunkle Gestalt, welche in einiger Entfernung auf einem Stein saß und ihn unter einer schweren Kapuze heraus interessiert beobachtete.
Varkur klaubte sich zusammen und stemmte seinen schmerzenden Menschenkörper in die Höhe. Die dunkle Gestalt erhob sich zeitgleich mit einer einzigen fließenden Bewegung von ihrem Stein und griff nach etwas Langem neben ihr. Die Luft flimmerte, als wäre es Hochsommer, dabei war das Graue Gebirge genauso von Eis und Schnee erfüllt, wie es Hadria beim Angriff der Mächte des Meeres gewesen war.
Varkurs Herz füllte sich zu dem Grade mit Furcht, zu dem der Dunkle Magier überhaupt noch zu einer solchen Gefühlsregung imstande war. Denn an der Seite dieser Gestalt erkannte er einen grünlich schimmernden Hammer, der eigentlich im Hohen Norden im Eisernen Turm eingeschlossen sein sollte. Er kannte den Namen dieses Hammers, und er kannte den Namen desjenigen, der ihn selbst in die Esse gehalten hatte. Orweyn, der mächtigste aller Zauberer.
Die Hadrische Unterwelt wandelte alles, was durch sie wanderte. Einst war Orweyn mit drei gewöhnlichen Waffen und einem Falken in die Hadrische Unterwelt gegangen und mit drei magischen Waffen und dem riesigen Falken von Yra zurückgekehrt. Doch an Orweyn war den Legenden nach niemandem eine Veränderung aufgefallen. Konnte es sein, dass die Unterwelt auch ihn gestärkt hatte? Dass sie ihm Ewiges Leben verliehen hatte oder sonst erlaubt hatte, die langen Jahrzehnte im Eisernen Turm zu überleben?
Damals, als der junge, schwache Varkur versucht hatte, an diesen Hammer zu kommen, damals, als er das Siegel zum Eisernen Turm gesprengt hatte, war da jemand aus dem Turm geschlüpft? Konnte es sein, dass der Dunkle Magier nun tatsächlich vor Orweyn stand?
Varkur ballte seine Echsenklauen zu Fäusten und rief im Geiste seinen Stab, doch dieser befand sich wohl immer noch unter Tonnen von Stein begraben in den Tiefen des unterirdischen Zwergennetzwerks.
„Mein Qurun!“, rief der schimmernde Orweyn theatralisch, „Das Ende Hadrias, wie ich es vorhergesehen hatte! Wenn Feuer und Turm miteinander ringen, so wirst du sie bezwingen!“
Varkur wusste, was Orweyn in seinen letzten überlieferten Lebenstagen angerichtet hatte, welcher Aufgabe er sich verschrieben hatte. Wenn dieser Magier noch lebte, so nur, um die Spuren der Dunklen Magie ein für alle Mal auszulöschen. Keine sonderlich schöne Aussicht für einen Dunklen Magier.
Noch während Varkur versuchte, sein Gleichgewicht unter Kontrolle zu kriegen und sich kampfbereit hinzustellen, die Schattenseelen wieder hervorzurufen, verschwand das seltsame Schimmern um die fremde Gestalt und enthüllte, dass sie nicht Orweyns Hammer der Stärke in ihrer Hand trug, sondern bloß einen Holzstab, wie ihn die Zauberer von Hadria ihren Speichelleckern austeilten, sobald sie sie in ihren Augen für würdig empfangen.
Und als die Gestalt ihre Kapuze zurückschlug, erkannte Varkur auch, dass das nicht Orweyn sein konnte. Die Person war glatzköpfig wie er, doch trug sie eine Augenbinde und ihre Haut schimmerte bläulich im Licht der aufgehenden Sonne. Das war Leander, der Seher von Narkon, der Hademars Seele in diesen kleinen weißen Kristall eingesperrt hatte. Dem Kristall, der nun entweder unter Tonnen von Stein begraben war oder sich in den Händen von Nomion oder dieser Schattenhexe befand. Nichts davon war eine schöne Aussicht. Und nichts davon würde es Varkur leicht machen, ihn wieder aufzuspüren. Immerhin konnte er sich nun diesen elenden Seher vorknöpfen, ohne dass ihm ein einen kolossalen Kollateralschaden in Kauf nehmender kauziger Kräuterkundler in die Sternkrautsuppe spucken würde.
„Du!“, rief Varkur aus und rief seinen dunklen Nebel hervor.
„Haltet ein, o Qurun“, sprach Leander mit einer Stimme, die nun wieder nach dem Seher und nicht nach dem heiseren Orweyn klang.
Qurun. Das Wort hallte in Varkurs Kopf nach. Er mochte diesen Klang.
„Wir müssen uns überhalten, o Qurun“, fuhr der Seher fort, „Über die elenden hadrischen Zaubererorden. Über die hirnlosen Helden von Andor. Und über Krahd.“
Varkur blieb unentschlossen stehen. Dann überbrückte er die Distanz zwischen sich und dem Seher mit einem gewaltigen Satz und sprach zum erschrockenen Seher:
„Sprich.“