Der soeben gelandete schwarze Drache musterte seine Umgebung aufmerksam. Diejenigen Schildzwerge, die durch den Einschlag des Reptils in die Erde noch nicht von den Füssen geholt worden waren, duckten sich hinter ihre Schilde und begannen, alte Zwergenlieder zu rezitieren. Offenbar bereiteten sie sich auf den Mentalen Angriff des soeben gelandeten Riesendrachen vor. Langsam wurden die verschiedenen Stimmen synchron, und mit anschwellender Lautstärke sangen die Zwerge eine wortlose Melodie, in Bruderschaft tapfer vor einem übermächtigen Feind stehend und dessen hinterhältige geistige Attacke erwartend. Sie sangen die uralte Melodie des Steinsang.
Der entflohene Zwerg in den goldenen Ketten drehte nur kurz seinen Kopf, um die Anwesenheit des riesigen Gegners anzuerkennen, und rannte dann schnurstracks weiter auf den Drachenkadaver zu, wo der Dunkelschild lag.
Der riesige Drache verzog seinen Mund zu etwas, das man mit etwas Fantasie ein Grinsen hätte nennen können, und entblösste dabei gelbe Zähne, grösser als Langschwerter. Seine Stimme war tief und höhnisch, als sie in Gouris Kopf erscholl:
„WICHTE! WER DENKT IHR, DASS ICH BIN? ICH HABE ES NICHT NÖTIG, ZU SOLCH EHRENLOSEN MITTELN WIE EINEM GEISTIGEN ANGRIFF ZU GREIFEN. ICH BIN EIN DRACHE VON EHRE. DENJENIGEN UNTER EUCH, DIE IHREM GERECHTEN ENDE STANDHAFT GEGENÜBERTRETEN WOLLEN, GEWÄHRE ICH DEN EHRENHAFTEN TOD DURCH DAS LEUTERNDE FEUER. LASSET EURE SCHILDE FALLEN.“
In Gouris Kopf dröhnte es, und ein rascher Blick auf ihre Begleiter verriet ihr, dass es ihnen ebenfalls so ging. Kein einziger Schildzwerg liess seine Deckung fallen, vielmehr wurde der gemeinsame Gesang nur noch lauter. Der riesige schwarze Drache fuhr unberührt fort:
„WUSSTE ICH’S DOCH! NICHTS ALS WIRBELLOSER SPRONENDRECK SEID IHR, WÜRMER UNTER MEINEN TATZEN. IHR FÜRCHTET EUCH ZU RECHT, DENN ICH BIN TAROK, DER RÄCHER, UND ICH HABE GESCHWOREN, EUCH ALLE FÜR EURE VERBRECHEN BÜSSEN ZU LASSEN!“
Sein Hals richtete sich auf, und Gouri, die die Anzeichen inzwischen erkennen konnte, duckte sich hinter den Hügel. Tarok spie einen gewaltigen Feuerstrahl und tauchte seine Umgebung in ein Flammenmeer. Gouri fühlte die Hitze an ihr vorbeiwallen, und sie duckte sich noch tiefer in die kühle Erde. Geschrei ertönte irgendwo vor ihr, grauenvolles Geschrei. Ein abrupter Schmerz in ihrem Rücken verriet ihr, dass ihre Mooskleidung zu glühen begann. Rasch rollte sie über die Erde, um das Feuer zu löschen, und der Schmerz verklang etwas. Sie beschloss, noch etwas weiter den Hügel hinunterzurollen, weg von dem Flammeninferno.
Da prallte sie mit jemandem zusammen. Sie blickte auf. Hitze schlug ihr in die Augen, sodass sie diese gleich wieder schliessen musste, doch erkannte sie in diesem Lidschlag Prip und die übrigen Schildzwerge, die ebenfalls unten am Hügel das Flammenmeer ausharrten.
„Tarok, der Rächer?“, hauchte Gouri entsetzt. Sie hatte grausame Geschichten über diesen jähzornigen Drachen gehört.
Die umliegenden Zwerge nickten verzweifelt. Belenor war es schliesslich, der mit zitterndem Schnurrbart das Wort ergriff: „Es ist vorbei. Die Furcht vor ausgeklügelten Fallen im Erdboden war es, der die Drachen in der Luft behielt. Jetzt, wo Tarok hier gelandet ist, und unsere Machtlosigkeit demonstriert, wird ihnen klar werden, dass wir ihnen komplett unterlegen sind. Alle Drachen werden hier landen, und die Drei Wasser vernichten. Sie werden die Feste aus dem Erdboden reissen und in die Tiefen von Cavern eindringen. Wir haben verloren.“
Die übrigen Zwerge nickten traurig. Einzig Prip schien zwar fassungslos, den Mut aber noch nicht verloren zu haben: „Jetzt kommt schon! Tarok spricht hier zwar grosse Worte, aber das dient auch nur unserer Abschreckung. Er will sich bloss seinen versteinerten Freund schnappen. Noch ist nicht alles vorbei!“
Er rüttelte den breiten Krieger an den Schultern: „Wir sind viele! Die Drei Wasser werden fallen, doch wir Zwerge werden uns verstreuen, und wie der Phönix aus der Asche werden wir ein neues Reich errichten. Es gibt immer noch die Eier!“
Gouri blickte wieder auf: „Die Eier?“
Prip nickte mit einem schelmischen Grinsen: „Diese elenden Biester müssen ihre Eier tief unter der Erde vergraben, damit sie schlüpfen. Darum bauen sie grosse Bauten und Höhlen. Aber wir Zwerge sind die Herren des Gesteins, und selbst wenn diese zu gross gewachsenen Eidechsen unsere Gänge mit ihrem heissem Atem versengen, bis sie spucken müssen – solange noch ein einziger wahrer Schildzwerg übrig ist, so werden wir weiterhin die unterirdischen Nester der Drachen ausfindig machen und vernichten.“
Die hochgewachsene Kriegerin warf nun ein: „Wir können mit Stolz verkünden, dass seit dem Ausbruch des Kriegs kein einziges Drachenküken mehr das Licht der Welt erblickt hat. Die hätten uns halt nicht verraten und angreifen dürfen!“
Jetzt war Gouri verwirrt: „War es nicht ein Zwerg, welcher den Krieg ausgelöst hatte?“
Die hochgewachsene Kriegerin schluckte tief und meinte: „Theoretisch ja, es war der Fallenmeister und Meisterschmied Kreatok, der ein Massaker unter den Drachen anrichtete. Aber dem hat es ja auch den Verstand zugenebelt, und wir haben ihn vor Gericht gestellt und zünftig lange eingekerkert. Kreatok ist keiner von uns mehr. Die Drachen jedoch, diese elenden Biester, die haben das als Verrat der Schildzwerge an ihrem Volke interpretiert und sich gegen uns gewendet. Der Rest hier ist reine Selbstverteidigung. Die Schildzwerge und Verrat, was für eine Vorstellung.“ Sie spuckte angewidert auf den Boden.
Gouri blickte auf, überrascht bemerkend, dass sie die Hitze nicht mehr spürte. Das Flammenmeer war versiegt. Die Erde zitterte nicht mehr. Sie guckte nach oben, doch die Hügelkuppe verdeckte die Sicht auf das Schlachtfeld. Hatte Tarok bereits den versteinerten Drachen geschnappt und in Sicherheit gebracht? War etwas vorgefallen?
Da ertönte ein metallischer Klang, eine Mischung aus dem dumpfen Schallen eines Gongs und dem zischenden Erwachen einer Feuerlunte. Gouri schaute verwirrt um sich. Sie konnte nicht erkennen, von wo der Klang stammte.
Auf den Gesichtern der Zwerge tauchten jedoch breite Grinsen auf. Sie erkannten diesen Klang. Prip stemmte sich sogar ohne zu zögern hoch und rannte zur Spitze des Hügels. Gouri wollte ihn anschreien, er solle unten bleiben, doch dann zogen auch die übrigen Zwerge an ihr vorbei, ungeachtet der Gefahr, die immer noch von Tarok ausgehen könnte. Gouri haderte für einen Augenblick, und rappelte sich dann ebenfalls auf, den Hügel hinaufhastend. Oben stehend hatte sie einen guten Blick über das Schlachtfeld. Und was für ein Anblick das war!
Tarok, der riesige Drache, stand immer noch in dem von ihm verursachten Krater neben dem versteinerten Drachen. Rund um ihn war die Erde schwarz und verdorrt, die Gräser verschmort und die Steine gesplittert. Den meisten Zwergen, die sich hinter ihre Schilder geduckt hatten, war es nicht besser ergangen, doch hatte isolierende Kleidung, wie Prip sie trug, vielen das Leben gerettet, und nun sassen sie ächzend in den angeschmolzenen Überresten ihrer Rüstung fest.
Die Drei Wasser standen auch immer noch, und immer noch regnete es ein wenig Lava von der Drachenhorde oberhalb der Wolken.
Doch der Drachenkadaver war nicht mehr. Wo er gelegen hatte, wogte jetzt ein Meer aus schwarzen und silbernen Flammen, die den Drachenkörper bereits verzehrt hatten und an der umgebenden Erde zu nagen begannen. Dieses Flammenmeer war fast so gross wie Tarok selbst, und der Drache fixierte das fremdartige magische Gebilde mit verengten roten Augen, sein Schwanz immer stärker zuckend. War er wütend? War das Furcht? Gouri konnte es nicht sagen.
Und da erkannte sie endlich die Quelle des seltsamen metallenen Geräuschs. Vor dem silbernen Flammenkonstrukt stand ein Zwerg. Nicht irgendein Zwerg, nein, es war derselbe entflohene Zwerg mit den Überresten goldener Ketten an seinen Händen und Füssen, welcher vorhin ihre Gruppe angegriffen und Belenor verletzt hatte. Jetzt stand er mutig da, und stellte sich dem Drachen entgegen. In seiner Hand hielt einen spitzen schwarzen Schild mit wenigen Ornamenten am Rande, auf den er immer wieder mit seiner goldenen Kette schlug, was das metallische Klingen auslöste. Das silberne Feuer wogte und waberte im Einklang mit seinen Schlägen. Kein Zweifel: Das war der legendäre Dunkelschild, der den Unterirdischen Krieg ausgelöst hatte. Der entflohene Zwerg war der Träger des Dunkelschilds. Der Erschaffer des Dunkelschilds. Der entflohene Zwerg war der legendäre Meisterschmied Kreatok. Und er war soeben mit seiner gefährlichsten Kreation wiedervereint worden.
Wie der verwirrte Zwerg, welcher vor Kurzem auf Gouri zugestolpert war und wirr vor sich hin geredet hatte, wirkte Kreatok nun wahrlich nicht mehr. Sein Blick war wieder fest nach oben auf Tarok gerichtet, ein hämischen Grinsen unter dem mächtigen Rauschebart erkennbar. Dann hörte er auf, weiteren Lärm mit seinem Dunkelschild zu machen, und öffnete seinen Mund zu einem Triumphgegröle:
„Meine Brüder und Schwestern, wie sehr habe ich eure Gesellschaft vermisst! Ich bin der Kreatok, den ihr viel zu lange falsch behandelt habt – doch fürchtet euch nicht, ich bin nicht nachtragend. Unter meiner Abwesenheit hat das Volk der Schildzwerge gelitten, so wie auch ich gelitten habe, alleine eingesperrt in diesem Turm, weit weg von meinen schönen Kreationen. Doch frohlocket und jauchzet, denn ich bin zurück, und somit wird alles wieder in Ordnung sein!“
Es war eindeutig nicht alles in Ordnung. Gouri schluckte schwer. Sie wollte sich nach den übrigen Zwergen umsehen, insbesondere Prip, um zu sehen, was sie von dieser Entwicklung hielten. Klar, Kreatok war ein Verbrecher, und ein verrückter noch dazu, doch schien er in Verbindung mit den mächtigen Schilden eine wahre Chance gegen die übermächtigen Drachen zu bieten. Oder war das nur Farce? Er wirkte weniger wahnsinnig als vorhin, doch für wie lange würde das so bleiben? All diese Fragen erhoffte Gouri sich von Prip beantwortet zu kriegen.
Doch Prip war nicht mehr hier.
Die übrigen Zwerge waren nicht mehr hier.
Gouri erkannte sie weiter vorne, bereits tapfer aufs Schlachtfeld rennend, Prip ungeachtet seiner zahlreichen Wunden und blauer Flecken. Sie wollten ihren Freunden helfen.
Von den Rändern der Ebene und aus dem Innern der der Drei Wasser erkannte Gouri weitere Zwerge, die hervorströmten, zu den Gefallenen und Verwundeten, teils mit Tragen, teils mit Heilkräutern, teils mit nichts ausser ihren Kleidern und dem Willen, die verwundeten und angekokelten Schildzwerge in Sicherheit zu tragen.
Das war auch Kreatok aufgefallen, und er schrie weiter: „Ja, meine Brüder und Schwestern, schnappt euch die Verwundeten und bringt sie in Sicherheit. Ich bin hier, um mich wieder in den Dienst meines Volkes zu stellen. Wenn all das hier vorbei ist, dann werde ich hinunter in die Hallen von Cavern steigen, den Thron beanspruchen und die Zwerge der mächtigen Schilde in ein glorreiches Zeitalter der Innovation bringen! Ihr habt zu lange im Schatten der Riesenechsen gewartet, und zu viele von uns leiden IN DIESEM AUGENBLICK unter dem Joch der Riesen aus dem Süden! Wir werden sie alle befreien! Doch zunächst gibt es eine letzte Riesenechse, die mich enttäuscht hat, und mit der es fertigzuwerden gilt.“
Damit richtete Kreatok seine starren Augen wieder auf Tarok, welcher seit dem Erscheinen des Schwarzen Feuers keinen Wank getan hatte: „Tarok, du alter Waschlappen! Ich habe gehört, dein kleiner Sagrak ist nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Das muss schon tragisch sein, auch noch deinen letzten Sohn zu verlieren. Echt, wenn du lieber in dein heimeliges Nest gehen und dich dort ausweinen willst, lasse ich dich bereitwillig ziehen, mein Freund!“
Taroks Gesicht zeigte keine Regung, aber eine Welle der Wut und des Schmerzes brandete abrupt von ihm aus. Gouri war überrascht, wie gut Kreatok Tarok zu kennen schien. Und darüber, dass Sagrak, der Drache, welcher gestern Prip überfallen hatte und von einem Troll getötet worden war, offenbar Taroks Sohn gewesen war. Das machte die Situation auf keinen Fall besser.
„Hast du deine Worte verloren? Schon klar, es kommt nicht jeden Tag, dass man...“, setzte Kreatok erneut an. Doch diesmal unterbrach Tarok seinen Spott und sprach langsam und deutlich ein einziges Wort:
„KREATOK.“
Kurzzeitig flackerte Unsicherheit in Keratoks Stimme auf, ehe er zu einer Antwort ansetzte: „Ja, so haben mich meine Eltern benannt. Worauf willst du hin...“
Erneut wurde er von Tarok unterbrochen, welcher tonlos sprach: „ICH HÄTTE NICHT GEGLAUBT, DASS DU NOCH AM LEBEN BIST. DEINE ZUNGE IST SPITZER GEWORDEN.“
Er wartete einen kurzen Augenblick, und setzte dann nach: „NEHAL VERMISST DICH.“
Gouri konnte von ihrer entfernten Position Kreatoks Gesicht nicht erkennen, doch es kam keine Antwort von Seiten des Zwergs. Dafür flammte das Schwarze Feuer hinter ihm weiter auf, sodass es Tarok nun deutlich überragte. Nehal war der Name von Kreatoks besten Freund gewesen, einem Drachen. Kreatok hatte ihn der Legende nach mit ebenjenem Schild umgebracht, den er nun wieder in seiner Hand hielt.
„KREATOK. DEINE TATEN SIND UNVERZEIHLICH, DARUM SCHWÖRE ICH DIR GLEICH JETZT: SOBALD ICH DIE GELEGENHEIT DAZU KRIEGE, WERDE ICH DICH VERNICHTEN. ABER DEIN VOLK MUSS NICHT WEITER UNNÖTIG LEIDEN. ICH BIN EIN DRACHE VON EHRE. WENN DU DICH ERGIBST, SO LASSE ICH DIE ANDEREN ZIEHEN.“
Kreatok sagte nichts und die Flammen hinter ihm wuchsen weiter in die Höhe und Breite, erreichten die Drei Wasser und leckten an der bröckelnden Aussenmauer.
„KREATOK, SEI VERNÜNFTIG. DEINE ZEIT IST UM. NEHAL HAT DIR SCHON LANGE VERGEBEN. ER WARTET AUF DICH AUF DER ANDEREN SEITE.“
„Es war seine Schuld!“, schrie Kreatok jetzt plötzlich auf. „Er soll mir nicht verzeihen, das lag alles an ihm! Ihm hätte das Feuer nichts angehabt, hätte er sich nicht von mir abgewandt! Ich habe ihn nicht... ich wollte nicht!“
„WAS WOLLTEST DU NICHT, KREATOK?“
„Ich wollte keinen Krieg! Es gab nie ein geheimes Bündnis der Zwerge gegen die Drachen. Ich teilte mein Wissen über die Dracheneier nur aus Notwendigkeit... weil DU, Tarok, uns angegriffen hast. DU mit deiner ewigen Anfeindung und dem Schmerz, den du an uns auslässt. Ich war genauso entsetzt über die tragischen Tode wie du, aber DU musstest ja einen gleich eine ganze Horde der deinigen auf die Besatzung von Karulzar losschicken.“
Kreatok schien wieder etwas sicherer zu werden, aber er wirkte definitiv nicht gesünder, als er ausspuckte: „Ich lag falsch. Es war nicht Nehals Schuld. Es war aber auch nicht meine. Es war deine Schuld! Was nach diesem tragischen Unfall geschehen ist... all diese Tode hast DU auf dem Gewissen!“
„DU HAST IN DEN FLAMMEN GESUNGEN UND GETANZT! IN DEINEN KÜHNSTEN TRÄUMEN SAH DAS NICHT NACH EINEM UNFALL AUS!.“
Kreatok hielt inne. Er setzte zu einer Antwort an: „Das... das war nicht... der Schild, er trägt Dunkelheit in sich... sobald ich ihn einmal abgelegt hatte, da...“
Der Meisterschmied blickte den Schild an, den er immer noch festhielt, und hielt ihn etwas zur Seite, als würde er ihn jeden Augenblick fallen lassen.
Und Gouri sah, wie Tarok seinen Hals aufrichtete und tiefer ein- und ausatmete. Sie erkannte den Plan des Drachen. Sobald Kreatok den Dunkelschild loslassen würde, würde Tarok dessen Leben wie eine Kerze auspusten. Und dann wären die Seiten im Krieg wieder im Ungleichgewicht. Die Schildzwerge würden ausradiert werden. Prip, welcher gerade verzweifelt versuchte, eine am Boden liegende Kameradin vom Schlachtfeld wegzuzerren, würde sterben, wenn nicht durch das Feuer, dann durch die Trolle, welche nach jedem Scharmützel im Grauen Gebirge die Verletzten zusammensammeln kamen.
Das durfte sie nicht zulassen.
Doch was konnte sie schon tun?
Und in diesem Augenblick schien die Zeit sich zu verlangsamen, und Gouri erkannte etwas Glitzerndes auf Taroks Rücken. Sie schaute genauer hin. Zwischen zwei Stacheln, wie sie zu Dutzenden aus seiner Wirbelsäule herausstachen, sass sicher eingeklemmt ein bläulich glänzender Schild.
Belenor hatte vorhin erwähnt, dass der Sternenschild an die Drachen gefallen war. Konnte es sein, dass Tarok ihn mit sich gebracht hatte, als letzter Schutz gegen das Feuer des Dunkelschilds?
Wenn der Dunkelschild die Verkörperung des Finsteren und Verdorbenen war, so war der Sternenschild die Verkörperung des Guten und Reinen. Wenn nur jemand an den Sternenschild gelangen könnte, so könnte man damit das Schicksal vielleicht wieder ins Lot wenden. Doch dafür müsste jemand zu Tarok, auf dessen Rücken klettern, und den Sternenschild stibitzen, ehe die riesige Echse etwas merkte. Das war eine Tat, die an Unmöglichkeit angrenzte. Und dazu kam noch, dass niemand in der Nähe war, dem Gouri diesen Plan überhaupt mitteilen könnte. Sie selbst war wahrlich nicht dafür geeignet, so unerfahren und schwach, wie sie war. Gouri war kurz vor dem Verzweifeln – da tauchte plötzlich vor ihrem inneren Auge das Gesicht eines freundlich glucksenden Trolls auf.
Der Troll erwachte aus seinem steinernen Schlaf und gähnte ausgiebige. Langsam rappelte er sich auf und räkelte sich im Licht der Morgensonne.
Er hatte keinen Namen.
Die niederen Trolle benötigten keinen Namen.
Er hatte nur seinen Clan, und die Bedürfnisse seines Clans kamen vor seinen eigenen.
Seltsam, dass er etwas abseits des Clan-Lagers eingenickt war. Sein Magen grummelte, aber das war es nicht, was ihn geweckt hatte. Als er auf seine Hand blickte, lagen darin die Überreste eines verkohlten Schildes.
Ach ja, genau! Der Troll hatte letzte Nacht zwei wirklich nette Gesellen getroffen, die seine Brücke überquert hatten, und diese Gesellen hatten ihm die verkohlten Überreste eines mythischen Schilds geschenkt. Der Troll grinste selig. Wahre Freunde waren das gewesen. Nicht weggerannt waren sie, wie es sonst alle taten, sondern auf ihn zugegangen und mit ihm gespielt hatten sie. Er gluckste schon allein von der Erinnerung an das Treffen. Leider waren sie davongerannt, ehe es Zeit fürs Essen geworden war – sie hatten so lecker ausgesehen! Und leider hatten ihre mythischen Schildüberreste nichts Tolles drauf gehabt.
Aber das machte nichts. Schliesslich besass sein Clan noch immer den braunen Schild mit dem Händeschütteln drauf. Und das war ein wahrlich toller Schild, das hatte der Troll schon von weitem gespürt.
Da tauchte vor dem inneren Auge des Trolls das Gesicht des einen dieser Gesellen auf, ein grünes Zwerglein mit einer Kleidung aus Moos war das gewesen. Und diese Gestalt schwebte nun in seiner Vorstellung rum und grinste ihn an. Das war ja ungewöhnlich. Was noch ungewöhnlicher war: Die Gestalt gestikulierte in eine gewisse Richtung – weg von der Brücke, und hin zu seiner Clanhöhle.
Fröhlich folgte der Troll dem grinsenden Gesicht der grünlichen Gestalt in die Höhle seines Clans. Der Wächter-Troll guckte ihn seltsam an, aber unserem Troll war das egal. Es fühlte sich gut an, diesem Gesicht zu folgen. Der Clan-Häuptling guckte noch dümmlicher drein, als der Troll einfach so in seinen Schlafraum stapfte und zum dort an der Wand hängenden mythischen Schild trat, aber auch das war unserem Troll egal. Unser Troll fühlte sich sicher und geleitet. Das Lächeln der grünen Person vor seinem inneren Auge bestätigte ihn in seinem Tun. Ein letztes Mal blickte er ihr in die Augen, diesmal fragend. Das Gesicht nickte, und so griff der Troll nach dem Schild und hob ihn in die Höhe und –
– da fühlte der Troll seine Knie weich werden und nachgeben. Was für finstere Hexenkunst steckte in diesem Schild? Der Troll wurde von einem Augenblick zum nächsten immer schwächer und schwächer! Schon mochte er den verfluchten Schild nicht mehr halten, und der Schild kullerte davon und rollte seinem ihn immer noch mit grossen Augen anstarrenden Clan-Häuptling vor die Füsse.
Unser Troll wollte nach dem Schild greifen, doch seine Arme waren zu schwer, viel zu schwer, und plumpsten nutzlos auf den Höhlenboden. Dann tat es ihnen sein restlicher Köper nach.
Da lag der Troll nun zusammengesunken am Boden. Selbst das Atmen kam ihm wie eine riesige Anstrengung vor. Was war nur los hier? Das immer noch freundlich lächelnde Gesicht der grünlichen Gestalt verblasste.
Gouri spürte die Veränderung kommen, ehe sie eintraf. Wie die Spannung, die vor einem Gewitter in der Luft liegt, war ihr Körper aufgeladen und bereitete sich auf die einströmende Kraft vor. Breitbeinig stand Gouri oben auf der Hügelkuppe und starrte in die Ferne, das Gesicht des freundlichen Trolls immer noch im Kopf behaltend. Da spannten sich plötzlich ihre Muskeln unverhältnismässig an, und ein Blitz aus reiner Energie zuckte durch ihren Körper, drang in jede Faser ihres Wesens und erfüllte sie von Kopf bis Fuss. Gouri schrie schmerzerfüllt auf.
Dann war es vorbei.
Aber alles hatte sich verändert.
Gouri fühlte sich so leicht, so leicht, wie sie sich noch nie in ihrem Leben gefühlt hatte, leicht wie eine Feder, und doch so standhaft wie das Graue Gebirge selbst. Ihr Atem ging rasch, und sie fühlte, als könnte sie Bäume ausreissen. Konnte sie wahrscheinlich tatsächlich.
Ein Hoch darauf, dass sie sich an den Aufenthaltsort des Bruderschilds erinnert hatte. Ein Hoch auf den netten Troll, der sie in einem so positiven Licht sah, dass er ihr seine Stärke geliehen hatte. In gewissem Sinne auch ein Hoch auf Kreatok und Nehal, die diesen so mächtigen Bruderschild geschaffen hatten. Gouri jubelte. Sie war bärenstark, nein, sogar trollstark! Jetzt galt es, den Sternenschild von Taroks Rücken zu erobern.
Gouri duckte sich, holte Anlauf, und tat einen SPRUNG, welcher sie meterweit in die Luft katapultierte. Windstösse trafen sie im Gesicht, und sie ruderte ungeschickt mit den Armen, ehe die grasbewachsene Erde unter ihr allzu schnell wieder auf sie zukam und sie unschön zu Boden krachte. Gouri kullerte den Hügel hinunter, wobei sie sich noch mehr Schürfwunden an den Armen und Beinen zuzog.
Ächzend richtete Gouri sich wieder auf und strich sich Matsch aus dem Gesicht.
Ein grossartiger Start. Aber positiv bleiben: Sie war immer noch stark wie ein Troll, einige Schürfwunden würden ihr da nichts ausmachen.
Gouri versuchte es erneut, diesmal etwas vorsichtiger. Selbst das Laufen war schwer, da ihr Körper jede Bewegung viel schneller vollzog, als sie es erwartete. Aber nach einigen Schritten hatte Gouri den Dreh soweit raus, damit sie ein etwas schnelleres Tempo einlegen konnte. Und so begann Gouri zu rennen.
Gute Güte, und wie sie begann, zu rennen! Die Umgebung um sie verzerrte sich zu grünen und braunen Farbschlieren, als Gouri einen weiteren Zahn zulegte. Schemen von verletzten und einander helfenden Zwergen huschten links und rechts an ihr vorbei, einige drehten sich erstaunt nach ihr um. Sie mochten viel Schauriges erlebt haben in den letzten Tagen, doch eine Agren mit der Stärke eines Trolls und der daraus resultierenden Geschwindigkeit sah man auch nicht alle Tage.
Gouri wagte einen kleinen Hopser, und schaffte es diesmal, nach der Landung auf den Beinen zu bleiben. Sie verlor kurzzeitig den Rhythmus, wurde langsamer, fand die Kontrolle wieder und beschleunigte auf ein noch höheres Tempo als vorher, stetig auf den riesigen schwarzen Drachen zu.
Kreatok und Tarok warfen sich weiterhin Anschuldigungen an den Kopf, doch Gouri kümmerte sich nicht mehr gross um den Inhalt. Kreatok hatte den Dunkelschild immer noch nachdenklich in der Hand und Tarok war immer noch komplett auf ihn fokussiert. Soweit, so gut.
Gouri wagte einen noch grösseren Satz, dann noch einen, und diesmal erreichte sie wieder eine Höhe von mehreren Metern. Das machte beinahe Spass!
So näherte sich Gouri hüpfend, immer höher hüpfend, dem riesigen Drachen. Sie sprang in hohem Bogen über den einem anderen Schildzwerg helfenden Prip, welcher sich aufrichtete und sie mit grossen Augen anstarrte. Von weit hinten hörte Gouri ihn etwas rufen, doch der Wind verzerrte es, sodass sie es nicht hören konnte. Kurz überlegte Gouri, stehenzubleiben, und gelang ins Stolpern. Dann rief sie sich ins Gedächtnis: Der Sternenschild. Sie musste zum Sternenschild, solange Kreatok den Dunkelschild noch nicht losgelassen hatte.
Nun war Gouri kaum mehr eine Drachenlänge von dem gigantischen Tarok und dem noch viel gigantischeren schwarz-silbernen Feuersturm Kreatoks entfernt. Die Hitze schlug ihr entgegen und brannte in ihren Schürfwunden. Ihre Schuhe hatte sie längst abgelaufen, und ihre Füsse würden die Tortur auch nicht mehr lange mitmachen. Aber weit war es nicht mehr, nur noch zwei, drei Schritte –
– da riss Kreatok mit einem inbrünstigen Schrei den Dunkelschild in die Höhe und der schwarze Flammensturm setzte sich in Bewegung, umströmte ihn und raste auf Tarok zu, welcher laut aufbrüllte und seinerseits einen feuerroten Flammenstrahl in Richtung des Schildzwergs sandte – und funkelten da etwa Sterne in Taroks Strahl?
Die Feuerwände krachten zusammen in einem Schauspiel, welches zugleich unglaublich furchterregend und wunderschön majestätisch aussah. Silberne Flammen trafen auf orange, schwarze auf rote, und die Feuer vermischten sich in Wirbeln und Strudeln, verglühten die letzten Reste des Grases zwischen dem Schildzwerg und dem Feuerdrachen und tauchten die Umgebung in ein gespenstisches rotes Licht. Silbern glitzernder Rauch stieg in die Höhe und verknüpfte sich mit den schneeweissen Wolken, über denen immer noch Drachen flogen und Lava auf die Drei Wasser niederregnen liessen.
Gouri war zu spät, um auszuweichen. Sie flog mitten im Sprung auf die vielfarbige Feuerwand zu, während die Hitze sich auf ein unerträgliches Mass steigerte.
Sollte sie noch versuchen, ihre Geschwindigkeit zu bremsen? Falls sie das überlebte, könnte Gouri sich zurückziehen und später einen erneuten Versuch machen, den Sternenschild auf Taroks Rücken zu erringen. Doch würde das Schicksal ihr eine zweite Chance geben?
Sie durfte den Troll nicht vergessen, dessen Stärke sie im Moment führte. Dieser Troll lag gerade hilflos zusammengesunken auf einem Höhlenboden nicht weit von hier entfernt, und brauchte dringend seine Kraft zurück. Sobald Gouri ihm diese zurückgegeben hatte, würde sie sie wohl nicht wiedererhalten können. Es hiess jetzt oder nie.
Gouri dachte an Prip und seine Zwerge, die sich selbstlos auf das Schlachtfeld gewagt hatten, um ihre Mitzwerge zu unterstützen. Ihre Bemühungen wären alle für nichts, wenn Tarok und Kreatok jetzt einen Feuersturm über das Schlachtfeld entfachen würden. Prip würde sterben. Belenor mit seinem prächtigen Schnurrbart würde sterben. Gouri selbst würde sterben, wenn sie nicht schleunigst Leine zog.
Und so, mitten im freien Fall, traf Gouri ihre Entscheidung.
Sie prallte auf dem Boden auf und sprang erneut hoch, viel zu schnell, viel zu weit, viel zu nahe an den tobenden Kampf der Feuer. Ungehindert schoss Gouris Körper direkt auf das Flammenmeer zu. Sie schloss die Augen und bereitete sich auf ihr Ende vor.
Ein kühler Luftstoss traf Gouri im Gesicht und fegte die Hitze davon. Ungläubig öffnete sie die Augen, gerade rechtzeitig für den nächsten Sprung. Tarok sass nicht mehr auf der Erde, sondern hatte seine riesigen Flügel aufgespannt und schwang sie würdevoll, sich langsam in die Lüfte erhebend.
Das schwarze Feuer konnte ihm gefährlich werden. Der Feuerdrache wollte sich in Sicherheit begeben. Und durch das Bewegen seiner Flügel sorgte er für frische Luftströme, die Gouri ganz nebenbei die rettende Kühle verschafften. Sie dankte der Mutter des Steins, und legte die letzten paar Meter in einem mächtigen Sprung zurück.
Im Nachhinein hätte sie besser zielen können. Aber Gouri war sowohl geistig als auch körperlich an ihrem Ende, und hatte sich nur auf den Sternenschild fokussiert, darauf, dass der Schild gleich aus ihrer Reichweite verschwinden würde und dass sie ihn vorher erreichen musste. So hatte sie zum letzten Sprung angesetzt und sich weit in die Lüfte erhoben, an Taroks Beinen, Brust und selbst über seine Kopfhöhe hinweg, direkt auf seinen Rücken zu, wo zwischen zwei spitzen Stacheln weiterhin der Sternenschild eingeklemmt war. Aus der Nähe glitzerte er noch viel schöner.
Gouri lächelte.
Dann prallte sie auf den Rücken des Tarok und wurde gleich wieder meterhoch in die Luft geschleudert, knallte an einen seiner mächtigen Flügel, der sich gerade am Heben war, und rutschte daran herunter, bis sie am unteren Flügelansatz sass, beinahe nicht mehr bei Bewusstsein.
Gouri, die Agren, war auf Tarok gelandet.
Hatte er sie bemerkt? Ein rascher Blick verriet ihr, dass Tarok immer noch viel zu sehr damit beschäftigt war, einen Feuerstrahl nach dem anderen auf Kreatok abzusenden, als dass er sich darum kümmern konnte, was für mickrige Wesen da auf seinem Rücken landeten.
Gouri hatte Mühe, die Situation zu begreifen. Sie lag auf dem Rücken von Tarok. Sie lag auf dem Rücken eines vom abhebenden Drachen. Man könnte argumentieren, dass sie einen Drachen ritt – sie, eine einfache Agren aus dem Grauen Gebirge!
Durch den Rauch, welcher vom Drachenfeuer und vom Feuer des Dunkelschilds hoch in die Lüfte stieb, konnte Gouri den Boden nur noch schwer erkennen, aber es war klar, dass er sich von ihr entfernte. Mit mächtigen Schwüngen seiner breiten Flügel schraubte Tarok sich weiter in den Himmel hervor, weiter weg vom riesigen silbernen Feuer, welches Kreatok beschworen hatte. Gouris Höhenangst schlug rasant Alarm, also wandte sie sich vom Blick nach unten ab und drehte sich mühsam auf den Rücken.
Der Blick nach oben löste in ihr fast noch mehr Furcht aus. Über ihr kreisten mindestens fünf Drachen, welche aufgehört hatten, Lava auf die Drei Wasser regnen zu lassen, und stattdessen Taroks Kampf mit Kreatok aufmerksam beobachteten. Konnten die Drachen sie vielleicht erkennen?
In diesem Moment lief Gouri ein weiterer Schauer über den Rücken, und sie sackte etwas zusammen. Ihr Muskeln entspannten sich kurz und verspannten sich gleich wieder, als eine Welle reinen Schmerzes ihren Körper ergriff.
Gouri brauchte einige Augenblicke, um zu erkennen, dass es sich dabei nicht um einen telepathischen Angriff eines Drachen handelte. Nein, es war die Kraft, die sie vom Troll erhalten hatte. Die Stärke des Trolls verliess ihren Körper und ihre eigene Verletzlichkeit trat wieder zum Vorschein. Gouri schaute auf ihre Hände, welche stark zitterten und ihr nicht mehr zu gehorchen schienen. Ihr Blickfeld verengte sich und die Welt wurde dunkel. Blind warf Gouri sich nach vorne, auf den mächtigen Sternenschild zu, welcher nur wenige Schritte von ihr entfernt zwischen den Rückenstacheln des Tarok steckte.
Sie verlor das Bewusstsein nicht. Sobald ihr Körper den Schild berührte, ertönte ein leises metallisches Summen, und der Schleier vor ihren Augen lichtete sich. Die Schmerzen liessen nach. Der Sturm von Taroks Flügeln wurde leiser und leiser. Und Gouri fühlte nicht mehr Taroks erhitze Schuppen unter ihren Händen, sondern festen, kalten Stein.
Verwirrt blickte Gouri sich um. Sie erblickte dunkle Äste und Blätter auf allen Seiten, weiter vorne sogar einen riesigen Stamm. Offenbar befand sie sich unter einem steinernen Mammutbaum, höher als alle Burgen, die sie in ihrem Leben je gesehen hatte, so gross, dass seine Blätter den Himmel verdeckten. Schimmernde Edelsteine überzogen den steinernen Baum, und gleissendes bläuliches Licht strahlten diese aus. Dieses Licht umgab Gouri, und dieses Licht spiegelte sich im glänzenden Sternenschild, den sie immer noch in der Hand hielt.
Tatsächlich: Sie besass den Sternenschild! Eines der mächtigsten Artefakte, von denen sie aus zahlreichen Legenden und Sagen gehört hatte. Sagen und Legenden, denen sie als Kind begeistert gelauscht und die sie in sich aufgesogen hatte. Und nun war sie selbst mitten in einer Sage.
Weiter vorne, nahe beim Stamm, rührte sich etwas. Eine seltsame Kreatur mit Hornklauen anstelle von Händen löste sich aus einem Loch im Stamm des riesigen Steinbaums und krabbelte geschickt über den kalten Stein auf Gouri zu. Die Kreatur erreichte sie jedoch nie, denn in jenem Augenblick schoss eine gewaltige Gestalt an ihr vorbei und landete zwischen der Kreatur und Gouri.
Es war ein Drache, wie konnte es auch anders sein.
Gouri erkannte erst jetzt die übrigen fliegenden Drachen, wie sie weit über ihr den Steinbaum umkreisten. Viele von ihnen schenkten ihr keine Beachtung, aber manche verdrehten die langen Schlangenhälse, um sie zu erkennen. Einer der Drachen, welcher besonders schnell den Baum umkreiste, erinnerte Gouri ungut an Tarok – und wenn sie plötzlich an diesem Ort sein konnte, so war dieser Drache vielleicht auch Tarok selbst.
Als es vor ihr schnaubte, wandte Gouri sich rasch wieder dem Drachen zu, welcher sich auf dem Boden niedergelassen hatte und sie aufmerksam studierte:
„Der Sternenschild?“, fragte eine tiefe, aber nicht unfreundliche Stimme in ihrem Kopf, „Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn so bald schon wiedersehen würde. Du brauchst dich nicht zu fürchten, kleine Agren. Solange dein Geist hier in Krahal weilt, können wir dir nichts tun. Also setzen wir uns hin und reden über diese... Angelegenheit.“
Der Drache strahlte eine gewisse Ruhe und Gelassenheit aus, und Gouri spürte, dass er die Wahrheit sagte.
Tarok (falls es denn Tarok war) hatte sich Fleckchen Stein, auf dem Gouri und der fremde Drache sassen, nun ebenfalls angenähert, und schwebte elegant in der Luft, jedoch ohne sich niederzulassen. Er überragte den ruhigen Drachen um mindestens das dreifache.
„DU!“, zischte Tarok zu Gouri, „Du hast meinen Sohn Sagrak auf dem Gewissen!“ Doch zu einem physischen Angriff liess Tarok sich nicht hinreissen.
Der Sternenschild summte plötzlich auf, und Gouri spürte eine Welle des Schmerzes von Tarok ausgehen. Erlaubte der Schild ihr, die Emotionen der Drachen in Krahal zu teilen? Sie spürte einen vertrauten Geist aus der Höhe, und als sie ihren Hals verdrehte, erkannte sie Sagrak, wie er weit über ihr auf einem steinernen Ast sass und sie aufmerksam bespitzelte. Waren die meisten Drachen, die sie hier sah, nur Abbilder bereits gestorbener Drachen? Waren es ihre Geister? Gouri hatte Geschichten von Krahal gehört, doch jetzt, wo sie den Ort mit eigenen Augen sah, war es einfach absolut überwältigend. Was tat ihr Körper momentan in der realen Welt? Und was Tarok?
Als hätte er ihre Gedanken erraten, antwortete der ruhige Drache nun:
„Keine Sorge, du stürzt nicht gerade vom Himmel. Tarok vermag es, seine Flügel zu schwingen, auch wenn sein Geist gerade in Krahal ruht.“
Mit einer gekrümmten Kralle deutete der ruhige Drache in die Höhe. Was Gouri zunächst für den vom riesigen Steinbaum verdeckten Himmel gehalten hatte, wirkte nun wie eine Höhlendecke. Doch das konnte natürlich nicht sein, schliesslich hatte eine so grosse Höhle unmöglich unter der Erde Platz.
Wichtiger war jedoch, was sich an dieser möglicherweise-Höhlendecke abspielte: Darauf erkannte Gouri eine sich bewegende Wandmalerei, ein Abbild ihrer selbst, wie sie auf dem Rücken Taroks lag, den Sternenschild fest umklammert. Dieses Abbild von Tarok bewegte sich nicht gross, aber seine Flügel schlugen ununterbrochen. Durch die Decke konnte Gouri erblicken, was sich soeben in der realen Welt abspielte.
Der ruhige Drache seufzte, und sprach: „Solange du den Sternenschild trägst, gebietest du darüber, wer Krahal sonst noch zu betreten vermag. Ich bitte dich darum inbrünstig: Wärst du so lieb, Kreatok hierhin zu bringen?“
Gouri atmete tief ein und aus und streckte ihre Hand schützend aus: „Ich... ich brauche kurz einen Moment. Das... das ist alles etwas zu viel.“
Der ruhige Drache seufzte wieder und liess sich zu Boden sinken, die Vorderpfoten elegant gekreuzt: „Du hast alle Zeit der Welt. Naja, ‚alle Zeit‘ ist vielleicht etwas übertrieben. Aber jedenfalls genügend Zeit.“
Tarok, welcher vorhin noch unruhig über ihnen beiden hin- und hergetigert war, atmete tief ein und aus und liess sich dann auch zu Boden fallen. Die Erde zitterte unter Gouris Füssen und sie fühlte sich plötzlich ganz klein, direkt vor der Schnauzen zweier Drachen, die sie anstarrten.
Der ruhige Drache wandte sich Tarok zu und fragte vorsichtig: „Bist du sicher, dass hilfreich ist, wenn du dich so nahe befindest...“
Tarok drehte seinen Kopf dem ruhigen Drachen entgegen und öffnete seinen Mund leicht, ein furchterregendes Knurren ausstossend, woraufhin der viel kleinere ruhige Drache unterwürfig den Kopf senkte und Tarok gewähren liess. Hitzewellen entwichen Taroks Maul und trafen Gouri im Gesicht, die sich abzuwenden hatte. Erneut fragte sich, wie sicher sie hier in Krahal wirklich war. Was würde geschehen, wenn dieser Tarok – sein Geist – sich entscheiden würde, sie zu beissen? Würde sie in der echten Welt aufwachen oder konnte sie hier drin sterben?
Plötzlich glomm der Sternenschild in einem beruhigenden blauen Licht auf, und Gouri überkam die Gewissheit, dass sie im Moment nicht gefährdet war. Sie war sich absolut sicher, dass Tarok sie nicht verletzen konnte. Der Schild würde sie beschützen. Der Schild hatte Hoffnung in ihr geweckt.
Der ruhige Drache blickte vom wütenden Tarok auf und fast so etwas wie Stolz überkam ihn, als er den leuchtenden Schild ansah und sprach: „Ach... ist er nicht wunderschön? Von den vieren war er mir stets der liebste.“
Gouri sah ihn überrascht an. Der ruhige Drache sprach weiter: „Verzeih mir, in diesem ganzen Klamauk hatte ich mich noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Nehal. Ich war derjenige, der mit Kreatoks Hilfe die vier mächtigen Schilde hergestellt hatte. Und auch wenn Kreatok jeweils den Silberschild benutzt hatte, um nach Krahal zu gelangen, denke ich, dass mit geschickter Führung auch eine Trägerin des Sternenschilds seinen Geist hierhin bringen könnte. Kannst du das für uns tun, edle Dame?“
Gouri starrte Nehal an. Der Erschaffer der mächtigen Schilde! Kurz hatte sie das Verlangen, sich zu verbeugen – sie hatte bei Prip abgeschaut, wie das ging – doch dann liess sie es sein. Sie hatte einhundert Fragen und nochmals einhundert mehr, doch das war nicht der Zeitpunkt, erst recht nicht vor dem grimmig dreinschauenden Tarok. Somit begnügte sich Gouri damit, ein leises „Ich bin Gouri“ zu stammeln und dann zu fragen: „Wie... wie kommt es, dass du... dass Sie... hier...“
„Ah, wir Drachen sind Seelen der Erde und des Feuers, wir sind nicht einfach so auszulöschen, indem man unsere Körper vernichtet“, lächelte Nehal, „Solange noch einer einziger von uns übrig ist, leben wir in dessen Kopf weiter. Krahal besteht weiter, solange noch einer von uns bei klarem Verstand ist“ – bei diesen Worten schaute Nehal warnend auf Tarok – „und das wird wohl noch jahrtausendelang der Fall sein.“
„KOMMT KREATOK JETZT ODER NICHT?“, warf Tarok ungeduldig ein.
Gouri und Nehal verstummten umgehend.
„Wenn ich Kreatok hierhin bringe, könnt ihr ihm nichts tun?“, fragte Gouri nochmals nach.
„Ja, Träger der mächtigen Schilde sind hier sicher. Wir wollen nur reden.“, antwortete Nehal, und Gouri spürte abermals durch den Sternenschild in ihrer Hand, dass Nehal dies als die reine Wahrheit ansah.
So weit, so gut. Nun musste Gouri nur noch Kreatok nach Krahal holen. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte, aber sie hatte Vertrauen in die mächtigen Schilde – bislang hatte sie ja auch nicht mehr Ahnung gehabt, wie die Schilde genau einzusetzen waren.
Und prompt summte der Sternenschild metallisch, glomm leuchtend auf und in Gouris Nähe verdichteten sich die Nebelschwaden. Heraus trat Kreatok, der Meisterschmied, den Dunkelschild immer noch in der Hand. Das lief ja wie am Schnürchen.
Im Gegensatz zu Gouri wirkte Kreatok nicht überrascht, in Krahal zu stehen. Sein gefasster, fast gelangweilter Gesichtsausdruck deutete darauf hin, dass er bereits einmal hier gewesen war. Das machte auch Sinn, schliesslich hatten er und Nehal die mächtigen Schilde geschaffen und wussten ziemlich sicher über alle Tricks Bescheid, die diese auf Lager hatten.
Da er nicht über den riesigen Baum inmitten Krahals und die Unmenge an herumfliegenden Drachen staunen musste, konnte Kreatok seine Aufmerksamkeit direkt auf Tarok richten. Tarok rührte sich nicht vom Fleck, aber sein Schwanz zuckte immer wieder und seine Augen verengten sich – wenn Gouri die Körpersprache des riesigen Reptils richtig deutete, stellte er sich gerade vor, wie nett es wäre, den kleinen Zwerg zu rösten.
Kreatoks Mine verfinsterte sich. Er nickte Gouri mit einem kalten Gesichtsausdruck kurz zu und setze zu einem Spruch an – wahrscheinlich wollte er schnippisch fragen, warum sie ihn nach Krahal gebracht hatte.
Dann fiel Kreatoks Blick auf Nehal, und er blieb mit halb geöffnetem Mund stehen. Beinahe sofort begannen seine Augen zu glänzen. Tiefe Furchen erschienen in seiner gerunzelten Stirn und sein Kinn zitterte, sodass sein ganzer Bart zu wackeln begann. Ja, Gouri fiel auf, dass sein Bart, welcher in der Welt da draussen schon längst versengt worden war, hier in Krahal wieder in voller Pracht vorhanden war. Was für ein mysteriöser Ort.
Nehal erwiderte Kreatoks Blick aus rot glühenden Augen, aber im Gegensatz zu Taroks leuchteten sie nicht bedrohlich, sondern warm und einladend, wie der Schein eines warmen Lagerfeuers. Nehal rief seinen Mörder beim Namen, in einer Tonlage, in welcher man sonst einen alten Freund begrüsste: „Kreatok...“
Eine einzelne Träne löste sich aus Kreatoks Augenwinkel und rollte seine Wange entlang. Sein Gesichtsausdruck zeigte nicht mehr den verwirrten entflohenen Gefangenen, als den Gouri ihn kennengelernt hatte. Und er war auch nicht mehr der kühle, spöttische Zwerg, der sich Tarok in den Weg gestellt hatte. Kreatok wirkte jetzt wie jemand, der jahrelang in der Dunkelheit gesessen hatte und nun einen Strahl Sonnenlichts erblickte. Wie jemand, dessen Kind an einer schweren Krankheit gelitten hatte und der nun von dessen Heilung erfuhr. Wie jemand, der seinen besten Freund im Affekt umgebracht hatte und ihn nun wieder erblickte, nicht wütend oder enttäuscht, sondern einfach... war das Vergebung, das Nehals Gesicht ihm versprach? Konnte ihm überhaupt vergeben werden?
Gouri spürte abermals durch den Sternenschild, dass Kreatok der Lage noch nicht traute. Er selbst hatte sich nie verziehen und hatte in den Jahren der Einsamkeit in den Kerkern der Drei Wasser gelitten, als er sich immer und immer wieder vorgestellt hatte, was Nehal nur von ihm denken musste. Kreatok hatte beim Schmieden des Dunkelschilds, von Nehal unbemerkt, machthungrig eine Dunkle Quelle angezapft, und diese hatte ihn erfüllt, begleitet, geleitet, bis er nicht mehr sie kontrollierte, sondern sie ihn. Erst als er Nehals Schreie gehört hatte, war Kreatok wieder aufgewacht, und hatte den Dunkelschild von sich gestossen. Doch zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät gewesen. Nehals Körper war vernichtet und Kreatok hatte den Krieg zwischen Zwergen und Drachen ausgelöst.
Ein Bild blitzte vor Gouris innerem Auge auf: Die rauchenden Überreste Nehals, wie sie umgeben von silbernem Feuer in einer Höhle tief unter Cavern brannten. Sie wusste, dass dieses Bild in Kreatoks Erinnerung festgebrannt war, und wie schon seit vielen Jahren kämpften in seinem Innern zwei Seiten.
Die eine Seite Kreatoks wollte den Dunkelschild wieder von sich werfen, so weit weg, wie nur irgend möglich, und zu Nehal rennen, ihn umarmen, ihm sagen, dass es ihm so unglaublich leid tat. Doch Worte konnten dem, was er getan hatte, nicht gerecht werden.
Die andere Seite Kreatoks konnte den Schild nicht loslassen. Kreatok war nach so langer Zeit zum ersten Mal wieder mit einer seiner Kreationen vereint, und sie war seine Lebensversicherung. Ohne Schild würden die Schildzwerge ihn wieder gefangen nehmen, oder schlimmer, Tarok ihn direkt vernichten. Nein, schon die ganze Angelegenheit hier musste ein Trick sein. Nehal konnte in ihm nur den Mörder sehen, den er selbst in sich sah. Sobald er den Schild losliess, würden sich die beiden Echsen auf ihn stürzen und seinen Geist zerreissen. Er brauchte den Dunkelschild.
Und so blieb Kreatok stehen, den Dunkelschild immer noch fest gepackt, und starrte Nehal entgegen, immer mehr Tränen in den Augen.
Auch von Nehal gingen jetzt Wellen der Trauer aus, als er seinen alten Freund vor sich anblickte, wie er zitterte und den Dunkelschild umklammerte. Erneut sprach er seinen Namen, diesmal mit einem leichten Anschwung von Tadel in der Stimme: „Kreatok... du brauchst diesen Schild doch nicht.“
Immer noch strahlte Nehal Vergebung und Freude aus, als er hinzufügte: „Komm, alter Freund. Du musst nicht mehr leiden.“
Nehal hatte seine Emotionen nicht mehr vollständig unter Kontrolle und für einen kurzen Augenblick fühlte Gouri, wie viele Dinge Nehal noch sagen wollte und nicht auszudrücken vermochte, weil Worte nicht genug waren. Es muss dir nicht leidtun, Kreatok. Du bist nicht das Böse hier. Es wird alles in Ordnung sein.
Kreatok spürte diese Dinge auch, und er war so nahe davor, den Dunkelschild loszulassen. Der Sternenschild in Gouris Händen summte ein letztes Mal auf und strahlte heller denn je zuvor, als die Agren alle ihre Zuversicht auf den Schildzwerg lenkte, wie er da vor ihr, Nehal und Tarok stand und mit sich selbst haderte.
Etwas in Kreatok brach und er murmelte: „Was soll’s.“
Dann öffnete er seinen Griff und der Dunkelschild entschlüpfte ihm, zu Nebel verpuffend, sodass kein Abbild des Schildes mehr in Krahal blieb. Gouri fiel auf, dass Kreatok auch hier in Krahal noch die Überreste goldener Ketten trug. Sie brauchte nicht nach oben in die echte Welt zu blicken, um zu wissen, dass der wahre Kreatok soeben den Dunkelschild losgelassen hatte.
Die Schlacht um die Drei Wasser war vorüber.
Nehal lachte fröhlich auf.
Kreatok schluchzte auf und rannte auf Nehal zu, die Arme zu einer Umarmung ausgestreckt.
Er sollte nie dort ankommen.
Tarok, der sich die letzten Minuten unnatürlich still verhalten hatte, bäumte sich brüllend auf und spie einen mächtigen Feuerstrahl auf den noch rennenden Kreatok, welcher innerhalb eines Augenblicks Krahal verliess und zu Nebel verpuffte. Erneut musste Gouri nicht nach oben in die reale Welt sehen, um zu wissen, dass Tarok soeben das Feuer auf Kreatok eröffnet hatte und Kreatoks Körper keine Chance gehabt hatte.
Gouri schrie auf: „NEIN!“
Nehal blickte wie versteinert auf Tarok. Hatte er gewusst, dass dies Taroks Plan gewesen war? Hatte er dies etwa unterstützt?!
Sie sollte die Antwort nie erfahren, denn in diesem Augenblick schrie Tarok: „DAS IST ES, WAS IHR VERRÄTER VERDIENT!“
Und der riesige Tarok stürzte auf Nehal zu, packte den kleineren Drachen im Sprung und hob schleuderte ihn in die Höhe. Nehal prallte überrumpelt und ungelenk auf den Boden, wo er mit einem verblüfften Gesichtsausdruck so rasch zu Nebel verpuffte, wie es Kreatoks Geist soeben getan hatte. Gouri war geschockt. Konnten die Überreste der Drachen in Krahal immer noch vernichtet werden?
Kreatok und Nehal. Die Erschaffer der vier mächtigen Schilde. Figuren aus Legenden, die Gouri als kleine Agren geliebt hatte. Und nun, so kurz nachdem sie erfahren hatte, dass die beiden noch existierten, hatte Tarok ihnen ein gemeinsames Ende bereitet.
Tarok zuckte erregt und wandte sich Gouri zu, Wut und Rache immer noch sein Denken beherrschend. Gouri packte den Sternenschild fester und erwiderte Taroks bösartigen Blick. Die Sache durfte nicht noch weiter eskalieren. Sie war bereit, für das Ende dieses Kriegs zu kämpfen.
Prip schwitzte Blut und Wasser. Eben noch hatte er gesehen, wie Gouri mit überzwerglicher Geschwindigkeit an ihm vorbeigehüpft war, dem Flammeninferno vor ihm entgegen, und sich auf den Rücken des Tarok geschwungen hatte. Was bei allen sieben Feuern der Tiefminen war ihr bloss in den Sinn gekommen? Und woher hatte sie diese Stärke errungen?
Prip hatte sich wieder seinen verwundeten und gefallenen Kameraden zuwenden müssen, doch als er die nächste Schildzwergin aus ihrer Rüstung befreit hatte und in eine möglichst sichere Zone abseits der Festung zerrte, fiel ihm die Begegnung mit Troll und dem Bruderschild wieder ein. Der Troll musste tatsächlich seine riesige Stärke an die Agren übergeben haben. Prip wurde warm ums Herz... war das Stolz?
Gleich danach hüpfte ihm das Herz in die Hose, als ihm einfiel, dass Gouri, kräftig wie ein Troll oder auch nicht, soeben auf einem abhebenden Drachen gelandet war. Verschreckt schaute er sich nach dem Kampf der Giganten um.
Das war ja seltsam! Die Feuer, sowohl das silberne des Dunkelschilds als auch das rote des Feuerdrachen, waren erloschen. Kreatok stand immer noch vor den Wänden der Drei Wasser und schien sich nicht zu bewegen. Tarok hing in der Luft und schlug mit seinen riesigen Flügeln, dass die umliegenden Bäume schwankten, doch abgesehen davon bewegte sich der Drache auch nicht. Und Gouri konnte Prip gar nicht mehr erkennen.
Lieferten sich Kreatok und Tarok ein geistiges Gefecht?
Da! Tarok öffnete seinen Schlund und liess Feuer auf Kreatok herunterregnen! Der Körper des Zwergs wurde innert Sekunden verschlungen und zu Asche. Prip knirschte mit den Zähnen. Klar, Kreatok selbst würde niemand vermissen. Aber ohne ihn und den Dunkelschild wären die Drei Wasser endgültig verloren.
Doch Tarok schlug weiterhin bloss mit den Flügeln und blieb ansonsten regungslos. Lieferte er sich einen weiteren geistigen Kampf? Das konnte doch nur mit Gouri sein? Wo befand sich die Agren? Ging es ihr gut?
Prip trotte hinüber zu Belenor, welcher sich auf einem behelfsmässigen Lager von Kreatoks Giftpfeil erholte. Dort griff Prip nach dem Fernrohr, welches Belenor an seinem Gürtel trug. Auch eine Erfindung, welche Kreatok perfektioniert hatte. Prip versuchte nicht, daran zu denken, als er das Fernrohr auf Tarok richtete.
Da! Auf dem Rücken von Tarok, eingekeilt zwischen zwei spitzen Stacheln, erkannte er etwas Glitzerndes. War das etwa... der Sternenschild? Und da unter dem Schild, lag da nicht... Gouri! Die Agren hatte den hell leuchtenden Schild umklammert und lag so auf Taroks Rücken, sich ebenfalls nicht weiter bewegend. Sie trat tatsächlich im Geist gegen den Feuerdrachen an. Prip wischte sich den Staub aus dem Gesicht und verfluchte sich dafür, dass er nichts ausrichten konnte.
In diesem Moment erlosch das Glitzern des Schildes. Tarok richtete sich in der Luft auf und stiess ein grauenvolles Geheul aus, welches Prip durch Mark und Bein ging. Dann schwang er sich weiter in die Lüfte, immer noch kreischend, und drehte sich einmal um die eigene Achse. Prip saugte tief Luft ein, als er sah, wie Gouris winziger Körper den Rücken des Drachen verliess und dicht gefolgt vom Sternenschild in den Himmel geschleudert wurde.
Tarok, der furchteinflössende riesige Feuerdrache, schrie immer noch und wedelte mit seinen gewaltigen Tatzen, als wolle er einen unsichtbaren Feind abzuwehren. Das konnte nur etwas heissen: Der geistige Kampf war nicht zu seinen Gunsten ausgegangen! Die übrigen Drachen, die immer noch über der Festung kreisten, stiegen mit ein in Taroks Geheul und zogen mit ihm ab.
Jubelschreie von Seiten der Schildzwerge wurden laut und auch in Prips Herz machte sich Erleichterung breit, als er erkannte, dass die Dachenbrigade die Flucht ergriffen hatte – für den Moment jedenfalls. Nur der versteinerte Drache neben den Drei Wassern war noch übrig.
Doch Prip freute sich nicht so sehr wie die anderen. Seine Gedanken schweiften rasch zurück zu Gouri, und so rannte er los, der Stelle entgegen, wo ihr Körper gelandet haben könnte.
Bereits von weitem konnte er den Sternenschild glänzen sehen, trotz der Menge an Schlamm und Dreck, die ihn umgab. Und darunter lag eine Gestalt... Prip versuchte, seinen Schritt zu beschleunigen, doch die Verletzungen, die er sich im Kampf gegen Sagrak zugezogen hatte, zeigten sich umso deutlich. Mehr humpelnd als rennend legte er die letzten Meter zur Einschlagstelle des Sternenschilds zurück. Die ganze Zeit hatte er sich eingeredet, dass niemand einen Sturz von dieser Höhe überlebte, auch nicht jemand mit der Stärke eines Trolls – falls Gouri diese überhaupt noch besessen hatte. Und doch hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, als er den Sternenschild erreichte, sich neben ihm zu Boden fallen liess und den leuchtenden Schild ungelenk von Gouris Körper zerrte.
Da lag Gouri nun, in einem Krater vor der Festung, ihre eigentlich grüne Mooskleidung braun vom Dreck und rot vom Blut, das Gesicht nach unten, die verzottelten Haare grösstenteils versengt. Sie hatte Tarok irgendwie verschreckt und damit die Überreste der Drei Wasser gerettet. Das Zwergenvolk würde Zeit haben, sich zu erholen und sich zu wappnen für den nächsten Angriff. Sie besassen noch drei mächtige Schilde, darunter den Sternenschild!
Gouri hatte sich geopfert, um einem ihr fremden Volk Hoffnung zu schenken.
Was für eine heldenhafte Tat. Darüber würden eines Tages Geschichten geschrieben werden.
Prip kniete sich neben Gouri nieder. Er machte sich keine Illusionen. Sie atmete nicht mehr.
Prip schluckte tief, einen dicken Kloss im Hals. Prip bereite sich darauf vor, den Letzten Segen zu sprechen. Er hustete sich etwas Dreck aus der Lunge, und griff nach Gouris Schultern, um den Körper der Agren umzudrehen.
Prip konnte es kaum glauben: Gouris Gesicht war verkratzt und verschmutzt, aber wie durch ein Wunder grösstenteils unversehrt. Dasselbe... ja, dasselbe galt auch für ihren restlichen Körper. Keinerlei Knochenbrüche? Konnte das sein?
Ein metallisches Summen lenkte Prips Blick auf den Sternenschild, welcher immer noch neben ihm lag. Er leuchtete hell und im Schein dieses Lichtes konnte Prip erkennen, wie sich langsam jeder Schnitt, jede Prellung, jeder Schürfung auf Gouris Gesicht auflöste und Farbe darin zurückkehrte. Ein angenehmes Prickeln unter seiner Haut verriet Prip, dass dasselbe mit ihm geschah. Dann plötzlich brach das Summen des Schildes ab und ein stechender Schmerz zeigte Prip, dass er längst nicht vollständig geheilt worden war. Der Sternenschild hatte seine Kraft für heute wohl endgültig aufgebraucht.
Gouri sog tief Luft ein und verschluckte sich ganz grässlich. Eine Hustenattacke überkam sie und Prip vergass alle eigenen Wehwehchen.
Dann, endlich, schlug Gouri die Augen auf und lachte beinahe auf, als sie Prips besorgten Gesichtsausdruck sah.
In dieses glockenhelle Lachen stimmte Prip mit ein.
Viel gab es zu tun in den nächsten Tagen. Die Drei Wasser waren beinahe komplett zerstört worden und viele gute Schildzwerge verletzt oder gar gestorben. Die Drachen konnten jeden Augenblick zurückkehren. Und so wurde die gesamte restliche Zwergenarmee unter dem Grauen Gebirge innert Kürze mobilisiert, um einen Rückzug der Besetzung der Drei Wasser unter die Erde, in die riesigen Gänge und Höhlen Caverns, zu vollbringen.
Dort tüftelte man bereits an trickreichen Fallen und Geschossen, welche auch von unter der Erde aus Drachen erlegen könnten. Denn der Unterirdische Krieg zwischen den Zwergen und Drachen war noch lange nicht zu Ende, er hatte vielmehr erst begonnen. Und sowohl die Trolle als auch die Krahder aus dem Süden würden etwas zu sagen haben darin.
Der Sternen- und Dunkelschild wurden zurück nach Cavern gebracht. Beide würden in den dunklen Tagen, die erst noch kommen sollten, wieder an die Drachen fallen. Einzig der Silberschild, in welchem kein lebender Zwerg oder Drache einen Zweck sah, verblieb während den gesamten restlichen Unruhezeiten in seiner Waffenkammer.
Prip und Gouri bekamen davon nur noch wenig mit. Sie halfen bei Bergungen und Aufräumaktionen mit, so gut sie konnten, und kamen sich in dieser Zeit näher. Am ersten Abend nach Kreatoks Tod versammelten sie sich neben den Massengräbern, um dem Meisterschmied und seinem Drachen zu gedenken. Sie waren wahrscheinlich die einzigen, die um die beiden trauerten.
Als der Abzug der Zwerge aus den Drei Wassern glücklich verlaufen war, verliess Prip das Zwergenvolk, um Gouri auf ihrem Heimweg zu begleiten. Der Rückweg verging ebenso wie die Aufräumarbeiten überraschend ereignislos. Keine Trolle warteten bei der Brücke und keine Drachen versuchten, die beiden Wanderer zu rösten.
Gouri war besonders nervös, denn sie hatte in all dem Chaos keinen Falken ausfindig machen können, um ihrer Familie zu berichten, dass bei ihr den Umständen entsprechend alles in Ordnung war. Die übrigen Agren mussten annehmen, dass Gouri längst bei einem Drachenangriff umgekommen war. Doch als sie dann endlich ihre Heimathöhle erreichte... nun, ich will nicht vorweggreifen. Lest einfach selbst:
Alle waren versammelt in der Höhle: Gouris Eltern, ihre Geschwister, sogar der Alte Grone, der unlängst in den Seniorenkreis der Agren aufgenommen worden war.
Ihre Blicke landeten zunächst auf Gouri, als diese durch den Höhleneingang trat und sich schüchtern umsah. Ein überraschtes Raunen lief durch die Menge.
Dann wanderten die Blicke zu Prip, der sich in allerbester Heldenmanier (samt vergoldeter Armschiene und elegantem Gehstock) in eine Pose warf. Das in die Agrenhöhle scheinende Sonnenlicht liess seine Rüstung glorreich erglänzen. Das Murmeln der Agren nahm an Lautstärke zu.
Dann kehrten die Blicke der versammelten Agrengesellschaft zurück zu Gouri.
Ihr kleiner Bruder Krul war der erste, der sich rührte. Mit einem glücklichen Glucksen warf er die Moospuppe von sich, die er gehalten hatte, rannte auf Gouri zu und umarmte das Bein seiner grossen Schwester.
Damit war der Bann gebrochen. Ein Lächeln (vielerorts mit Freudentränen garniert) bildete sich auf den Gesichtern ihrer Eltern und Geschwister, und auch sie rannten nach vorne und umarmten ihr zurückgekehrtes Familienmitglied. Die restlichen Agren grinsten ebenfalls und kamen nach vorne. Einige musterten Prip noch argwöhnisch, doch die meisten kümmerten sich primär um Gouri und umkreisten sie, fragten sie, wo sie gewesen war, was sie mit ihrem Besitztum tun sollten, das sie schon auf ihre Geschwister verteilt hatten, und wer denn dieser Begleiter sei.
Gouri schüttelte Hände links und rechts und tauschte, inzwischen selbst in Tränen ausgebrochen, Umarmungen aus.
Dann bat sie um Ruhe, damit der edle ‚Prip, Sohn des Aigar, Bote des Eisernen Stuhls von Cavern und Hüter des Casamatucs der Drei Wasser‘ seinen Bericht der Ereignisse abgeben könne.
Prip, der sich während der ganzen Zärtlichkeiten peinlich berührt im Hintergrund gehalten hatte, trat nach vorne und räusperte sich. Er hatte auf dem Weg bereits daran gefeilt, wie er diese ganze Geschichte am besten vortragen könnte.
Der Alte Grone blieb am Rande der Menge stehen und gluckste fröhlich.
Die Troubadoure suchten bereits ihre Flöten hervor und putzten sie eifrig.
Die verlorene Tochter war zurückgekehrt.
Heute Abend würde es ein Fest geben.