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Story: Der Ewige Rat

Zwischenspiel X – Alte Gebeine

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:16

Zwischenspiel X – Alte Gebeine

Später Vormittag, 67. Herbsttag 76 A.Z.
Winterburg, Graues Gebirge

In einer verschneiten Ruine zwischen den Gipfeln des Grauen Gebirges, in einem kargen Raum mit kleinen Fenstern und verrosteten Ketten an der Rückwand, stand eine Gestalt mit grauer Haut und spitzen Ohren. Die Zwerge, Erbauer dieser einst so strahlenden Feste, hatten großzügig geplant, und so musste der Riese sich trotz seiner Größe von knapp sieben Schritt nicht ducken. In der Hand hielt er einen Stab aus Knochen und der Blick seiner gelben Augen durchdrang das Halbdunkel und bohrte sich in das fette Wesen mit rötlicher Haut, das soeben eintrat.
Zitternd verbeugte sich der massige Troll und hob seine offene Hand. Zwischen den feisten Fingern lag ein zierlicher Fußknochen. Nomion streckte seine langen Finger aus und das Knöchelchen erhob sich, schwebte langsam empor und legte sich sanft in seine eigene Handfläche. Weiß auf grau. Er hauchte darauf und beobachtete, wie grüner Nebel darum aufwallte, langsam Konturen bildete, eine abgemagerte Gestalt. Ungeduldig wartete Nomion, bis endlich mehr zu erkennen war. Die hageren Arme, die strähnigen Haare, der wilde Bart …
„Das ist ein Mann!“, schrie er wütend und schleuderte den Knochen zu Boden. Der Troll grunzte ängstlich. „Ein Mann, du stinkender Trottel! Wir suchen nach den Knochen einer Frau von Eignungsstufe drei, und du bringst mir die eines Mannes! Wie oft soll ich euch Idioten denn noch erklären, dass wir die Gebeine der Verstorbenen in dieser Feste nach Geschlechtern getrennt verscharrt haben?“
Der Troll quiekte und warf sich entsetzt auf den Boden. Er war noch ein junges Exemplar, als Nomion ihm die Hörner abgesägt hatte waren sie noch weich und sein ohnehin recht tumber Wille noch frisch gewesen, ungeformt. Er hatte sich besonders leicht unterwerfen lassen.
„Die Gebeine wurden nach ihrer Stärke und dem Willen ihrer Vorbesitzer geordnet, damit wir die besten Skelette für unsere untoten Armeen als erstes beschwören konnten.“, murmelte Nomion mit mühsam unterdrücktem Zorn. „In drei Stufen kategorisiert! Stufe eins für die dünnen und zerbrechlichen Knochen, zwei für die gewöhnlichen und drei für die Gefangenen mit guten Knochen, starkem Willen und Kampferfahrung. Aber ich erwarte ja gar nicht von euch, dass ihr bis drei zählen könnt. Ich erwarte nur, dass ihr zumindest in der Lage seid, zwischen männlich und weiblich zu unterscheiden! Weißt du, was der Unterschied ist? Männlich gleich Krieger, weiblich gleich Schamanin! Geht das in deinen dicken Schädel hinein oder muss ich ihn dafür erst auseinandernehmen?“
Nomion atmete tief durch und sog dabei versehentlich den Gestank auf, der vom Troll ausging. Als er noch ein Geist gewesen war, hatte er keine Gerüche wahrnehmen können, und manchmal bedauerte er es, wieder lebendig zu sein.
„Buddelt die Grube wieder zu!“, befahl er schließlich. „Versucht es bei der nächsten, und überprüft diesmal vorher die Hüftknochen, wie ich es euch gezeigt habe. Der nächste von euch, der mir den Knochen eines Mannes bringt, bekommt meinen Zorn zu spüren.“
Überraschend flink erhob sich der junge Troll und schlurfte aus dem Raum. Nomion widerstand der Versuchung, ihn für sein Versagen zu bestrafen. In den letzten Jahrhunderten hatten die Krahder mehrfach benachbarte Trollstämme überfallen, hatten die Jungen gestohlen und zu fähigen Wächtern und Sklavenaufsehern ausgebildet. Sogar Weibchen hatten sie besessen, damit ihre Diener sich vermehren konnten. Trollfrauen unterschieden sich von ihren männlichen Artgenossen nicht nur in der Farbe ihrer Haut – grau wie Stein anstatt rötlich-braun – sondern vor allem in ihrem starken Willen und beeindruckenden Verstand. Sie bildeten die geistige und geistliche Führung der Trolle, waren Heilerinnen, Schamaninnen und Priesterinnen. In den Kriegen hatten die Trollfrauen den Krahdern die größten Probleme verursacht, denn auch wenn die Hordenführer männlich waren, so waren Frauen die Strateginnen gewesen.
Nomion schüttelte seinen Kopf, um die Gedanken an die Kriege zu vertreiben. Die Liga der Achtzehn Totems war schon lange zerbrochen, die Trollstämme verfeindet, die Trolle versprengt und dezimiert. Nur die Berge selbst waren stumme Zeugen eines Krieges, der schon seit tausend Jahren vergangen war und den die Trolle verloren hatten.
Seit ihrem Sieg hatten die Krahder sich Trolle als Wächter gehalten. Doch mit der Zerstörung Krahds waren auch die Zuchtgruben vernichtet und Nomion hatte sich neue Diener suchen müssen. Er hatte eine Sippe überfallen, die Schamanin getötet, den sechs übrigen Trollen die Hörner abgeschnitten und seinen Willen aufgezwungen. Sie waren ungehorsam und ganz abscheulich dumm, kein Vergleich zu den Züchtungen seines Volkes, doch er musste mit ihnen vorliebnehmen. Er konnte nicht alleine die knapp dreißig Gruben öffnen, in welche die Skelette der Winterburg die Gebeine ihrer Opfer geworfen hatten. Und Untote konnte er nicht mehr beschwören, seit der Schwarze Baum zerstört war und der Schwarze Herold über dessen Macht gebot.
Oh, dieser Schwarze Herold! Nomion verabscheute ihn und den gesamten Ewigen Rat. Sobald die Helden von Andor, die Flammenbringer, Brandstifter, Mörder, erst besiegt wären, würde der Schwarze Herold eine neue Generation Krahder aus den Überresten derer, die nicht mit Krahd im Flammenmeer vergangen waren, wiederauferstehen lassen, das hatte er versprochen. Doch nichts würde je sein wie zuvor. Ihr Reich stand in Flammen, der Schwarze Baum war gestohlen, und mit ihm auch ihre Macht über die Toten. Der Ewige Rat, zusammengesetzt aus alten Feinden und neuen Gegnern, würde die Welt beherrschen, und für die Krahder bliebe in dieser Aufteilung nur ein viel zu kleines Stück. Nomion fügte sich, was blieb ihm auch anderes übrig? Er erfüllte seine Aufgaben, um sein Volk zu retten. Doch gerne sah er den Ewigen Rat nicht.
„Meister Nomion!“, drang ein undeutliches Grunzen an Nomions Ohren. Er war zu tief in Gedanken gewesen, schalt er sich, dass er die lauten Stampfer des Trolls nicht gehört hatte. Es war der älteste, stärkste und grobschlächtigste der ganzen Sippe und Nomion hatte lange gebraucht, um seine Hörner abzusägen.
„Was gibt es?“, fragte der Hexer heiser. Der Troll hob seine Pranke und offenbarte den kleinen Knochen darin, ein gelb angelaufenes Fingergelenk. Nomion griff danach und hauchte es an. Der grüne Nebel aus seinem Mund formte die vage Gestalt einer Frau. Obwohl keine Farben erkennbar waren und die Spuren von Gewalt, Folter und Entbehrung ihr deutlich anzusehen waren, bemerkte Nomion, dass sie nach menschlichen Maßstäben einst sehr schön gewesen sein musste. Aus ihrem feinen Gesicht sprach eine große Güte, ihre Haltung war stolz und aufrecht. Nomion erinnerte sich, dass sie fast bis zum Schluss so gewesen war. Niemand hatte je die Schrecken der Winterburg mit ungebrochenem Willen überstanden, doch diese Frau hatte lange durchgehalten. Nomion und der Schwarze Herold waren bei ihrem Tode dabei gewesen, und die Schreie waren erst kurz davor aus ihrem Mund gewichen. Kheela! Endlich! Ich habe sie gefunden! Hoffentlich war der kleine Verräter in der Burg der Entflohenen den ganzen Aufwand auch wert.
„Ihr könnt aufhören zu suchen!“, wies Nomion den Troll an. „Verlasst diese Burg und zieht über die große Straße nach Norden, bis ihr die Ausläufer des Gebirges erreicht. Dort werde ich mich mit euch in Kontakt setzen.“
Der Troll nickte und verließ die Kammer, und Nomion hoffte, dass der Diener ihn auch wirklich verstanden hatte. Falls nicht wäre es allerdings auch kein großer Verlust, er brauchte die sechs Trolle nicht länger.
Nomion hockte sich vor die große schwarze Schale in einer Ecke des Raumes. Auf eine Geste seines Stabes hin loderten grüne Flammen lautlos aus den Kohlen. Nomion zog ein Büschel getrocknete Kräuter von seinem Gürtel, zupfte drei der langen aufgefächerten Blättern ab und warf sie ins Feuer. „Zra´il muroosar hen sarar, ber´felos vuudan min tra´gar.“, intonierte er heiser, der Schädel an der Spitze seines Stabes begann grün zu glühen und aus den Flammen stieg ein beißender schwarzer Qualm, den Nomion tief einatmete, ehe er die Augen schloss. „Grasz sel´raan tor´fol du´sor, sirallom ho´gaar menor.
Als Nomion die Augen aufschlug stand er in einer feuchten Höhle und ein Gor kauerte zu seinen Füßen. Naserümpfend besah Nomion seine Umgebung. Dieses Loch betrachtete der Gor also als seine Heimat?
„Gibt es etwas Neues?“, fragte er die Kreatur. Der Gor hob seinen Kopf und sein stumpfer Blick heftete sich auf Nomion. „Antworte! War der Junge inzwischen da? Hat er Haar oder Krone in die Spalte gelegt?“
Der Gor nickte. „Haaaaa!“, geiferte er. „Haaaa waaaa daaaa!“
„Das Haar? Hast du es geborgen?“
„Jaaaaa!“, bestätigte der Gor und Nomion spürte, wie sich ein Grinsen auf seinen grauen Lippen zeigte. „Gut! Bringe es zurück zum Lager, und verliere es nicht! Du haftest mit deinem Leben dafür!“
Der Gor quiekte zustimmend und Nomion schlug mit seinem Stab nach der Kreatur. Als er sie berührte, zerfaserte die Höhle und löste sich in schwarzen Qualm und eine Kammer im Grauen Gebirge auf.
Nomion hustete und wich zurück, auf seinen Stab gestützt. Dann sammelte er sich und wog den kleinen Knochen von Kheela in seiner Hand. Hier im Gebirge war seine Aufgabe erfüllt. Es wurde Zeit, die Burg der Entflohenen zu nehmen und einem jungen Verräter seine Mutter zu schenken. Zeit, den Schwarzen Herold zufriedenzustellen. Zeit, die Kreaturen, die er hatte versammeln lassen, in den Angriff zu schicken.
Zratoor kra´ilzar mortul´as!“, murmelte Nomion heiser und grüner Dampf stieg um ihn her auf und hüllte ihn ein. „Krondul ifarth meretol undun!“ Mit jedem Wort stiegen die Dämpfe weiter auf und wurden dichter, bis vom Ersten der Krahder nichts mehr zu sehen war. „Bran´ahr sron miktul apraz!“ Die grünen Dämpfe lösten sich auf und vom Hexer war keine Spur mehr zu entdecken. Er hinterließ nichts als ein qualmendes Kohlebecken in einer alten Ruine und vierzehn halb geöffnete Gruben, in denen der Schnee sich schon sammelte.
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C – Eine flackernde Kerze

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:16

C – Eine flackernde Kerze

Mondhoch, 68. Herbsttag 76 A.Z.
Kaserne der Rietburg, Andor

Die Rietburg lag stumm und verlassen da, die unfertigen Häuser und die zur Hälfte aufgefüllte Bresche in der Mauer von Gerüsten eingehüllt. Alles Lebendige schien verschwunden, die Moose in den Mauerritzen wirkten seltsam grau und leblos, es flatterten keine Schwalben unermüdlich zwischen den Türmen umher, und bis auf eine Ausnahme fehlte auch jeder Mensch.
Janis schlich über den einsamen Burghof, der ungewohnt aufgeräumt und sauber war. Keine Furchen von Wagenrädern, keine zertrampelten Spuren im Schlamm, keine Reste von Fäkalien, ebenso wenig wie die unzähligen Kisten und Fässer, Mauersteine oder Holzstöße. Der Boden war trocken und unnatürlich glatt und seine Füße hinterließen keine Spuren. Die Kurbel des kleinen Brunnens schwang in nicht vorhandenem Wind hin und her und quietschte leise, und erstmals sah Janis keinen Rauch aus dem Schornstein der Schmiede aufsteigen.
Der Himmel war von einem seltsam farblosen grau, als wäre er in dichten Nebel gehüllt, es hätte ebenso gut Tag wie Nacht sein können. Vorsichtig lenkte Janis seine Schritte zum Thronsaal hin. Er hätte nach anderen Personen gerufen, doch die ganze Szenerie war ebenso unheimlich wie surreal und er wusste, dass er keine Antwort erhalten hätte.
Eigentlich war der Weg den Hügel hinauf nicht sonderlich steil, doch der ungewohnte Untergrund ließ ihn stolpern. Er fing sich mit seinem Unterarm ab und schürfte sich dabei die Hand auf. Das Blut war rot und warm wie immer, der Schmerz nicht anders als bei jeder anderen Verletzung. Er ignorierte die kleinen Steinchen und den Staub, der in der Wunde brannte.
Erst als Janis das Portal vor dem Thronsaal erreicht hatte, betrachtete er die weitere Umgebung und bemerkte, dass Andor verschwunden war. Hinter der Ringmauer existierte nichts mehr, nur noch diese farblose Leere, das allumfassende Grau des Himmels. Er tastete nach seiner Verbindung zu Vara, doch ehe der den Wassergeist erreichen konnte öffneten sich die Torflügel in seinem Rücken mit einem lauten Knarzen.
„Warum hier?“, fragte Janis und drehte sich um. „Damit du dich nicht mehr in meiner kleinen Hütte zu ducken brauchst?“
Nomion blickte aus seinen gelben Augen verächtlich auf ihn herab, dann zog er den Kopf ein, um aus dem Thronsaal hinauszutreten. „Ich rufe dich nicht in meine Träume, ich selbst bin der Besucher.“, hörte Janis die heisere Stimme des Hexers noch vor den unverständlichen Silben der fremden Sprache.
„Und wo sonst sollte ich dich besuchen, wenn nicht in deiner Heimat? Nicht ich habe etwas verändert, sondern du.“ Der Krahder stellte sich an den Rand des Holzsteges zu Brandurs Turm und kniff die Augen zusammen. Janis überlegte flüchtig, ob die Brücke das Gewicht des Riesen im Traum wohl tragen würde.
„Sollte ich mir Sorgen machen, kleiner Verräter?“, fragte Nomion beiläufig, während er die Rietburg studierte. „Im Allgemeinen ist es kein gutes Zeichen, wenn ein Verräter den Ort, den er zu verraten gedenkt, als seine Heimat betrachtet.“
„Sei unbesorgt. Ich habe schon einmal meine Heimat den Flammen übergeben. Es war nicht einfach, den Ort, der mir so viel bedeutete, brennen zu sehen … aber das weißt du gewiss am besten.“
Der Krahder fuhr zornig herum und aus den Augenhöhlen des Schädels an der Spitze seines beinernen Stabes drang ein unheilvolles grünes Glühen. „Hüte deine Zunge!“, flüsterte Nomion aufgebracht. „Du weißt gar nichts! Und du solltest nicht vergessen, wem du zu gehorchen hast. Ansonsten könnte es leicht geschehen, dass mir dem Schwarzen Herold gegenüber versehentlich etwas über die Identität deiner Mutter entrutscht, und das wollen wir doch beide nicht.“
Janis starrte angestrengt ins Nichts jenseits der Traumwelt und versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Die Androhungen von Schmerzen oder Tod, das fahle Leuchten, nichts davon vermochte ihn einzuschüchtern, doch Kheelas Leben würde er nicht riskieren. „Ich werde es nicht vergessen.“, antwortete er äußerlich vollkommen gelassen. „Orfens Haar sollte Beweis genug sein. Ist es angekommen?“
„Allerdings. Eine Krone suchten meine Diener dagegen vergeblich.“
„Der Statthalter selbst hat mir bestätigt, dass sie nicht in der Burg ist.“ Er wartete, doch Nomion fragte nicht nach, wo die Rietgraskrone stattdessen war; vermutlich nahm er an, sein Diener wisse es nicht. Da Janis nicht vorhatte, dem Ewigen Rat mehr als notwendig zu helfen, berichtete er nicht, dass die rechtmäßige Königin sie bei sich trug. Es erschien ihm ohnehin seltsam, dass der Schwarze Herold ein Interesse an dieser Krone hatte, so symbolträchtig sie auch sein mochte.
„Es könnte dich interessieren, dass ich meinen Teil der Abmachung inzwischen auch erfüllt habe: Ich habe Überreste von Kheela aufgespürt.“ Nomion beugte sich herab und über seiner Hand bildete sich ein unscheinbarer Knochen, vermutlich ein mittleres Fingergelenk.
Wenn du jemanden heilen möchtest, musst du seinen Körper kennen. Schau dir deine Hände an, erahne die Knochen dahinter. So fein, so zerbrechlich. Wir brauchen unsere Finger öfter, als wir uns bewusst sind, Schatz.
Nomion lachte leise, als er die Gier in Janis´ Augen bemerkte. „Du bekommst deinen Lohn, wenn deine Aufgabe erfüllt ist. Unsere Armee ist fast bereit, nicht mehr lange und ich kann sie in den Kampf schicken. Es liegt gewiss auch in deinem Interesse, eure Verteidigung auszuspähen und zu schwächen. Gift in den Brunnen, Löcher in die Mauer, Zweifel in die Herzen. Doch der Schwarze Herold hat einen weiteren Wunsch: Der Wolfskrieger soll all sein Ansehen verlieren, die Menschen sollen ihren Statthalter nicht mehr als Helden sehen, sondern als Verräter. Wenn es dir gelungen ist, Orfen zu diskreditieren, darf die Rietburg fallen.“
„Das ist unmöglich!“, widersprach Janis entsetzt und trat auf die Brücke ans Geländer. „Die Menschen vergöttern ihn, er hat unzählige gerettet. Jeder hier weiß, dass er niemals zum Ewigen Rat überlaufen würde! Er ist einer der Helden von Andor!“
„Dann solltest du dir in Zukunft ganz besonders viel Mühe geben, kleiner Verräter, denn die Anweisungen des Schwarzen Herolds sind eindeutig. Erst wenn Orfen als Abtrünniger gilt, darf diese Burg brennen. Erst dann erhältst du das Leben deiner Mutter zurück, Janis.“
„Das geht nicht! Ich …“ Janis stockte, als die gesamte Burg zu beben begann. Die Gerüste wankten und die Mauern und Türme knirschten bedenklich. Er versuchte, sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen
„Interessant.“, murmelte Nomion. „Sieht so aus, als neigt sich mein Besuch hier dem Ende entgegen.“
„Aber wie soll ich …“, begann Janis von neuem, doch dann fielen die stolzen Türme unter lautem Getöse in sich zusammen, der Steg zersplitterte unter seinen Füßen und er fiel dem bewegten Boden entgegen, erhaschte nur einen letzten Blick auf die hagere Gestalt des ersten Krahders, der sich allmählich zu fahlem Nebel auflöste. Der Boden näherte sich ihm immer schneller, in einem Moment sah er nur verschwommene Farben, im nächsten schon alle Einzelheiten des glatten Untergrundes, dann verschwand der einstürzende Traum.

Janis blinzelte und erkannte in die Silhouette seines Freundes Rodur, der sich in der Dunkelheit über sein Bett gebeugt hatte und ihn sacht schüttelte. „Was ist los?“, murmelte er verschlafen, auch wenn er eigentlich hellwach war.
„Du hast schlecht geträumt, zumindest hast du dich unruhig hin und her gewälzt und im Schlaf gemurmelt. Ich hielt es für besser, dich zu wecken.“ Rodur flüsterte, obgleich ihr Zweibettzimmer mit einer Ziegelwand von den übrigen Schlafkammern in der Kaserne getrennt wurde. Höchstens durch das kleine Fenster könnte seine Stimme über den Burghof in andere Zimmer der Soldatenunterkunft dringen, doch Janis bezweifelte, dass nach Kommandantin Daroschas Lektionen irgendeiner der Rekruten mitten in der Nacht aus seinem wohlverdienten Erschöpfungsschlaf geweckt werden könnte.
Janis bedankte sich müde bei seinem Freund, auch wenn ihm eigentlich nicht danach war. Er hatte Rodur auch schon wachgerüttelt, wenn dieser im Schlaf von den Erinnerungen geplagt wurde, die er im Wachen zu verdrängen wusste, und so wie Janis in der Vergangenheit fragte auch Rodur nicht nach, was den Schlaf seines Freundes gestört hatte. Sie beide wussten, dass manche Schrecken nicht geteilt werden konnten.
Janis regte sich nicht, bis Rodur wieder in seine Bett geklettert war und seine Atemzüge tief und regelmäßig wurden. Dann erst schlug er die kratzige Decke beiseite und säuberte die Schürfwunde an seiner Hand.


Morgendämmerung, 69. Herbsttag 76 A.Z.
Königsgemächer im Kronenturm der Rietburg, Andor

Zusammen mit dem Traum war auch die unwahrscheinliche Möglichkeit vergangen, Nomion die unmögliche Aufgabe auszureden. Janis musste also dafür sorgen, dass die Menschen der Rietburg ihren Statthalter Orfen für einen Verräter hielten anstatt für den Helden, der er war. Er hatte keinen Plan, nichts, was man wirklich eine Idee hätte nennen können, nur grobe Ahnungen. Die Hauptarbeit mussten Zufall und Glück für ihn erledigen, er konnte nur hoffen und die seltenen Gelegenheiten nutzen, die sich boten. Der Wolfskrieger würde nicht von einem Tag auf den anderen zum Verräter gemacht werden.
Anderes dagegen konnte Janis tun. Gift in den Brunnen, Löcher in die Mauer, Zweifel in die Herzen. Zumindest den ersten von Nomions Vorschlägen könnte er umsetzen. Seine Mutter hatte ihn gelehrt, wie man mit Kräutern heilen konnte, aber auch, welche schädlich waren. Janis wusste, welche Mischung perfekt wäre, um das Wasser des Brunnens zu verseuchen. Schwarzes Herzblatt für den schleichenden Tod. Sumpfdorn für die Schwächung der Abwehrkräfte, als weniger seltener Ersatz eignen sich die Sporen des Kupferröhrlings. Einige Gelbkrallen, um die Symptome als harmloses Fieber zu tarnen. Faulkraut, um den Geschmack zu überdecken. All das ließe sich problemlos sammeln, höchstens den Kupferröhrling müsste man im Wald suchen. Wer es darauf anlegte und die nötigen Kenntnisse hatte, konnte die Rietburg entschieden schwächen. Und genau das berichtete er dem Statthalter.

„Du behauptest also, unser Brunnen sei vergiftet worden?“, fragte Orfen ungläubig. „Müsste man das nicht bemerken?“
„Erst seit letzter Nacht, Statthalter. Und das Faulkraut sorgt dafür, dass das Wasser lediglich etwas abgestanden schmeckt, wie man es von einem Brunnen durchaus erwarten kann.“
„Und was bewirkt dieses angebliche Gift, Sajin?“
Janis versuchte sich vom Argwohn des Statthalters nicht einschüchtern zu lassen. „Das Schwarze Herzblatt verstärkt langfristig die Blutgerinnung, das Blut der Vergifteten wird im Körper verklumpen und erstarren. Die Folgen sind schmerzende und absterbende Gliedmaßen, Atemnot bis zum Lungenversagen, Herzschwächen und Schlaganfälle.“
Orfen erbleichte. „Wie lange genau bedeutet langfristig?“
„Je nach Gesundheit der Opfer und nach Dosierung etwa sechs bis zwanzig Tage, wenn es erst so weit ist, kommt eine Heilung allerdings bereits zu spät. Schwarzes Herzblatt hat kurzfristig noch andere harmlose Eigenschaften: Schweißausbrüche, Schwindelanfälle, Kälteschübe. Um dies zu tarnen wurde Gelbkralle beigefügt, die die Körpertemperatur anhebt. Dadurch wirkt die Vergiftung wie eine ärgerliche, aber ungefährliche Fieberwelle mit den üblichen Symptomen. Zu den kurzfristigen Auswirkungen des Schwarzen Herzblatts kommen also noch Kopfschmerzen, erhöhte Atem- und Pulsfrequenz, Erschöpfung und Müdigkeit sowie praktischerweise großer Durst.“
Orfen legte seine Schreibfeder beiseite, stand von seinem Stuhl auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Dunkle Augenringe kündeten von einigen schlaflosen Nächten im Dienste Andors. „Woher willst du das wissen, Sajin? Hast du dich bei Readem erkundigt?“
„Readem ist ein unfähiger Scharlatan, vielleicht eben imstande, ein gebrochenes Bein zu schienen, aber gewiss kein Meister der Kräuterkunde. Vor kurzem hat er einem Rekruten Schwarzen Husten attestiert und ihm einen Aderlass verordnet. Einen Aderlass! Wenn der Mann mehr gehabt hätte als eine einfache Erkältung, hätte Readem ihn damit umgebracht!“
Orfen kniff die Augen zusammen und Janis verfluchte seine Arroganz, auch wenn sie berechtigt war. „Ich hätte dich jetzt fortgeschickt, Sajin, wenn Kunar mir nicht berichtet hätte, dass du vor drei Tagen einem unvorsichtigen Rekruten einen Pfeil aus dem Bauch entfernt hast. Du sagtest angeblich, es bleibe nicht mehr als eine Narbe zurück, und du hast Recht behalten.“
„Ich hatte Angst, was Readem mit dem armen Kerl anstellen könnte. Im Übrigen gibt es mögliche Verletzungen und Entzündungen im Bauchbereich, die sich erst nach einem Mond zeigen, eine Frist von drei Tage bedeutet also nicht notwendigerweise, dass der Rekrut tatsächlich glimpflich davonkommen wird. Aber ja, ich behaupte, dass ich einen Verletzten oder Kranken deutlich besser behandeln könnte als Readem, und auch, dass ich genauer weiß, welche Auswirkungen bestimmte Kräuter haben.“
Janis spürte, wie Orfen sein Bild von ihm überdachte. Bisher hatte Janis den Statthalter beeindruckt, doch jetzt hatte er endgültig klargemacht, dass er kein normales Kind war, und damit war Orfens Misstrauen geweckt.
„Hört zu, Statthalter, auch wenn ich Euch nicht angelogen habe, so habe ich Euch bisher doch etwas über mich verschwiegen.“, kam Janis den Fragen zuvor. „Ich bin nicht einfach nur ein Junge mit einem Händchen dafür, deutlich bessere Kämpfer zu besiegen. Ich hatte die beste Ausbildung, die ich mir vorstellen kann, und besitze Fähigkeiten, von denen die meisten hier nur träumen könnten.“
Janis! Sei nicht arrogant! Du darfst mit deinen Fähigkeiten nicht angeben oder dich darauf ausruhen, sondern musst sie einsetzen, um anderen zu helfen.
„Ihr habt Euch wahrscheinlich denken können, dass ich ein Waise bin, aber bisher habe ich Euch nicht erzählt, dass Ihr meine Mutter kanntet. Kheela hat mir von Euch berichtet, Statthalter, so wie sie mir von allem berichtet hat, was eines Tages nützlich für die Fortführung ihrer Tätigkeit sein könnte.“
Orfens Mund klappte auf. „Du bist Kheelas Sohn?“
„Ich könnte von dem verbeulten Diadem berichten, das Ihr mir habt zukommen lassen, oder von Dingen, die nur sehr wenige über meine Mutter wissen, aber ich denke, es gibt eindrucksvollere Beweise.“ Janis schloss die Augen und fühlte die Trauer in seiner Seele. Es war klar gewesen, dass Orfen Fragen stellen würde, daher hatte er Vara bereits in der Nähe warten lassen. Jetzt wurde es unmerklich kühler und feuchter in der Kammer und eine Welle des Trostes breitete sich aus. Als er die Augen aufschlug, stand der Wassergeist zwischen ihm und dem Mann, den er zum Verräter machen wollte.
„Ich bin Sajin, Sohn und Schüler von Kheela, rechtmäßiger Hüter der Flusslande, Gebieter und Freund des Wassergeistes Vara. Mit ihrer Hilfe kann ich herausfinden, welche Kräuter sich im Wasser unseres Brunnens befinden, und dank Kheelas Unterweisungen weiß ich auch, was sie bewirken.“
Orfen betrachtete ehrfürchtig den Wassergeist. „So lange her …“, hauchte er. „Ich glaubte ihre Macht verloren.“ Er lächelte müde, dann richtete er seinen Blick durch den Wassergeist hindurch und setzte eine finstere Miene auf. „Dürfte ich erfahren, wieso du mir das verschwiegen hast, Sajin?“
„Es ist nicht mein Verdienst, der Sohn meiner Mutter zu sein. Ich wollte nicht, dass die Menschen mich nur aufgrund ihrer Taten beurteilen. Wir sehen, was wir zu sehen erwarten, und in mir hätte man einen Helden gesehen, selbst wenn ich nichts getan hätte. Doch Kheela war ein Leuchtfeuer im Sturm, wo ich nur eine flackernde Kerze bin, und ich werde niemals so sein können wie sie.“ Janis schluckte schwer. „Aber auch ich kann ein wenig leuchten, und ich wollte, dass die Menschen mein eigenes Licht in mir sehen anstatt den Schein des Feuers, das mich entzündete. Ich wollte meine eigenen Legenden schreiben, mein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Kheelas Licht strahlte zu hell dafür. Es tut mir leid, dass ich Euch nicht früher eingeweiht habe, aber auch Ihr hättet die Kerze danach beurteilt, woher ihr Feuer kommt, vielleicht hättet Ihr mich sogar dafür bevorzugt. Und das wäre ungerecht gewesen.“
Orfen nickte langsam und begann wieder zu lächeln. „Ich behaupte nicht, dass ich deine Schweigsamkeit gutheiße, aber ich verstehe dich. Wird der Wassergeist uns unterstützen, wenn die Rietburg zu fallen droht?“
„Selbstverständlich, Statthalter! Doch bitte erzählt niemandem, wer ich bin. Ich habe es nicht verdient, vom Ansehen meiner Mutter zu profitieren.“
Orfen zögerte kurz, dann nickte er. „Wie du willst, Sajin.“ Er ließ sich schwer in seinen Stuhl zurücksinken und musterte Janis aufmerksam. „Kannst du mit der Hilfe deines Wassergeistes den Brunnen vom Gift säubern?“
„Ich wünschte es wäre so, aber nein, das kann ich nicht.“
„Also ist unser Brunnen für uns verloren.“, seufzte Orfen. „Weißt du, wie es mit Brunnen vor den Mauern aussieht?“
„Er ist sauber. Aber auch der Brunnen im Burghof ist keineswegs verloren, Statthalter. Theoretisch wäre es möglich, das Wasser zu filtern, aber das wird die Zeit für uns erledigen. Solange nicht erneut giftige Kräuter hineingekippt werden, wird das Gift schon bald so verdünnt sein, dass man wieder problemlos aus dem Brunnen trinken kann.“
Orfens dunkle Augen blitzten. „Hervorragend! Ich lasse gleich verkünden, dass der Brunnen vergiftet wurde, dann wird der Saboteur vermutlich aufgeben.“
„Mit Verlaub, Statthalter, aber ich denke, der Saboteur würde nicht aufgeben, sondern nur seine Strategie ändern. Wir haben einen Verräter in der Burg, der gewaltigen Schaden anrichten kann. Wir müssen ihn fassen! Und die beste Möglichkeit dafür scheint es zu sein, nicht aufzudecken, dass wir das Gift entdeckt haben. Damit das Schwarze Herzblatt seine Wirkung entfaltet, muss er bald nachfüllen, am besten täglich.“ Janis deutete auf den Wassergeist. „Vara kann sich im Brunnen verbergen und warten. Sobald der Saboteur das nächste mal zuschlägt wissen wir, wer es ist.“
„Und bis dahin sollen alle hier vergiftetes Wasser trinken?“, fragte Orfen entgeistert. „Wenn wir sie warnen, dann ist auch der Verräter gewarnt, das sehe ich ja noch ein, aber das ist immer noch besser, als die Rietburg zu vergiften.“
„Es gäbe noch eine andere Möglichkeit, Statthalter. Wir könnten den Menschen geriebene Sapian-Knollen verabreichen, sie würden den Effekt der anderen Pflanzen kompensieren. Ich weiß, wo sie wachsen und wie sie aussehen, ich könnte einen Vorrat sammeln.“
Orfen runzelte die Stirn. „Bist du sicher, dass es anschließend sicher wäre, das Wasser zu trinken?“
„Mit genug Knollen, ja, in dieser Hinsicht besteht kein Risiko. Allerdings wirken Sapian-Knollen stark abführend, wir hätten also eine harmlose Durchfallepidemie auf der Burg. Ich denke, dass das die Möglichkeit, den Verräter zu stellen, ausgleicht, aber Ihr müsst entscheiden.“
Janis senkte ehrerbietig den Kopf und hoffte. Er konnte Orfens Gesicht nicht sehen, doch schließlich sagte der Wolfskrieger: „Also schön! Sammle noch heute diese Knollen, tue eine passende Menge in den Brunnen und sage niemandem etwas davon.“
„Wenn ich noch etwas anmerken dürfte, Statthalter.“, sagte Janis schweren Herzens. „Es wäre besser, wenn nicht ich die Knollen in den Brunnen gebe. Mein Fehlen wird auffallen, und falls er bemerkt, dass ich regelmäßig etwas in den Brunnen schütte, wird der Verräter sich leicht denken können, was los ist. Ich würde daher empfehlen, dass jemand anders, dem Ihr vollkommen vertraut, die Knollen ins Wasser tut.“
Der Wolfskrieger atmete tief aus und nickte langsam. „Du bringst mir diese Knollen, zerkleinerst sie und sagst mir, welche Menge angebracht ist, dann erledige ich das selbst.“
„Sehr wohl, Statthalter!“ Janis befahl Vara zu verschwinden, dann öffnete er die Tür, um die karge Kammer des Statthalters zu verlassen. Seinen Triumph ließ er sich nicht anmerken. Es gab kein Gift im Brunnen, niemand hatte irgendwelche Kräuter ins Wasser getan. Doch nun würde Orfen regelmäßig ein seltsames Pulver ins Wasser geben, zeitgleich würden die Bewohner der Rietburg von Durchfall geplagt werden. Irgendjemand würde den Statthalter sehen und die Zusammenhänge bemerken. Natürlich genügte das nicht, damit wirklich jemand glaubte, Orfen könnte Andor verraten. Aber es war ein erster Schritt, um den Verdacht zu schüren.
„Noch etwas, Sajin!“ Janis drehte sich um und sah Orfen fragend an. Der Statthalter lächelte warm und sagte: „Ich glaube, du bist weit mehr als nur eine flackernde Kerze.“


Abenddämmerung, 70. Herbsttag 76 A.Z.
Kaserne der Rietburg, Andor

Spätestens am Abend war nicht mehr zu bestreiten, dass die Rietburg unter Durchfall litt. Insgesamt war etwa der fünfte Teil der Bewohner betroffen, Schutzsuchende ebenso wie die zukünftigen Krieger. Schon im Laufe des Nachmittags waren immer wieder einzelne Rekruten aus Kunars Übungsstunden verschwunden – in Daroschas Gegenwart hatten es sich laut Rodur nur wenige getraut. Auch jetzt, während des gemeinschaftlichen Abendmahls im Speisesaal der Kaserne, zogen sich einige Rekruten regelmäßig von ihren Tischen zurück, andere waren gar nicht erst gekommen.
Janis verspeiste in winzigen Bissen die letzten Reste seines Brotes und bezähmte mühsam seinen Drang, alles hinunterzuschlingen. Für ihn wäre ein Durchfall jedenfalls kein Grund gewesen, eine Mahlzeit auszulassen. Orfen hatte inzwischen veranlasst, die Nahrung zu rationieren. Endlich wurden die von Bewahrern und Schildzwergen zugesandten Lebensmittel nicht mehr so schnell verbraucht, wie sie ankamen. Quälend langsam füllten sich die Vorratsspeicher, doch wenn erst die Ernte eingebracht und der alljährliche Zehnt abgeliefert worden war, dann hätten sie genug, um eine Belagerung zumindest eine kurze Zeit auszusitzen. Natürlich wusste Janis, dass die Vorräte, sobald kein Nachschub von außen mehr käme, selbst bei strenger Rationierung höchstens einen lächerlichen Mond ausreichen würden. Fast dreihundert Andori hatten sich aus Angst vor der bevorstehenden Invasion hinter die schützenden Mauern geflüchtet, und Janis hatte Orfen nicht mehr gebeten, sie endlich fortzuschicken. Nichts würde den Fall der Rietburg stärker beschleunigen als eine solche Menge zusätzlicher Mäuler.
„Haltet ihr das eigentlich für Zufall?“, fragte Rodur nachdenklich, während er gierig auf das Brot starrte, welches Sara nur halbherzig verspeiste. „Ich meine, nur einen Tag nachdem Sajin für den Statthalter diese Durchfall-Knollen sammeln sollte sind plötzlich alle krank.“
„Sapian-Knollen. Und sie wirken nicht nur abführend, sondern beispielsweise auch fiebersenkend, gerinnungshemmend und in kleinen Mengen magenreinigend.“, antwortete Janis, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Rekruten in ihrer Nähe mit dem Essen beschäftigt waren. Seinen beiden Freunden gegenüber, denen sein Fehlen am gestrigen Tag natürlich aufgefallen war, hatte er behauptet, dem Wolfskrieger endlich seine wahre Identität aufgedeckt zu haben, woraufhin der Statthalter sich seiner Diskretion versichert und ihn Sapian-Knollen sammeln geschickt habe – leider ohne einen Grund dafür anzugeben.
„Aber du hast doch selbst gesagt, dass die Menge genügt, damit sich eine ganze Hundertschaft die Mägen aus dem Leib scheißt.“
„Ich glaube nicht, dass das meine Worte waren.“, meinte Janis skeptisch. „Außerdem habe ich solche Mengen nur mitgebracht, weil ich nicht wusste, wie viele Knollen der Statthalter wollte. Und bei so vielen Menschen auf engem Raum ist eine Seuche eigentlich ohnehin nur eine Frage der Zeit, wir sollten froh sein, dass es bloß Durchfall geworden ist.“
Nein. Zusätzlich. Symptom. - Nein. Krankheit. Ich. Kennen. gestikulierte Sara. Janis bezweifelte, dass Rodur das Zeichen Symptom schon kannte oder auch nur gewusst hätte, was das Wort bedeutete, doch sein Freund interessierte sich ohnehin mehr für das Brot, das Sara für ihre Zeichen hatte beiseite legen müssen.
„Kennst du dich aus mit Krankheiten?“, fragte Janis überrascht. Sara schüttelte bedauernd den Kopf. Nein. Ausbildung. - Ich. Nur. Aufmerksam.
„Isst du das noch?“, fragte Rodur hungrig und deutete auf den Rest ihres Brotes. Sara musterte Rodur mit eisgrauen Augen, stopfte sich das Gebäck in den Mund und machte eine wenig damenhafte Geste, die Janis auch verstand, obwohl sie kein Bestandteil ihrer stummen Sprache war.
„Angenommen es wäre tatsächlich keine normale Infektion, weshalb sollte Orfen Sapian-Knollen in unser Essen mischen?“, kam Janis auf Rodurs Frage zurück.
Wir. Nein. Wissen. Ob. Wolf-Krieger. Von. Vergiften. Wissen. - Aber. Wenn. Wissen. Dann. Haben. Sicher. Gut. Grund. Sara hinterfragte Orfens Taten niemals, das war Janis klar. Dennoch ärgerte ihn ihr blindes Vertrauen, es war ohnehin schon beinahe unmöglich, sie hinters Licht zu führen. Außerdem. Pflanze. Nein. In. Essen. - Alle. Essen. Brot. Aber. Nur. Wenige. Krank.
„Wo dann?“ Rodurs Blick ruhte nun auf dem Brot in Janis´ Hand, das Stück für Stück kleiner wurde. Wie er gleichzeitig Saras Antworten sehen konnte, war Janis ein Rätsel.
Ich. Denken. In. Klein. Brunnen. In. Burg-In-Gold. - Wasser. Reichen. Nur. Für. Eins. Von. Fünf. Mensch. Auf. Burg-In-Gold. Was. Sein. Genau. Verhältnis. Von. Krank. - Außerdem. Ich. Gesehen haben. Nein. Von. Gesund. Trinken. Aus. Brunnen. Heute – Dafür. Dreißig-und-Vier. Von. Krank.
„Vierunddreißig?“, hakte Janis verblüfft nach. „Wir waren doch fast den ganzen Tag am trainieren! Wann willst du vierunddreißig Menschen aus dem kleinen Brunnen trinken gesehen haben?“
Mittag. - Nach Ausbildung. Von. Zwerg-Frau. Alle. Gewesen. Erschöpft. Und. Wasser. In. Brunnen. Anfangs. Nein. Ganz. Leer. - Alle. Getrunken. Aus. Brunnen. Inzwischen. Krank. - Auffallen. Jetzt. Wo. Darüber. Sprechen.
„Vergisst du jemals etwas, Sara?“, entgegnete Rodur, dem sein Hunger für einen kurzen Moment entfallen zu sein schien.
Niemals. Rodur lachte verhalten, bis ihm auffiel, dass weder Janis noch Sara einstimmten. Oft. Ich. Wünschen. Vergessen. Mehr. ergänzte Sara und ihre Augen färbten sich tiefblau.
Janis hätte seinen Freund verfluchen können. Rodur redete häufig so unbedacht! Er selbst dagegen kannte Sara mittlerweile gut genug, um zu wissen, was er sagen konnte und was nicht. Ohne nachzudenken mied Janis alles, was sie traurig stimmen oder seinen Verrat enthüllen könnte. In ihrer Gegenwart musste er instinktiv sprechen, andernfalls hätte sie seine erhöhte Wachsamkeit und die Täuschung längst bemerkt. Und immer erst im Nachhinein fiel ihm auf, wie gut es ihm tat, sich nicht verstellen zu können.
Ein struppiger brauner Bart schob sich in sein Blickfeld, gefolgt von dem gewölbten Kettenhemd darunter. Es war einer der Zwerge, die mit Daroscha zur Rietburg gekommen waren und seitdem die Bauarbeiten beaufsichtigt hatten, während Kunars Bewahrer durch Abwesenheit geglänzt hatten. Sein rotbraunes Haar war zu einem ordentlichen Zopf geflochten, der in einem starken Kontrast zu seinem ungepflegten Bart stand. Der Abstand zwischen den buschigen Augenbrauen und dem dichten Bart wurde vollständig ausgefüllt von einer großen platten Nase und zwei dunklen Augen, die aufmerksam Saras flinke Gebärden betrachteten. Plötzlich zuckten zwei kleine schwielige Hände empor und formten seltsame Zeichen, ähnlich denen aus Saras Sprache, gleichzeitig allerdings fremdartig.
Da nur drei verständnislose Blicke den Zwerg trafen, grummelte dieser verlegen in seinen Bart: „Es sah aus wie Gebärdensprache, aber ich habe mich wohl getäuscht. Oder benutzt ihr Menschen eine andere Sprache?“
„Es gibt eine Gebärdensprache für Zwerge?“, fragte Rodur verdutzt.
„Natürlich. Auch bei unserem Volk werden einige taubstumm geboren, mein Vater gehörte dazu. Ich habe immer gedacht, unsere Zeichensprache und die der Menschen sei identisch.“
Ich. Nein. Kennen. Zeichen-Sprache. Von. Menschen. Oder. Zwerge. - Ich. Nein. Wissen. Ob. Gleich. gestikulierte Sara und blickte Janis auffordernd an, der ihre Worte sofort weitergab.
Die Augen des Zwerges ruhten fasziniert auf Saras Händen. „Sie … Du bist verdammt gut im Lippenlesen.“, staunte er. „Durch meinen Bart hindurch … wirklich bemerkenswert!“
„Sie ist nicht taubstumm, sie hat nur ihre Zunge verloren und erfand diese Sprache, um irgendwie zu kommunizieren.“, erklärte Janis dem beeindruckten Zwerg und fühlte dabei ein merkwürdiges Unbehagen. „Doch dürfte ich erfahren, wer Ihr seid und was genau Ihr hier wollt?“
Der Schildzwerg blinzelte und schien sich nur mit Mühe von ihren Händen losreißen zu können. „Oh, wie unhöflich von mir. Mein Name lautet Barram und ich wurde hergeschickt, um einem gewissen Sajin auszurichten, dass er in die Gemächer des Statthalters kommen soll. Die anderen Rekruten haben mir diesen Tisch gewiesen.“
Barram sah fragend zwischen den beiden Jungen am Tisch hin und her. Janis erhob sich und überlegte fieberhaft, weshalb er jetzt wohl zu Orfen sollte. Immerhin meinte er durch Barrams Bart ein freundliches Lächeln zu erkennen, was ihn recht zuversichtlich stimmte. Er verschlang den traurigen Überrest seines Brotes, was Rodur ein enttäuschtes Stöhnen entlockte, und machte sich dann gedankenverloren auf den Weg. Dass Barram ihn nicht begleitete, bemerkte er erst, als er schon vor Orfens Gemächern stand.


Frühe Nacht, 70. Herbsttag 76 A.Z.
Königsgemächer im Kronenturm der Rietburg, Andor

Auf sein Klopfen hin öffnete Armond, der weißhaarige Krieger, den Orfen zwischenzeitlich zum Schwertmeister ernannt hatte. Der Alte lächelte verwirrt. „Ah, Sajin!“, erklang Orfens raue Stimme und der Schwertmeister zuckte mit den Achseln und winkte ihn herein. Janis blickte sich neugierig in der Kammer um. Neben Armond und Orfen waren noch Meister Kunar und Kommandantin Daroscha zugegen, die sich über die ausgebreitete Karte von Andor auf dem Schreibtisch hinweg finster anstarrten. Jetzt drehten beide sich zu ihm um und musterten ihn skeptisch.
„Diese Besprechung ist vertraulich. Was tut er denn hier?“, fragte Daroscha missmutig. Janis hätte sie beschwichtigt, hatte jedoch selber keine Ahnung, daher zog er es vor, zu schweigen.
„Er ist vertrauenswürdig.“, nahm der Wolfskrieger ihn in Schutz. „Ich habe ihn holen lassen.“
Es gelang Janis, keine Miene zu verziehen, auch wenn er den Gedanken nicht unterdrücken konnte, dass der Wolfskrieger keinen weniger vertrauenswürdigen hätte finden können. Der Statthalter vertraute ihm nur, weil Janis ihm von seiner Herkunft berichtet hatte. Er beging den gefährlichen Fehler ihn aufgrund seiner Mutter zu beurteilen, sah das Leuchtfeuer und nicht die Kerze.
Aber du kannst das ändern. Das Wissen Nomions könntest du nutzen, um die Rietburg zu beschützen. Du kennst seine Ziele, kannst seine Strategie in Erfahrung bringen.
Lass mich in Ruhe, Mutter! Ich habe mich längst entschieden.

„Könntet Ihr uns aufklären, weshalb?“, wollte auch Armond wissen.
„Weil er schon in der Vergangenheit bewiesen hat, was in ihm steckt. Die Bodenreform, das Hilfsgesuch an die Bewahrer, alles seine Ideen.“, erklärte Orfen. „Komm herein, Sajin! Und tritt deine Schuhe ab.“
Verblüfft folgte Janis der Aufforderung des Wolfskriegers. „Das ist eine große Ehre, Statthalter.“, brachte er hervor. Nur zu gerne hätte er sich zurückgezogen, um die Besprechung den Erfahreneren zu überlassen, aber dies war ein Vertrauensbeweis Orfens und vermutlich die beste Gelegenheit an wichtige Informationen zu gelangen, die er je erhalten würde.
Daroscha schüttelte fassungslos ihren Kopf. „Er ist fähig für sein Alter.“, gestand sie. „Aber bei seinem Alter heißt das noch lange nicht, dass er fähig ist. Ich bin sechsmal so alt wie er und gelte bei meinem Volk noch immer als eher jung. Mit zehn Sommern habe ich meine erste Kampfstunde erhalten, mit zweiundzwanzig meinen ersten Skral erschlagen, seitdem habe ich fortwährend Erfahrung und Wissen gesammelt. Und auch ich werde erst seit der Regierungszeit Fürst Krams zu den Besprechungen unseres Fürsten geladen. Wenn Sajin erst so alt ist wie Ihr, Statthalter, dann traue ich ihm großartige Leistungen zu, aber noch nicht jetzt.“
Das waren wohl die freundlichsten Worte, die er je von Daroscha erhalten hatte, überlegte Janis. Gekränkt war er dennoch.
Meister Kunar räusperte sich höflich. „Sajin besitzt unbestreitbar vielfältige Talente, und wenn Orfen sich seiner Vertrauenswürdigkeit so sicher ist wie ich, dann spricht nichts dagegen, wenn er hierbleibt. Schlimmstenfalls schweigt er einfach.“ Der Bewahrer lächelte freundlich, doch Janis konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Kunar ihn nur unterstützt hatte, um Daroscha zu widersprechen.
„Ganz genau!“, bekräftigte Orfen. Er schloss die Tür und ging zum Schreibtisch, um die Karte zu begutachten. „Also dann, fangen wir an. Kommandantin Daroscha, hat Fürst Kram inzwischen geantwortet?“
„Das hat er!“, bellte Daroscha ruppig. „Die Schildzwerge werden Andor beistehen. Wenn der Angriff begonnen hat, dann wird unsere Armee ausrücken und die Feinde zerschlagen oder untergehen.“
Erleichterung zeichnete sich auf den Zügen der anderen ab, und auch Janis heuchelte Freude. Bei sich dachte er jedoch bereits darüber nach, was dagegen zu unternehmen war. Die Schildzwerge waren begnadete Kämpfer, mit ihrer Unterstützung hatte Andor eine echte Chance, den Angriff nicht nur auszusitzen, bis die kleine Gruppe, auf der all ihre Hoffnungen ruhten, den Ewigen Rat zerschlagen hatte, sondern die Armee Nomions sogar zu besiegen. Doch wenn Janis das Leben seiner Mutter erhalten wollte, dann musste die Rietburg fallen!
„Die Schildzwerge lassen ihre Mine ungeschützt zurück, um uns beizustehen?“, hakte Janis deswegen nach, noch immer hoffnungsvoll lächelnd.
„Wenn alle Kreaturen des Landes sich um die Rietburg versammeln, dann ist es nicht nötig, mehr als ein paar Wachen dazulassen.“, erklärte Daroscha unwillig. Janis nickte und strahlte, gleichzeitig entwickelte er bereits einen Plan.
„Richtet Fürst Kram unsere tiefste Dankbarkeit aus.“, meinte Orfen, dann wandte er sich an Schwertmeister Armond: „Wie weit ist inzwischen die Ernte?“
„Fast abgeschlossen.“, versicherte der alte Krieger. „Das meiste Korn ist in den Speichern der Dörfer, einiges wurde bereits gemahlen. Die ersten Steuern sind bereits erhoben. Innerhalb der nächsten zehn Tage sollten die meisten Fuhren hier ankommen, in spätestens fünfzehn Tagen hat voraussichtlich jeder seinen Zehnt abgeliefert. Die Großbauern knirschen mit den Zähnen, doch sie fügen sich den Anweisungen unserer Eintreiber.“
Orfen nickte zufrieden. „Drängt sie noch weiter zur Eile. Wenn die Belagerung erst beginnt, helfen uns volle Speicher im Rietland auch nicht mehr weiter. Sie sollen erst ihren Zehnt abliefern und anschließend ihre Ernte beenden, wir wissen nicht, wann die Kreaturen auftauchen. Oder haben die Bewahrer, die wir als Späher ausgesendet haben, inzwischen Spuren einer Armee gesehen?“ Janis öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder. Damit war dann wohl die Frage beantwortet, wohin die Bewahrer verschwunden waren, die mit Kunar zur Rietburg gekommen waren.
„Kreaturen habe wir noch nicht gesehen. Fremde Truppen dagegen schon, wenn auch anders als erwartet.“ Kunar deutete auf den Rand der Karte, östlich des Baumes der Lieder. „Eine kleine Streitmacht von knapp hundert Kriegern drang in den Wachsamen Wald ein, nahm sich Holz und erlegte die Tiere, so wurde mir berichtet. Sie zog geradewegs zum Baum der Lieder, doch als unsere Wächter die ungewaschenen Gesellen freundlich zur Umkehr bewegen wollten, trat der Anführer der Fremden zu ihnen und erklärte, sie seien in Eurem Auftrag unterwegs, Statthalter. Er zeigte wohl auch eine Botschaft, die dies belegen sollte.“ Kunars grüne Augen musterten den Statthalter kühl und ausnahmsweise lag kein großspuriges Lächeln auf seinen Lippen.
„Endlich! Das muss er sein!“, rief Orfen ohne eine Spur von Verlegenheit. „Wo sind sie inzwischen?“
„Wir haben sie vorsichtshalber so schnell wie möglich aus dem Wachsamen Wald herausgelotst. Wenn sie sich unverändert weiterbewegt haben, müssten sie inzwischen hier sein.“ Kunars gepflegter Finger zeigte auf einen Punkt südlich der Bogenbrücke. „Mir scheint, Ihr seid uns eine Erklärung schuldig, Statthalter.“, fuhr er eisig fort.
Orfen seufzte schwer. „Ich habe zufällig die Steuereinnahmen des letzten Statthalters gefunden und festgestellt, dass seine Habgier doch noch gute Seiten hatte. Das Gold genügte, um eine Hundertschaft Söldner anzuwerben. Ich kenne Sechsfinger von früher, er ist ein Söldnerführer aus den Barbarenlanden und bekannt für seine ungewöhnliche Loyalität. Mit seiner Hilfe werden wir die Rietburg deutlich länger halten können.“
„Sechsfinger.“, murmelte Armond erschrocken. „Er tut, wofür er bezahlt wird, im Guten wie im Schlechten.“ Der Schwertmeister blinzelte und erklärte dann erstickt: „Die wenigen verbliebenen Bewohner der Barbarenlande leben seit Jahrzehnten in Angst vor zerstrittenen Kriegsfürsten, und einer hat Sechsfinger angeheuert, um gegen einen übermächtigen Konkurrenten zu bestehen. Als die Invasion bevorstand, hat Sechsfinger heimlich alle Vorräte der bedrohten Gebiete vergiften lassen. Die feindliche Armee ging unter Qualen zugrunde – und mit ihr ein ein halbes Dutzend ahnungsloser Jurtendörfer. Das ist zumindest, was ich hörte, allzu viele Nachrichten aus den Barbarenlanden dringen ja nicht an unsere Ohren.“
Er fixierte Orfen und knurrte beleidigt: „Ich verstehe Euch, Statthalter, und Sechsfingers Gnadenlosigkeit ist vielleicht genau das, was wir benötigen. Doch Ihr hättet Euch zumindest mit Eurem Schwertmeister beraten können. Oder wozu habt Ihr mich in dieses Amt berufen?“
Orfen senkte seinen Blick. „Das war erst später. Und als ich dich zum Schwertmeister ernannte, wusste ich noch nicht, ob Sechsfinger meine Nachricht überhaupt erhalten hatte. Dennoch tut es mir leid. Ich hätte es dir, hätte es irgendjemandem enthüllen sollen.“ Seine dunklen Augen sahen Janis eindringlich an und baten stumm darum, nicht zu enthüllen, dass Orfen ihn noch vor seinem Schwertmeister eingeweiht hatte.
„Sehen wir das Positive dieser Überraschung.“, meinte Janis hastig. „Wir bekommen etwa hundert zusätzliche Verteidiger. Schaden wird es nicht.“
„Die Frage ist jedoch, wem diese Söldner dienen sollen.“, merkte Daroscha an und stemmte ihre Hände in die Hüften.
Orfen runzelte seine Stirn. „Dem Statthalter Andors, wem sonst?“
„Selbst unsere Krieger gehorchen nicht einfach bedingungslos unserem Fürsten, sondern einem Rat aus mehreren Kommandanten. Wenn der Fürst im Kampf fällt – möge Mutter Natur uns davor behüten – dann dürfen wir nicht kopflos dastehen, eine bittere Erfahrung, die unser Volk im Unterirdischen Krieg machen musste. Es wäre verantwortungslos, den Befehl über Sechsfinger nur einer einzigen Person zu überlassen.“
„Es ist das Gold des Landes Andor.“, entgegnete Orfen.
„Ein Land, das nur aufgrund der bereitwilligen Hilfe von Bewahrern und Schildzwergen noch existiert.“, meinte Kunar trocken. „Es erscheint mir sinnvoll, den Befehl aufzuteilen. Allerdings denke ich, dass unsere verehrte Daroscha mit der Ausbildung aller Rekruten bereits ausgelastet ist. Ich dagegen besitze als stellvertretender Oberster Wächter des Baumes der Lieder Erfahrung in der Verteidigung gefährdeter Orte.“ Er lächelte gewinnend und ignorierte Daroschas verächtliches Schnauben.
Während Armond sich für Orfens alleinigen Anspruch als Befehlshaber der Söldner aussprach überlegte auch Janis sich Argumente, die Orfens Anspruch untermauerten. Dass Sechsfinger die Rietburg unterstützen würde, konnte er nicht mehr verhindern, also wollte er zumindest Orfen unterstützen, um auch in Zukunft zu Besprechungen wie diesen geladen zu werden. Der Statthalter verlangte zwar danach, dass jeder seine Meinung sagte, doch gewiss wäre er dennoch eher dann erfreut, wenn seine Meinung sich mit der von Janis deckte. Dann jedoch hatte er eine bessere Idee.
„Mit Verlaub, auch ich denke, dass es sinnvoller ist, den Befehl aufzuteilen.“, sagte Janis, nachdem Armond geendet hatte. „Wenn Sechsfinger wirklich so gefährlich ist, dann wäre es ein Risiko, ihn nur an eine Person zu binden. Mein Vorschlag wäre, dass er unter den Befehl von euch Vieren gestellt wird und er sich bei widersprüchlichen Befehlen nach den Anweisungen des Statthalters zu richten hat – es sei denn die anderen sind einstimmig anderer Meinung.“
Orfen blickte ihn betroffen an, doch Janis fuhr fort: „Ich frage Euch, Statthalter, beugen die Helden von Andor sich widerspruchslos dem Wort ihrer rechtmäßigen Königin, oder beraten und einigen sie sich untereinander?“
Noch bevor er fertig gesprochen hatte, konnte er sehen, wie der Wolfskrieger seinen Vorschlag innerlich annahm. „Also schön!“, knurrte der Statthalter. „Wir machen es nach Sajins Vorschlag, es sei denn, jemand will erneut widersprechen.“ Niemand wollte.
Noch eine Stunde lang berieten sie sich über den Zustand der Mauern, Rüstungen und Waffen, über die Fortschritte der Rekruten und die Möglichkeiten, den Durchfall einzuschränken. Janis schwieg die meiste Zeit über, lauschte aufmerksam und lächelte still in sich hinein, als Orfen verlegen meinte, dass der Durchfall so schlimm nun auch nicht war. Als die Beratung zu Ende zu gehen schien überlegte sich Janis, dass er selbst etwas beitragen musste, wenn der Statthalter ihn auch zu den nächsten Besprechungen einladen sollte. Er überlegte fieberhaft nach einem guten Vorschlag, der Orfen angemessen beeindruckte, dann fragte er Meister Kunar, wie viele Pfeile sie inzwischen vorrätig hatten.
„Etwas weniger als dreißigtausend.“, meinte der Bewahrer mit unverhohlener Neugierde.
„Das macht knapp vierhundert Stück pro Bogenschütze.“, rechnete Janis schnell. „Das genügt bestenfalls für die ersten vier Tage.“
Kunar runzelte die Stirn und zählte unter dem Tisch unauffällig mit den Fingern nach, wurde jedoch von Daroscha unterbrochen: „Die Zahl stimmt, dafür sollte man keine Finger benutzen müssen. Da der Junge jedoch besser zählen kann als du, frage ich mich gerade, ob du wirklich neunmaliger Gewinner der großen Jagd bist, oder ob du dich einfach nur um neun Siege verzählt hast.“
„Wer weiß, vielleicht habe ich das ja tatsächlich und eigentlich habe ich siebzehn mal gewonnen!“, entgegnete Kunar aufgebracht.
„Du meinst achtzehn.“, verbesserte die Kommandantin ihn süffisant.
„Hört auf der Stelle auf!“, befahl Orfen den sich anfunkelnden Ausbildern. „Das ist ja nicht zum Aushalten mit euch beiden! Sajin hat recht, wir brauchen mehr Pfeile, wie ich es schon seit Tagen sage.“
„Und ich kann nicht anders antworten als bisher.“, meinte Kunar bedauernd. „Die Bewahrer tun was sie können, aber es würde mich wundern, wenn vor Beginn der Belagerung noch mehr als fünftausend hinzukommen.“
Janis nickte schnell. „Es gibt noch eine Möglichkeit, damit unsere Pfeile länger vorhalten.“, erläuterte er seine Idee. „Wenn die Menge konstant ist, müssen wir eben den Verbrauch reduzieren. Wenn nur jeder zweite der potentiellen Bogenschützen auch schießt, haben wir pro Schütze doppelt so viele Pfeile übrig.“
„Aber dafür haben es die anstürmenden Feinde von Anfang an leichter, unsere Mauern zu überwinden.“, überlegte Schwertmeister Armond skeptisch.
„Das ist richtig. Doch wenn wir die Anzahl der Bogenschützen halbieren, dann wird unsere Verteidigungsfähigkeit dabei noch lange nicht halbiert. Zumindest nicht, wenn wir nur die schlechtere Hälfte der Bogenschützen stattdessen als Nahkämpfer einsetzen. Die guten Bogenschützen haben dann mehr Pfeile zur Verfügung, bei den schlechten stellt es keinen großen Verlust dar, ihnen Schwert statt Bogen zu geben.“ Janis seufzte. „Meister Kunar, ich schlage eine Prüfung vor, die Spreu von Weizen trennt. Lassen wir jeden schießen, so ist das eine Verschwendung von Pfeilen.“
Er blickte den Bewahrer fest an, und schließlich nickte der traurig, gefolgt von den anderen. Kunars grüne Augen musterten Janis und sagten ihm, was er längst wusste: Dass er nicht zum Weizen gehören würde.
Doch viel mehr Sorgen machte sich Janis ohnehin um Sara. Noch immer weigerten die Pfeile seiner stummen Freundin sich hartnäckig, auch nur eines ihrer Ziele zu treffen, gleichzeitig bedeutete das Bogenschießen ihr sehr viel. Kaum war die Besprechung beendet, machte Janis sich daher auf, sie vorzubereiten. Er fand sie schließlich am üblichen Treffpunkt, auf der höchsten Plattform des Kronenturms. Die Überraschung stellte Barram dar, der Zwerg, der Janis zur Besprechung gerufen hatte. Er hatte sich wie selbstverständlich auf Janis´ Lieblingsplatz breitgemacht, fachsimpelte mit Rodur über Erzabbau und zeigte währenddessen Sara einige Gesten. Als sich die Klappe öffnete und Janis seinen Kopf hindurchsteckte, unterbrach Barram seine Lektion, um ihm freundlich zuzuwinken. „Hallo, Sajin!“, brummte er.
„Guten Abend, Barram!“, entgegnete Janis in einem Tonfall überraschter Freude, während er sein höflichstes Lächeln aufsetzte. Doch der Zwerg blickte ihn schon nicht mehr an, sondern zeigte Sara bereits ein weiteres Zeichen.
Solange Barram dabei war, konnte Janis nicht von der Besprechung erzählen, also setzte er sich einfach auf den Boden und wartete. Der Zwerg machte jedoch keine Anstalten zu verschwinden. Immer wieder fragte Barram ihn freundlich nach seiner Meinung, doch da Janis von kaum etwas so wenig Ahnung hatte wie von der Erzgewinnung, konnte er zum Gespräch nichts beitragen. Sara dagegen verfolgte gebannt die neue Gebärdensprache, ihre Augen ruhten fasziniert auf Barrams Händen, verschlangen jede Geste und enthielten nur eine leise Spur von blau.
Barram zeigte regelmäßig seine Begeisterung über Saras schnelle Fortschritte, insgesamt war er stets höflich, freundlich, offen, liebenswürdig und lustig. Janis konnte ihn nicht ausstehen!
Die Nacht wurde dunkler, irgendwann begann es zu regnen und mit der Zeit fielen Janis immer öfter kurz die Augen zu, bis er sich kaum noch wachhalten konnte. Die Lider wurden ihm schwer, die Geräusche verschwammen im Hintergrund und schließlich ergab er sich dem Schlaf.

Er irrte durch den Sturm, auf den Schein des fernen Leuchtfeuers zu. Unter seinen Füßen glühten die Sterne und aus der Ferne erklang ein Lied, das Kheela ihm früher immer vorgesungen hatte. Er wusste, wenn er das Feuer nur erreichte, dann würde er seine Mutter wiedersehen. Ich glaube, du bist weit mehr als nur eine flackernde Kerze, klang die raue Stimme des Statthalters durch den Sturm und er bemerkte, dass er eigentlich eine Kerze war, die langsam vorwärts kroch, und dass die Sterne nur Wachstropfen waren, die er verlor. Langsam verklang das Lied, je näher er dem Feuer kam, und als er es schließlich erreichte, da war es ein großes Auge, dessen Iris zwischen wolkenblau, luftpurpur und flammengrau schwankte. Dann wuchs die schwarze Pupille, als wäre der Saft einer Belladonna hineingeträufelt worden, und die schillernden Farben erloschen. Der Sturm wurde lauter, die Böen trugen die Stimme eines Zwerges und sprachen von Erzen und Gebärden. Die Stimme zerrte an der Kerzenflamme, die flackerte und schließlich erlosch.

Der Kronenturm der Rietburg wird in rotes Licht getaucht, und neben der Flagge mit der Sternblume hockt ein blutroter Hahn. Er sieht sich um, Gier schimmert in seinen leeren Augen, und er breitet seine Flügel aus, die plötzlich das ganze Rietdach bedecken. Der Hahn wächst, seine Federn strahlen in Rot und Gold, sein Körper knickt den Fahnenmast einfach beiseite. Der sichelförmige Schwanz ragt über die Brüstung bis auf den Burghof, und als der Hahn seines mörderischen Schnabel öffnet, quillt pure Dunkelheit heraus. Und vor der Rietburg regt sich das Land, das goldene Gras wird von grauem Staub bedeckt und finstere Schatten gleiten über die Mauer und durch das offene Tor. Und der rote Hahn reckt sich und öffnet seinen Schnabel noch weiter, um alles zu verschlingen.

„Na endlich! Das ist mein dritter Versuch, normalerweise schläfst du um diese Zeit schon längst.“, beschwerte sich Nomion. Janis blinzelte und ließ seinen Blick über die ausgestorbene Rietburg und den diffusen Nebel schweifen. Er stand vor dem Portal zum Thronsaal, der erste Krahder hatte sich auf den Boden gesetzt und starrte in den grauen Himmel.
„Was ist, Nomion? Weshalb besuchst du mich schon wieder?“
Der Hexer fixierte Janis und legte seinen Kopf schief. „Meine Späher haben eine seltsame Truppe gesehen, eine Hundertschaft von Menschenkriegern, die sich zur Rietburg bewegen. Weißt du etwas von ihnen?“
„Sechsfinger! Ein Söldner aus den Barbarenlanden, den Orfen angeheuert hat, um die Rietburg zu unterstützen.“
„Wie immer gut informiert.“, schmunzelte Nomion.
„Ich durfte heute bei einer aufschlussreichen Besprechung zugegen sein.“, entgegnete Janis ernst und gab dann wieder, was er erfahren hatte. Er hätte normalerweise verschwiegen, was nicht für seine Aufgabe nötig war, doch jetzt war die Zeit des Zögerns vorbei. Es erschien gar nicht mehr so unwahrscheinlich, dass Andor die Belagerung mit Hilfe von Söldnern und Schildzwergen tatsächlich zurückschlagen könnte, und Janis durfte kein Risiko eingehen.
„Diesen Sechsfinger können meine Kreaturen einholen und töten, ehe er die sichere Burg erreicht. Doch die Schildzwerge bereiten mir Sorgen!“
„Ich weiß, was wir gegen sie unternehmen können.“, meinte Janis traurig. „Sie können uns nur zu Hilfe eilen, weil alle Kreaturen ohnehin hier vor der Rietburg stehen werden. Doch wenn die Armee aufgeteilt wird und eine Hälfte nahe der Zwergenmine bleibt, dann werden sie Cavern nicht verlassen können.“
„Aber damit hätte meine Armee nur noch die halbe Schlagkraft!“, erwiderte Nomion aufgebracht. „Ich sammle nicht seit Wochen Truppen zusammen, nur um jetzt die Hälfte wegzuschicken.“
„Die Armee der Schildzwerge wäre gebunden. Eine Armee, die andernfalls all unsere Pläne zerstören könnte. Das ist zumindest mein Vorschlag.“
Nomion nickte nachdenklich. „Ich werde darüber nachdenken. Hast du etwas bezüglich des Statthalters erreicht?“
Janis zögerte kurz. „Ich habe Orfen dazu gebracht, regelmäßig unseren eigenen Brunnen zu vergiften, sodass die Rietburg die nächste Zeit unter Durchfall zu leiden hat.“
Nomion schüttelte nur verächtlich den Kopf. „Durchfall? Weshalb so zimperlich, mein kleiner Verräter? Nein, das ist die Mühe nicht wert. Aber ich hätte eine Idee. Unser Gespräch barg so viele Anregungen. Endlich eine würdige Aufgabe für meine neue Dienerin!“ Er verzog seine grauen Lippen zu einem Grinsen, das Janis einen Schauer über den Rücken jagte.
„Ich habe übrigens auch eine Idee was die Söldner betrifft.“, meinte Janis. „Vielleicht wäre es besser, sie nicht anzugreifen. Mit etwas Geschick bieten sie lebend größere Vorteile. Doch dazu brauche ich die Hilfe eines Hexers …“
Plötzlich ertönter ein langgezogener dumpfer Schrei, der die Burg in ihren Grundfesten erschütterte. Nomion bewegte seinen Mund, ohne gegen den Lärm anzukommen. Doch auch bisher hatte Janis im Traum nie die Worte in der fremden Sprache selbst benötigt, und so verstand er auch jetzt den Sinn des Gesagten: „Wir sprechen später weiter.“
Dann zerstob der Traum.

Für den ersten Moment befürchtete Janis, jemand sei vom Kronenturm gestürzt, doch dann erkannte er, dass Barram nur seiner Begeisterung Ausdruck verlieh. „… ist unglaublich! Habt ihr das gesehen? Sara hat vor wenigen Stunden zum ersten mal von dieser Sprache gehört, und inzwischen kann sie sich schon mit mir unterhalten!“ Der Zwerg lachte und sprang auf, ohne dabei nennenswert größer zu werden. Janis setzte sich aufrecht hin und versuchte die Schmerzen in seinen steifen Gliedmaßen zu ignorieren.
„So etwas habe ich noch nie erlebt! Jedes Zeichen beherrschst du sofort, keines hast du vergessen. Wie kannst du das alles nur behalten?“
Sara schlug geschmeichelt die Augen nieder und Janis zog sich an der Mauerkante hoch. Den Unmut in seinem Inneren konnte er sich nicht erklären, er selbst hatte schon oft genug bemerkt, wie klug Sara war. Doch dass Barram es jetzt auch feststellte, störte ihn irgendwie, hinterließ ein seltsames nagendes Brennen in seinem Bauch. Das breite Grinsen unter dem Bart, die strahlenden Augen, die Bewunderung in der Stimme des Zwerges, irgendwie hinterließ das alles in Janis nur einen Brechreiz.
Barram schüttelte begeistert den dicken Kopf, dann hielt er inne und musterte Sara. „Mein Freund Garin, möge Mutter Natur über seine Seele wachen, hat mir einmal von einem Kind aus dem östlichen Rietland erzählt. Er sagte, er kam zu einem Bauernhof, wo ihn ein fünfjähriges Mädchen mit blonden Zöpfen ihn in fließendem zwergisch begrüßte.“
Sara lächelte traurig, ihre Iriden färbten sich blau und sie nickte leicht. „Damals habe ich ihm nicht geglaubt. Aber jetzt … stimmt auch der Rest dessen, was er erzählt hat?“ Erneut nickte Sara. „Oh, Mädchen, das tut mir leid. Manchmal können Menschen entsetzlich dumm und bösartig sein. Ich muss aber zugeben, das gilt für Zwerge genauso.“
Rodur runzelte die Stirn und öffnete den Mund, und auch Janis verspürte große Neugierde. Doch Sara gebärdete schnell in ihrer eigenen Sprache: Ich. Nein. Wollen. Erzählen. Davon.
Also nickte Janis nur und schaute woandershin. Nur durch Zufall bemerkte er die Gestalt, die über den Burghof schlich. Endlich eine würdige Aufgabe für meine neue Dienerin! Doch es war nur der Statthalter, der noch immer nicht verstanden hatte, dass Verstohlenheit ihn nicht unauffälliger machte und dass es sich mitunter lohnen konnte, nach oben zu schauen. Leise winkte Janis seine Freunde zu sich, obgleich Orfen über den Regen gewiss ohnehin nichts von ihnen hören könnte. Zu viert sahen sie durch das fallende Wasser hindurch, wie der Wolfskrieger zum Brunnen ging, etwas unter seinem Pelzmantel hervorholte und hineinwarf. Janis sah Sara zufrieden nicken, Rodur nachdenklich in den Regen starren … und Barram, dem unter seinem Bart fassungslos der Mund aufklappte. In diesem Moment wusste Janis, dass dieser erste Teil seines Plans Früchte getragen hatte. Jetzt musste er schnell handeln, damit der Zwerg seine eigenen Schlüsse zog.
„Ich würde gerne kurz mit meinen beiden Freunden allein sein.“, meinte er stockend. Barram war entweder zu verwirrt oder zu höflich, um beleidigt zu sein. Schweigend entfernte er sich und schloss die Klappe mit einem lauten Knall.
„Warum hast du ihn fortgeschickt?“, fragte Rodur erstaunt.
„Weil ich Orfen versichert habe, dass niemand von seinem Auftrag erfährt. Eigentlich hätte ich auch euch beiden nichts erzählen dürfen, Barram zumindest kenne ich noch nicht lange genug.“
Wenn. Kind-von-Fluss. Nein. Erzählen. Dann. Rund-Zwerg. Vielleicht. Bekommen werden. Falsch. Verdacht. befürchtete Sara.
„Wir wissen nicht, weshalb Orfen es geheim halten wollte.“, raunte Janis. „Aus welchem Grund auch immer er unseren eigenen Brunnen vergiftet, es soll niemand erfahren. Barram hat nur gesehen, wie Orfen etwas in den Brunnen tut, mehr nicht. Es kann alles mögliche bedeuten, doch wenn er jetzt noch hört, dass Orfen Sapian-Knollen sammeln ließ, die Durchfall verursachen, wird er ihm dann wohl mehr vertrauen?“
Sara biss sich auf die Lippe und nickte dann. Wolf-Krieger. Sein. Held. - Rund-Zwerg. Müssen. Wissen. Auch. So.
„Ja!“, bestätigte Rodur. „Unsere Informationen lassen den Statthalter tatsächlich eher schlechter dastehen, wenn man es nicht besser wüsste …“ Er unterbrach sich und schüttelte kurz den Kopf: „Sag mal, Janis, was wollte Orfen eigentlich von dir?“
„Scheinbar hat ihn meine Abstammung stärker beeindruckt als gedacht. Er hat mich zu einer Besprechung mit Kommandantin Daroscha, Meister Kunar und Schwertmeister Armond gerufen.“ Er blickte Sara in die Augen und atmete tief ein. „Wir haben unter anderem beschlossen, dass Kunars Schüler eine Prüfung bestehen müssen, um während der Belagerung keine Pfeile zu verschwenden. Nur wer gut genug schießt …“
Er brach ab, als er sah, wie das Blau in Saras Augen zunahm. Nein. Traurig. Sein. gebärdete sie. Kind-von-Fluss. Kämpfen werden. Mit. Sohn-von-Feuer. Aber. Sehen werden. Mädchen-ohne-Worte. Oft. Genug. Sie lächelte und Janis gestand nicht, dass ihre eigene Prüfung seine größere Sorge war.
„Also gut!“, sagte Rodur schließlich. „Dann holen wir mal Barram wieder hoch.“ Doch der Zwerg war bereits gegangen.


Später Nachmittag, 73. Herbsttag 76 A.Z.
Südlich der Rietburg, Andor

Es geschah drei Tage später. Zum nachmittäglichen Training hatten sich Kunars Schüler an ihrem üblichen Platz versammelt, doch anstatt Strohpuppen waren Stofffetzen auf die Pfähle gehängt. Es war ein windiger Tag und Kunar hatte dies zum Anlass genommen, damit die Rekruten gleich zwei Dinge üben konnten: Das Schießen bei Wind und auf bewegte Ziele. Janis konnte seinen eigenen Pfeilen nur mit Mühe folgen, die Böen rissen sie in die verschiedensten Richtungen und wenn er doch in die Nähe des Stoffes traf, dann war der zumeist in eine andere Richtung geflattert.
Plötzlich hörte er einen überraschten Ausruf von Meister Kunar. Er hob den Kopf und sah fragend zu Sara, die ihn jedoch nicht bemerkte. Sie starrte nur auf den Pfeil, der sich im Stoff verfangen hatte, und Janis brauchte einige Herzschläge, um zu begreifen, dass sie ihr Ziel getroffen hatte. Dann jedoch ließ er seinen Bogen fallen und rannte begeistert auf sie zu. „Du hast es geschafft!“, rief er über den Wind und stockte erst, als er direkt vor ihr stand und das eisige Grau ihrer Augen sah. Sie war nicht erfreut, sondern … erzürnt?
Eine Gestalt eilte an Janis vorbei und des grünen Stoffes wegen dachte er zunächst, es wäre Meister Kunar. Doch es war eine andere Bewahrerin, eine derjenigen, die als Späher ausgesendet worden waren. Ihre Beine zitterten, rote Striemen überzogen ihr Gesicht, Furcht und Erschöpfung standen in ihren Augen und sie schien ihren Bogen verloren zu haben. Der Schrei von Kunar hatte wohl doch nicht Saras überraschendem Treffer gegolten.
Im nächsten Moment war der Meister der Pfeile heran und fing die Bewahrerin auf, ehe sie zusammenbrechen konnte. Sie sank in seine Arme und er tätschelte ihr beruhigend den Rücken, während er angestrengt ihren gehauchten Worten lauschte. Seine grünen Augen weiteten sich, dann versteinerte sein Gesicht. Er trat einen Schritt zurück, vergewisserte sich, dass die Bewahrerin sicher stehen konnte und blickte seine Schüler düster an.
„Sie kommen!“
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Zwischenspiel XI – List und Tücke

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:17

Zwischenspiel XI – List und Tücke

Mondhoch, 74. Herbsttag 76 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

Das erste, was Ken Dorr wahrnahm, war die abscheuliche Mischung aus Fäulnis und Trockenheit auf seiner Zunge, gefolgt von der Kälte des glattpolierten Steinsitzes und einem schwachen blauen Glühen, aus dem sich nur langsam erste Umrisse schälten: Ein Saal mit halbkreisförmigen Sitzreihen, der geschuppte Leib eines zusammengerollten Drachen. Und ein Schatten mit gezackter Maske und weiß glühenden Augen, der in der Mitte der großen Halle schwebte, von purer Dunkelheit umgeben und zugleich Quelle des fahlen Lichts.
„Willkommen!“, rief der Schwarze Herold und hob eine dunkle Faust. Seine tiefe Stimme hallte laut von den Wänden und den runden Sitzreihen wider. „Ich begrüße euch zur zweiten Sitzung des Ewigen Rates.“
Ken Dorr fuhr sich mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen und spuckte einmal aus, um den Geschmack des Todes aus seinem Mund zu entfernen. Der Schwarze Herold mochte eine schnelle Möglichkeit gefunden haben, den Ewigen Rat zusammenzurufen, aber angenehm war Sterben nicht.
„Fünfzig Tage sind vergangen, seitdem wir zuletzt zusammenkamen, und jeder von euch hatte seine eigene Aufgabe zu meistern, seine eigenen Probleme zu überstehen. Doch ihr wart eine Enttäuschung, allesamt!“
Der Herold zog sein dunkles Schwert und deutete damit auf eine hagere Gestalt von fast sechs Schritt Größe. Im Zwielicht erkannte Ken vom riesenhaften Hexer nicht mehr als die auf den beinernen Stab gestützte Silhouette und die gelb funkelnden Augen.
„Nomion, Erster der Krahder! Dein Volk unterwarf Andor in einem Mond, du jedoch hast nicht einmal mit der Belagerung der Rietburg begonnen.“
„Meine Armeen sind auf dem Weg.“, flüsterte der Krahder, mühsam unterdrückter Zorn schwang in seiner tonlosen Stimme mit. „Es dauerte länger als erwartet, denn der Statthalter wurde leider … vorgewarnt.“ Ruhig erwiderte Ken den finsteren Blick Nomions.
„Doch ich habe Verräter in Andor, die mir gute Dienste leisten werden und die bereits ein Haar des Wolfskriegers beschafft haben.“
„Ausflüchte!“, rief der Schwarze Herold kalt, ehe er sich dem nächsten Mitglied des Ewigen Rates zuwandte.
„Und du, Varkur? Du hattest nur eine einzige Aufgabe, und du hast versagt! Dir, dem mächtigsten Dunklen Magier aller Zeiten, ist es nicht gelungen, in eineinhalb Monden einen verdammten Wolf aufzuspüren?“ Der finstere Nebel, der sich über die steinernen Sitze gelegt hatte, spuckte ein Büschel nachtschwarzer Haare aus. Eine grässliche Stimme wie kreischendes Metall warf ihr Echo durch die dunkle Halle: „Ich erfüllte meinen Auftrag, doch ich sah keine Möglichkeit, davon zu berichten. Ihr könnt uns zu Euch rufen, wie es Euch beliebt, aber wir können nicht von uns aus mit Euch in Kontakt treten. Oder zumindest war das bisher so.
Aus dem schwarzen Nebel floss ein Strom aus flüssigem Silber über die Sitzreihen, teilte sich um den Drachen und das steinern Pult, zu dem alle Sitze ausgerichtet waren, und stieg an der Wand dahinter in die Höhe, verteilte sich, bedeckte die Runen und hinterließ einen riesigen, sich leicht kräuselnden Spiegel. Einige silbrige Tropfen lösten sich aus der Fläche und schwebten durch den Raum, bis einer vor jedem Mitglied des Ewigen Rates in der Luft hing. Als Ken nach dem Tropfen vor seiner Nase griff, bildete sich aus Fäden der Dunklen Magie ein zylinderförmiges Döschen darum, das leicht wie Tau in seine Hand fiel.
Ich kann das Quecksilber zu einem Gedankenspiegel formen. Eine Verbindung von jedem dieser Tropfen zu dieser Halle.
Die silberne Fläche färbte sich zu einem Mosaik aus verzerrten Bildern, die sich nach und nach tiefschwarz färbten, als auch die letzten Tropfen in Dunkelheit verpackt wurden.
Holt die Tropfen ins Licht und was sie sehen, wird an diesem Ort widergespiegelt, was sie hören, wird auch hier zu hören sein. Wer immer sich hier aufhält wird wissen, dass ihr etwas zu sagen habt.
„Hervorragend!“, rief der Schwarze Herold anerkennend. „Es hat sich also gelohnt, dich in den Ewigen Rat zu rufen. Und was den Wolf betrifft: Ich kenne eine gewisse Gruppe, der dieses Biest viel bedeutet.“ Er brach in schauriges Gelächter aus, in das der übrige Rat verhalten miteinstimmte. Jäh fuhr das Gespenst herum, jede Regung war mit beängstigender Plötzlichkeit verschwunden. Seine Maske neigte sich den Sitzen entgegen, auf denen neun Gestalten in einer Reihe saßen. „Schwarze Kogge! Was habt ihr erreicht?“
Ein großer Mann mit blauer Haut stand auf, der rötliche Greifvogel auf seiner Schulter flatterte unruhig, um das Gleichgewicht zu halten. „Die Schwarze Kogge jagt wieder!“, meinte er ruhig.
Eine andere Gestalt erhob sich, eine Frau mit grüner Haut und grünem Haar, über die Ken Dorr nicht viel wusste. „Wir haben inzwischen fast ein Dutzend Arrogs aufgespürt, außerdem scharenweise Meerestrolle, die wir mit Mutters Geschenk problemlos unter Kontrolle halten können. Und wenn unser Bündnis mit König Warx erst ausgehandelt wurde, werden uns auch die Nerax folgen.“
„Beeindruckend! Das sind ja fast schon gute Nachrichten! Immerhin ihr habt begriffen, dass falscher Stolz uns nicht davon abhalten darf, zusammenzuarbeiten. Andere dagegen enthüllen unseren Feinden Informationen und schaden so dem Ewigen Rat. Wozu, Dieb? Deine Aufgabe war eindeutig, die Helden in unsere Pläne einzuweihen gehörte nicht dazu!“
Ken stand auf und verneigte sich tief. „Es war notwendig, um ihr Vertrauen zu erringen. Ich konnte sie zu einer Reise in den Süden drängen, tief ins Graue Gebirge. Sie suchten nach Antworten, und haben bloß Zeit verloren.“ Ken sah dem Ersten Mitglied des Ewigen Rates fest in die leuchtenden Augen. Er hatte schon immer gut lügen können.
„Auch Eure eigentliche Aufgabe habe ich gemeistert. Ihr habt nicht umsonst einen Dieb in Euren Rat geholt.“ Ken tastete nach dem Beutel an seinem Gürtel. Er hatte gewusst, dass er jederzeit zum Rat gerufen werden könnte, daher hatte er ihn stets am Körper getragen.
Seine bleichen Finger öffneten geschickt die Lederschnüre und zogen vier Wachsklumpen heraus, in die je ein Buchstabe geritzt war. „Chada, Thorn, Drukil und Leander. Da letzterer noch weniger Haare trägt als ich, musste ich mir mit einem Fingernagel behelfen. Nicht sonderlich appetitlich, aber was tut man nicht alles für seine Belohnung.“ Als die vier Klumpen zum Herold schwebten, senkte Ken demütig den Blick und wartete.
„Es ist nicht deine Aufgabe, über Notwendigkeit zu entscheiden!“, dröhnte der Schwarze Herold schließlich. „Ich bin das erste Mitglied des Ewigen Rates, ich trage die Verantwortung dafür, dass wir unsere Rache bekommen! Wir alle werden durch dieses Ziel geeint, aber wir brauchen einen Anführer, und der bin ich. Deine Erfolge lassen mich deinen Ungehorsam nur teilweise verzeihen, Ken Dorr. Lass mich nicht bereuen, dir ein zweites Leben geschenkt zu haben. So etwas darf sich nicht wiederholen!“ Ken atmete erleichtert aus und hob den Kopf. Die Schatten um das Gespenst wirbelten auf, als es sich in der Luft drehte und in die tiefe Dunkelheit des Saales blickte, wohin auch das blaue Glühen nicht mehr reichte.
„Und was haben die gewaltigen Mächte des Meeres inzwischen erreicht?“, fragte der Schwarze Herold voller Spott. Eine eisiger Windstoß fuhr erzürnt durch den Saal und baumdicke Fangarme zertrümmerten eine ganze Sitzreihe, und aus dem Augenwinkel bemerkte Ken, dass Varkurs Dunkelheit einem gequälten Tier gleich zuckte. Doch es war Kenvilars beißende Stimme, die aus dem Dunkel sprach: „Unsere Suche nach dem zukünftigen Baum des Anbeginns schreitet voran, doch der Ozean ist weit und auch wir kennen nicht alle seine Tiefen.“
„Mit anderen Worten: Ihr habt nichts erreicht! Auf die Macht und Weisheit der drei Mächte habe ich mir so große Hoffnungen gemacht, doch euer Versagen war am größten.“ Der Schwarze Herold wirkte gefasst, doch seine weißen Augen flackerten und Ken meinte, den Wahn darin zu erkennen, das tosende Verlangen nach Rache. „Ihr müsst den Samen finden! Der Baum der Lieder soll brennen, und ich möchte auch die Macht des zweiten Herzens in unserem Besitz.“
„Wenn jemand diesen Samen findet, dann wir.“, entgegnete Kenvilar unbeeindruckt. Nur ihre orangenen Augen glühten aus dem Schatten, funkelten höhnisch. „Außerdem haben wir ein Ritual vorbereitet, das uns in anderer Hinsicht helfen wird. Gebt uns, was von unseren Feinden genommen wurde, was einst Teil von ihnen war, und die Helden von Andor werden die längste Zeit Helden gewesen sein. Jedes Wesen zwischen Himmel und Meer wird sie hassen.“
Der Schwarze Herold zögerte kurz, dann nickte er zustimmend. „Ihr werdet es nicht wagen, mich weiterhin zu enttäuschen. Wenn euch auch ein halbes Haar genügt, dann werden Orfen, Chada, Thorn, Drukil und Leander euch gehören.“
„Nicht Leander!“, rief da eine besorgte Stimme und brachte jedes andere Geräusch zum Verstummen. Ken blinzelte und suchte die Sitzreihen ab, bis sein Blick an Callem hängen blieb. Er stand aufrecht da, doch sein kahler Kopf war gesenkt. „Er ist keiner von ihnen! Er… ist mein Bruder.“ Langsam sah der Kapitän der Schwarzen Kogge auf, Stolz lag in seinen kalten gelben Augen. „Leander begleitete die Helden von Beginn an nur in meinem Auftrag, um sie zu verraten.“
Ken erstarrte. Er hätte Leanders Treue niemals angezweifelt, doch jetzt bemerkte er die Ähnlichkeit zwischen Callem und dem Seher. Wie viele Personen mit tiefblauer Haut kannte er? Ken war seit jeher stolz auf seine Schläue, doch plötzlich fühlte er sich sehr dumm. Hatte Leander ihn nur deshalb so oft unterstützt, weil er den Sieg des Ewigen Rates wünschte? Mit wachsendem Grauen wurde Ken klar, wie gefährlich der Blinde für ihn war. Nicht nur sein zweites Gesicht stellte ein Risiko dar. Wenn der Seher mit seinem Bruder zusammenkam und ihm berichtete, was die Helden von Andor tatsächlich im Grauen Gebirge herausgefunden hatten …
„Weshalb erfahren wir das erst jetzt?“, brüllte der Schwarze Herold schließlich zornig und durchbrach damit die fassungslose Stille. „Weshalb hast du es bisher nicht für nötig gehalten, uns einzuweihen?“
„Ich wusste nicht, wie sicher es ist. Vom Angriff auf ihre Burg haben unsere Feinde schließlich auch frühzeitig erfahren.“ Callem strich sanft über den Kopf des monströsen Vogels und schien in keiner Weise besorgt ob des fahlen blauen Lichtes, das ihn als unmissverständliche Drohung einhüllte. „Leander steht treu auf meiner Seite, und ich stehe auf der Seite des Ewigen Rates. Und wenn das Ende der Helden von Andor naht wie Ihr es Euch ausgemalt habt, dann werden wir gemeinsam feiern.“
„Ich bin so enttäuscht!“, zischte der Schwarze Herold. „Wir müssen endlich zu gemeinsamer Stärke finden, anstatt uns nur gegenseitig zu misstrauen und nicht mehr zu tun, als notwendig ist. Habe ich euch nicht ewiges Leben versprochen, göttergleiche Macht, die Erfüllung all eurer Wünsche und eure Rache? Nur ein wenig Einigkeit, und ihr werdet all das bekommen. Also gut, Kapitän! Wenn du die Wahrheit sagst, dann wird der Seher von meiner Rache verschont bleiben.“
Ken Dorr schob die Gedanken an Leander vorerst beiseite und richtete seinen Blick auf den zusammengerollten Drachen im Zentrum des Saales. Es schien ihm, als sei Tarok seit der ersten Sitzung geschrumpft. Die gigantischen Flügel waren zerknittert und ausgetrocknet, die einstmals schwarzen Schuppen grau und von feinen Rissen durchzogen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, er hätte ihn für tot halten können.
Bisher hatte das Ungetüm geschwiegen und mit keinem Flügelzucken gezeigt, dass es auch nur eines der Worte vernommen hatte. Jetzt jedoch würde auch der Drache von seinen Erfolgen berichten müssen, jetzt endlich würde Ken erfahren, was Tarok all die Zeit getan hatte.
„Ihr habt eure zahlreichen Misserfolge ausgetauscht, und vielleicht habt ihr daraus gelernt. Ich habe den Ewigen Rat nicht gegründet, damit wir auf uns allein gestellt kämpfen, sondern damit wir die Helden von Andor mit ihren eigenen Waffen schlagen: Mit Einigkeit! Mit Gemeinschaft!“, rief der Schwarze Herold stattdessen, und Ken ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. Er würde den Zweck des Drachen schon noch herausfinden.
Der Schwarze Herold seufzte getragen, sein schattenhafter Umhang bauschte sich bedrohlich auf. „Es wird Zeit, dass ihr neue Aufgaben erhaltet. Doch da ihr scheinbar zu misstrauisch seid, um euer Wissen mit dem gesamten Ewigen Rat zu teilen, bespreche ich das einzeln. Nutzt die Zeit, um euch miteinander vertraut zu machen.“
Er hob die Faust, das blaue Glühen im Saal schwoll an, seine gezackte Maske schimmerte matt. Ken schloss die Augen und wartete auf den Tod.

Nach seinem Erwachen suchte er zunächst Nomion auf, von dem er sich am meisten erhoffte. Der Hexer stand in einer halb verschütteten Halle, aus dem Schädel auf seinem Stab drang ein grünes Licht und beleuchtete die feinen Runen an der Wand. Ken konnte sie nicht lesen, doch sie waren eindeutig zwergisch.
„Ich möchte Euch um Hilfe bitten!“, sagte er und stellte sich neben den Krahder. „Von uns allen kennt Ihr den Drachen am besten, auch wenn Eure Erinnerungen womöglich … nicht die besten sind.“
„Erinnere mich nicht daran!“, zischte Nomion hasserfüllt. „Ich tue das beste für mein Volk, und ich hasse die Helden von Andor für das, was sie den Krahdern antaten. Aber der Schwarze Herold irrt, wenn er glaubt, ich könnte mich jemals mit Tarok versöhnen.“
Ken unterdrückte ein Lächeln. Das war ja noch besser, als er geahnt hatte. „Ob Ihr Euch versöhnt, ist mir gleich. Tarok tut ohnehin nichts, er liegt nur da und schläft. Doch genau das finde ich so merkwürdig. Er hat über Jahrzehnte seine Kreaturen gegen die Rietburg gesandt, nur um Rache an König Brandur zu üben. Doch die Helden von Andor, die ihm sein unsterbliches Leben genommen haben, scheinen ihm gleichgültig zu sein. Meint Ihr nicht auch, dass ihm das unähnlich sieht?“
Nomion nickte nachdenklich. „Ich verstehe es auch nicht. Ja, er verheimlicht etwas, und der Schwarze Herold scheint eingeweiht zu sein. Doch uns enthält das Gespenst dieses Wissen vor, obgleich er gegenseitiges Vertrauen predigt.“
Nomion schüttelte sich und murmelte zornig einige unverständliche Worte. „Geh jetzt, Ken Dorr.“, hauchte er dann. „Ich werde sein Geheimnis dereinst ans Licht zerren, das schwöre ich. Und wenn es so weit ist, wird der gesamte Ewige Rat es erfahren.“

Tarok lag inmitten eines breiten Ganges und wäre in der Enge wohl kaum imstande, sich zu bewegen. Vorsichtig trat Ken näher. Die Luft um den Drachen flimmerte vor Hitze, die Zähne waren groß wie Schwertklingen. „Ich möchte Euch danken!“, begann er, doch Tarok zeigte keine Reaktion. „Dafür, dass Ihr bereit seid, unsere Sache zu unterstützen. Dafür, dass Ihr sogar mit Nomion zusammenarbeitet, obwohl der einst einen blutigen Krieg gegen Eurer Art führte.“
Jetzt schnaubte Tarok leicht. Das Ken zugewandte Auge öffnete sich einen Spalt weit. Eine geschlitzte Pupille richtete sich auf ihn, schwarz zwischen mattem Rot.
Was möchtest du?, erklang eine müde Stimme in Kens Gedanken.
„Wie macht Ihr das, Tarok? Ich hasse Nomion immer noch stellvertretend für die Krahder, die mich getötet haben, aber Ihr hättet noch viel mehr Gründe, ihn zu verabscheuen.“
Glaubst du, das tue ich nicht? Ich würde ihn am liebsten erneut einäschern, dazu wäre ich auch in meiner jetzigen Verfassung noch in der Lage. Doch was würde es bringen? Der Schwarze Herold würde ihn einfach zurückholen.
„Auch dafür verdient Ihr meine Anerkennung. Ihr seid bereit, Euren Stolz herunterzuschlucken und Befehle von Eurem einstigen Diener entgegenzunehmen, um unserer Sache zu dienen.“, entgegnete Ken respektvoll
Verschwinde!, brüllte die Stimme zornig und Ken zog sich eilig zurück, während ein leichtes Lächeln um seine Lippen spielte.

„Was willst du hier, Dieb?“, fragte ein schlanker Mann mit Pferdeschwanz. An seinem Gürtel hing ein silbernes Horn.
„Ich möchte Euch eine Frage stellen. Eurem Kapitän, um genau zu sein.“
„Lass mich raten: Es geht um meinen Bruder?“
Ken fuhr herum, als eine blauhäutige Gestalt aus den Schatten trat. Wie hatte er Callem nur übersehen können? „In der Tat. Ich begleite ihn schon eine Weile, und ich habe nie an ihm gezweifelt. Er ist entweder ein meisterhafter Schauspieler … oder Ihr irrt Euch. Wie sicher seid Ihr, dass Leander wirklich auf unserer Seite steht?“
„Ich vertraue ihm deutlich mehr als dir.“, entgegnete Callem kalt.
„Wie Ihr meint. Es ist nur … falls er doch ein Gegner des Ewigen Rates sein sollte, so wird der Schwarze Herold keine Gnade zeigen. Er wird Euren Bruder vernichten, und ich möchte sichergehen, dass Ihr darauf keine Rücksicht nehmt. Ihr seid Teil des Ewigen Rates, egal was Leander tut. Oder nicht?“
„Leander hat mich nicht verraten.“, antwortete Callem zornig. „Und du kannst beruhigt sein, denn wenn er es doch getan hätte, dann wäre er nicht länger mein Bruder. War es das?“
Ken nickte und verabschiedete sich. Doch in seinem Inneren verspürte er Genugtuung über die Besorgnis, die der Kapitän so mühsam zu verbergen versucht hatte.

Dunkler Nebel wallte auf und umhüllte ihn kurz. Ken versteifte sich, doch die Schatten flossen sogleich wieder ab und zogen sich in die Wolke zurück. „Ich möchte Euch meine Hilfe anbieten!“, rief Ken in die Dunkelheit.
Deine Hilfe? Wobei?
Ken erschauderte. Varkurs Stimme glich einem schrillen Kreischen und weckte in ihm erneut das Verlangen, sich zusammenzukauern und beide Ohren zuzuhalten. „Bei Eurem bevorstehenden Kampf gegen die Mächte des Meeres. Leugnet Eure Pläne nicht, wenn Ihr Euer Einflussgebiet von Hadria ausdehnen wollt, so sind die Nebelinseln die einzige Möglichkeit.“
Der Nebel wogte unruhig. „Ken Dorr, hast du dich je gefragt, weshalb alle in diesem Ewigen Rat so machtversessen sind. Ich meine, was haben wir eigentlich von mehr Macht?
Ken blinzelte verwirrt. „Ich glaube, ich verstehe die Frage nicht.“
Varkur kreischte und erst nach einigen Herzschlägen erkannte Ken Dorr ein bitteres Lachen. „Schon gut, Dieb. Vergiss es! Aber nein, ich plane keinen Krieg gegen die Mächte des Meeres.
„Nicht? Aber dürstet es Euch nicht nach Rache? Euer Großvater Varatan ist im Kampf gegen die Mächte des Meeres gescheitert, und dieses Scheitern hat Euer ganzes Leben geprägt. Wollt Ihr es ihnen nicht heimzahlen?“
Ich muss wahrscheinlich nicht fragen, ob du jemals über den Sinn von Rache nachgedacht hast. Darüber, ob sie sich wirklich lohnt.“, antwortete Varkur und Ken machte sich daran, sein Bild des Dunklen Magiers zu überdenken. „Doch in einer Hinsicht hast du recht, Ken Dorr: Varatan hat gegen die Mächte des Meeres gekämpft. Weil sie großes Leid verursacht haben. Und wenn der Ewige Rat Erfolg hat, werden sie über die Nebelinseln herrschen und erneut großes Leid verursachen. Aber wenn ich sie besiege und selbst über die Nebelinseln herrsche, dann wäre das vielleicht … besser? Ich könnte … so viel Gutes tun. Die Dunkelheit mit Licht erfüllen …“ Der Nebel zog sich ruckartig zusammen und Varkur kreischte gepeinigt auf. Ken wich vorsichtig einige Schritte zurück.
Doch wie soll das möglich sein?“, fragte Varkur schließlich erschöpft. „Sie sind … zu mächtig. Schon ihre Gegenwart zersetzt alles, was noch von mir übrig ist. Sie sind unbesiegbar. Ich werde nicht …
„Und daher werde ich Euch helfen.“, lächelte Ken. „Wenn Ihr die Nebelinseln angreift, dann würde der Schwarze Herold Euch zur Strafe töten. Doch falls die drei Mächte Euch angreifen, wird ihnen das gleiche widerfahren. Meine Macht ist das Wort. Ich bringe sie gegen Euch auf, und der Herold vernichtet sie, da sie die Stabilität des Ewigen Rates gefährden. Und ich überlasse Euch das Herz der Geburt, den Baum der Lieder, der mir versprochen wurde, dessen Macht ich jedoch nicht nutzen kann. Damit seid Ihr gegen die Mächte des Meeres gewappnet, auch wenn der Herold nicht eingreift. So oder so überlässt er Euch anschließend die Nebelinseln, und wir teilen sie unter uns auf. Was sagt Ihr, Varkur?“
Der dunkle Nebel zuckte unruhig. „Ich muss … Opfer bringen … Risiken eingehen … für das Licht … für die Erlösung …“ Vakurs Stammeln brach ab. Dann kreischte der Magier: „Ich bin einverstanden, Dieb. Gemeinsam verleiten wir sie zum Angriff.

Die Mächte des Meeres hatten sich in eine riesige Kaverne zurückgezogen. Das Wasser hatte sich dort gesammelt, dennoch machte ihnen die Trockenheit sichtlich zu schaffen. „Ich möchte Euch warnen.“, rief Ken ihnen zu, während er näher kam und am Rand des unterirdischen Sees stehen blieb. „Varkur hat mich gebeten, dass ich ihm den Baum der Lieder überlassen soll, falls Ihr den Samen nicht findet. Er verriet mir zwar nicht wofür, aber wenn er seine Macht von Hadria aus vergrößern möchte, dann seid Ihr seine einzigen Nachbarn.“
Wind brauste auf und spritzte ihm brackiges Wasser ins Gesicht. Worte bildeten sich aus den Böen. „Er möchte den Baum des Anbeginns. Wir müssen es verhindern, Kenvilar, Oktohan. Er darf ihn nicht bekommen. Nicht der Magier.
„Beruhige dich, Arkteron.“, zerschnitt Kenvilars Stimme den Sturm. Ihre orangenen Augen glommen in der Finsternis auf und blickten ihn höhnisch an. „Du hältst dich für so schlau, was?“, spottete sie. „Ich erkenne deinen plumpen Versuch, uns gegeneinander auszuspielen, doch du bist mir nicht gewachsen. Ich kann auf Jahrtausende der Erfahrung zurückblicken. Verschwinde von hier, du lächerlicher, kleiner Emporkömmling!“
Rasch zog sich Ken zurück. Jede deiner Lügen wird einem Feind helfen, dessen Geschick und Macht du nicht gewachsen bist, hörte er wieder die dreistimmige Warnung des Orakels der Geister. Kenvilars argwöhnischer Blick folgte ihm noch eine ganze Weile. Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das Gefühl, versagt zu haben.
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D – Der Bluter

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:17

D – Der Bluter

Sonnenhoch, 75. Herbsttag 76 A.Z.
Burghof der Rietburg, Andor

Ein Karren nach dem anderen rumpelte durch das weit geöffnete Tor. Neben den Pferden und Ochsen liefen Knechte, welche die unwilligen Zugtiere mit Gerten antrieben. Selbst Tiere näherten sich nur widerstrebend dem allgegenwärtigen Gestank, den die überfüllten Jauchegruben über die Rietburg gelegt hatten. Noch immer hielt der Durchfall die Burg fest in seiner fauligen Hand, und Janis verspürte ein leises schlechtes Gewissen.
Wirklich? Du möchtest alle hier dem Tode überantworten und schämst dich dafür, dass sie ein wenig Durchfall haben?
„Mutter, bitte! Lass mich in …“, flüsterte er und brach ab, als ihm auffiel, dass es nur seine eigenen Gedanken gewesen waren. Er atmete tief ein, ehe er die quälenden Wahrheiten beiseite schob und sich wieder auf seine Umgebung konzentrierte.
Er stand neben dem Burgtor im Schatten der Ringmauer, mit ausgestreckter Hand hätte er den Zugtieren übers Fell streichen können. Eigentlich hatte er die Wagen zählen wollen, doch jetzt war er abgelenkt gewesen. Diese Karren Korn waren die letzten Vorräte, die sie erhalten würden. Die Steuern waren eingetrieben und der Feind nahte.
Eine Gestalt stieg vom Wagen neben Janis, ein Mann in feiner Kleidung und mit einem madenähnlichen Bart auf seiner Oberlippe. „Sajin, welch ein Zufall! Darf ich diesmal mit dem Statthalter sprechen, oder muss ich erneut mit dir vorliebnehmen?“
„Seid gegrüßt, Sadam. Ich wusste nicht, dass Ihr persönlich kommt.“, antwortete Janis aufrichtig. Die anderen Großbauern hatten sich nicht mehr blicken lassen, Janis´ Drohung war deutlich genug gewesen. Aber Sadam, der Aufsteiger, war noch nie wie die anderen Großbauern gewesen.
„Ich würde ja behaupten, es sei eine spontane Entscheidung gewesen, aber leider wäre das eine Lüge.“, meinte Sadam lächelnd. Er kniff die Augen zusammen und marschierte unaufgefordert auf Orfen zu, der die Einlagerung der Vorräte koordinierte. Janis folgte ihm neugierig.
„… hinten ist noch Platz! Aber danach ist der zweite Speicher gefüllt, die restlichen Wagen müssen im dritten Lager abgeladen werden!“, scholl Orfens raue Stimme über den Burghof. Der Statthalter drehte sich um, erblickte den nahenden Großbauern und runzelte verärgert die Stirn. „Was wollt Ihr hier, Sadam? Wenn Ihr erneut über die Reform sprechen wollt, dann wendet Euch an Sajin, wenn es um den Zehnt geht, dann an Schwertmeister Armond, ich habe jetzt keine Zeit für Euch.“
Sadam verbeugte sich so tief wie eben noch angemessen. „Es ist mir auch eine Freude, Statthalter. Und herzlichen Glückwunsch zur Beförderung, Armond. Es ist großartig, dass das Amt des Schwertmeisters endlich wieder mit einem fähigen Mann besetzt ist. Malin ist viel zu früh gestorben und Rutgar war eine Enttäuschung.“ Armond nickte dem Besucher kurz zu und kratzte dann etwas auf die Schiefertafel in seiner Hand.
Sadam trat etwas näher an den Statthalter heran und sagte etwas, das Janis über den Lärm nicht verstehen konnte. Orfen seufzte, nickte widerstrebend und deutete auf den Thronsaal. Die beiden gingen los, doch dann zögerte der Wolfskrieger, drehte sich um und bedeutete Janis mit Gesten, ihnen zu folgen.
Zu dritt betraten sie den Thronsaal. Durch die geschlossenen Fensterläden drangen nur vereinzelte Lichtstrahlen und der gespaltene Holzthron war im Zwielicht nicht zu sehen. „Also, Sadam?“, fragte Orfen müde. „Was für einen Handel möchtest du mir vorschlagen?“
Der Aufsteiger lächelte in sich hinein. „Ist Euch bewusst, dass selbst Ken Dorr es nicht gewagt hat, die Steuern so sehr zu erhöhen wie Ihr? Ihr nennt es Zehnt, aber inzwischen ist ein Fünft daraus geworden.“
„Es war ein schlechtes Jahr, und eine Belagerung steht bevor.“, entgegnete Orfen mürrisch. „Ich wüsste nicht, was du zu bieten hättest, um weniger abgeben zu müssen.“
„Ich möchte nicht weniger abgeben. Im Gegenteil, ich habe bereits das Doppelte dessen bereitgestellt, was ich hätte geben müssen. Die Hälfte der heute angekommenen Vorräte stammt von meinen Feldern.“
„Du erwartest doch nicht, dass du diese Felder dafür behalten kannst?“, fragte Janis vorsichtig.
„Aber nein! Geschenkt ist geschenkt, seht es als Zeichen meines guten Willens. Andor ist in Not, und das Land bedeutet mir viel.“ Orfen knurrte angesichts dieser Doppeldeutigkeit, aber Sadam fuhr unbeirrt fort: „Mein Angebot sieht folgendermaßen aus: Mein eigenes Land wird von der Bodenreform nicht betroffen – und dafür verdopple ich meine diesjährigen Abgaben ein weiteres Mal. Achtzig weitere Zentner Korn, genug um diese Burg den vierten Teil eines Mondes zu ernähren. Von fünf geernteten Ähren behalte ich dann nur eine für mich.“
„Du willst uns kaufen?“, hakte der Statthalter nach. „Das ist dein großzügiges Angebot?“
„Warum kommt die Bodenreform trotz möglicher wirtschaftlicher Nachteile? Weil sie Andor hilft, sich jetzt zu verteidigen. Und genau so wäre es mit meinen Vorräten. Eure neuen Krieger hätten noch immer einen Anreiz, da sie nach wie vor ein gutes Stück Boden erhalten werden. Gleichzeitig halten sie der Belagerung länger stand.“
„Meine Antwort lautet nein!“, knurrte Orfen.
„Ihr müsst abwägen, Statthalter: Euer Ziel ist es, die Belagerung auszusitzen. Gehen Euch die Vorräte zu früh aus, so werden alle hier sterben. Nur weil Ihr zu stolz wart, mein Angebot anzunehmen.“
Orfen schüttelte nur den Kopf. „Es ist ebensogut möglich, dass wir die zusätzlichen Vorräte überhaupt nicht benötigen. Dann hätten wir Euch vollkommen umsonst bevorzugt, Sadam.“
„Und daher sagte ich, Ihr müsst abwägen. Was wiegt höher? Die Möglichkeit, dass ich mein Land umsonst behalten darf, oder das Risiko, dass hunderte Menschen sterben? Bitte, lasst nicht zu, dass Andor für Eure Prinzipien geopfert wird, Statthalter!“
Orfen schüttelte zornig den Kopf. „Nein, Sadam! Entweder die Bodenreform gilt für alle oder für niemanden, alles andere wäre Willkür. Wenn Euch Andor so am Herzen liegt, dann überlasst uns das Korn eben ohne Gegenleistung.“
Der Großbauer lachte bitter. „Ich wurde als Sohn eines Tagelöhners geboren, komme aus dem Nichts, und jetzt bin ich einer der reichsten Menschen Andors. Ich bin in erster Linie ein Händler, und als solcher kann ich nicht noch mehr verschenken. Es tut mir sehr leid, Statthalter. Um all die Leben, die Euretwegen möglicherweise verloren gehen werden. Denkt darüber nach. Wenn die Kreaturen erst hier sind, wird es zu spät sein.“, meinte er traurig, ehe er sich zum Gehen wandte. Als er seine Hand auf den Griff der Holztür legte, hielt er inne. „Was Ihr übrigens noch wissen solltet: Großbäuerin Kara hat ihr Korn nicht rechtzeitig trocknen lassen. Es ist noch feucht und wird schneller faul. Ihr solltet es daher als Erstes verbrauchen. Nun denn, lebt wohl!“
Sadam stieß das Tor auf und trat hinaus. Nur wenige Augenblicke später öffnete das Tor sich erneut. Peta, der junge Krieger, trat ein. „Die Söldner sind hier.“, sagte er ernst.
Orfen nickte müde. „Hol ihren Anführer und den Schwertmeister her!“, meinte er rau. Peta nickte und verschwand, und Orfen wies Janis an, nach Kommandantin Daroscha und Meister Kunar zu suchen.

Beide hatte Janis schnell gefunden, und so kehrte er nach kurzer Zeit zum Thronsaal zurück. Janis folgte den beiden Lehrmeistern hinein und hörte als erstes eine schnarrende, metallische Stimme: „… und große Kessel. Bisher ist uns noch kein Feind untergekommen, den ein Regen aus siedendem Öl nicht abgeschreckt hätte. Glaub uns, Orfen, die Kreaturen fürchten es ebenso sehr wie wir Menschen.“
Irgendjemand hatte die Fensterläden geöffnet, sodass goldenes Licht in den Thronsaal strömte und den Statthalter, Schwertmeister Armond und eine weitere Person beleuchtete. Sechsfinger war kleiner als Janis ihn sich vorgestellt hatte, aber dennoch unschwer zu erkennen. Der Söldnerführer trug einen braunen Fellmantel über einem einfachen Kettenhemd. Sein dunkles Haar stand wie eine schwarze Flamme von seinem Kopf ab. Das Gesicht war durch Wunden entstellt, ihm fehlten die Nasenspitze und ein Teil der linken Wange, eine glatte Narbe zog sich über sein Kinn und eine weitere, nur schlecht vernähte, quer über seine Stirn. Überraschenderweise besaß er noch beide Augen, das eine war hellbraun und das andere von einem stechenden Grün. Seinen Namen verdankte Sechsfinger wohl der Tatsache, dass er den kleinen Finger seiner linken Hand verloren hatte und alle fünf an seiner rechten. Stattdessen besaß er zwei glänzende Klingen aus dunklem Metall, die unregelmäßig zuckten und wie eine Schere zuschnappten; offenbar ließen sie sich mit den verbliebenen Handmuskeln bewegen.
Sechsfinger musterte die drei Neuankömmlinge kalt, dann nickte er abgehackt und seine Haare schienen unruhig dabei zu flackern. „Aber kommen wir zunächst zur Bezahlung. Du hast geschrieben, du besitzt etwa zweihundert Goldstücke. Das liegt unter unserem normalen Preis, aber für alte Bekannte werden wir eine Ausnahme machen. Gib uns das Gold, dann gehören wir und unsere Schar bis zum Ende der Belagerung dir.“
„Diesmal werden wir es etwas anders machen, Sechsfinger. Mehrere Personen werden sich den Befehl über deine Schar teilen.“, meinte Orfen.
Janis schenkte den Ausführungen des Statthalters keine Aufmerksamkeit, sondern wisperte stattdessen einige unverständliche Worte, eine Nachricht an den Hexer Nomion, von der er nur hoffen konnte, dass sie ihn rechtzeitig erreichte. Er zweifelte nicht daran, dass er sich die Laute richtig gemerkt hatte, sein Gedächtnis hatte ihn noch nie im Stich gelassen.
„Schon, gut, wir haben verstanden!“, schnarrte Sechsfinger. „Und wo ist das Gold?“
„Hinter dem Thron ist eine Klappe im Boden. Darin findest du deine Bezahlung.“, seufzte der Statthalter.
Sechsfinger drehte seinen Kopf ruckartig wie ein Vogel zum gespaltenen Thron. Langsam durchschritt er die Halle des Königs und zog sein linkes Bein dabei etwas nach. Die anderen folgten dem Söldnerführer.
Sechsfinger kniete sich hinter den Thron und rammte seine Klingen in den feinen Spalt an der Seite der verborgenen Klappe. Er hebelte die Abdeckung beiseite, warf einen Blick ins Innere und erstarrte. Langsam griff er mit seiner vergleichsweise gesunden Hand in die Vertiefung, dann stand er langsam auf und drehte sich zum Wolfskrieger um. „Soll das ein Scherz sein, Orfen?“ Fragend legte er seinen Kopf schief. „Wir sind eigentlich nicht zu Scherzen aufgelegt!“
Orfen runzelte die Stirn. „Stimmt etwas nicht?“, fragte er besorgt.
Janis war sich nicht sicher, was genau danach geschah. Eben noch stand Sechsfinger ruhig da, dann plötzlich hatte er einen Dolch in der Hand, den er dem überraschten Statthalter an den Hals presste. Schwertmeister Armond zog sein Schwert und wollte den Söldner zurückdrängen, doch Sechsfinger gelang es scheinbar mühelos, die Klinge mit den beiden „Fingern“ seiner linken Hand abzuwehren.
„Was soll das?“, schnarrte er. „Einmal hat ein Auftraggeber uns mit Kupfer gestrecktes Gold anbieten wollen, und es ist ihm nicht gut bekommen, aber das hier ist der Gipfel der Dreistigkeit!“
Der Dolch verschwand in seinem Ärmel und Sechsfinger trat langsam einen Schritt beiseite. Orfen stürzte zur Vertiefung und spähte hinein. Dann erbleichte er. „Wie kann das sein?“, hauchte er. „Ich habe doch selbst nachgeprüft.“ Verzweifelt blickte er auf. „Sajin, du hast es doch auch gesehen! Das Gold in diesem Fach!“
Janis trat ruhig an den Rand der Klappe und betrachtete die gähnende Leere. Sorgsam gefügte Steine umgaben eine rechteckige Öffnung, angefüllt mit Luft, Staub und Dunkelheit, aber ohne das kleinste Krümelchen Gold. Nomion hatte nicht übertrieben, was seine Fähigkeiten betraf.
„Es tut mir leid, Statthalter, aber das ist schon eine Weile her. Ihr seid der einzige, der heute die Schätze gesehen haben will.“
Orfen taumelte zurück und hielt sich am großen Thron fest. „Eben noch war das Gold da!“, rief er entgeistert. „Das ist erst wenige Herzschläge her. Und seitdem habe ich diesen Raum nicht mehr verlassen.“
Armond formte besorgt den Kreis des Lebens, eine abergläubische Geste zur Abwehr böser Mächte, und Kunar murmelte ein kurzes Gebet.
Sechsfinger kniff seine ungleichen Augen zusammen. „Das spricht nicht gerade für dich, Orfen. Wir haben dich als einen Mann von Ehre kennengelernt, aber das ist schon viele Jahre her. Vielleicht wolltest du, dass wir erst nach Beendigung unseres Auftrages nach der Bezahlung fragen. Vielleicht hast du gelogen und das Gold selbst weggeschafft, um es für andere Zwecke auszugeben.“ Die beiden Klingen an seiner linken Hand schnappten bedrohlich zusammen. „Oder vielleicht wurde es tatsächlich auf unbekannte Weise geraubt, während du zugegen warst. Es macht keinen Unterschied. Wir sind Söldner, und wir arbeiten nur gegen Bezahlung. Wenn du kein Gold für uns hast, dann sind wir umsonst hergekommen.“
„Sechsfinger, warte!“, rief Orfen entsetzt. „Wer auch immer das gestohlen hat, weit kann er nicht sein. Wir werden das Gold finden und dich bezahlen. Und wenn nicht, dann nehmen wir deinen Sold im Nachhinein aus anderen Quellen, das schwöre ich!“
„Wir sind Sechsfinger! Wir gewähren keinen Kredit, Orfen. Das haben wir noch nie getan. Wir werden jetzt gehen. Wenn du uns kaufen willst, dann musst du das Gold schnell finden.“ Der Söldner blinzelte zwei mal und humpelte dann aus dem Thronsaal.
„Wir müssen die Söldner bezahlen, ehe sie verschwinden! Wenn wir jetzt schnell irgendwie an große Mengen Gold gelangen …“, sagte Orfen rau. Er blickte Meister Kunar und Kommandantin Daroscha fragend an, doch beide schüttelten abweisend den Kopf.
„Der Reichtum der Bewahrer liegt im Leben des Waldes und dem Wissen der vielen Schriften.“, meinte Kunar bedauernd. „Und die Zwergin neben mir ist ein grober Klotz ohne Mitgefühl.“
„Und du bist ein eitler Geck, gegen dessen aufgeblasenes Ego selbst ein Berg klein aussieht.“, entgegnete die Schildzwergin säuerlich. Janis fand, dass beide recht hatten. „Es tut mir leid, Statthalter.“, sagte Daroscha dann und Kunar schnaubte ungläubig. „Aber ich darf das nicht entscheiden. Ich werde eine Botschaft an Fürst Kram aufsetzen, vielleicht kann er die Söldner rechtzeitig einholen. Vorerst jedoch werden wir ohne Sechsfinger auskommen müssen.“
„Dann sei es so.“, flüsterte Orfen und schloss schwerfällig die Klappe. „Schwertmeister Armond, unternimm alle nötigen Anstrengungen, den Dieb schnellstmöglich ausfindig zu machen. Kunar, Daroscha, sagt euren Kriegern, auch sie sollen nach verdächtigen Hinweisen Ausschau halten.“
Armond eilte aus der Halle und brüllte draußen einige kurze Befehle. Auch Meister Kunar und Kommandantin Daroscha, beide in ihren üblichen Streit vertieft, entfernten sich.
„Du hattest recht, Sajin.“, murmelte Orfen, als sie allein waren. „Wir haben wirklich einen Saboteur auf der Rietburg. Wurde das Gift im Brunnen nachgefüllt?“
„Leider nicht, Statthalter.“, antwortete Sajin. „Aber wenn er möchte, dass das Schwarze Herzblatt seine Wirkung entfaltet, dann muss er es bald tun. Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass er von den Sapian-Knollen erfahren und seine Strategie geändert hat.“
„Wir müssen ihn finden, jetzt mehr denn je!“ Orfen atmete tief durch und setzte an, etwas zu sagen. Doch in diesem Moment wurden die Torflügel aufgerissen und eine einsame Gestalt durchquerte die Halle. „Was ist jetzt schon wieder, Sadam?“, fragte Orfen aufgebracht.
Der Aufsteiger verbeugte sich tief, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. „Seid erneut gegrüßt, Statthalter! Ich habe gehört, dass Ihr Eure Söldner nicht bezahlen könnt. Doch glücklicherweise steht in diesem Moment einer der reichsten Menschen Andors vor Euch.“
„Du willst das Geld für Sechsfinger bereitstellen?“, hakte Orfen vorsichtig nach.
„Ich habe ihn bereits angeheuert. Gefährliche Zeiten stehen bevor, ein paar Krieger können nie schaden.“
Janis riss die Augen auf. Wenn Sadam die Söldner schon bezahlt hatte, dann konnte niemand anderes sie mehr anwerben. Auch nicht Fürst Kram. Auch nicht Nomion. Der Hexer würde nicht erfreut sein.
„Ich befehlige die Krieger, die Ihr wolltet, Statthalter. Aber was tut man, wenn der eine hat, was der andere haben möchte? Man wird sich handelseinig.“
Orfens Kiefer mahlten und seine dunklen Augen starrten den Großbauern finster an. „Ich verstehe. Du willst dein Land wirklich unbedingt behalten, was?“
„Aber nicht doch, Statthalter.“, winkte Sadam ab. „Zweihundert Goldstücke sind mehr als mein Land wert wäre. Ich habe ein besseres Angebot: Ich übergebe Euch den Befehl über Sechsfingers Truppe, die versprochenen achtzig Zentner Korn und all mein Land, auf dass Ihr es im Zuge der Bodenreform nach Gutdünken verteilen könnt.“
„Und die Gegenleistung?“, fragte der Wolfskrieger rau.
„Oh, nur ein kleines Versprechen. Als Gegenleistung möchte ich … die Hand der Königin.“
„Andor hat keine Königin.“, sagte Janis schnell, um dem Statthalter Zeit zum Nachdenken zu verschaffen.
Sadam grinste abfällig. „Ihr wisst genau, wen ich meine. Wenn Ihr mein Angebot annehmt, Statthalter, dann werde ich mir Chada zur Braut nehmen. Ein Versprechen von Eurer Seite würde sie nicht zu brechen wagen.“
„Das kommt nicht in Frage!“, zischte Orfen. Seine dunklen Augen durchbohrten den Aufsteiger und an seiner Schläfe pulsierte eine Ader unter dem grau melierten Haar. „Ich werde sie nicht über ihren Kopf hinweg irgendjemandem versprechen. Außerdem hat sie bereits einem anderen ihr Herz geschenkt.“
„Die meisten Mädchen in Andor werden einem Fremden versprochen, selbst der große König Brandur musste eine politische Ehe schließen. Und ich möchte ihre Hand, nicht ihr Herz.“, entgegnete Sadam ungerührt. „Soll sie sich doch einen Liebhaber nehmen, wenn sie möchte. Was interessiert mich, wer der tatsächliche Vater des Erben sein wird? Mir geht es um das, was mit der Hochzeit einhergeht: Reichtum und Macht. Macht, die ich auch zum Wohle Andors einsetzen werde. Meine Lebensgeschichte sollte beweisen, dass ich geschickt und klug genug bin, um dieses Land zu Wohlstand zu führen.“
„Auf gar keinen Fall, Sadam! Es ist ihre eigene Entscheidung, mit wem sie den Lebensbund eingehen möchte!“
„Sie würde vermutlich sogar ihr Leben geben, um die Überlebenschancen dieser Burg und somit ihres Volkes erheblich zu verbessern. Und ich verlange deutlich weniger als ihr Leben. Sie würde einwilligen, Statthalter, doch da sie jetzt nicht hier ist, müsst Ihr das an ihrer statt tun.“
„Es gibt Dinge, die kann man nicht verkaufen oder abwägen, Sadam! Chada ist eine gute Freundin von mir und einer der größten Personen, die ich kenne. Ihre. Zukunft. Wird. Nicht. Verschachert!“
Der Aufsteiger seufzte getragen. „Auch nicht, wenn Menschenleben auf der anderen Seite stehen? Wenn durch Eure Antwort Hunderte gerettet …“
„Raus!“, brüllte Orfen mit wutverzerrtem Gesicht und schien kurz davor, sein schartiges Schwert zu ziehen und den hastig zurückweichenden Sadam damit aufzuspießen. Auch Janis wich erschrocken beiseite. Noch nie hatte er gesehen, wie der Statthalter derart die Beherrschung verloren hatte. „Wagt es nie wieder, mir ein derartiges Angebot zu unterbreiten, Sadam! Verschwindet, damit ich Euren Anblick nicht mehr ertragen muss!“
Das Lächeln auf Sadams Lippen wich einer kalten Grimasse. Der Aufsteiger nickte steif und entfernte sich. Beim Portal angekommen machte er kurz halt und stieß zornig hervor: „Es wird der Tag kommen, da Ihr Eure Entscheidung bereut, Statthalter. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann bekomme ich es auch! Mit Eurer Hilfe oder ohne!“ Mit diesen Worten verließ er den Thronsaal und Janis bezweifelte, ihn zum letzten Mal gesehen zu haben.


Sonnenhoch, 76. Herbsttag 76 A.Z.
Kaserne der Rietburg, Andor

Staunend schüttelte Janis den Kopf, als Rodur sich wieder an den Tisch setzte. „Wo geht das nur alles hin? Du hast schon zwei Schüsseln Haferbrei verschlungen, einen Räucherlachs, eine halbe Schinkenkeule und jetzt hast du dir auch noch einen Salzhering geholt.“
Du. Vergessen. Drei. Bier. ergänzte Sara belustigt und wiederholte die Worte Barram zuliebe auch in normaler Gebärdensprache. Janis wusste nicht, weshalb der Zwerg eigentlich hier war, aber in letzter Zeit wich der Baumeister nur noch während der Übungsstunden mit Meister Kunar und Kommandantin Daroscha von der Seite der drei Freunde. Von der Seite Saras, um genau zu sein. Warum ihm das so wenig behagte, vermochte Janis nicht zu sagen.
Rodur blickte kurz auf den fettigen Fisch in seiner Hand, nahm dann einen Bissen und stöhnte zufrieden. „Ich hatte seit fünf Tagen keine anständige Mahlzeit mehr.“, meinte er mit vollem Mund. „Und Kommandantin Daroschas Training eben war mörderisch wie immer. Außerdem feiere ich – und zwar die Öffnung der Vorratsspeicher für alle künftigen Krieger.“ Er schluckte und rief laut: „Hoch lebe der Statthalter!“ Mürrisches Gemurmel erfüllte als Antwort den Speisesaal der Kaserne, das jedoch schnell wieder verstummte.
„Und wenn du so weiter machst, muss er sie morgen gleich wieder schließen.“, ergänzte Baram. „Du verputzt ja alleine eine ganze Wagenladung.“ Er rutschte ein wenige näher und ergänzte etwas leiser: „Ich verstehe übrigens tatsächlich nicht, weshalb Orfen die Speicher geöffnet hat. In wenigen Tagen, vielleicht morgen schon, wird die Rietburg belagert werden. Doch jetzt plötzlich, nach Tagen des Hungerns, stellt er fest, dass wir genug Vorräte haben, damit alle Rekruten sich den Bauch vollschlagen können?“
Sara gebärdete etwas und übersetzte es anschließend noch in ihre eigene Zeichensprache: Söldner. Sein. Fort. - Vorrat. Reichen werden. Für. Hundert. Weniger. Als. Plan.
„Ja, vermutlich.“, brummte Barram skeptisch. „Oder es liegt einfach daran, dass die meisten hier nicht sonderlich begeistert davon sind, dass der Statthalter sie mit der Aussicht auf etwas Land rekrutiert hat, obwohl er einen Goldschatz hatte – zumal er sich diesen Goldschatz gestern dann auch noch hat stehlen lassen. Ich sage, Orfen möchte die Stimmung aufrechterhalten!“
„Er stärkt die Moral angesichts einer bevorstehenden Belagerung. Was spricht dagegen?“, überlegte Janis und bemühte sich, genau die richtige Menge Skepsis in seine Stimme zu legen.
„Nichts, nichts!“, grummelte Barram. „Auch wenn ich mich noch immer frage, wie es dem Dieb möglich gewesen sein soll, innerhalb vom zehnten Teil einer Stunde direkt unter der Nase des Statthalters das gesamte Gold verschwinden zu lassen.“
„Er hat die Speicher geöffnet, das genügt mir als Entschädigung.“, meinte Rodur zwischen zwei Bissen. „So viel durfte ich noch nie in meinem Leben essen. Bis vor wenigen Monden wusste ich noch nicht mal, wie ein Fisch aussieht, geschweige denn wie er schmeckt.“
„Wie weit sind denn die Arbeiten, Barram?“, wechselte Janis das Thema.
Die dunklen Augen des Zwerges begannen zu strahlen. „Wir sind so weit fertig. Bis der Angriff beginnt werden wir noch die Gebäude innerhalb der Ringmauer stärken. Aber ein neues Tor, starke Mauern, das Wichtigste haben wir. Und fühlst du dich angemessen darauf vorbereitet, auf diesen Mauern zu stehen, Kleiner?“
Er meint es nur freundlich, Schatz. Du darfst ihm nicht böse sein.
Aber Mutter! Wie kann jemand, den selbst ich um einen guten Kopf überrage, mich Kleiner nennen?

„Abgesehen davon, dass ich nach Kunars Prüfung keinen Bogen mehr in der Hand halten werde, meinst du?“, entgegnete Janis liebenswürdig. „Apropos Prüfung: Sara, du hast mir versprochen, dass du heute Abend nach dem normalen Schießunterricht noch dableibst und mir zeigst, dass wenigstens du bestehen wirst. Wenn du auch durchfällst, dann werde ich sehr traurig sein, und deine bisherige Treffsicherheit stimmt mich nicht eben zuversichtlich.“
Sara verdrehte ihre violetten Augen und nickte lächelnd. Inzwischen erschienen wieder alle Rekruten zu ihren Lektionen, man hatte sich an den Durchfall gewöhnt – auch wenn Janis davon natürlich ebenso wenig betroffen war wie Sara oder Rodur. Sie wussten, dass sie das Wasser des kleinen Brunnens nicht anrühren durften.
Sara begann, etwas zu gebärden, doch da erschien ein stupsnasiges Mädchen von vielleicht acht Sommern an ihrem Tisch. Es hatte dunkles, schulterlanges Haar und von Anstrengung gerötete Wangen. „Meister Readem schickt mich.“, hechelte sie ernst. „Ich soll einen vorlauten Rekruten namens Sajin holen. Und ich weiß, dass du das bist.“
Janis zögerte kurz und stand dann langsam auf. „Falls es länger dauert, versuche Meister Kunar klarzumachen, weshalb ich fort bin.“, sagte er zu Sara. „Wir sehen uns dann spätestens heute Abend. Ich …“
„Du rennst jetzt zu Meister Readem!“, unterbrach ihn das Mädchen zornig.


Sonnenhoch, 76. Herbsttag 76 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

Vorsichtig klopfte Janis an die Tür des Siechenhauses. Das steinerne Gebäude mit großen Fenstern stand ein wenig abseits der anderen Bauwerke in einem kleinen Kräutergarten, wohl um eine Übertragung von Krankheiten zu vermeiden.
„Geh einfach rein!“, forderte das Mädchen, das ihn geholt hatte. Bisher hatte Janis diesen Ort nie besucht und er war auf das schlimmste gefasst. Doch im Inneren erwartete ihn nur ein heller Saal von dreißig mal zehn Schritt. An den weiß gekalkten Wänden befanden sich Betten, Arzneischränke, einige große Tische und eine kleine Tür in den Anbau. Alles war sauber und aufgeräumt. Janis entdeckte kein Staubkorn und das Siechenhaus war im Moment wohl der einzige Ort innerhalb der Rietburg, der nicht nach Fäkalien, sondern nach frischen Kräutern roch. Immerhin ein Pluspunkt für Readem.
Wenn du eine Wunde heilen willst und ein wenig Zeit hast, tust du allen einen großen Gefallen, wenn du dich und deine Verbände reinigst. Vergiss das nicht, Janis. So vermeidest du künftige Infektionen und Entzündungen.
Readem saß auf einem Hocker neben dem Kamin, ihm gegenüber ein blasser Mann mit schwarzem, lockigem Vollbart, um dessen Hals ein Verband mit einem ersten roten Fleck lag. Readem selbst hatte schütteres weißes Haar, das wie ein Heiligenschein um seinen Kopf schwebte. Dunkle Wolken bedeckten draußen den Himmel und so war auch das Licht, das durch die großen Fenster drang, eher spärlich; im Kamin glühten nur noch ein paar Kohlen. Dennoch erkannte Janis tiefe Falten und wässrige blaue Augen im Gesicht des Heilers.
Readem erhob sich schwach, die Blutflecken auf seinem hellbraunen Kittel tanzten dabei. „Danke, Sann.“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ Das stupsnasige Mädchen nickte eingeschüchtert, hob zaghaft die Hand und verschwand. „Und du bist dann wohl Sajin?“, fragte Readem unfreundlich. „Der Rekrut, der mich als Scharlatan bezeichnet und behauptet, er könne besser mit Verletzten umgehen?“
„Wer hat Euch das erzählt?“, wollte Janis wissen.
„Das tut nichts zur Sache! Wenn du wirklich heilen kannst, dann komm her und hilf diesem Mann. Ich habe alles in meiner Macht stehende getan.“
Janis schloss die Tür und trat näher. Readem entzündete eine Öllampe an den glühenden Kohlen und stellte sie auf einen kleinen Tisch neben dem Verwundeten. Jetzt erst sah Janis, wie schlecht es ihm ging. Der Mann war blass, seine Atmung flach. Janis nahm seine Hand und legte einen Daumen auf die Schlagader. Die Haut fühlte sich kalt und feucht an unter seinen Fingern. „Sein Puls ist beschleunigt, aber nur sehr schwach.“, murmelte er.
Der Mann öffnete müde seine Augen. „Jetzt werde ich schon von einem Kind behandelt.“, nuschelte er und schaffte es, Janis schwach anzulächeln. „Durst.“, stöhnte er dann und sank zurück in die Lehne des großen Stuhls.
„Er leidet unter Blutverlust.“, vermutete Janis, während Readem dem Patienten etwas Wasser aus einem Eimer einflößte, der neben der Öllampe stand. „Was genau ist passiert?“
„Blutverlust, ja?“ Readem zeigte auf den Verband am Hals. „Das hast du ja früh herausbekommen, Sajin!“ Er seufzte unwillig. „Ich habe nach einem Heilmittel gegen diesen verdammten Durchfall gesucht. Er gleicht keiner mir bekannten Krankheit; Nelkenwurz, Wiesenknöterich und Knoblauch haben nicht geholfen, also habe ich einen Aderlass versucht.“
„Ein Aderlass als Menschenexperiment? Bei Durchfall? Wenn dem Körper ohnehin schon Flüssigkeit entzogen wurde?“, fragte Janis entsetzt. „Seid Ihr wahnsinnig?“
„Ich bin doch kein Narr, Sajin.“, entgegnete Readem verärgert. „Ich habe einen ansonsten gesunden, kräftigen Mann als Versuchsobjekt genommen und wollte den Aderlass schon nach dem zwölften Teil einer Gallone beenden. Und selbstverständlich hat Daron sich freiwillig gemeldet. Er hat mir versichert, dass er so viel Wasser trinkt wie kaum ein anderer und dass seine Wunden immer gut verheilt sind. Beim Aderlass besitze ich einige Erfahrung.“ Er betonte das, als sei das eine positive Eigenschaft.
Der Mann namens Daron hustete und Readem setzte den Eimer eilig ab. „Und was war das Problem?“, hakte Janis nach.
„Leider stimmte es nicht, was Daron mir gesagt hat. Ich habe die Halsvene ein wenig geöffnet“, bei diesen Worten hob Readem ein eisernes Gerät mit einer kleinen Klinge an der Spitze „und das Blut abgezapft wie geplant. Anschließend habe ich die Wunde verbunden und ihn viel trinken lassen. Doch irgendwann fiel mir auf, dass der Verband durchblutete. Die Wunde hat sich nicht geschlossen, die Gerinnung hat nicht eingesetzt. Daron ist ein Bluter.“
„Das ist nicht wahr.“, widersprach der Verletzte schwach. „Meine Wunden haben sich immer normal geschlossen. Das … ist das erste Mal, dass es nicht funktioniert.“
Janis kniff die Augen zusammen und betastete den durchweichten Verband. „Habt Ihr etwas unternommen, um den Blutfluss zu unterbinden?“
„Selbstverständlich!“, knurrte Readem verärgert. „Ich bin hauptsächlich Feldchirurg, Blutungen stillen ist häufig meine wichtigste Aufgabe. Aber ausbrennen konnte ich den Schnitt nicht, weil dadurch unweigerlich die Schlagader verletzt würde. Ich habe ihn aus dem Bett geschickt und sich hinsetzen lassen, damit die Wunde oben liegt, anschließend habe ich einen Druckverband aus Baumwolle angelegt. Als das auch nicht half, habe ich Schafgarbe, Gallenkraut und Lotuswurzel versucht, ohne Erfolg.“
Janis musste in Gedanken zugeben, dass Readem zumindest nach dem Aderlass keinen Fehler mehr gemacht hatte. „Ihr könntet getrocknete Mistelblätter probieren.“, überlegte er, während er die langen Listen mit Heilkräutern durchging, die Kheela ihn hatte auswendig lernen lassen. „Oder vielleicht Schwarzes Herzblatt? Womöglich das Gift einer Vypera?“
„Ich habe keine Vorräte mehr an Misteln. Schwarzes Herzblatt habe ich ihm verabreicht, aber bis es zu wirken beginnt, ist Daron längst gestorben. Und selbst wenn ich Schlangengift hätte, brächte es ihn um, solange ich kein Antidot habe.“, seufzte Readem.
„Wenn Ihr die Blutung stillen wollt, könntet Ihr die Wunde noch abbinden. Dadurch …“
„Eine Vene direkt neben der Halsschlagader abbinden?“ Meister Readem zog kritisch seine Augenbrauen zusammen. „Sterben tut er auch von alleine.“
Janis spürte, wie er rot anlief. „Natürlich, Ihr habt recht. Dann fällt mir auch nichts mehr ein. Wechselt regelmäßig die Verbände und hofft, dass die Gerinnung bald einsetzt.“
Daron öffnete erneut seine Augen, sein Blick eine Mischung aus Melancholie und Todesangst. „Sann…“, hauchte er.
Readem griff seine Hand und flüsterte: „Ich gebe mein Möglichstes, um Euch zu heilen, Daron. Aber falls es mir nicht gelingt, dann werde ich dafür sorgen, dass es Eurer Tochter gut geht, das schwöre ich bei der Mutter allen Lebens.“
Der Heiler begann den Verband auszuwechseln und Janis ging ihm dabei zur Hand, drückte oberhalb der Wunde, damit nicht zu viel Blut herausquoll. Es war nur ein winziges Loch an der Seite des Halses, aus dem nicht mehr als ein dünnes Rinnsal floss, selbst ohne Janis wäre fast kein Blut ausgetreten „Und seid unbesorgt, im Notfall werde ich Euer Blut verdünnen.“, fuhr Readem fort. „Dann fließt es leichter durch Eure Adern und kann Euch besser versorgen.“ Bei diesen Worten blickte er Janis traurig an und das unausgesprochene Wissen hing zwischen ihnen in der Luft: Dass Darons Blut, wenn er erst verdünnt war, endgültig nicht mehr würde gerinnen können.

„Sie gehen oft verloren, weißt du? Aber nur selten so langsam.“ Readem stocherte mit einem Schürhaken im neu entfachten Feuer und blickte versonnen in die Flammen. „Manchmal … kann man nicht mehr tun, als ihnen die letzten Momente so schön wie möglich zu machen … und anschließend den Hinterbliebenen zu helfen.“
Janis betrachtete Daron, der leise mit seiner Tochter sprach. Sann saß auf seinem Schoß und blickte ihren Vater ängstlich an. Es war keine Trauer … sie begriff noch nicht, was ihr bevorstand. Aber bald würde sie es verstehen. Verstehen müssen. Janis wusste genau, wie sie sich fühlen würde. Er spürte, wie das Bild sich in sein Gedächtnis brannte und sein Herz sich zusammenzog. „Wozu, Readem? Aderlasse helfen höchstens gegen Überleben.“
„Sagst du das aufgrund deines unermesslichen Erfahrungsschatzes, Sajin?“, entgegnete der Heiler bitter. „Oder nicht doch eher, weil jemand dir das erzählt hat? Nun, mir zumindest wurde erzählt, dass ein Aderlass gegen so manche Beschwerden hilft. Sie werden schon seit Jahrhunderten angewandt. Kann die Menschheit sich etwa so sehr irren, Sajin? Ein Aderlass … ist mein Ausweg, wenn ich keine andere Heilung weiß. Ob er wirklich nützt, vermag ich nicht zu beurteilen, denn ich versuche, nicht untätig zu bleiben. Besser ich versuche eine Methode, die keinen Erfolg bringt, als dass ich ihnen einfach beim Leiden zusehe. Nur weil ich für eine Krankheit keine Heilung kenne, bedeutet das nicht, dass es nicht doch eine gibt.“
„Wenn Ihr experimentieren wollt, dann tut es doch wenigstens an Euch selbst.“, sagte Janis skeptisch und starrte angestrengt in die Flammen.
„Ich wende den Aderlass niemals an, wenn ich dadurch jemanden töten könnte, Sajin. Niemals bei Alten. Niemals bei Kindern. Niemals bei stark geschwächten Menschen. Und niemals bei Blutern. Das hier … hätte nicht geschehen dürfen.“
Readem seufzte schwer. „Ich bin Feldchirurg. Ich kann Knochen richten, Wunden vernähen, Verbände anlegen, sogar Körperteile amputieren wenn nötig. Ich kenne Mittel gegen Schmerzen und gegen Wundbrand. Ich habe schon während der Trollkriege verhindert, dass nach den Schlachten mehr Menschen starben als währenddessen. Aber niemand hat mir je gezeigt, was gegen Durchfall oder Halsschmerzen zu unternehmen ist. Niemand hat mir beigebracht, wie ich eine Grippe kurieren oder eine Lebensmittelvergiftung heilen kann. Früher hatte König Brandur zwei Dutzend Heiler in seinen Diensten, die die unterschiedlichsten Leiden behandeln konnten, und ich war nur einer von ihnen. Aber jetzt sind sie alle tot, und ich kann nur das tun, was ich sie habe tun sehen. Und glaub mir, Sajin, andere waren mit dem Aderlass weniger zimperlich als ich.“
Er warf einen raschen Blick auf Vater und Tochter und Gram verzerrte sein faltiges Gesicht. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich bei so etwas zusehen muss. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich selbst die tödliche Verletzung zugefügt habe. Aber noch nie zuvor habe ich eine Seele zu Mutter Natur geschickt, die ich problemlos in dieser Welt hätte halten können.“
„Wie viel Blut hat Daron bisher verloren?“, fragte Janis, ohne dass er es wirklich wissen wollte.
„Noch nicht ganz den zweiten Teil einer Gallone, würde ich schätzen. Das Blut tritt nur langsam aus und irgendwann kann ich es noch verdünnen. Wenn uns nicht doch noch eine Heilung einfällt, gebe ich ihm noch ein paar Stunden, ehe er in Ohnmacht fällt. Danach dauert es nicht mehr lange.“
Readem stieß mit seinem Schürhaken so fest in den Kamin, dass ein noch brennendes Holzstück herausgeschleudert wurde und den ansonsten makellosen Steinboden mit Asche bestreute. Der Heiler schien es gar nicht wahrzunehmen. „Was würdest du gegen den Durchfall unternehmen, wenn du an meiner Stelle wärest, Sajin?“
Den Statthalter bitten, keine Sapian-Knollen mehr in den Brunnen zu kippen. „Junge Eichenrinde, Mädesüß oder Sternblume könnten helfen. Und auf keinen Fall ein Aderlass!“
„Zumindest diesen Fehler hättest du wohl nicht begangen. Und morgen früh hätten wir eine Leiche weniger in der Rietburg.“ Readem schüttelte den Kopf und schob das glimmende Holzstück wieder zurück in den Kamin. „Ich weiß, dass du als Krieger ausgebildet wirst, aber du scheinst tatsächlich etwas Ahnung von der Heilkunde zu haben. Wenn du möchtest, kannst du hier bleiben. Es wäre gut, noch jemanden hier zu haben, der mehr tun kann, als nur Wasser einzuflößen, hier wärst du ebenso nützlich wie auf den Mauern. Vielleicht wirst du dein Bild von mir dann ja eines Tages überdenken und erkennen, dass ich nicht nur ein unfähiger Quacksalber bin. Und wenn du doch recht hast, kann ich zumindest etwas von dir lernen und Fehler wie der heutige bleiben uns in Zukunft erspart.“
Janis öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er lauschte dem Knistern des Feuers und Sanns Schluchzen, das nun doch eingesetzt hatte.
Das ist deine Gelegenheit, den Menschen wirklich zu helfen. Pflege sie, und vielleicht wird dein Herz dann erkennen, dass du sie nicht alle ausliefern darfst.
Du kannst es einfach nicht lassen, oder, Mutter? Ich werde nur das tun, was mich in meiner Mission voranbringt. Wenn alle sehen, wie ich mein Leben riskiere, werden sie mir eher vertrauen. Außerdem kann ich nicht mit einem Mann arbeiten, der regelmäßig einen Aderlass durchführt, und wenn er es noch so gut meint. Readem hat heute jemanden umgebracht, wie könnte ich an seiner Seite heilen?

„Ich erwarte jetzt noch keine Antwort von dir, Sajin.“, fuhr Readem schließlich fort. „Geh jetzt. Ich denke nicht, dass du hier noch mehr tun kannst und du musst nicht dabei sein, wenn … es zu Ende geht.“
Janis schluckte schwer und stand auf. „Falls mir noch etwas einfällt, komme ich vorbei.“


Später Nachmittag, 76. Herbsttag 76 A.Z.
Südlich der Rietburg, Andor

Als er den Schießplatz erreichte, packten die Rekruten gerade zusammen. Die dunklen Wolken machten den Tag zur Nacht und Meister Kunar hielt es für zu dunkel und zu windig. Janis gelang es, ihn zu überzeugen, wenigstens einen Bogen und ein paar Pfeile zum Üben dazulassen.
Nachdem die anderen verschwunden waren, reichte er Sara den Bogen und deutete auf eine Strohpuppe in fünfzig Schritt Entfernung. „Wir werden jetzt so lange üben, bis du dieses Ziel dreimal in Folge getroffen hast. Ich will dich durch diese Prüfung bringen!“
Sara nahm ruhig den Bogen entgegen, legte den ersten Pfeil auf und kniff kurz die Augen zusammen. Dann schoss sie mit ihrer üblichen Eleganz. Der Pfeil schien Janis zu weit nach links abgefeuert, doch der kräftige Nordwind drückte ihn in die entgegengesetzte Richtung und so schlug die Spitze genau in den Kopf der Strohpuppe ein.
Sara nahm den nächsten Pfeil, feuerte auch ihn ab und griff schon nach dem dritten, noch ehe er mit einem dumpfen Tock ebenfalls den Kopf traf. Dass auch der dritte Pfeil punktgenau sein Ziel fand, überraschte Janis schon nicht mehr.
„Du falsche Schlange!“, rief er und wusste nicht, ob er belustigt oder verärgert sein sollte. „Wozu übersetze ich eigentlich seit einem halben Mond Kunars unsinnige Fragen? Wozu mache ich mir Sorgen darüber, ob du die Prüfung bestehst, wenn du in Wahrheit schon längst die beste Bogenschützin des Kurses bist? Oh, ich kann es einfach nicht fassen, dass sogar ich dir auf den Leim gegangen bin!“
Sara ließ den Bogen fallen. Du. Nein. Sehen. Unterschied. Zwischen. Nein. Treffen. Und. Nein. Treffen. Wollen. gebärdete sie grinsend und Janis vermutete, dass sie ihm ihre Zunge herausgestreckt hätte, wenn sie diese nicht verloren hätte.
„Wie lange genau spielst du uns deine Tollpatschigkeit schon vor? Lass mich raten, du hast das Bogenschießen schon am ersten Tag perfekt beherrscht.“, meinte Janis resigniert.
Auch. Ich. Nein. Können. Schießen. Ohne. Üben. - Ich. Anfangs. Oft. Nein. Getroffen. Ziel. - Aber. Ich. Von. Beginn. Nie. Puppe. Als. Ziel. Gewählt. - Ich. Geübt. Mit. Stein. Als. Ziel. - Oder. Mit. Spur. In. Sand. - Mit. Puppe. Von. Nachbar. - Und. So. Ich. Werden. Gut.
Ein flackerndes weißes Licht erhellte für den Bruchteil eines Herzschlags den Übungsplatz, im nächsten Moment rollte ferner Donner heran. „Aber … wozu?“, fragte Janis verwirrt. „Was hat dich daran gehindert, einfach ganz normal zu üben wie alle anderen auch.“
Bogen-Schießen. Folgen. Regeln. - Alles. In. Welt. Folgen. Regeln. - Ich. Können. Sehen. Muster. Aber. Ich. Allein. Damit. - Wer. Nein. Sehen. Muster. Müssen. Mühsam. Lernen. - Wenn. Ich. Sehen. Etwas. Ich. Wissen. Wie. Funktionieren. - Ich. Nie. Müssen. Lernen. - Ich. Nur. Müssen. Üben.
Trauriges Blau überschwemmte das Violett in Saras Augen. Menschen. Schon. Immer. Erstaunt. Über. Können. Von. Mädchen-Ohne-Worte. - Wenn. Ich. Zu. Schnell. Können. Was. Menschen. Müssen. Langsam. Lernen. Ich. Wecken. Angst. Und. Neid.
„Du musst nicht mehr erzählen, wenn du nicht möchtest.“, unterbrach Janis seine stumme Freundin. Sara schüttelte zitternd ihren Kopf.
Als. Ich. Vier. In. Dorf. Wir. Gegraben. Brunnen. - Bauern. Gewollt. Wissen. Wie. Viel. Erde. Wir. Holen. Aus. Boden. - Ich. - Ich.
Sara zitterte mittlerweile am ganzen Körper und blinzelte heftig, ihre Augen waren eher schwarz als blau. „Tiefe mal Durchmesser mal Durchmesser mal drei von vier.“, flüsterte Janis. „Sie waren … erstaunt, dass du ihnen das sagen konntest, nicht wahr?“
Drei. Von. Vier. Sehr. Ungenau. - Ich. Gesagt. Bauern. Sollen. Rechnen. Mit. Zwanzigtausend-und-Sechstausend-und-Achtzig-und-Sieben Von. Dreißigtausend-und-Dreitausend-und-Zweihundert-und-Zehn-und-Fünf.
Janis stellte sich vor, was er wohl empfinden würde, wenn ein vierjähriges Mädchen ihm beiläufig solche Zahlen an den Kopf warf. Und er wusste, wie abergläubisch das Volk sein konnte.
Gelehrter. In. Dorf. Herausgefunden. Dass. Zahl. Genauer. Als. Eigen. Zahl. - So. Gelehrter. Voll. Neid. - Machen. Bauern. Angst. - Bauern. Nennen. Mädchen-ohne-Worte. Hexe-Balg. Und. Dämon-Kind. - Beschimpfen. Mutter. - Verletzen. Vater. - Verbrennen. Feld.
Janis unterbrach ihre fahrigen Gesten, indem er Sara in die Arme schloss. Er hätte ebenso gut einen toten Baum umarmen können, so sehr versteifte sie sich. Doch dann krallten ihre Arme sich in seinen Rücken und sie vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter. Sara war kalt und zerbrechlich wie ein gefrorenes Spinnennetz in seinen Armen, doch ihr zitternder Atem brannte sich sengend heiß durch den Stoff seines Wamses. Ihr goldenes Haar schimmerte heller als das Gras zu ihren Füßen, sie roch nach Rietgrasblüte und Bittermandel. Und vor seinem Inneren Auge sah Janis nur immer wieder, wie die junge Sann ihren langsam ausblutenden Vater umarmte.
Nur zu gerne hätte er Sara gestützt und gehalten, ihr stumm Kraft gespendet, doch er spürte seine eigene Schwäche nur zu gut. Wenn sie jetzt einen Schritt rückwärts getan hätte, er wäre an Ort und Stelle umgefallen. Als kleines Kind war Janis während des Hungerwinters über die zugefrorene Narne gelaufen und plötzlich eingebrochen. Mutter war es gelungen, ihn rechtzeitig aus dem Wasser zu ziehen und mit Varas Hilfe wiederzubeleben, doch die letzten Momente ehe er das Bewusstsein verlor, sollte er niemals vergessen. Und genau wie damals fühlte er sich jetzt: Er bekam keine Luft mehr, war zu einer Statue erstarrt, konnte sich nicht bewegen und nicht klar denken. Sein Herz flatterte in seiner Brust wie ein gefangener Sperling und ein so starker Schwindel erfüllte ihn, dass er nicht mehr wusste, wo oben oder unten war.
Janis konnte niemanden stützen. Stattdessen hielten sie beide einander, zwei einsame Waisen in einer unbarmherzigen Welt. Sie hielten einander, bis der Sturm kam.
Das Wasser traf sie ohne Vorwarnung und durchnässte sie in wenigen Herzschlägen bis auf die Knochen. Es stürzte als donnernde Kaskade aus dem Himmel, begleitet von eisigen Windstößen. Janis und Sara ließen ihre Arme im selben Moment sinken und traten beide einen Schritt zurück. Im grellen Flackern eines Blitzes erkannte er, dass Saras Iriden noch immer tiefblau waren, doch zumindest lächelte sie schwach. Vorsichtig gebärdete sie eines der Worte, die er als erstes gelernt hatte: Ihre gestreckten Hände, Fingerspitzen nach oben, klappten kurz nach unten und zurück. Danke.
Wortlos hob Janis den nassen Bogen auf und gemeinsam rannten sie durch den Regen zurück zur Rietburg.

Einige Zeit später saßen sie neben dem Kamin im Speisesaal der Kaserne auf dem Boden und wärmten sich auf. In der Hitze trockneten ihre Kleider rasch, und langsam wich die Kälte aus ihren Gliedern. Während aus dem Regen langsam Graupel wurde, sank Sara immer öfter der Kopf auf die Brust.
Irgendwann schmiegte sie sich an Janis und vertrieb damit schlagartig die bleierne Müdigkeit, die sich auch in ihm auszubreiten begonnen hatte. Erzählen. Etwas. forderte sie mit geschlossenen Augen.
„Erzählen? Du bist gut! Was denn?“, flüsterte Janis behutsam. Er verkniff sich jede Bewegung, auch wenn seine Knie so nahe am Feuer waren, dass die Hitze langsam schmerzhaft wurde.
Sara reagierte nicht und Janis war sich nicht sicher, ob sie bereits eingeschlafen war. Dennoch sagte er schließlich leise: „Ich wüsste eine Geschichte, die meine Mutter mir früher oft erzählt hat. Sie handelt davon, wie die Gewitter entstanden.“ Janis dachte zurück an die friedliche Zeit seiner Kindheit. An eine einfache Holzschatulle mit abgegriffenen Schnitzereien auf dem Deckel. An die sanfte Stimme seiner Mutter.
„Vor langer, langer Zeit kamen zwei Brüder in ein leeres Land mitten im Nichts.“, begann er schließlich. „Sie waren Arauthor, der Hirte, und Nivor, der Bauer. Damals lebte dort nichts außer den Fischen im Fluss und den Vögeln am Himmel …“ Er wiederholte Kheelas Geschichte Wort für Wort, während er seine Gedanken schweifen ließ. Sein Mund bewegte sich ganz von allein und übertönte das Geräusch der Hagelkörner.
Es erinnert mich an den Sturm, der damals das Dach unserer kleinen Hütte zerstört hat.
Daran erinnerst du dich noch, Janis? Wir haben Rietgras gesammelt, getrocknet und schließlich gemeinsam das Dach gedeckt. Aber der Sturm jetzt ist schlimmer. Er wird in ganz Andor Rietdächer zerstören.
Was musst du immer zuerst diejenigen sehen, die leiden oder Hilfe brauchen, Mutter? Der Hagel wird auch den Gestank des Durchfalls fortwaschen. Alle hier werden weniger unter dem Gift im Brunnen zu leiden haben.
Gift? Sapian-Knollen sind nicht wirklich giftig, nur abführend, fiebersenkend und gerinnungshemmend. Selbst wenn jemand wirklich viel davon zu sich nimmt, wird er normalerweise nur den Durchfall bemerken.

„… denn die Geister können nicht nur schützen und bewahren, sondern auch töten und vernichten.“, beendete Janis die Geschichte.
Name. Von. Bruder. Zwei. Sein. Wort. Für. Bauer. In. Alt. Sprache. Von. Barbaren. gebärdete Sara plötzlich.
„Ich dachte, du schläfst schon längst! Du meinst den Namen Nivor? Das wusste ich nicht. Ob Arauthor dann wohl auch Hirte heißt?“
Vermutlich. - Wort. Für. Wächter. Klingen. Ähnlich.
Janis nickte gedankenversunken bis ihm klar wurde, dass Sara ihre Augen noch immer geschlossen hatte.
Du hast recht, Mutter. Ich hätte den Statthalter richtiges Gift nehmen lassen sollen, Readem hat genug Vorräte an gefährlicheren Stoffen im Siechenhaus. So habe ich Nomion höchstens meinen guten Willen verdeutlicht, aber unsere Verteidigung nicht wirklich geschwächt. Es ist ja nicht so, dass man an Sapian-Knollen sterben könnte.
Eiseskälte durchfuhr Janis und plötzlich konnte das Feuer ihn nicht mehr wärmen. Oh nein! Nein, nein, nein!
Nur Saras wegen sprang er nicht sofort auf, sondern erhob sich behutsam. „Ich muss sofort zu Meister Readem!“, flüsterte er und versuchte, das Entsetzen aus seiner Stimme zu verbannen. Ohne die Augen zu öffnen winkte Sara ihm zu und rollte sich auf dem Boden zusammen. Janis zögerte nur kurz, dann rannte er los.


Frühe Nacht, 76. Herbsttag 76 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

Janis riss die Tür des Siechenhauses auf, ohne anzuklopfen, über den Sturm hätte ihn ohnehin niemand gehört. Daron saß noch immer auf demselben Stuhl, war jedoch wieder näher an den Kamin gerückt worden. Sann schlief in einem der vielen leeren Betten, Readem zog soeben eine flauschig aussehende Decke über ihr zurecht.
Als er seinen Besucher bemerkte, trat der alte Heiler hinter dem Bett hervor und winkte ihn zum Feuer. „Sajin, was ist denn los? Komm, wärm dich auf!“
Janis taumelte ans Feuer. „Woher … woher kommt das Wasser?“, fragte er erstickt.
Readem runzelte seine zerfurchte Stirn. „Aus den Wolken, aber wie es da hoch kommt, weiß ich nicht. Und aktuell tropft es auch aus deinen Klamotten.“
Janis atmete tief durch und schenkte dem Stechen in seiner Seite keine Beachtung. Mit zitternden Fingern deutete er auf den Eimer, der neben dem Sterbenden auf dem Tischchen stand. „Das Wasser, das Ihr den Mann habt trinken lassen! Woher habt Ihr es?“
„Aus dem kleinen Brunnen im Burghof, da fülle ich all meine Vorräte auf. Was ist los, Sajin? Du bist fast so bleich wie Daron!“
Seine Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Und er hätte es früher wissen müssen! Viel früher… „Gebt ihm auf keinen Fall mehr davon zu trinken!“
Readem erstarrte. „Sajin, ich fürchte …“
„Sapian-Kraut! Was wisst Ihr darüber?“
„Leise, Sajin! Wir wollen Sann nicht aufwecken.“, flüsterte Readem eindringlich. „Sapian ist eine unscheinbare, krautige Pflanze, die in lichten Wäldern oder am Waldrand wächst. Die dunkelgrünen, geäderten Blätter sind essbar, die Knollen ungenießbar und abführend.“
„Ihr habt gesagt, dass dieser Durchfall keiner Krankheit gleicht, die Ihr kennt. Was, wenn es gar keine Krankheit ist?“
Readem blickte versonnen ins Feuer. „Eine Vergiftung? Aber warum ausgerechnet mit Sapian-Knollen? Es gibt deutlich gefährlichere Gifte.“
„Das stimmt, aber Sapian-Knollen haben noch andere Eigenschaften. Sie wirken magenreinigend, fiebersenkend … und gerinnungshemmend.“
Readem erbleichte nun ebenfalls. „Du meinst …“
„Daron hat gesagt, er sei kein Bluter, nicht wahr? Er sagte, bisher seien seine Wunden immer normal verheilt. Meister Readem, Ihr habt einen Mann ausgewählt, der so viel Wasser trank wie kaum ein anderer, um den doppelten Flüssigkeitsverlust durch Aderlass und Durchfall auszugleichen. Aber ich fürchte, in Wahrheit habt Ihr damit genau die falsche Wahl getroffen.“
„Das Wasser, das ich ihm, verabreicht habe …“ Readem schüttelte fassungslos den Kopf. „Jeder Tropfen hat es nur noch verschlimmert.“
„Aber jetzt kennen wir die Ursache!“, sagte Janis unsicher. „Wir können endlich etwas unternehmen. Wir können …“
„Sajin.“, murmelte Readem sanft. „Daron ist bereits tot. Seine Atmung hat ausgesetzt, kurz bevor du hereingeplatzt bist. Es tut mir leid.“
Entsetzt betrachtete Janis die Gestalt auf dem Stuhl. Darons Haut war blass und wächsern, seine Brust hob sich nicht, doch das alles hatte nichts zu bedeuten. Einzig der blutdurchtränkte Verband war ein Hinweis auf den Tod des Mannes, denn Readem hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn auszuwechseln. Janis schwankte, das Gesicht des Toten drehte sich vor seinen Augen. Erneut sah er vor sich, wie Sann vor wenigen Stunden ihren Vater umarmt hatte. Zum letzten Mal.
Wenn Readem ihn nicht aufgefangen hätte, wäre Janis zusammengebrochen. „Es ist … meine Schuld.“, wimmerte er.
„Pscht. Wenn überhaupt, dann trage ich die Schuld.“ Readem schien weder Zorn noch Trauer zu empfinden, nur müde Resignation. „Ich habe diesen Aderlass durchgeführt, nicht du. Selbst wenn du sofort gewusst hättest, dass sein Blut wegen irgendwelcher Sapian-Knollen nicht gerinnt, hätten wir zu diesem Zeitpunkt schon längst nichts mehr tun können. Dich trifft nicht die geringste Schuld, Sajin. Glaube mir.“
Wenn ich nicht dafür gesorgt hätte, dass der Statthalter Sapian-Knollen in den kleinen Brunnen schüttet, wäre Daron noch am Leben. Wenn ich nicht wäre, hätte Sann ihren Vater noch. Oh Sann, es tut mir so leid. Ich weiß genau, wie es ist. Ich wollte es nicht! Ich wollte nicht, dass so etwas geschieht! Ich wollte keinem Kind seine Eltern rauben.
Ach, mein Schatz. Wie viele Kinder werden ihre Eltern verlieren, wenn du die Rietburg verrätst? Wie viele werden sterben müssen, nur damit ich leben kann? Sieh dich doch an, du kannst es ja schon schon nicht ertragen, wenn durch einen unglücklichen Zufall ein einziger deinetwegen sterben musste. Wie willst du dann Hunderte aushalten? Es wird dich zerreißen, Janis.
Und wenn schon. Ich tue es nicht für mich. Ich tue es deinetwegen, Mutter. Ob es nun mich zerreißt oder die ganze Welt, ich werde deinen Tod ungeschehen machen.

„Meister Readem!“, keuchte Janis. „Ich will verhindern, dass so etwas wieder geschieht. Wenn Euer Angebot noch gilt …“
Wolltest du nicht eigentlich …
Ich konnte nicht mit jemandem zusammenarbeiten, der tötet, wen er heilen möchte. Aber jetzt habe ich herausgefunden, dass ich genau so bin.

Readem nickte langsam. „Bist du sicher, dass du das willst? Auch ich war einst jung, ich weiß, dass ein Kampf auf Leben und Tod abenteuerlicher und heldenhafter scheint als das Vernähen von Wunden.“
„Ich bin sicher. Aber unter einer Bedingung: Keine Aderlasse mehr!“
Readem lächelte zaghaft. „Ich glaube, damit kann ich leben.“


Späte Nacht, 76. Herbsttag 76 A.Z.
Kaserne der Rietburg, Andor

Laute Rufe schreckten Janis und Rodur in der Nacht aus dem Schlaf und trieben sie in den Regen. Auf den Mauern sammelten sich die Menschen und starrten angestrengt in die Finsternis. Die beiden zwängten sich durch die Menge und es gelang ihnen, sich bis an die Zinnen durchzukämpfen. Janis wurde an den feuchten Stein gepresst, doch sein Kopf hing zwischen zwei Zinnen und so hatte er unversperrte Aussicht auf das düstere Schauspiel, das sich ihnen bot.
Kreaturen! Zu Hunderten zogen sie durch das Rietland und zertrampelten das goldene Gras. Nur die Blitze erhellten die gebeugten Silhouetten der unzähligen Gors, zwischen denen vereinzelt schlanke Skrale oder mächtige Trolle zu erkennen waren. Der Gestank von Blut und Tod legte sich über Andor und auch das Unwetter konnte ihn nicht vertreiben.
„Alle Krieger zu den Waffen!“, brüllte Orfens Stimme von irgendwo gegen des Sturm. „Wer kämpft, macht sich kampfbereit! Alle anderen ziehen sich in die sicheren Gebäude zurück! Niemand verfällt in Panik. Wir haben genug Zeit, bis sie hier sind.“
Der Sog der Menge, der Janis bis eben noch unbarmherzig in die Mauer gedrückt hatte, zog ihn nun plötzlich in die entgegengesetzte Richtung. Im Gedränge verlor er Rodur aus den Augen und hastete schließlich mit den anderen von den Wehrgängen.
Im Burghof lief er fast sofort Meister Readem in die Arme. „Sajin! Ich bin im Siechenhaus und bereite mich darauf vor, die ersten Verwundeten zu behandeln. Deine Aufgabe ist vorerst, darauf zu achten, wo die größten Kämpfe toben, damit wir nach dem Angriff so schnell wie möglich so viele wie möglich bergen und versorgen können. Geh irgendwohin, wo du die Schlacht im Auge behalten kannst.“
„Soll ich nicht mitkämpfen, solange noch niemand verletzt wurde?“
Readem wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. „Nein, tu was ich dir gesagt habe! Vertrau mir, so können mehr Leben gerettet werden.“
Janis nickte widerstrebend und machte sich auf den Weg zum Kronenturm. Auf der Plattform angekommen schloss er die Augen und versuchte, trotz des Lärms und der Aufregung zu innerer Ruhe zu finden. Sanns Verlust, seine unbegleichbare Schuld, hatte die Trauer in ihm noch verstärkt und mühelos sandte er Vara, dem Wassergeist, ein Signal, das sie nicht missverstehen konnte. Wo auch immer du jetzt bist, ich brauche dich hier. Beschütze Rodur und Sara.

Die Strohpuppen am Übungsplatz wurden als erstes überrannt, die Kreaturen marschierten einfach über sie hinweg. Erst knapp außer Schussweite kam die Armee zum Stehen und verteilte sich in einem weiten Ring um die Burg. Auf den Mauern hatten sich die Rekruten mittlerweile verteilt und blickten dem Feind grimmig entgegen.
Ein gewaltiger Umriss erklomm den Felsen, auf dem Kommandantin Daroscha vor nicht allzu langer Zeit ihre Rekruten begrüßt hatte. Ein Blitz tauchte die graue Haut des Krahders in grelles Licht. Zum ersten Mal bekam Janis Nomion in Realität zu sehen, doch der Hexer sah kein bisschen anders aus als in seinen Träumen. Die gleichen gelben Augen. Die gleiche hagere Gestalt.
Nomion hob seinen beinernen Stab und rund um den Felsen brachen geisterhafte Flammen aus dem Boden. Grünes Licht beleuchtete den Schatten mit gezackter Maske, der neben dem Riesen in der Nacht schwebte. Der Schwarze Herold zog langsam sein dunkles Schwert und hob es hoch in die Luft. Dann deutete er auf die Rietburg und der Angriff begann.
Ohne irgendeine Taktik stürmten die Kreaturen vor, jede von ihnen schien die Mauern als erstes erreichen zu wollen. Pfeile schossen ihnen entgegen und fällten die ersten, doch der Ansturm war so groß, dass sie schon bald direkt vor den Mauern standen. Janis hatte keine Idee, wie sie jetzt weiter angreifen wollten, der Stein war durch den Regen zu schlüpfrig, um ihn zu erklimmen, und er hatte keine Leitern gesehen. Doch irgendwann zog sich ein erster Skral über die Zinnen. Er wurde sofort niedergemacht, doch weitere folgten. Es dauerte eine ganze Weile, bis Janis begriff, wie sie ihren Weg auf die Mauern fanden: Sie kletterten auf einer Rampe aus toten Körpern empor. Auf den Leichen der erschossenen und zurückgeschlagenen Kreaturen, die so lange vergeblich gegen die Mauern rannten, bis ein Pfeil sie traf. Immer öfter und an immer mehr Orten gelangten vereinzelte Kreaturen auf die Mauern, aber immer konnten sie zurückgeschlagen werden. Was war das bloß für ein selbstmörderischer Angriff? Sie hatten sich auf eine mondelange Belagerung vorbereitet, aber wenn das so weiterging, dann war der Überfall bald vorbei!
Tatsächlich dauerte es noch fast eine Stunde. Irgendwann hatte es sogar ein Troll auf die Mauern geschafft, doch auch er konnte schnell besiegt werden. Schließlich versandete der Ansturm und Janis stieg fassungslos vom Kronenturm hinab. Er gesellte sich zum ebenso erstaunten Rodur auf die Mauer und beobachtete, wie ein paar versprengte Kreaturen das Weite suchten und in der Nacht verschwanden. Die Leichen türmten sich an den Mauern, doch es waren fast keine Menschen darunter. Fünf Krieger waren gefallen und zwei Dutzend waren mittelschwer verletzt. Dennoch überwog die Freude. Sie hatten den Feind abgewehrt!
Es tut mir leid, Mutter. Ich habe versagt. Nomion ist ein dermaßen schlechter Feldherr, dass er den Kampf um die Rietburg verloren hat, noch bevor die ersten zwei Stunden um waren. Er war meine einzige Chance. Nun werde ich dich nie zurückholen können.
Doch Janis fühlte keine Trauer, nur Leere. Sara, Rodur, Orfen, niemanden würde er verraten müssen. Kheela würde tot bleiben, aber Andor war gerettet.
Auf dem Felsen am Übungsplatz stand noch immer Nomion in einem Kreis aus grünen Flammen und beobachtete ungerührt das Desaster. Er hob eine Schale, angefüllt mit dem schwarzen Blut von hunderten Kreaturen, und überreichte sie dem Schatten neben sich.
Der Schwarze Herold hob seine Faust und zwischen den dunklen Fingern schossen Strahlen aus blauem Licht hervor. Ein fahles Leuchten breitete sich über dem Schlachtfeld aus, die toten Kreaturen begannen zu verglühen, bis nichts als dunkler Staub von ihren Körpern übrig war. Und dann formte das Licht einen gewaltigen Ring um die Rietburg. Aus dem Ring wurden unzählige leuchtende Umrisse, gebückte Gestalten, massige Körper. Auf einen Schlag erlosch das Glühen, Schweigen senkte sich über die Rietburg. Dann zuckte ein Blitz vom Himmel und beleuchtete die Armee, die bewegungslos im Regen stand. Eine Armee aus Kreaturen, die mit gierigen Augen auf die Mauern starrten. Eine Armee, die von den Toten zurückgekehrt war. Es war kein Angriff gewesen, wurde Janis klar. Sondern nur ein Test.
Rodur ließ seine Waffe fallen. Mit kalkweißem Gesicht stammelte er: „Wir sind sowas von tot!“
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Zwischenspiel XII – Schöpfung

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:17

Zwischenspiel XII – Schöpfung

Später Nachmittag, 79. Herbsttag 76 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

„Es ist vollbracht!“
Licht! Gleißendes, blitzendes, funkelndes, glitzerndes Licht! Fäden und Formen und Farben aus Licht! Leuchtendes Licht!
„Trotz allem, was ich im Namen der Dreieinigkeit aufgegeben habe. Trotz all der Macht, die ich mir für immer nahm.“
Lärm! Tobender, wogender, donnernder, tosender Lärm! Lauter Lärm! Leiser Lärm! Lärmender Lärm!
„Trotz allem ist und bleibt der Anbeginn die Macht, die ich mir erwählte. Trotz allem sind Schöpfung und Erschaffung mein.“
Kälte! Frierende, fröstelnde, bibbernde, zitternde Kälte! Oben und unten und außen und innen und überall Kälte! Kälte des Todes! Kalte Kälte!
„Seht, meine Kinder: Dies ist die Welt! Dies ist das Leben! Ihr seid entstanden, mir zu dienen!“
Gestank! Muffiger, modriger, miefiger, dunstiger Gestank! Allumfassender, umhüllender Gestank! Gestank der Ewigkeit! Stinkender Gestank!
„Ihr seid der Fluch, der die Helden von Andor treffen wird. Ihr seid das Tuch, das dem Ewigen Rat die Augen verschließen wird. Ihr seid unsere Waffe, geschmiedet, das Ende ohne Anfang zu vereiteln. Ihr seid ein Werkzeug der Dreieinigkeit.“
Glück! Strahlendes, lachendes, sprudelndes, schäumendes, springendes, fliegendes Glück! Reines, freies, wunderbares Glück! Glück des Lebens! Glückliches Glück!
„Schlaft nun, meine Kinder! Ihr müsst ruhen, denn morgen beginnt für euch die Zeit des Lernens. Morgen beginnt die Zeit der Entbehrung und des Schmerzes. Morgen beginnt die Zeit, in der ihr im Namen des Ewigen Rates werdet morden müssen. Doch für heute, genießt eure letzte Frist der Ruhe. Schlaft ruhig, denn eure Mutter Kenvilar wacht über euch.“
Licht und Lärm und Kälte und Gestank und Glück. Verklingend, verschwindend, zerfasernd. Nur Ruhe. Und Dunkelheit.
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E - Spuren im Schnee

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:17

E – Spuren im Schnee

Sonnenhoch, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Östliches Rietland nordöstlich der Zwergeneiche, Andor

„Ist da etwas? Hinter dem Hügelkamm?“, klang Thorns Stimme beunruhigt durch die frostige Luft. Leander hatte die Geräusche schon lange gehört, auch über die dämpfende Schneedecke hinweg, doch anhand der plötzlichen Unregelmäßigkeiten in den knirschenden Schritten seiner Gefährten schloss er auf ihre Überraschung.
„Kreaturen?“, fragte Drukil besorgt. Laut Chada folgten sie schon seit längerem den Spuren von Dutzenden, vielleicht Hunderten Kreaturen, wenn auch in die entgegengesetzte Richtung.
„Es sind Schildzwerge.“, erwiderte Leander. „Geschwindigkeit und Lautstärke der Schritte sprechen für schwere Körper auf kurzen Beinen.“
„Wie immer beeindruckend, Leander.“, entgegnete Ken Dorr amüsiert von weiter vorne. „Aber ich vermute, dass sie im Gleichschritt marschieren, hat deinen Schlussfolgerungen auch ein winziges bisschen weitergeholfen?“
Anscheinend hatte der Dieb den Hügel erklommen und konnte die Zwerge bereits sehen. „Ein winziges bisschen.“, bestätigte Leander lächelnd.

Sie warteten gut sichtbar auf dem Hügelkamm. Leander zog fröstelnd seinen neuen Umhang enger um sich. Ironischerweise hatte die Kälte sie erst vor wenigen Tagen erreicht, kaum dass sie das Graue Gebirge hinter sich gelassen hatten. Der erste Schnee war gefallen, während sie bei dem armen Pferdezüchter übernachtet hatten, dem sie die verbleibende Stute zurückgebracht hatten. Der lispelnde Mann hatte den Verlust dreier Tiere überraschend gut verkraftet, vielleicht weil Thorn ihm seinen treuen Hengst Ambra anvertraut hatte, vielleicht weil seine rechtmäßige Königin ihn besucht hatte. Die Andori verehrten Chada wie eine Heilige und der Mann hatte sie alle ohne zu zögern mit seiner besten Kleidung und gutem Essen versorgt.
„Seid gegrüßt! Ich bin Kommandant Zagort! Wer seid Ihr und was macht Ihr in den Spuren dieser Kreaturen?“, erscholl eine tiefe Stimme, während die Zwerge – etwa zwanzig – sie geordnet umringten.
„Kommandant Zagort!“, entgegnete Thorn freundlich. „Ihr wisst ja gar nicht, wie gut es tut, endlich wieder nicht augenblicklich erkannt zu werden. Wir …“
„Fü-Fürst Thorn! Und Prinzessin Chada! Ich habe gehört, Ihr wäret im Grauen Gebirge.“
„Wie man sieht, sind wir zurück!“, seufzte Thorn resigniert. Dann legte sich tiefe Sorge über seine Stimme. „Kommandant, wie steht es um Andor? Um die Rietburg? Wir haben gehört, sie wird belagert?“
Der Pferdezüchter hatte ihnen nur halbgare Gerüchte liefern können, dafür überreichlich mit wilden Spekulationen gewürzt. Nichts, was den Bericht Ken Dorrs eindeutig hätte bestätigen oder widerlegen können. Der Dieb war vor einem Dutzend Nächten einfach verschwunden und am nächsten Morgen wieder erschienen – mitsamt seiner Kleidung aus blauem Licht geboren, hatte Chada später erzählt; Drukils Beschreibung war weniger freundlich gewesen.
Rac! Das wird sie!“, bestätigte Zagort. „Oder zumindest vor zwei Tagen wurde sie es noch. Unsere Runenmeister sagen, noch besteht keine unmittelbare Gefahr, aber sie werden nicht ewig aushalten.“
An Ken Dorrs Behauptung, Nomions Armee rücke auf die Rietburg zu, hatte Leander schon damals nicht gezweifelt. Es war nicht unbedingt so, dass er dem Dieb vertraute, doch wenn er sie zur zweiten Sitzung des Ewigen Rates belogen hatte, dann gewiss nicht derart offensichtlich.
„Ich sehe Eure Fragen, aber Ihr solltet sie besser dem Fürsten stellen.“, ergänzte der Kommandant. „Ich nehme doch an, dass Ihr nach Cavern wollt, ehe Ihr die Rietburg befreit?“
Aus der Stimme des Schildzwergs klang nicht die blinde Verehrung der Andori, nur eine unerschütterliche Gewissheit, dass sie die Belagerung durchbrechen würden. Es war lächerlich! Was stellte Zagort sich vor? Dass sie zu fünft eine ganze Armee besiegten? Ja, sie wollten nach Cavern, aber nicht, um anschließend zur Burg weiterzuziehen. Sie hatten wichtigere Pläne. Pläne, in die eine einfache Schar Zwerge besser nicht eingeweiht wurde.
„Wir sind auf dem Weg zur Mine. Doch was ist Euer Ziel, Kommandant?“, fragte Leander also, ehe Chada, Thorn oder Drukil sich zu einer unüberlegten Bemerkung hinreißen ließen.
„Kreaturenjagd.“, rief Zagort düster. „Die verdammten Viecher tauchen immer wieder plötzlich vor unseren Türen auf und hindern unsere Armee am Ausrücken. Aber sprecht mit dem Fürsten. Er wird Euch die Lage besser erklären können.“ Dann brüllte er: „Mirat om!“ und die Zwerge setzten sich wieder in Bewegung. Sie marschierten nach Norden, wohl der Spur der Kreaturen hinterher, und obwohl die fünf Gefährten in die entgegengesetzte Richtung zogen, dauerte es noch fast den vierten Teil einer Stunde, bis auch Leander die regelmäßigen Schritte nicht mehr hören konnte.


Früher Nachmittag, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Haupteingang in Brauneisenstein, Cavern

Obgleich die Schildzwerge für ihre Grimmigkeit berüchtigt waren, begrüßte das kleine Volk sie ausgelassen. Schon kurz nachdem die ersten Krieger sich vergewissert hatten, dass tatsächlich die Helden von Andor vor ihnen standen, hatten sich unzählige Zwerge am Rand der engen Gänge aufgestellt, sodass ihr Marsch durch Cavern einem Triumphzug glich. Sie tuschelten erfreut, einige jubelten sogar. Leander war überrascht, wie beliebt sie auch hier waren. Er wusste, dass das Verhältnis zwischen Schildzwergen und Andori über viele Jahrzehnte hinweg sehr angespannt gewesen war, jetzt jedoch war davon fast nichts zu spüren. Nur vereinzelt hörte Leander gedämpfte Missklänge, raue Stimmen, die unfreundlich vor sich hin murmelten.
„… im Stich gelassen …“
„… fortgegangen, während eine Armee in Andor einfiel …“
„… müssen ihre Aufgabe übernehmen …“
„… sage euch, sie haben versucht zu fliehen …“
Leander genoss selbst die Stimmen der wenigen Missgünstigen. Auch sie waren Teile der Fäden, die sich zusammen mit allen anderen Lauten zu dem brausenden, komplexen, wunderschönen Klangteppich verwoben, der sich vor seinem inneren Auge ausbreitete.
Andere hätten nur eine verwirrende Mischung aus zahllosen Stimmen gehört, aus verzerrenden Echos, dem Knistern von Feuerschalen, dem melodischen Klingen von Hämmern und Meißeln und schweren Schritten auf glattem Stein, doch mit der Erfahrung eines Jahrhunderts konnte Leander all die Töne zu einem Gesamtbild vereinigen, das ihm seine Umgebung deutlicher zeigte, als er sie mit Augen hätte wahrnehmen können. Er könnte die Stützen und die Säulen zählen, die Fackeln an den Wänden, die stämmigen Körper der Zwerge, die allesamt mindestens einen halben Schritt kleiner waren als er und die von Echos und Klängen umspült wurden. Auch wann er den Kopf einziehen musste, konnte er hören. Barathrum, die Lunge Caverns, der Schacht, der das gesamte Zwergenreich mit frischer Luft versorgte, trug ferne Geräusche an sein Ohr, sodass sogar eine unvollständige Karte der weitläufigen Mine in seinem Geist Gestalt annahm. Selten hatte er sein Augenlicht weniger vermisst.
Die Tiefe des Steins hielt alle störenden Geräusche der Außenwelt ab, wie es auch in anderen Höhlen der Fall war, zugleich ermöglichten ihm die rechteckigen, symmetrischen Formen der breiten Gänge, Schächte und Treppen, die unzähligen Geräusche zu vereinigen und jede Einzelheit zu erlauschen. Die niedrigen Türöffnungen und dicken Türen aus glattem Stein, deren Form ihm die Echos zuflüsterten, verhießen neben Abgeschiedenheit auch vollkommene Stille, wie Leander sie liebte.
Fürst Kram erwartete sie in einer weiten Halle. Er wurde begleitet von vier Kriegern mit laut rasselnden Kettenhemden und seine dröhnende Stimme scholl ihnen schon von weitem entgegen.
„Meine Freunde!“, rief er und Leander konnte das breite Lächeln anhand seines Tonfalls erkennen. „Ihr seid zurückgekehrt! Ich werde …“
Die Stimme des Fürsten verklang und ganz Cavern schien den Atem anzuhalten.
„Wachen!“, rief Kram erschüttert. „Ergreift diesen Mann!“


Später Nachmittag, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Fürstengemächer in Roteisenstein, Cavern

„Am alten Brunnen sind wir auf Spuren von Kreaturen gestoßen, denen wir bis kurz vor den Mineneingang folgten. Und jetzt sind wir hier.“, beendete Chada ihren Bericht.
„Und was soll ich jetzt mit Ken Dorr anstellen?“, fragte Fürst Kram unsicher. „Er war ein Dieb, Mörder, ein hinterlistiger Statthalter und der grausame Bleiche König. Vertraut ihr ihm wirklich?“
„Selbstverständlich nicht.“, erwiderte Thorn. „Aber ich fürchte, wir brauchen ihn, und bisher hat er uns durchaus weitergeholfen.“
„Dann lasse ich ihn also wieder frei.“, ächzte Kram.
„Wozu eigentlich?“ Leander war nicht überrascht, Drukil diese Frage stellen zu hören. „Wenn er die Wahrheit sagte, dann hat er in diesem Ewigen Rat bereits Streit verbreitet. Wir brauchen ihn nicht mehr. Lassen wir ihn doch in seiner Zelle verrotten.“
„Irrtum, Drukil. Wir brauchen ihn noch immer.“, entgegnete Leander. „Nicht nur, weil er auch in Zukunft für uns wird intrigieren sollen. Wir werden den Schwarzen Herold erst dann mit der Rietgraskrone vernichten, wenn wir das Herz des Todes danach direkt an uns nehmen können. Dafür müssen wir in seine Nähe kommen. Und der einzige Ort, an dem er sich regelmäßig aufhält, scheint diese Ratshalle zu sein, die Ken Dorr wohl am besten wird beschreiben können.“
„Ihr wollt einfach nur in die Nähe des Heroldes, oder? Dann gibt es noch eine Möglichkeit.“, meldete sich Marun zu Wort. Ihre Stimme war sanft für eine Zwergin, die – wie Leander aus eigener Erfahrung wusste – mitunter sehr aufbrausend sein konnte. „Der Schwarze Herold wurde in Andor gesehen. Er erschien dreimal vor der Rietburg, wo er gefallene Kreaturen wiederauferstehen ließ.“
Leander erstarrte. Er hörte, dass auch Chada und Thorn sich versteiften, während die Worte der Fürstin von den Wänden der kleinen Kammer widerhallten. Bei ihnen war es wohl die Sorge um die Rietburg, er jedoch witterte Möglichkeiten. Je länger sie brauchten, um den Schwarzen Herold zu stellen, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie doch noch auf seinen Bruder Callem stießen.
„Wann zum letzten Mal?“, fragte er schnell.
„Vor fünf Tagen.“, antwortete Kram anstelle seiner Gemahlin. „Vielleicht auch gestern. Die Berichte unserer Späher haben uns noch nicht erreicht.“
„Er tauchte in unregelmäßigen Abständen dort auf, wann immer seine Armee zu ausgedünnt war.“, ergänzte Marun.
Leander senkte den Kopf, während in seinem Kopf ein neuer Plan entstand. „Folgender Vorschlag: Wir greifen die Armee vor der Rietburg an, sodass er selbst kommen muss, um seine Truppen wieder aufzufrischen. Sobald er da ist, wird er vernichtet.“
„Und wie soll die Armee so weit geschwächt werden, dass er kommen muss?“, hakte Kram zögernd nach.
„Mit den Truppen der Schildzwerge. Wenn der Ewige Rat zerschlagen wird, ist das auch zum Wohle Caverns.“
Der Fürst seufzte schwer. „Schöne Idee, Leander. Das Problem ist nur, dass wir nicht ausrücken können, solange sich Kreaturen direkt vor unserem Eingang aufhalten. Ihr habt die Spuren gesehen … Verzeihung, Leander. Das erste Mal erschienen sie am Morgen nach Beginn der Belagerung, seither noch drei weitere Male. Spuren einer ganzen Armee, mindestens halb so groß wie die der Belagerer, die Cavern überrennen könnte, während sich unsere Truppen auf dem Weg zur Rietburg befinden.“
„Wir hätten diese Kreaturen ja angegriffen, aber die Spuren tauchen einfach aus dem Nichts auf und verschwinden irgendwo plötzlich, hinterlassen nichts als verkohlte Erde.“, ergänzte Marun zornig. „Es ist, als ob die Kreaturen das Fliegen gelernt hätten. Aber genug Fluggors, um die gesamte Armee zu transportieren, gibt es auf der ganzen Welt nicht.“
„Wir haben nichts davon bemerkt.“, überlegte Chada. „Die Spur verlief vom Brunnen aus noch weiter nach Norden.“
Fürst Kram erhob sich aus seinem kleinen Stuhl, das Holz knarzte leicht dabei. „Vielleicht bemerken unsere Späher im Neuschnee etwas, was uns bisher entgangen ist. Bis sie zurück sind, können wir euren neuen Verbündeten beschreiben lassen, wie genau diese Ratshalle aussieht. Wenn ihr mit eurer Vermutung richtig liegt und es wirklich zwergische Kammern sind, dann werden wir herausfinden, wo sie begraben sind.“
Der Fürst verließ seine Gemächer und besprach draußen etwas mit seinen Kriegern, von denen einer mit schnellen Schritten davoneilte, um die Befehle weiterzugeben.

Nach dem dritten Teil einer Stunde betrat Ken Dorr die Gemächer. Seinen schleichenden Gang legte er selbst jetzt nicht ab. „Fürst Kram! Ihr habt es weit gebracht! Eine schöne Mine beherrscht Ihr, insbesondere die Zellen sind wirklich ansprechend. Dennoch würde ich es in Zukunft bevorzugen, nicht grundlos inhaftiert zu werden.“
Kram schien es nicht für nötig zu halten, sich zu entschuldigen. „Ken Dorr! Ich hätte nicht übel Lust, dich für deine Vergehen in den Zellen zu belassen, Dieb, aber anscheinend hast du dich in diesen dunklen Zeiten auf unsere Seite gestellt.“ Leander wusste, dass das nicht stimmte. Ken Dorr stand auf keiner Seite außer seiner eigenen. „Du weißt nicht zufällig etwas über die Kreaturen, die sich immer wieder dreist in die Nähe Caverns … stehlen?“
„Leider nein.“ Ken Dorr senkte die Stimme. „Ich nehme an, das Fürstenpaar ist in alles eingeweiht?“
Leander nickte leicht, ohne zu wissen, ob der Dieb in seine Richtung blickte. In alles zumindest, was du nicht vor jedem deiner Freunde verheimlichst, Leander. Tatsächlich waren Kram und Marun sogar in mehr eingeweiht als der Dieb. Von Hrals alter Prophezeiung und einigen seiner Visionen etwa wusste Ken Dorr noch immer nichts.
Ehe noch jemand etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür erneut und ein Zwerg humpelte hinein. Er trug wohl weder Rüstung noch Kettenhemd, sein hechelnder Atem verriet Leander, dass er dennoch angestrengt war. Ein Greis, schoss es ihm durch den Kopf.
„Ihr habt mich rufen lassen, mein Fürst?“, fragte eine brüchige Stimme und Leander korrigierte sich in Gedanken. Eine Greisin.
„Ah, darf ich vorstellen: Mralla, Kartographin, Gelehrte und Runenmeisterin. Und eine Expertin für unterirdische Geografie und Historie. Wir möchten wissen, wo ein bestimmter Ort liegt. Beschreibe die Halle …“ Kram stockte unmerklich. Sie waren überein gekommen, möglichst niemandem zu erzählen, wer Ken Dorr wirklich war, um ihn nicht zu gefährden. „… Rodnek!“, endete der Fürst schnell.
Die hohe Stimme des Diebes antwortete ohne zu zögern: „Es ist ein riesiger, halbkreisförmiger Saal mit ebensolchen Sitzreihen. Die Wände sind mit Runen bedeckt und es gibt nur einen einzigen, großen Eingang.“
„Danke, das genügt.“, unterbrach Mralla. „Es gibt nur einen mir bekannten Ort, auf den diese Beschreibung zutrifft, auch wenn mir schleierhaft ist, wie Ihr ihn gesehen haben wollt. Es ist die Halle des Hohen Rates im untergegangenen Zwergenreich Krahalzar. Ein wahres Meisterwerk der damaligen Baumeister. Von einer Ecke zur anderen misst die Halle exakt eintausend Schritt, und dennoch ist jedes Wort, das auf der Rednerbühne in der Mitte gesprochen wird, in allen sechzig Sitzreihen zu verstehen. Der gewölbte Stein leitet die Laute weiter.“
„Eintausend Schritt?“, hakte Ken Dorr verwundert nach. „Mit Verlaub, die Halle ist groß, aber so groß nun auch wieder nicht!“
„Verzeiht, ich habe mich unklar ausgedrückt. Eintausend Zwergenschritt, das entspricht etwa dreihundert Menschenschritt. Damals haben wir Zwerge noch unsere eigenen Längenmaße benutzt.“
Leander versuchte, sich seine Kentnisse über die anderen Zwergenreiche ins Gedächtnis zu rufen. Schon lange vor der Gründung Silberhalls hatte es neben Cavern noch andere Minen gegeben, die allesamt dem Unterirdischen Krieg zum Opfer gefallen waren. „Was gibt es über Krahalzar zu wissen?“, fragte er nachdenklich.
Mralla schmatzte leise. „Das einzige Zwergenreich, das nach dem Tod des letzten Zwergenkönigs nicht von einem Fürsten regiert wurde, sondern von einem Rat aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Krahalzar lag unmittelbar neben der Krahalschlucht im Grauen Gebirge und damit am nächsten an Krahal, der magischen Heimat der Drachen. Dennoch blieb das Reich von den Flammen des Krieges zunächst verschont. Bis zur großen Erschütterung. Der Zugang nach Krahal, aus dem die unzähligen Kreaturen der Tiefe strömten, tat sich inmitten von Krahalzar auf, so heißt es. Alle Zwerge dort wurden in wenigen Stunden ausgelöscht, die geschuppten Kreaturen erreichten die Oberwelt, wo sie sich seither vermehren. Später gelang es einer kleinen Zwergentruppe, alle Zugänge nach Krahalzar zu versiegeln, sodass zumindest der Zustrom direkt aus Krahal erlosch.“
„Wie könnte man Krahalzar heutzutage noch erreichen?“, fragte Marun nach einer unangenehmen Pause.
„Alle Zugänge sind versiegelt. Wenn ihr euch nicht einen neuen Weg graben wollt, gibt es nur eine Möglichkeit: Das Sternentor, der Haupteingang nach Krahalzar, war zu stark, um es zum Einsturz zu bringen, daher wurde es mittels Runenmagie versperrt. Ein Zauber wurde gewoben, der das Sternentor für immer geschlossen halten sollte. Doch keine Magie hält besser als ehrlicher Fels. Der Bann könnte aufgehoben werden. Das Sternentor ließe sich wieder öffnen, jedoch nur im Licht von Fornurs Flamme. Und wer weiß, welche Schrecken euch auf der anderen Seite des Tors erwarten. Der Weg wurde nicht grundlos versiegelt.“
„Woher bekommen wir diese Flamme?“, fragte Thorn erschöpft.
Leander kicherte. „Fornurs Flamme ist kein Gegenstand, Thorn! Es ist ein Sternbild. Gebildet aus fünf Sternen der nördlichen Himmelssphäre, deren Licht leicht rötlich scheint. Sie werden Fornurs Funken genannt, und sie umkreisen sich immerfort. Nur manchmal geschieht es, dass alle fünf Sterne genau in einer Reihe stehen. Dann sprechen wir von Fornurs Flamme.“
„Doch diese Konstellation kommt in fünf Feuerzyklen nur ein einziges Mal vor.“, ergänzte Mralla.
Ein Feuerzyklus entsprach 1461 Tagen, das hieß, mit etwas Pech …
„Wann genau wird Fornurs Flamme das nächste Mal entfacht?“, wollte Leander wissen. Zwar hoffte er noch immer, den Schwarzen Herold an der Rietburg vernichten zu können, doch sie mussten sich alle Möglichkeiten offenhalten.
Die Gelehrte dachte kurz nach und murmelte dabei auf zwergisch einige Zahlen vor sich hin. „Ihr habt großes Glück oder großes Pech, je nachdem, wie man es betrachtet. In sechsunddreißig Tagen, wenn ich mich nicht irre. Also in der Nacht auf den 32. Wintertag eurer Zeitrechnung. Oh, halt, schon auf den 31. Wintertag. Ein Dunkeljahr erwartet uns.“ Sie kicherte.
„Danke, Mralla!“, brummte Kram. „Du darfst gehen. Und du auch, Rodnek.“
Wenn Ken Dorr über den Rauswurf verärgert war, zeigte er es nicht, selbst seine Atmung behielt ihren Rhythmus bei. Vermutlich konnte er froh sein, nicht wieder in den Kerker geworfen zu werden. Klaglos verließ auch er die Gemächer.
„Solange der Dieb in Cavern ist, können wir ihn bewachen lassen. Oder überwachen.“, überlegte Fürstin Marun, ihn unbeaufsichtigt in der Mine herumspazieren zu lassen, war ihr hörbar unangenehm.
„Keine Sorge! Ich passe schon auf, dass er nichts anstellt.“, versprach Drukil düster. Der Hass in seiner Stimme machte Leander langsam Angst.


Abenddämmerung, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Gästekammern in Roteisenstein, Cavern

… eine hellblonde Frau in dunklen Gewändern, der schwarze Stab mit drei Spitzen von purer Dunkelheit umwoben, schwarzer Nebel eine schwarzhaarige Bogenschützin in grünen Gewändern umschlingend…

… ein kleiner Gegenstand, silbern glänzend, zwischen schaumbedeckten Wellen versinkend…

… Dunkelheit…

… ein gewaltiger, in Flammen stehender Baum…

… ein Mann in weißer Robe, das unscheinbare Gesicht melancholisch in lodernde Flammen schauend…

… ein Junge mit einem grünen Wams, die Arme voller Schriftrollen, von flackerndem roten Licht beschienen, lächelnd eine Frage stellend…

… eine Prozession grün gekleideter Menschen, sich von einem brennenden Baum entfernend…

… Dunkelheit…


… eine Ruine, umgeben von der See, der Himmel weiß vor Möwen, die darüber fliegen und ohrenbetäubend kreischen…

… ein im Schnee kauerndes Mädchen in brauner Kutte, ihr Haar fast so golden wie ihre Augen…

… Dunkelheit…

… ein Mann mit blauer Haut, mit seinem Schwert einen Taren ohne Hörner durchbohrend…

… Zwerge in silbernen Rüstungen, gegen Meereskreaturen kämpfend…

… Dunkelheit…


Leander fuhr keuchend hoch, dann zerriss ein lauter Knall die Stille. Reflexhaft griffen seine Hände nach dem Stab; er war bereit, sich jederzeit zu verteidigen. Doch das Geräusch war nur von der steinernen Tafel gekommen, die auf seinem Schoß geruht hatte und die bei seinem abrupten Erwachen auf den Steinboden gefallen war. Noch immer zitternd beugte sich Leander neben seinem weichen Bett herab und hob sie auf, legte sie neben sich auf die flauschige Polsterung. Etwas zu flauschig. Wer hier lag, spürte nichts davon, dass die Grundlage des Bettes direkt aus dem harten Stein gehauen worden war. Selbst dass seine Fußspitzen über die Kante ragten, wenn Leander sich mit dem Kopf an die Wand legte und anschließend streckte, konnte nicht verhindern, dass dieses Bett deutlich zu gemütlich war, um in ihm wach zu bleiben.
Er hätte es wissen müssen, schalt er sich. Er hätte den Verlockungen nicht nachgeben dürfen, wo er doch ganz genau wusste, dass er nicht mehr richtig denken konnte, wenn er erst schweißgebadet erwachte, nachdem die Dunkelheit ihn heimgesucht hatte. Dabei hatte er sich deshalb doch hierher zurückgezogen – um zu denken.
Sie waren übereingekommen, weiteres Pläneschmieden zu verschieben, bis Kommandant Zagort zurück war. Ihre nächsten Schritte hingen davon ab, ob die Späher etwas fanden und die Armee der Schildzwerge gegen die Kreaturen vor der Rietburg ausrücken konnte oder nicht. Er hatte sich hierher, in die Stille, zurückgezogen, um mit seiner Übersetzung fortzufahren.
Wann immer er in den vergangenen Tagen etwas Zeit hatte erübrigen können, hatte er seine Erinnerung nach Fragmenten der vergessenen Barbarensprache durchforstet, um Themauras´ verborgene Botschaft zu entschlüsseln. Wie von selbst glitten seine Fingerspitzen auch jetzt über die zerfurchte Steinplatte, obwohl er mittlerweile jede Kerbe auswendig kannte.
seyratt, keetom Aeimrag Lontyl, njasar mirar vaejyg basyg, njasar foddolar vaejog paethog. saakyrsott mjelyg efryren thinghudyren Aeimral. urauthatt ikkryr thinghudyr mirag eaf ikkryr thinghudyr basyg. urauthatt efagaryr thinghudyr - skykkattissyr bloddag vaddostyl keetom saatogen aelkrissyl eaf mirattissyr atim, fers basott mjelyren ulryren mudanyren - vaddostyg eaf vadag krisslommag. urothunatt mjelar krisslommar keetom sovatissog turgedog aykal eaf arauthog efrylen thinghudylen.“, wisperte Leander in die Stille der Gästekammer. Die ungewohnten Laute glitten viel zu leicht über seine Zunge. Zu oft schon hatte er sich überlegt, wie die Barbaren die Worte wohl ausgesprochen hätten, ohne der Übersetzung dabei auch nur eine Silbe näher zu kommen.
In seinem Gedächtnis waren höchstens einige Vokabeln gespeichert, aber nicht die Grammatik, die er sich mühsam hatte zusammensetzen müssen. Manches musste er raten, manches erschließen. Dass beispielsweise Aeimrag Lontyl wohl Mutter Natur hieß vermutete Leander nur, weil Themauras die erste Rune der beiden Wörter je deutlich größer eingekerbt hatte, später hatte er das bei Aeimral wiederholt. So war es in der alten Runenschrift, die eigentlich keine Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinbuchstaben kannte, zu seiner Zeit üblich gewesen, wenn der Name der Göttin aufgeschrieben wurde.
Mit ähnlichen Überlegungen hatte er weitere Wort entschlüsselt und zumindest am Anfang sogar fast so etwas wie einen sinnvollen Text zusammengesetzt:

Durch Mutter Natur folgt ein neuer Anfang jedem Ende, eine neue foddolar jedem Tod. Dies saakyrsott drei Wächter der Mutter. Ein Wächter bewacht den Anfang und ein Wächter das Ende. Der dritte Wächter - skykkattissyr bloddag der Ewigkeit durch saatogen der Welt und anfangend atim, fers beenden diese zwei mudanyren - bewacht die Ewigkeit und die ewige krisslommag. Diese krisslommar wird bewacht durch sovatissog turgedog aykal und arauthog der drei Wächter.

Drei Wächter hatte Themauras auch in dem Text erwähnt, durch den sie erstmals von den beiden Herzen erfahren hatten. Die von Mutter Natur geschaffenen Wächter, die über die Gefangenschaft des Chaos wachten. Leander hatte sich über die neuen Erkenntnisse gefreut und war kurz davor gewesen, den anderen seine erste Übersetzung vorzustellen.
Bis ihm aufgefallen war, dass er einen Fehler begangen hatte. Nicht nur, dass er Bewachen, urothan, mit Behüten, urauthan, verwechselt hatte. Nein, er hatte thinghudyr mit Wächter übersetzt, eben weil er an diesen ersten Text von der Schöpfung der Welt gedacht hatte. Doch tatsächlich tauchte das Wort für Wächter, urothor, im ganzen Text kein einziges Mal auf.
Dann ist thinghudyr eben ein Synonym für Wächter, hatte Leander gedacht, bevor er durch Zufall auf die richtige Übersetzung gestoßen war: Thinghudyr, der Thinghügel, war der Platz im Zentrum jeder befestigten Barbarensiedlung und der Hügel, auf dem die Nomaden ihre größte Jurte aufschlugen. Der kulturelle Mittelpunkt jedes Dorfes, ein Ort der Versammlung und Versöhnung, an der vor langer Zeit regelmäßig das Thing, eine Art gemeinschaftliches Gericht, abgehalten worden war, bis schließlich die Kriegsfürsten die Macht übernommen hatten.
Aber … ein Thinghügel? Ein Thinghügel behütet den Anfang und ein Thinghügel das Ende. Der dritte Thinghügel behütet die Ewigkeit. Was bitte sollte das heißen?
Erschöpft ließ sich Leander wieder in sein Bett sinken. Schweiß kühlte seine Stirn und sein Herz pochte noch immer zu schnell. Seine Vision hatte ihn zu sehr aufgewühlt, für heute musste er die Arbeit ruhen lassen.
Leander verabscheute seine Schwäche. So etwas hatte er noch nie erlebt. Natürlich hatte es immer wieder Sorgen gegeben, er war niemals tollkühn gewesen. Aber jede dieser Sorgen hatte ihre Berechtigung gehabt. Die Vision der Dunkelheit hingegen löste eine Angst in ihm aus, die er nicht benennen konnte.
Die Dunkelheit, die dich verfolgt, wirst du nicht mehr erleben, hatte das Orakel der Geister ihm prophezeit, und wenn das die einzige Voraussage gewesen wäre, Leander hätte sich womöglich sogar darüber gefreut.
Die Flammen, die du schürst, werden dich verbrennen...
Die, die du für Freunde hältst, werden dich verstoßen und verbannen...
Einsam wirst du sterben, verraten von einem falschen Freund, dem du vertraut hast...

Leander atmete tief durch. Er wollte nicht darüber nachdenken. Wenn die Drei Schwestern sich nicht getäuscht haben, kannst du dieses Schicksal ohnehin nicht mehr abwenden, also brauchst du auch nicht daran zu denken, zuckte es durch seinen Kopf. Doch er wusste, dass er sich damit selbst belog.
Als er vor langer Zeit schließlich eingesehen hatte, dass er keine seiner Visionen verhindern konnte, war der Fatalismus für einige Monde überwältigend gewesen. Er hatte nur in seiner einsamen Hütte gesessen und gewartet, schließlich würde die Zukunft unausweichlich stattfinden. Seine nächsten Visionen hatten ihm gezeigt, wie er in seiner Hütte saß, die Wand anstarrte und für einige Monde keinen einzigen Erfolg erzielte. Er hatte lange gebraucht, um es zu begreifen. Was er gesehen hatte, würde unausweichlich geschehen müssen, aber nur, weil er ebenso unausweichlich etwas dafür tun würde. Ein Seher, der tatsächlich sein ganzes Leben nur auf eine wunderschöne Vision wartete, würde sie niemals bekommen, weil seine goldene Zukunft nicht von selbst eintreten konnte. Leander wusste, dass er die Warnung des Orakels nicht ignorieren durfte, selbst wenn sie nicht zu verhindern war.
Er gestattete es sich, für einige Herzschläge die Stille zu genießen, dann begab er sich in sein Gedächtnis, beschwor das Bild seiner Hütte der Erinnerung herauf. Er besaß nicht die Konzentration, die Tafel weiter zu übersetzen, aber dafür hatte er jetzt die Zeit, nach anderen möglicherweise nützlichen Informationen zu suchen. Sein Blick fiel auf das Ebenholzkästchen. Er hatte es sträflich vernachlässigt, hatte es ignoriert, weil er wusste, dass die Erinnerung an seine verhängnisvolle Entscheidung näherrückte. Die Leben der Schmiedin und ihres Lehrlings wogen fast nichts im Vergleich zu dem, was er noch verursacht hatte. Wieso nur war ihm das alles damals so egal gewesen? Seine alten Sünden holten ihn jetzt gleich zweifach wieder ein.
Er klappte den schwarzen Kasten auf. Sofort betrachtete er die bunt schillernde Perle, die vorletzte in der Reihe, die Erinnerung seiner Tat, die er erst jetzt als gewaltigen Fehler erkannte. Vielleicht würde er hier den entscheidenden Hinweis finden? Doch zuvor gab es noch eine andere Erinnerung zu betrachten.
Von den sieben Perlen war sechs kugelrund. Einzig die fünfte Perle war nicht geschliffen, sondern so belassen worden, wie sie in ihrer Muschel herangereift war. Eine einzelne Träne der Vergangenheit, weiß wie Schnee. In Leanders Vorstellung warfen seine blauen Finger einen dunklen Schatten über das Perlmutt. Als er die Träne schließlich berührte, war der Schatten das einzige von Bestand, während jedes Licht und jede Farbe sich auflöste.


Morgendämmerung, 68. Sommertag 42 A.Z.
Rietland westlich des Krähenstamms, Andor
„Sie … sind alle tot!“, stammelte eine tiefe Stimme, als Leander vorsichtig die schiefe Tür öffnete. „Ihr … hattet recht, Schwarzer … Priester!“
Schluchzer zerhackten Sebans Satz in vereinzelte Wortfetzen und Leander tastete nach dem Arm des Mannes und zog ihn schnell ins Innere der verfallenen Hütte, die er seit einigen Tagen bezogen hatte.
„Sie kamen … mit Fackeln … es war Harthalt … Brandurs Schwertmeister … mit dem dunklen Schild … alle tot …“
„Ich habe Euch gewarnt, Auserwählter! Schon vor fünf Tagen! Ihr hättet mühelos entkommen können!“, fuhr Leander den Bauern an. Dann erstarrte er. „Alle?“, fragte er beunruhigt. „Auch Euer Sohn?“
Seban schien ihn nicht wahrzunehmen. „Ich war nur kurz bei Geren …“, wimmerte er und Hass schlich sich in seine tiefe Stimme. „Jemand hat uns an sie verraten … hat von dem Gift erzählt, das ich nie benutzen wollte … Harthalt hatte das Fläschchen, als ich nach Hause kam … er hat meine Asilie nach Euch gefragt … und wo ich bin … sie wollte es nicht sagen … er hat sie nich´ mal selbst abgestochen, nur einen Wink gegeben …“
„Was ist mit Eurem Sohn, Auserwählter? Was ist mit Wel?“, fragte Leander deutlich. Wenn Harthalt sogar eine wehrlose Frau getötet hatte, dann war niemand vor ihm sicher. Der Schwertmeister war dafür bekannt, dass er unbarmherzig sein konnte. Er schickte seine Krieger in den sicheren Tod, wenn es für die Befehle seines Königs von Nutzen war. Es hieß, sein schwarzer Schild raube ihm jedes Mitgefühl.
Seb schluchzte nur noch lauter. „Hat einfach nur zugesehen.“, brachte er mühsam hervor. „Wel war so zornig, als er von der Gelbkralle erfuhr … vom falschen Fieber, ihrer Lüge … sagte, sie sei nicht länger seine Mutter … er hat nich´ mal gezuckt, als sie starb … und ich bin abgehauen … konnte ihn nich´ retten … was hätte ich tun sollen … wie hätte ich … jetzt is´ auch er meinetwegen tot …“
„Verdammt! Dann war alles umsonst!“, stieß Leander hervor, ehe er sich beherrschen konnte. Sebans Eltern waren tot und er hatte keine Familie mehr, das hatte Leander überprüft, als er ihn ausgewählt hatte. „Habt Ihr womöglich ein uneheliches Kind?“
„Ich … nein! Ich war … ihr immer treu … nur zum Schluss … konnte ich nich´ für sie da sein …“
„Er wird opfern sein eigen Fleisch und Blut, den Segen des Flammenbringers zu erlangen.“, zitierte Leander und bekämpfte seinen Zorn. Verdammter Schwertmeister! Für so skrupellos hätte Leander ihn nicht gehalten. „Die Prophezeiung ist eindeutig! Ihr selbst hättet Euren Sohn töten müssen, nicht Brandurs Häscher!“
„Niemals!“, schrie Seb entsetzt. „Ich hätte nich´ … hätte nich´ … um keinen Preis …“
Leander zögerte. Wels Tod war eine Niederlage, aber noch war nicht alles verloren. Der Bauerntölpel musste ein weiteres Kind zeugen und es direkt nach der Geburt opfern. Leander musste es nur richtig anstellen. Die richtigen Worte finden.
„Was wollt Ihr jetzt tun, Auserwählter?“
„Tun? Tun?! Der König sucht mich … mein Leben ist zerstört … mein Haus ist verbrannt …meine Familie wurde ermordet … ich könnte genauso gut tot sein! Mein Leben hat jeden Sinn verloren.“
„Dann gebt ihm einen neuen! ER wacht über Euch, Auserwählter, in guten wie in schlechten Zeiten. Und ER hat Euch eine Mission auferlegt.“
„Ich will nicht … kann nicht!“
„Ihr seid der Auserwählte! Und Ihr wurdet nicht grundlos erwählt. Selbst wenn Euer Leben Euch nichts mehr bedeutet, vergesst nicht, dass SEIN Blick auf Euch ruht und dass Ihr die Zukunft dieses Landes beeinflussen werdet.“
„Was kümmert mich schon die Zukunft dieses Landes?“, schrie Seban ihm entgegen. Ehe Leander es verhindern konnte, wurde ihm die Kapuze vom Kopf gerissen. Seban schnappte nach Luft und stolperte zurück, aber sagte nichts zur Binde über seinen Augen oder zur auffälligen Farbe seiner Haut.
„Es gibt nur noch eines, was ich will!“, flüsterte er. „Ich will wissen, woher … Harthalt von mir wusste. Wer ihm alles verraten hat. Und dann … möchte ich den Schwertmeister und den Verräter besuchen und Gerechtigkeit walten lassen.“
„Es gibt keine Gerechtigkeit. Nur Rache!“, predigte Leander. „Aber ich werde Euch helfen, Eure Rache zu erlangen, Auserwählter. Wenn Ihr danach mir helft und Eure Aufgabe erfüllt. Was sagt Ihr?“
Leander zog seinen rechten Handschuh aus und hielt die blaue Hand ausgestreckt in Sebans Richtung. „Ich kann herausfinden, wer der Verräter ist. Ob es Unachtsamkeit war oder Bosheit. Ich helfe Euch. Wir tragen das Feuer zu den Brandstiftern zurück. Und anschließend werden wir gemeinsam dafür sorgen, dass SEINE Prophezeiung sich erfüllt.“
Seban sagte nichts. Sein zitternder Atem war das einzige Geräusch, das durch die Hütte klang. Schließlich fühlte Leander, wie sich zögernd eine Hand in seine legte. Und er lächelte.



Frühe Nacht, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Fürstengemächer in Roteisenstein, Cavern

„Nein, mein Fürst! Wir haben nichts gefunden.“, verkündete Zagort tonlos. „Wo die Spuren verschwinden ist der Schnee schwarz gefärbt, wie es bisher das Gras war. Als wäre er verkohlt worden, ohne zu schmelzen. Aber woran das liegt, wissen wir noch immer nicht.“
Die Schwermut, die diese Botschaft in der Kammer auslöste, war fast mit Händen zu greifen. Einhellig schwiegen sie. Schwarzer Schnee. Was hatte das nur zu bedeuten?
Nachdem der Kommandant sich entfernt hatte, fragte Leander ohne wirkliche Hoffnung: „Ken Dorr, weißt du vielleicht, wie Nomion das macht?“
„Dann hätte ich es Euch schon längst gesagt.“, erwiderte der Dieb entrüstet. Gegen Drukils Protest durfte er diesmal auch anwesend sein.
„Es tut mir leid, meine Freunde!“, meinte Kram betrübt. „Ich kann die Armee unter diesen Umständen nicht ausrücken lassen. Nicht, wenn der Ewige Rat nur auf Kosten meines ganzen Volkes bezwungen werden kann. Und unsere Truppen aufzuteilen ist zu riskant.“
„Selbstverständlich!“, bestätigte Chada, auch wenn Leander überlegte, dass die Schildzwerge auf Dauer ohnehin verloren wären, wenn der Ewige Rat nicht besiegt würde.
„Brauchen wir die Schildzwerge wirklich?“, fragte Thorn in die Runde. „Wir könnten auch so ins Rietland ziehen und auf den Schwarze Herold warten. Hoffen, dass er erscheint, um seine Kreaturen wieder zum Leben zu erwecken.“
„Das setzt voraus, dass die Rietburg lange genug standhalten kann.“, entgegnete Ken Dorr kühl. „Und dass wir nicht von den Kreaturen erwischt werden. Und dass wir den Schwarzen Herold abpassen, wenn er nicht gerade inmitten einer großen Armee aus Kreaturen oder gar direkt neben Nomion schwebt. Sicherer erscheint es mir, zuerst das neue Herz der Geburt in Sicherheit zu bringen und anschließend den Schwarzen Herold in Krahalzar zu besiegen.“
„Aber dann muss die Rietburg noch länger als einen Mond durchhalten!“, erwiderte Thorn verärgert.
„Ich fürchte, ich muss Ken Dorr zustimmen.“, verkündete Chada mit hörbarem Widerwillen. „Wir sollten nach dem Samen des Baumes der Lieder zumindest suchen. Dank der Drei Schwestern wissen wir, wonach wir Ausschau halten müssen: eine Frucht, die wie abgestorben aussieht. Dass die Mächte des Meeres sie noch nicht gefunden haben, ist der einzige Schutz, den der Baum der Lieder hat. Wenn der Ewige Rat das neue Herz erst besitzt, wird er nicht zögern, den Baum zu zerstören. Die Bewahrer haben keine schützenden Mauern, keine engen Gänge in tiefem Fels und keine Armee, sie können sich gegen ein Heer aus Kreaturen nicht verteidigen.“
„Und wenn der Baum der Lieder stirbt, ist das nicht nur der Verlust von jahrhundertealtem Wissen“, fügte Leander schwermütig hinzu, „sondern es bedeutet auch, dass sich die Macht des Schwarzen Herolds verdoppelt.Welches Unheil er dann anrichten könnte, mag ich mir nicht ausmalen.“
„Aber wenn der Rat es bis jetzt nicht geschafft hat, diesen Samen zu finden, dann gelingt uns das eh nicht.“, brummte Drukil missmutig. „Wenn wir dagegen den Geist an dieser Burg besiegen, ist der Samen auch kein Problem mehr für uns.“ Leander wusste, dass Drukil sich schon allein deshalb für Thorns Vorschlag aussprach, weil Ken Dorr die gegenteilige Meinung vertrat. Je mehr Zeit Leander, Chada und Thorn mit dem Dieb verbracht hatten, desto mehr hatten sie ihn – oder zumindest seinen scharfen Verstand – schätzen gelernt. Bei Drukil war das Gegenteil der Fall.
„Es sei denn, die Mächte des Meeres finden den Samen und zerstören den Baum der Lieder selbst.“, wandte Chada ein. „Dann könnten sie dessen Macht nutzen. Mit etwas Pech besiegen wir den Ewigen Rat, während im Hadrischen Meer eine neue Bedrohung entsteht.“ Die Bogenschützin zögerte kurz. „Es ist leichtsinnig vom Schwarzen Herold, die Suche nach dem Samen anderen zu überlassen.“, bemerkte sie verwirrt.
„Er kann die Mächte des Meeres jederzeit töten.“, erinnerte Leander sie. „Wir dagegen nicht. Selbst wenn wir den Geist besiegen und das Herz des Todes erringen, selbst wenn wir bereit wären, es zu benutzen, bräuchten wir dazu noch je ein Teil der Drei Mächte. Es ist also in jedem Fall wichtig, den Samen des Baumes der Lieder vor den Mächten des Meeres zu finden. Die Frage ist höchstens, ob wir ihnen auf ihrer Suche noch mehr Vorsprung verschaffen wollen, um dafür eine Chance zu haben, den Schwarzen Herold früher zu besiegen, oder ob wir lieber zuerst den Samen suchen.“
„Warum teilt ihr euch nicht auf?“, schlug Fürst Kram vor. „Ein paar warten mit der Krone an der Rietburg, der Rest sucht den Samen.“
Leander zögerte. Bisher war jeder von ihnen hilfreich gewesen, wenn sie sich aufteilten, würde das ihre Kräfte verringern. Andererseits war es durchaus sinnvoll, jemanden mit der Krone an der Rietburg zu belassen. „Könntest du die Krone nicht einem deiner Krieger anvertrauen?“, überlegte er. „Falls sich der Schwarze Herold an der Rietburg zeigt, wird er dort vernichtet, ansonsten reist der Schildzwerg rechtzeitig zurück, damit wir die Krone mit nach Krahalzar nehmen und den Schwarzen Herold dort vernichten können.“
„Ist das nicht zu riskant?“, fragte Ken Dorr vorsichtig. „Was, wenn der Zwerg mitsamt Krone abgefangen wird? Oder wenn er uns verrät?“
„Die Gefahr, dass du uns verrätst, halte ich für deutlich größer.“, knurrte Kram. „Ein vertrauenswürdiger Zwerg würde sich finden lassen.“
Maruns sanfte Stimme flüsterte etwas, zu leise, als dass Leander es verstehen konnte. „Mart ist eine gute Wahl.“, meinte der Fürst bestätigend.
Dieser Mart, den Leander selbst noch nicht kennengelernt hatte, hatte die Verantwortung in Cavern übernommen, während Fürst Kram den Tross der Andori ins Graue Gebirge begleitet hatte. Kram würde wissen, wem er sein Vertrauen schenkte.
„Ich bin dafür!“, verkündete Leander. Auch Chada, Thorn und schließlich Drukil bekundeten ihre Zustimmung. Ken Dorr schwieg.
„Ob ihr den Samen nun findet oder nicht, seid bis zum 25. Wintertag wieder in Cavern.“, fügte Kram noch hinzu. „Ich sage Mart, dass auch er bis dahin wieder zurück sein soll, wenn er keinen Erfolg hatte. Falls wir Fornurs Flamme verpassen, müssen wir zwanzig Jahre auf die nächste Gelegenheit warten.“


Mondhoch, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Festhalle in Schwarzeisenstein, Cavern

„Gift! Pures Gift! Ich verstehe nicht, wieso irgendjemand das trinkt.“, spie Drukil aus, seine Stimme übertönte mühelos den Lärm der Feiernden und vermutlich bekam er von den Zwergen soeben einige böse Blicke ab.
„Alkohol betäubt den Geist.“, erklärte Leander gedämpft. „Man ist seine Probleme los und kann sich einfach amüsieren.“ Er hob seinen Humpen und trank einen Schluck. Wasser natürlich. Er selbst hatte sich niemals betrunken. Sein wacher Geist war seine größte Stärke, wichtiger noch als seine Gabe. All sein Wissen, seine Erinnerungen, seine Fähigkeiten basierten auf dem Verstand. Ohne ihn wäre er nur ein schlechter Lügner, ein Blinder, der sich leidlich mit seinem Stock verteidigen konnte. Und er wusste, dass Alkohol keine langfristige Lösung war, um Probleme loszuwerden.
„Sie vergiften sich, um glücklich zu sein?“, vergewisserte sich Drukil fassungslos.
„Sie vergiften sich aus allen möglichen Gründen.“, erklärte Leander abfällig. „Um schön auszusehen, um kurz stärker zu werden, aus Bequemlichkeit. Dagegen ist kurzfristiges Glück als Grund fast schon vernünftig.“
„Und warum pennen sie alle?“, wollte Drukil wissen. „Ich hätte nicht gedacht, dass irgendjemand bei dem Krach einschlafen kann.“ Er verstummte vielsagend, als eine neue Strophe des zwergischen Trinkliedes angestimmt wurde. Thorn schmetterte lauter mit als jeder der Zwerge, dass der Krieger kein Wort verstand, schien ihn nicht zu stören.
„Jeder vierte hier scheint zu schlafen.“, fuhr Drukil empört fort. „Selbst Ken Dorr ist eingenickt.“
„Bei den Zwergen hat es gute Tradition, bis zur Besinnungslosigkeit zu saufen. Es heißt, in zwergischem Bier steckt mehr Alkohol als Wasser. Demnach müsste man es anzünden können.“ Leander lächelte bei der Vorstellung, was die Schildzwerge wohl sagen würden, wenn sie erfuhren, dass er darüber nachgedacht hatte, ihr kostbares Bier zu verbrennen.
„Unser geschätzter Dieb wird diese Mengen nicht gewohnt sein. Lass ihm seine Ruhe und genieße deine. Jetzt kannst du ihn ausnahmsweise aus den Augen lassen. Es sei denn, du gehst davon aus, dass er selbst schlafend seine ganze Umgebung verpestet und den Verrat an uns vorbereitet.“
„War das Sarkasmus?“, grummelte Drukil.
„Du wirst besser!“, lobte Leander. „Weißt du noch, wie seltsam du es anfangs fandest, dass wir Dinge sagen und das Gegenteil meinen?“
„Ich finde es immer noch seltsam. Aber inzwischen kann mich keiner eurer abstrusen Bräuche mehr verwundern.“ Drukil schnaubte laut. „Oder zumindest fast keiner. Und übrigens, der Dieb verpestet tatsächlich selbst im Schlaf die Luft um ihn herum. Ich verstehe nicht, weshalb keiner von euch es bemerkt, aber er stinkt bis hierher. Er wurde mit Hexerei zum Leben erweckt, diesen Makel wird er nicht mehr los.“
Leander nahm noch einen Schluck und wünschte, die besoffenen Zwerge könnten etwas leiser grölen. Diese unnötige Willkommensfeier raubte ihm den letzten Nerv.
„Nicht mehr lange, und niemand wird mehr bemerken, dass du nicht immer ein Mensch warst.“, meinte Leander schließlich. Er wollte sich mit dem Hautwandler jetzt nicht auf eine Diskussion über Ken Dorr einlassen.
„Falls es dieses nicht mehr lange überhaupt noch gibt.“, murmelte Drukil mutlos. Er rückte auf der Steinbank noch näher an Leander heran und flüsterte: „Du hast es nicht vergessen. Keiner von euch. Der Bär wird dich überwinden und den Menschen auslöschen. Zufrieden wirst du durch den Wald streifen, während deine Freunde kämpfen und verlieren. Du wirst sie verlassen haben, und doch wird keiner von ihnen dich vermissen. Ich bin eine Bedrohung, eine Belastung, ein Monster. Der Bär in mir tobt und kratzt und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er endgültig ausbricht.“
Da Drukil sich an ihn lehnen musste, damit seine geflüsterten Worte über den Lärm gehört werden konnten, spürte auch Leander den Hautwandler erschaudern.
„Ich sollte nicht mitkommen. Nicht, wenn ihr in den Wald zieht und am Lebensbaum nach Antworten sucht. Zieht ohne mich los und benachrichtigt mich, falls ihr mich braucht. Vermissen werdet ihr mich ja anscheinend eh nicht.“
Leander drehte sich und griff fest nach Drukils Schultern. „Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass wir dich nicht vermissen würden. Deine Unterstützung ist jedem von uns wichtig, Drukil! Du solltest die Worte des Orakels nicht als Drohung sehen, sondern als Versprechen.“, riet er eindringlich und begann zu lächeln. „Es gibt nur eine Möglichkeit, wie wir dich nicht vermissen könnten: Wenn der Ewige Rat besiegt wurde, wenn wir unser Ziel erreicht haben, wenn du dich herzlich von uns verabschiedet hast, an einem warmen Sommertag, und im Wald verschwindest, um als Bär glücklich zu werden. Wenn der Bär den Menschen auslöscht, weil auch du es dir wünschst. Dann werden wir dich nicht vermissen, Drukil, sondern uns für dich freuen. Ja, deine Freunde werden kämpfen und verlieren. Wie wir auch in der Vergangenheit schon oft verloren haben. Keine dieser Niederlagen war jemals von Dauer.“
Leander erwähnte nicht die andere Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam. Auch Tote konnten niemanden vermissen.
„Ihr braucht mich nicht.“, hauchte Drukil zögernd. „Ich bin doch überflüssig für euch. Thorn kann besser kämpfen als ich, Chada besser führen, du besser denken. Und der Bär ist mehr eine Gefahr als eine Hilfe. Selbst Ken Dorr ist nützlicher als ich.“ Die letzten Worte sprach er voller Abscheu.
„Wach auf, Drukil!“, forderte Leander energisch und rüttelte an den Schultern des Hautwandlers. „Wie kannst du dich mit Ken Dorr vergleichen? Sicher ist der Dieb nützlich, aber du bist mehr als das. Du bist ein Freund! Wir glauben an dich, wir vertrauen dir! Anders als Ken Dorr! Und du bist ganz gewiss nicht überflüssig!“
Er atmete tief ein und zwang sich, seine Stimme zu senken. Nur weil alle anderen hier brüllten, musste er es ihnen nicht gleichtun. „Du bist ebenso wertvoll wie Chada, oder Thorn, oder ich. Auch du besitzt einzigartige Fähigkeiten, und ich spreche nicht nur vom Bären. Du spürst Dinge, die andere nicht wahrnehmen, du siehst, was anderen Augen verborgen bleibt. Wer hat dir gesagt, dass Alkohol Gift ist? Ich? Einer der Zwerge? Nein, ein Schluck genügte dir, um eine Wahrheit zu erkennen, die andere ihr ganzes Leben verleugnen. Die Hexerei hinterlässt für dich ein Gefühl, das kein anderer kennt. Damit kannst du uns vor Fallen warnen, in die wir sonst blindlings laufen würden. Stell dir nur vor, jemand bietet uns seine Hilfe an und du spürst, dass er von der Macht des Schwarzen Herolds berührt wurde.“
„So wie Ken Dorr.“, entgegnete Drukil trocken und Leander nickte.
„Ja, wie Ken Dorr. Ich halte deinen Hass für übertrieben, aber auch dafür brauchen wir dich. Ken ist gerissen, er kam als mittelloser und verbannter Dieb zurück nach Andor und saß kein Jahrzehnt später auf dem Thron. Täuschung und Manipulation ist seine Stärke, und du bist als einziger nicht anfällig dagegen. Der Gestank nach Hexerei, der ihn umgibt, wird dich immer an das erinnern, was wir zu schnell vergessen: Dass er bereits den Ewigen Rat verraten hat, und dass wir die nächsten sein könnten. Du wirst deine Vorsicht nie verlieren, ihm immer misstrauen, ihn im Blick behalten, und vielleicht wirst du uns genau damit alle retten.“
Leander nahm seine Hände von Drukils Schultern und legte sie in seinen Schoß. „Die Drei Schwestern haben in uns allen Zweifel ausgelöst, sogar in der so entschlossenen Chada, aber niemanden quälen die Sorgen so sehr wie dich, das ahne ich. Was du tust ist deine Entscheidung, Drukil, doch vergiss nicht: Wir vertrauen dir! Wir glauben, dass du den Bären um unseretwillen zurückhalten kannst. Die Frage ist nur, ob du dir selbst vertrauen kannst. Wir brauchen dich mit ganzem Herzen bei unserer Sache. Wenn du wirklich glaubst, dass der Bär dich überwinden und uns alle töten wird, dann denke ich zwar, dass du dich damit irrst, aber niemand von uns kann dich zwingen, einen Wald zu betreten. Das kannst nur du selbst. Wir …“
Eine neue Strophe des Liedes echote durch die Halle. Die Zwerge klopften im Rhythmus mit Humpen und Axtstielen auf die steinerne Tischplatte und überdeckten für kurze Zeit jedes andere Geräusch.
Als der Donner verklang, fuhr Leander fort: „Es liegt allein an dir, Drukil. Du wirst nur dann nutzlos sein, wenn du dich dafür hältst. Du musst dich entscheiden, ob die Ängste dich überwältigen sollen oder du sie. Morgen früh brechen wir auf und bis dahin möchte ich, dass du entweder ganz mitkommst oder gar nicht. Unser Vertrauen hast du, jetzt musst du noch deines finden!“ Nach kurzer Überlegung fügte Leander spitz hinzu: „Und bedenke, dass Ken Dorr uns ohne deine Überwachung alle ins Verderben reißen wird.“
Drukil stieß eine Reihe saftiger Flüche aus, von denen Leander sich fragte, wann er sie alle gelernt hatte. „Ken Dorr! Er ist weg! Eben lag er noch auf seinem Platz!“
Leander zuckte nur mit den Achseln. „Dieses nervige Lied wird ihn aufgeschreckt haben. Wahrscheinlich hat er sich in seine Kammer zurückgezogen.“
„Er war schon vorher weg! Ich spüre seit einiger Zeit nichts mehr von der Hexerei, das hätte mir auffallen müssen. Aber als wir die Zwergenhöhle betreten haben, hat es sowieso nachgelassen.“
„Ach ja?“, hakte Leander interessiert nach. „Wurde der Gestank vom Geruch von Waffenfett und verbrannter Steinkohle überdeckt?“
„Es ist kein wirklicher Gestank, mehr ein dunkles Gefühl. Und während unserem Spaziergang durch den Schnee war es so stark wie selten zuvor; ich habe Kopfschmerzen davon bekommen!“ Leander hörte Drukil unruhig auf der Bank hin und her rutschen. „Eigentlich nur während wir in den Spuren dieser Kreaturen waren, wenn ich darüber nachdenke.“
„Die geheimnisvolle Armee ist also ebenfalls von den Toten zurückgeholt worden?“
„Das Gefühl … ich habe es Ken Dorr zugeschrieben, aber es war viel zu stark dafür. Der verdammte Dieb stumpft meine Sinne ab! Ja, Leander, auch die Kreaturen müssen zurückgeholt worden sein, kurz bevor sie die Spur hinterließen. Aber selbst das ist noch zu schwach. Ich glaube … ich glaube, er war dort. Der Schwarze Herold.“
Leander wünschte sich seinen Stab, um sich daran festzuhalten, aber für das Fest hatte er ihn in seiner Kammer gelassen. Als wäre er verkohlt worden, ohne zu schmelzen.
„Eine Streitmacht, die aus dem Nichts auftaucht und beinahe spurlos verschwindet.“, hauchte Leander. „Was meinst du, Drukil, wie viel trockenen Staub hinterlässt eine ganze Armee, wenn der Schwarze Herold sie auf einen Schlag auslöscht? Genug, dass er für Ruß gehalten werden könnte? Genug, um den Schnee schwarz zu färben?“
Drukil sprang auf. „Bestimmt! Und das heißt, dass er die zweite Armee irgendwo verstecken muss und sie nur beschwört, wenn … wenn …“
Leander senkte den Kopf und versuchte sich in die Position des Schwarzen Heroldes hineinzuversetzen. Er würde die Armee irgendwo verstecken, wo es einsam war … und die Kreaturen dementsprechend weniger Nahrung fanden? Nein, einfacher wäre es, sie die restliche Zeit einfach tot zu lassen, sie nur regelmäßig vor der Mine herbeizurufen, um den Schildzwergen zu verdeutlichen, dass sie nicht gefahrlos ausrücken konnten. Aber den dritten Teil der Kreaturen nur dafür einzusetzen … auch das ergab noch nicht wirklich Sinn.
Leander brach in Gelächter aus. „Natürlich! Eine Täuschung! Es gibt keine zweite Armee, Drukil!“
„Wieso … woher kommen dann die Spuren?“
Da es Leander störte, nach oben reden zu müssen, stand auch er auf. „Die Rietburg wird belagert, und wenn der Schwarze Herold die toten Kreaturen zurückrufen kann, muss er ein Stück von jeder einzelnen haben. Er kann sie jederzeit an beliebigen Orten beschwören. Er hat es nicht nötig, seine Streitkräfte aufzuteilen, er kann die Kreaturen in kürzester Zeit durch ganz Andor transportieren. Ich behaupte, die Spuren vor Cavern stammen von denselben Kreaturen, die auch die Rietburg belagern. Er zieht sie nur für eine halbe Nacht ab, um die Schildzwerge abzulenken. Aber jetzt, wo wir es wissen …“
„Können wir nichts tun, oder?“, unterbrach ihn Drukil. „Wenn die Zwerge losziehen, bleibt der Ort hier unbewacht zurück.“
Leander ließ sich schwer auf die Bank zurücksinken. Drukils Worte hatten ihn wie ein Schwall kalten Wassers getroffen, der die Flamme der Hoffnung in seinem Inneren löschte. „Er kann die Kreaturen in kürzester Zeit durch ganz Andor transportieren.“, wiederholte Leander niedergeschlagen. „Es hat sich nichts verändert. Wir haben das Rätsel geknackt und sind einer Lösung für unser eigentliches Problem dennoch keinen Schritt nähergekommen.“
„Also geht es morgen trotzdem in den Wald.“, murmelte Drukil bitter. „Wir haben etwas herausgefunden, aber es bringt uns keine Erkenntnisse.“
„Doch, Drukil!“, entgegnete Leander ernst. „Eine Erkenntnis haben wir gewonnen: Wie dringend wir dich brauchen. Ohne deinen Sinn für die Hexerei wären wir nicht darauf gekommen. Du bist nicht nutzlos, Drukil. Du bist Teil unserer Gemeinschaft, anders als Ken Dorr. Vertraust du uns, Drukil? Vertraust du Chada, Thorn, mir? Vertraust du deinen Freunden? Ebenso sehr wie du uns vertraust, vertrauen wir dir. Wir glauben daran, dass du uns nichts antun könntest, auch als Bär nicht. Jetzt musst nur noch du daran glauben. Vertraue dir selbst ebenso sehr wie deinen Freunden!“
Über die Feier hinweg konnte Leander Drukils Atemzüge nicht hören und daher kaum auf seine Reaktion schließen. Doch plötzlich legte sich etwas um ihn und er wurde er in der Umarmung des Hautwandlers fast zerdrückt.
„Du irrst dich, Leander!“, sagte Drukil fest. „Ich vertraue meinen Freunden nicht, denn ich habe keine. Ihr seid keine Freunde. Ihr seid Familie!“
„Ich danke dir, Drukil!“, entgegnete Leander gepresst und Drukil setzte ihn schnell wieder ab.
„Wofür?“, fragte der Hautwandler verwirrt.
Für dieses Gespräch. Dafür, dass ich in der letzten Stunde einfach ich selbst sein konnte. Dass ich bis zum Wort Familie nicht ein einziges Mal an meinen Bruder denken musste, oder an die Dunkelheit, oder an eine der vielen anderen kleinen Lügen, die ich euch so regelmäßig auftische.
„Dafür, dass du wieder gelernt hast, dir selbst zu vertrauen. Dafür, dass du uns morgen begleitest.“, antwortete Leander stattdessen. Das war vielleicht nicht offen, aber Leander wusste, dass er dennoch recht hatte.


Sonnenhoch, 90. Herbsttag 76 A.Z.
Südlich des Baumes der Lieder, Wachsamer Wald
Ohne Vogelgezwitscher und das Rauschen der Blätter klingt der Wachsame Wald ganz anders
, dachte sich Leander. Er hatte fast zweihundert Jahre am Rand des Waldes verbracht und ebenso viele Winter kommen und gehen hören, dennoch überraschte ihn dieser verwandelte Wachsame Wald jedes Mal aufs Neue. Ihre Schritte raschelten nicht, sondern knirschten im Schnee. Die Bäume knarzten leicht im schwachen Wind. In der Ferne knackte es durchdringend, als ein morscher Ast unter der Last des Schnees vom Baum brach. Sonst war alles still, nur ihr keuchender Atem klang unnatürlich laut in der kalten Luft.
Sie waren jetzt seit fast vier Stunden unterwegs, schweigend. Nachdem sie Cavern gestern erst so spät verlassen hatten – vorgeblich um noch die wärmenden Pelze der Schildzwerge entgegenzunehmen, tatsächlich aber, weil zumindest Thorn und Fürst Kram einen Kater von der Größe einer barbarischen Reitechse hatten ausschlafen müssen – waren sie heute morgen schon früh von dem leerstehenden Bauernhof aufgebrochen, kaum dass sich der erste Schimmer am Horizont zeigte. Der Tag war nur halb so lang wie die Nacht, da wollten sie nicht noch etwas vom spärlichen Tageslicht verschwenden.
Eis hatte die Bohlen der Bogenbrücke rutschig werden lassen und beinahe wäre Leander hinuntergefallen. Zwar war die Narne so nahe an der Quelle bereits zugefroren, aber allzu dick konnte das Eis nicht sein, er hatte den Fluss noch immer unter dem Eis sprudeln hören können. Nur Drukils fester Griff hatte ihn gerettet, auf seine Dankesworte hatte der Hautwandler nicht reagiert. Der Wald, den Drukil eigentlich so liebte, nahm ihm jetzt jede Freude und machte ihn noch mürrischer als sonst. Leander wusste, dass der Bär nur mit Mühe zurückgehalten werden konnte. Aber bisher war es Drukil gelungen und auch wenn die kommende Nacht die eigentliche Belastungsprobe wäre, bezweifelte Leander, dass das Mittwinterfest der Bewahrer von einem geifernden Bären unterbrochen werden würde.
„Wir haben schon gehört, dass ihr zurück seid.“, sagte plötzlich eine ruhige Stimme von oben. Leander war beeindruckt. Selbst in der Stille des Waldes hatte er nichts vom verborgenen Bewahrer gehört und anscheinend war auch den anderen nichts aufgefallen. Die Bogenschützen verwendeten gelegentlich auch braune oder weiße Kleider, wenn die sommergrünen Stoffe sie nicht tarnen konnten.
Leander konnte den Bewahrer aus seinem Baum klettern hören. Er stellte sich als Mellorn vor und begleitete sie anschließend das letzte Stück zum Baum der Lieder.
Trotz der Kälte herrschte auf dem Platz vor dem Baum emsige Betriebsamkeit. Was genau die Bewahrer taten, konnte Leander nicht sagen, denn mindestens drei verschiedene aus vielen Kehlen gesungene Lieder konkurrierten darum, das lauteste zu sein. Jedes einzelne hatte ein religiöses Thema zum Inhalt und Leander vermutete Farruns Einfluss dahinter.
Der Oberste Priester begrüßte sie herzlich und versprach, sogleich nach dem Bewahrer namens Ladon zu schicken, nach dem Chada ihn fragte. Anschließend ließ er sie ins Haus der Gäste bringen, wo ihnen ein Gericht aus Apfelnüssen und den Früchten, die der Baum der Lieder selbst produzierte, serviert wurde. Dazu gab es einen herrlich warmen Tee aus Brennnesseln, an dem sich Leander sofort die Zunge verbrannte. Dennoch genoss er es, seine klammen Finger am Tonkrug aufwärmen zu können, während seine Gefährten über das Essen herfielen.
Da schlug die Tür der Hütte auf und ließ einen Schwall kalter Luft herein. „Ich gebe zu, ich bin erstaunt.“, sagte eine Stimme, kalt und scharf wie ein Splitter aus Eis, und Leander hätte beinahe seinen Krug fallen gelassen.
„Kaum lässt man euch für zwei Monde aus den Augen, schon speist ihr gemeinsam mit einem toten Feind. Die Geschichte könnte interessant werden.“
Leanders blaue Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Das wird sie.“, versprach er. „Glaub mir, Eara.“
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F - Die tote Frucht

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:18

F – Die tote Frucht

Früher Nachmittag, 90. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

„Glaub mir, Eara.“, lächelte Leander. Er umklammerte einen dampfenden Tonkrug, sein Stab lehnte an der Wand der Hütte. Eara schüttelte den Schnee von ihrer schwarzen Robe und trat ein.
Kurz musterte sie die fünf in dicke Pelze gehüllte Gestalten um den runden Tisch. Rechts von Leander saß Drukil. Der Hautwandler sah aus, als leide er unter einem starken Fieber. Seine Haut war bleich, sein hellblondes Haar klebte ihm am Kopf, sein Bart war sogar noch wilder als sonst.
Chada saß aufrecht auf ihrem Stuhl und hatte sich seit Earas Erscheinen nicht gerührt. Ihre grünen Augen waren vor Erstaunen weit aufgerissen, sie hielt noch immer eine geschälte Apfelnuss wie eine Waffe in der Hand. Um ihren Hals hing nur ihr silbernes Amulett, nicht jedoch die Rietgraskrone.
Thorn neben ihr hatte reflexhaft nach seinem Schwert gegriffen und dabei seinen Tonkrug fallen gelassen. Er war nicht zerbrochen, aber die heiße Flüssigkeit lief über die Tischplatte und folgte den Linien des eingravierten Baumes.
Ken Dorr saß etwas abseits, Thorn und Leander hatten jeweils einen unauffälligen Abstand zu seinem Stuhl gelassen. Eara hatte ihn sofort erkannt, auch wenn sie ihn zuletzt vor fast zehn Jahren lebend gesehen hatte. Der Dieb hatte sich kaum verändert. Einige leichte Falten mehr umrahmten seine berechnenden grauen Augen, die ersten silbernen Haare zeigten sich in seinem gepflegten Spitzbart, die Halbglatze hatte sich noch etwas weiter über seinen Kopf ausgedehnt.
„Ist er ein Freund oder ein Gefangener?“, fragte Eara gleichmütig und deutete mit ihrer linken Hand auf den Dieb. Dann bemerkte sie, dass an seinem Gürtel ein seltsamer Dolch mit einer goldenen Schlange als Griffstück hing. Damit hatte sich ihre Frage wohl erledigt.
Thorn keuchte auf, seine Hand spannte sich fest um den Griff seines Schwertes. Irritiert betrachtete Eara den Krieger, dessen blaue Augen sich auf den Schatten ihrer Hand geheftet hatten. Sie selbst hatte sich schon lange an die Dunkelheit gewöhnt, die ihre linke Hand ersetzte. Bloß, dass es nicht mehr nur die Hand war. Die Finsternis wuchs ihren Arm herauf und bedeckte bereits den halben Oberarm. Eara fürchtete, die Dunkle Magie würde sie ebenso verschlingen wie das Gift, nur langsamer. Sie hatte beschlossen, vorsichtshalber ihr eigenes Leben zu beenden, ehe die Dunkelheit ihren Kopf erreichte. Aber noch hatte sie Zeit.
Leander runzelte die Stirn in Thorns Richtung, dann antwortete er: „Ein Verbündeter, soweit wir wissen.“
Ehe der Seher noch mehr sagen konnte, wurde hinter Eara die Tür aufgerissen. Sie blickte über ihre Schulter. Der kugelrunde Umriss eines Bewahrers zeichnete sich gegen den blendenden Schnee vor der Tür ab. Eara überragte ihn um einen Kopf, aber wog wahrscheinlich höchstens halb so viel wie er. In sein grünes Wams, auf das mit Goldfäden ein filigraner Baum gestickt war, hätte sie zweimal gepasst.
„Ladon!“, erklang Chadas Stimme. „Jetzt ist ein schlechter Zeitpunkt. Kannst du in einer Stunde wiederkommen? Ach, und nimm unseren Begleiter hier mit. Er kann dir schon mal erklären, was wir wollen.“
Eara drehte ihren Kopf schnell genug zurück, um den verletzten Ausdruck in Ken Dorrs grauen Augen aufblitzen zu sehen, dann stand der Herausgeworfene widerspruchslos auf und verließ zusammen mit dem dicken Bewahrer die Hütte.
„Weshalb bist du hier, Eara?“, krächzte Drukil unsicher. Er klang dabei nicht sonderlich erfreut.
„Weshalb wohl? Ihr könnt nicht erwarten, dass ich in Hadria bleibe, wenn ihr mir schreibt, dass unsere größten Feinde sich von den Toten erhoben und gegen uns zusammengeschlossen haben. Ich gebe zu, bevor ich Ken Dorr sah, war ich mir nicht sicher, ob ihr euch nicht getäuscht habt. Warum habt ihr mir nicht gleich verraten, dass er euch unterstützt?“
„Er hintergeht den Ewigen Rat.“, meinte Leander achselzuckend. „Dieses Wissen wollten wir keinen Briefen anvertrauen.“
„Wenn du dich entschieden hast, uns zu helfen, was hat dich dann so lange aufgehalten?“, fragte Thorn gepresst. Sein Blick wanderte zwischen dem neuen Stab und ihrer dunklen Hand hin und her.
„Ich war beschäftigt.“, antwortete sie einsilbig. Damit, den Mord an einem alten Freund zu planen. Eara schob die Stimme der Schwäche beiseite. Die Vereinigung war den Preis wert.
Tatsächlich war nach dem Tod der Obersten noch einige Zeit verstrichen, bis sie hatte aufbrechen können. Hedal hatte man am Abend erhängt in seinem Laboratorium aufgefunden. Der Selbstmord hatte es Eara erspart, den Mechanicus persönlich beseitigen zu müssen, dennoch hatte es noch einige kleine Hinweise gegen sie gegeben, die sie akribisch vernichtet hatte. Den offiziellen Vollzug der Vereinigung hatte sie nicht mehr abgewartet, aber als sie Hadria verlassen hatte, hatten die Zauberer bereits darüber gestritten, welche Farbe die neuen Roben haben sollten.
Eara lehnte ihren dunklen Stab an den Türrahmen und setzte sich auf Ken Dorrs leeren Stuhl. „Es ist nicht weiter von Belang. Wichtig ist, was ihr erlebt habt.“ Sie blickte Chada auffordernd an.


Später Nachmittag, 90. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

Ken Dorr blinzelte misstrauisch in die Dunkelheit. Eara hatte die Fenster im Haus der Gäste verdunkelt. Er räusperte sich vorsichtig. „Die Stunde ist um. Was ist so wichtig, dass Eure Freunde den fetten Bewahrer noch weiter vertrösten müssen?“
„Ich musste mit dir sprechen. Allein!“ Dunkler Nebel wallte auf und unterstrich die Kälte in ihren Worten.
Ken verzog das schmale Gesicht und nahm unbehaglich ihr gegenüber Platz. „Ich nehme an, Ihr wollt Euch meiner Vertrauenswürdigkeit versichern.“
Eara legte ihre dunkle Hand gut sichtbar auf die Tischplatte. „Nein! Ich werde dir niemals vertrauen.“
Ken Dorr stieß ein bitteres Lachen aus. „Nein, natürlich nicht. Ich bin eigennützig, nicht wahr? Habe Schreckliches getan? Habe eine finstere Vergangenheit hinter mir?“ Er seufzte leise. „Ganz egal, was ich tue, niemand wird mir jemals wieder vertrauen.“
„Du hast Schwertmeister Malin und König Thorald ermorden lassen. Das werden die anderen dir nicht verzeihen.“
Ken Dorr hob abwehrend die Hände. „Das ist nur deine Vermutung. Niemand hat mich auch nur dazu befragt.“
„Die anderen fragen nicht, weil sie es nicht wissen wollen. Weil sie es sonst nicht ertragen könnten, mit dir zusammenzuarbeiten.“, entgegnete Eara. „Ich dagegen frage nicht, weil es offenkundig ist. Aber es macht mir nichts aus, Ken Dorr. Zu Thoralds Tod kann ich dir nur gratulieren.“
Ken Dorr strich sich verwirrt über den Spitzbart und sagte nichts. „Er war ein schwacher Mann, ein schwacher König.“, erklärte Eara. „Chada wird sich nur widerstrebend krönen lassen, dennoch übertrifft sie ihn um Welten. Unter ihrer Herrschaft wird Andor erblühen. Thorald wäre zu stolz gewesen, um freiwillig abzudanken, zu feige, um im Grauen Gebirge zu sterben. Ich danke dir, dass du Chada auf den Thron geholfen hast, selbst wenn es nicht willentlich geschah.“
Sie konnte geradezu sehen, wie es hinter Ken Dorrs kahler Stirn arbeitete, während er infrage stellte, was er über sie zu wissen glaubte. „Ich werde dir nicht wegen deiner Vergangenheit misstrauen, oder wegen deines Eigennutzes. Es ist einfach so, dass ich niemandem vertraue.“
„Nicht einmal Euren Freunden?“, vergewisserte sich Ken Dorr verblüfft.
Chada, Thorn, Kram, Drukil. Und Leander. Sie haben wahrhaft bewiesen, was in ihnen steckt. Eara unterdrückte die Stimme der Schwäche. Sie würde der Verlockung nicht erliegen, würde kein unnötiges Risiko eingehen.
„Ich zweifle nicht an ihren Absichten, nur an ihren Handlungen. Sie folgen unsinnigen Prinzipien, machen Fehler, werden von irrigen Gefühlen geleitet. Vertrauen ist Schwäche, Ken Dorr.“
Überraschenderweise begann er zu lächeln. „Ich verstehe. Ihr vertraut einzig Euch selbst.“
„Du verstehst gar nichts, Ken Dorr. Ich vertraue meinen … Mitstreitern nicht. Ich vertraue dir nicht. Aber am allerwenigsten vertraue ich mir selbst. Das Ich ist eine erbärmliche Kreatur, ein schwaches, egoistisches kleines Ding mit limitiertem Wissen.“
Ken Dorr kniff die Augen zusammen. „Was willst du von mir?“
„Ich will dir klarmachen, woran du bist. Ich habe nicht die geringsten Skrupel, mit dir zusammenzuarbeiten. Doch wenn du uns hintergehen solltest, dann wird nichts dich vor meinem Zorn retten können. Ich werde dich ans Ende der Welt jagen und bis hinter die Ewigkeit. Früher oder später finde ich dich. Und dann werde ich dich nicht töten, denn ich weiß, dass dein Tod bedeutungslos ist, solange du Teil des Ewigen Rates bist. Nein, Ken Dorr, ich werde dich foltern. Ich werde dir jeden Knochen im Leib brechen, werde mich an deinen Qualen weiden, werde Dinge mit dir tun, die du selbst als Bleicher König nicht mitangesehen hast. Bis du den einen Ausweg wählst, der dir noch offen bleibt. Nicht in den Tod wirst du dich flüchten, sondern in den Wahnsinn. Ich werde dich zerschmettern, bis dein Geist in Trümmern liegt und auch der Schwarze Herold einsehen muss, dass all seine Macht dich nicht zurückholen kann. Wenn du uns an den Ewigen Rat verrätst, wirst du vom ewigen Leben nichts mehr mitbekommen. Das ist keine Drohung, sondern ein Versprechen.“
Ken Dorr schüttelte den Kopf. „Das würdest du nicht tun.“, sagte er ohne Überzeugung. „Du bist nicht wie der Schwarze Herold, du würdest nicht alles andere für deine Rache opfern. Du bist eine Heldin, Eara. Alle wissen das.“
„Chada, Thorn, Kram, das sind die Helden. Es gibt Zeiten, da braucht es nicht noch mehr Helden, sondern Monster. Du hast keine Ahnung, was ich getan habe, und keine Ahnung, was ich tun würde. Ich würde Götter töten und Dämonen beschwören, ich würde Länder verheeren und Tempel niederbrennen, ich würde Städte ausradieren und lachend zwischen den Gebeinen der Kinder tanzen. Das alles würde ich tun und noch mehr, wenn es einem höheren Wohl dient. Glaube nicht, ich würde nur eine Sekunde davor zurückschrecken, mein kleines Versprechen einzulösen.“
Natürlich würde sie das nicht tun. Wenn Ken Dorr sie tatsächlich hinterging und sie den Verrat überlebte, dann hätte sie Wichtigeres zu tun. Aber jetzt kam es nur darauf an, dass er ihren Worten Glauben schenkte.
Da in seinen grauen Augen noch immer Zweifel lagen, winkte sie mit ihrer dunklen Hand. Sofort wurde der Dieb vom dunklen Nebel umschlungen, dann verdichteten sich die Schlieren und fesselten ihn an den Stuhl. Eara sandte eine wohl dosierte Menge Schmerz durch seine Adern, die Dunkelheit, die sich auf seinen Mund presste, hinderte ihn am Schreien. Nur seine Augen waren gequält aufgerissen.
Die Stimme der Schwäche bat sie, aufzuhören, doch Eara musste ihm die Lektion verdeutlichen. „Das ist nur ein Vorgeschmack!“, wisperte sie, bevor sie die Dunkelheit schließlich senkte. Ken Dorr sackte auf seinem Stuhl in sich zusammen und keuchte.
„Ich bin keine Heldin, Ken Dorr, sondern ein Monster. Es ist nicht nötig, das noch weiter zu vertiefen.“ Eara erhob sich aus ihrem Stuhl. „Holen wir die anderen.“


Später Nachmittag, 90. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

„Eine Frucht, eine tote Frucht?“, vergewisserte sich Ladon erschrocken, Furcht bleichte seine schwabbeligen Wangen. „Ja, so etwas wuchs hier, genau hier. Vor fast einem Jahr wurde sie bemerkt, von einem Bewahrer, zwischen den kahlen Zweigen. Ich war mir nicht sicher, gar nicht sicher, ob nicht einfach eine Frucht in der Herbsternte übersehen worden war, aber es gibt Berichte, schlimme Berichte …“
Ladons Schaudern ließ seinen runden Körper erbeben. „So etwas kam früher schon vor. Es bringt Unglück, großes Unglück.“
„Es kam früher schon vor?“, wiederholte Leander. „Wurden die Jahreszahlen aufgezeichnet?“ Eara konnte sich denken, was der Seher mit dieser Frage bezweckte. Laut Themauras produzierten die Herzen der Mutter alle fünf Jahrhunderte ein echtes Samenkorn, wenn die letzte tote Frucht also vor fünfhundert Jahren gewachsen war, wären alle Zweifel ausgeräumt.
„Es wird nicht darüber geschrieben, nicht mehr als nötig!“, wehrte Ladon entsetzt ab. „Falls es mehr als nur ein Überbleibsel der letzten Ernte war, also der letzten Ernte vor der letzten, können wir froh sein, dass uns nichts, gar nichts, geschehen ist.“ Er atmete tief ein, wobei sich sein Gewand über dem voluminösen Bauch spannte, und warf aus seinen weit aufgerissenen blauen Augen einen bedeutungsvollen Blick in die Runde.
„Du sagtest war!“, bemerkte Eara. „Was hast du mit diesem Samen angestellt?“ Ihr wurde nicht bewusst, dass ihre Schatten sich bedrohlich aufbauschten, bis der fette Bewahrer ängstlich seinen runden Kopf einzog.
„Ich bin der Tradition gefolgt und habe die tote Frucht persönlich zur Küste gebracht, zur Nördlichen Küste. Zum Weißen Kliff. Seid unbesorgt, die Gefahr ist abgewehrt, ganz und gar abgewehrt!“ Sein unsicheres Lächeln erlosch, als er in ihre eisige Miene blickte.
„Du hast sie ins Meer geworfen.“, stellte Eara tonlos fest. Das erklärte zumindest, weshalb der Schwarze Herold ausgerechnet die sagenumwobenen Mächte des Meeres mit der Suche beauftragt hatte.
Ladon nickte eilfertig und strich die drei Haare glatt, die auf seinem Schädel verblieben waren. „Natürlich! Sie hätte eine Keimzelle der Krankheit sein können! Aus keiner der vielen Früchte unseres Baumes, die wir in den Boden pflanzten, ist jemals etwas gekeimt, irgendetwas gekeimt. Wenn der Baum der Lieder stirbt, werden wir nicht umsiedeln können. Er ist einzigartig, ein Wunder, ein Wunder der Göttin!“
„Die Bewahrer haben wohl niemals versucht, eine der scheinbar toten Früchte einzupflanzen.“, murmelte Leander, was ihm einen ungläubigen Blick Ladons bescherte.
„Was geschah mit der Frucht?“, fragte Chada behutsam. „Versank sie? Schwamm sie fort?“
„Sie trieb von dannen!“, beeilte sich Ladon zu sagen. „Die Strömung trug sie fort, Strömung und Wind. Ich glaube, Richtung Osten.“
„Vor einem Jahr … Wir werden sie niemals finden!“, hauchte Thorn fast so entsetzt, wie Ladon ihn ansah.
„Finden? Finden?! Ihr wollt …“ Ladon wich einen Schritt zurück und füllte den Türrahmen aus. „Die Tradition besteht nicht ohne Grund, wirklich nicht ohne Grund! Diese Frucht ist gefährlich, sehr gefährlich, sie darf hier nicht sein!“
Als keiner von ihnen dem Bewahrer zustimmte, ballten sich seine Wurstfinger zu Fäusten. „Sie bringt Unglück, großes Unglück, ich sage es euch! Und ich werde euch nicht dabei helfen, sie zu holen, zurück hierher zu holen! Ganz bestimmt nicht!“
Ladon drehte sich entschlossen um, sein grüner Umhang wehte eindrucksvoll. Der dramatische Auftritt wurde nur dadurch etwas geschmälert, dass er dabei das Gleichgewicht verlor und in den Schnee purzelte. Er rollte zwei Schritt weit und rappelte sich beschwerlich auf. „Großes Unglück!“, rief er nochmals beschwörend, dann stapfte er eilig davon. Chada öffnete den Mund, wohl um ihm etwas hinterherzurufen, doch überlegte es sich anscheinend anders.
„Thorn hat recht.“, ächzte Drukil schwach. „Wir finden den Samen nicht mehr. Also lasst uns diesen Wald so schnell wie möglich verlassen. Wir suchen den Zwerg und passen mit auf die Krone auf.“
Chada fuhr herum, ihre grünen Augen blitzten zornig. „Wenn die Mächte des Meeres das Samenkorn finden, dann gibt es nichts, was den Baum der Lieder noch retten kann! Ich weigere mich, so schnell aufzugeben!“ Der Zorn wandelte sich in die Entschlossenheit, die Chada mehr als alles andere zu der Heldin machte, die sie war. „Ja, die tote Frucht wurde vor einem Jahr ins Meer geworfen und dann fortgespült. Aber wir kennen jemanden, der uns vielleicht sagen kann, wohin. Niemand sonst kennt sich so gut mit Strömungen und Winden im Hadrischen Meer aus.“
Ken Dorr beugte sich vor und zuckte dann gleich wieder zurück, als sein Ellenbogen in die Schatten tauchte, die Eara umgaben. „Wohin müssen wir? Nach Werftheim? Ich konnte dort vor vielen Jahren die Gunst von einigen Hafenmeistern gewinnen.“
Ein Lächeln huschte über Leanders Gesicht. „Nichts dergleichen, Ken Dorr. Wenn ich an dieselbe Person denke wie Chada, dann genügen ein paar Schritte vor die Tür.“


Abenddämmerung, 90. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

„… habe sie sagen hören, dass Gebete allein noch niemanden geheilt haben. Und vor einigen Tagen wollte sie einen Leichnam aufschneiden, anstatt ihn zu begraben!“ Bei den letzten Worten nahm die Kinderstimme, die aus der Kammer des Obersten Priesters drang, einen schrillen Klang an.
„Sogar Larissa!“, antwortete Farruns gleichmäßige Stimme bedrückt. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Zweifel so tief reichen. Ihr als höchste Heilerin obliegt es doch, die Sterbenden in Einklang mit Mutter Natur zu bringen! Nun, sie ist schon alt, vielleicht sollte jemand anderes mit der Verantwortung um die Hütte der Genesung betraut werden.“
Eara bemerkte, dass eine verärgerte Falte zwischen Chadas Augenbrauen erschien, doch als die Bogenschützin die Tür öffnete, glättete sich ihr Gesicht zu einer Maske der Gleichgültigkeit.
Farrun saß am runden Tisch und blickte beim Geräusch der sich öffnenden Tür kurz auf. „Nun, Diorn, du hast hervorragende Arbeit geleistet.“, sagte er dann zu dem grün gekleideten Jungen vor sich. „Bleibe auch weiterhin wachsam, denn bis wir uns von allem Unglauben befreit haben ist es noch ein weiter Weg.“
Der Junge nickte ehrerbietig und schlug vor seiner Brust den Kreis des Lebens, dann zwängte er sich schüchtern an den Helden in der Tür vorbei. Farrun sah ihm nachdenklich hinterher, dann setzte er ein ebenmäßiges Lächeln auf. „Willkommen zurück bei den Bewahrern, Eara. Ihr hattet euch wohl viel zu erzählen.“
Eara fragte sich flüchtig, woher der Oberste Priester von ihrer Ankunft wusste. Sie war vor zwei Stunden erst am Baum der Lieder angekommen, in der Vermutung, hier würde am ehesten jemand etwas über den Verbleib ihrer alten Freunde wissen. Wer hatte Farrun von ihr berichtet? Die junge Schweinehirtin mit schiefer Nase? Der Bewahrer, der sie zur Hütte der Gäste geschickt hatte, als sie nach den Helden von Andor fragte? Sie warf ein letzten Blick auf den Rücken von Diorn, der eben um die Biegung der Wendeltreppe verschwand. Willige Spione hatte Farrun offensichtlich genug zur Verfügung. Plötzlich befürchtete sie, jemand könnte auch die Geschichte belauscht haben, die Chada, Thorn und Leander ihr erzählt hatten. Der Baum der Lieder war kein guter Ort für Geheimnisse mehr.
„Nun, konnte Ladon euch helfen?“, wollte Farrun wissen.
„Vielleicht.“, erwiderte Chada zögernd. „Wir müssen mit Merrik sprechen. Er war nicht in seiner Hütte.“
Farrun nickte bedächtig. „Er ist … umgezogen. Er wohnt jetzt in einer kleineren Kammer direkt im Baum. Neben der Kartensammlung. Aber ich muss euch warnen, er ist etwas wunderlich geworden. Was erhofft ihr euch von ihm?“
„Wir suchen eine spezielle Frucht. Das neue Herz der Geburt, wie Themauras es genannt hätte. Wenn der Ewige Rat es in die Finger bekommt, wird er den Baum der Lieder zerstören wollen, um auch die Macht des zweiten Herzens zu erlangen. Wir wollen das verhindern.“, erklärte Thorn bereitwillig. Etwas zu bereitwillig für Earas Geschmack.
Farrun schürzte missbilligend die schmalen Lippen. „So sehr ich den Plan, ein sakrales Objekt von solcher Macht hierher zurückzubringen, auch gutheiße … aufhalten werdet ihr den Ewigen Rat so nicht. Versteht mich nicht falsch, ich weiß eure Bemühungen zu schätzen, aber das Seelenheil einer ganzen Welt steht auf dem Spiel. Ihr könnt vielleicht verhindern, dass der Feind eine zweite unsterbliche Armee gewinnt, habt allerdings nichts gegen die erste in der Hand.“
„Doch, das haben wir.“, entgegnete Eara kühl. „Wenn alles nach Plan verläuft, haben wir in etwas über einem Mond den Ewigen Rat zerschlagen, den Schwarzen Herold vernichtet und ihm das Herz des Todes entrissen.“
Farrun musterte sie mit unbewegtem Gesicht. Als sie nach einigen Herzschlägen noch immer keine Anstalten gemacht hatte, mehr von diesem Plan zu erzählen, seufzte er leise und nickte. „Und was werdet ihr mit dem Herzen tun, wenn ihr es errungen habt?“
„Worauf wollt Ihr hinaus, Oberster Priester?“, fragte Leander neugierig.
„Ihr sagtet, Themauras war ein Seher.“ Er stand auf, strich sein weißes Gewand gerade und zog ohne zu zögern eine Schriftrolle aus dem großen Regal hinter dem runden Tisch. Behutsam breitete er sie auf dem Tisch aus und Eara erkannte ebenjenen Text, den sie vor mehr als zwei Monden hierhergesandt hatte. Inzwischen kam es ihr eher wie vor zwei Jahren vor.
Eines Tages wird das Ende der Welt bevorstehen, und einer wird kommen, der die Macht der Herzen vereint und als Höchster Prophet der Mutter nur die vereinte Macht beherrschen kann. Er endlich wird der Welt Frieden bringen und den Zwist beenden.“, las Farrun mit bebender Stimme. Dann schwieg er und sah die sechs Gestalten vor sich lange an.
„Wenn ihr ihn nicht aufhaltet, so wird der Ewige Rat die bestehende Ordnung zerschlagen und auf den Trümmern alter Königreiche eine Tyrannei errichten, die auf Unterdrückung und Ketzerei beruht. Er wird die Welt, wie wir sie kennen, vernichten. Ich sage euch, das Ende der Welt steht bevor. Doch wenn ihr obsiegt, dann bringt das Herz des Todes hierher, zu uns. Vereint die Macht der beiden Herzen. Wir Bewahrer leben seit Jahrhunderten an diesem Ort, dennoch konnten wir die wahre Macht des Baumes der Lieder niemals kontrollieren. Aber vielleicht … vielleicht werden wir nur die vereinte Macht beherrschen können. Vielleicht wird sich in unserer Mitte einer finden, der würdig ist. Vielleicht wird einer von uns der Höchste Prophet der Mutter sein, der Heilsbringer, der Friedensstifter.“
„Und bei dieser Person dachtet Ihr an Euch.“, stellte Ken Dorr amüsiert fest.
Farrun rollte das Pergament wieder ein und verstaute es. „Das zu entscheiden liegt nicht an mir. Die Mutter allen Lebens wird wissen, wer diese Ehre verdient. Ich bin nur ihr ergebener Diener.“ Der Oberste Priester schloss scheinbar gleichmütig die Faust um sein Amulett in Form eines goldenen Baumes. Aber er sprach voller Inbrunst, und Eara entging nicht der religiöse Eifer, der in seinen unscheinbaren Augen brannte.


Abenddämmerung, 90. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

Merrik saß mit krummem Rücken an einem Tisch, der fast den halben Raum ausfüllte. Ein Hocker hatte keinen Platz mehr gefunden, daher saß er auf seinem Bett. Er beugte sich über ein Pergament von der Größe des Fußbodens, das zur Hälfte an die Wand gehängt worden war, um überhaupt ohne Knicke in die ansonsten karge Kammer zu passen. Es war Eara ein Rätsel, woher ein so gewaltiges Pergament stammte. Hatte man einen Ochsen am Stück gehäutet?
Merrik hatte die Gäste vor seiner Tür – in die Kammer hätten sie nicht alle hineingepasst – noch nicht bemerkt. Mit flinken Strichen seines Kohlestifts bannte er eine Landschaft auf das untere Ende des Pergaments, in der Eara schon auf den ersten Blick das Graue Gebirge wiedererkannte. Es war nicht die erste Landkarte, die Merrik vom Gebirge zeichnete, dennoch erstaunte es Eara, dass er seine alten Notizen scheinbar gar nicht benötigte. Nur aus der Erinnerung entstanden unter seiner Hand die naturgetreuen Abbilder von Schluchten, Wäldern, Pfaden und Quellen. Selbst auf dem flachen Pergament wirkten die hohen Gipfel der Berge schroff und abweisend, ihre schraffierten Flanken versprachen einen Sturz in die Unendlichkeit. Schon jetzt konnte sie sich in der Betrachtung der Karte verlieren, dabei sah sie erst die Skizze vor sich, später würde Merrik die Kohlestriche mit Feder und schwarzer Tinte festhalten. Zum Schluss würde er in verschiedenen Farben Texte und Pfeile einzeichnen, um aus seinen lebendigen Zeichnungen auch die hervorragenden Karten zu machen, mit denen er berühmt geworden war. Niemandem sonst gelang es wie ihm, mit wenigen Zeichen eine solche Fülle an Einzelheiten unterzubringen.
„Klopf, klopf!“, rief Chada munter und der alte Kartograph sah auf. Kohlestaub hatte sich in seinen weißen Bart gesetzt und ließ ihn fast wieder schwarz wie früher erscheinen.
„Meine Freunde!“, rief Merrik freudig, dann legte er behutsam den Kohlestift in ein Kästchen auf seinem Bett, in dem noch ein Dutzend anderer Stifte von verschiedenen Dicken lag. Er wischte sich die Fingerspitzen an einem grauen Lappen ab, stand vorsichtig auf und schlängelte sich an der angefangenen Karte vorbei nach draußen. In der Freiheit angekommen begrüßte er sie herzlich.
„Merrik, der Kartograph!“, sagte Ken Dorr lächelnd. „Ich habe nur Gutes von Euch gehört!“
Merrik blickte seinen letzten Besucher, bei dem er auf Grußworte verzichtet hatte, unter gesenkten Lidern hervor an. „Was ich von dir nicht behaupten kann, Ken Dorr.“
Der Dieb verdrehte in gespieltem Ärger seine grauen Augen. „Weiß denn hier jeder, wer ich bin? Ich dachte, meine Hilfe wäre geheimgehalten worden.“
Merrik lachte höhnisch. „Man hat uns nicht gesagt, wer du bist. Aber du wurdest schon damals erkannt, als du zum ersten Mal hier auftauchtest.“ Der Ärger, der jetzt seine Falten um Ken Dorrs Mundwinkel grub, kam Eara nicht gespielt vor.
„Täusche ich mich, oder ist deine Kammer ein wenig klein für eine so große Karte?“, meinte Thorn belustigt.
Merrik bedachte seine Arbeit mit einem mürrischen Blick. „Als ich damit anfing, bin ich noch nicht umgezogen … worden.“
„Umgezogen worden?“, hakte Thorn verblüfft nach. „Ich dachte, du wärest freiwillig hierhergekommen, um neben der Kartensammlung zu wohnen!“
„Freiwillig aus meiner bescheidenen Lehmhütte in diese düstere Enge?“ Merrik schüttelte leidenschaftlich den Kopf. „Nein. Der Oberste Priester hat es befohlen und ich habe nicht mehr die Kraft, mich ihm zu widersetzen.“
Chada und Thorn wechselten einen besorgten Blick, Leander runzelte seine blaue Stirn und selbst der apathische Drukil merkte kurz auf, bevor er die Zähne zusammenbiss und seinen inneren Kampf weiterfocht. Eara verzog keine Miene, aber die Formulierung beunruhigte auch sie.
„Angeblich, weil ich alt und blöde geworden bin.“, murmelte Merrik zornig. „Ich! Alt! Ich zähle eben erst 56 Sommer, Farrun ist kaum jünger als ich. Und mein alter Freund Orfen ist jetzt sechzig, und der ist Statthalter!“ Beim letzten Wort schenkte der Kartograph Ken Dorr einen süffisanten Blick, den dieser ignorierte. „Und ich bin nicht blöder, als ich es mein ganzes Leben war!“, ergänzte Merrik aufgebracht.
„Das Wort, das Farrun uns gegenüber benutzte, war wunderlich.“, berichtete Eara freimütig.
Der Kartograph flüsterte einige unfreundliche Worte und sah misstrauisch den leeren Gang hinauf und hinunter. „Gehen wir ein Stück.“, sagte er, dann fügte er leise hinzu: „Die Wände haben Ohren.“
Sie führten eine belanglose Konversation, bis sie den Baum der Lieder und den festlich geschmückten Platz endlich hinter sich gelassen hatten. Als sie in die Stille des verschneiten Waldes eintauchten, platzte es aus Chada heraus: „Was um alles in der Welt ist hier geschehen?“
„Farrun hat den Verstand verloren.“, antwortete Merrik schlicht. „Wir waren ursprünglich ein Orden von Priestern, aber über die Jahrhunderte sind die Bewahrer mehr und mehr zu Archivaren geworden. Nicht alle heißen diese Veränderung gut. Farrun war schon immer sehr fromm, aber seit eurem letzten Besuch ordnet er alles andere der Verehrung von Mutter Natur unter. Der Baum der Lieder ist für ihn neuerdings ein Heiligtum von unermesslichem Wert. Er glaubt, alles, was mit ihm in Verbindung steht, steht auch in Verbindung zur Mutter selbst. Irgendjemand hat ihm Flausen in den Kopf gesetzt.“
Merriks unfreundlicher Blick in Ken Dorrs Richtung zeigte, wen der Kartograph im Verdacht hatte. Eara jedoch bezweifelte, dass der Dieb etwas damit zu tun hatte. Chada, Thorn, Leander und Drukil hatten den Obersten Priester selbst eingeweiht, dass der Baum der Lieder eines der Herzen der Mutter war. Scheinbar war Farrun dieses Wissen zu Kopf gestiegen.
„Meine alte Hütte ist dem Reformwahn des Obersten Priesters zum Opfer gefallen.“, fuhr Merrik fort. „Er lässt die Flüssigkeit abzapfen, die durch die Adern des Baumes fließt, natürlich nur in geringen Mengen. Und irgendwo mussten die Vorräte untergebracht werden. Wasser der Zeit nennt er das ekelhafte Gesöff, nach einem Text von irgendeinem der alten Propheten.“
Leander senkte kaum merklich den Kopf bei diesen Worten. Seine Lippen formten lautlose Worte. Wo zusammenflossen Blut der Ewigkeit, der Staub des Todes und das Wasser der Zeit. Der Seher war aufmerksam. Eara wäre von alleine nichts aufgefallen, dabei hatte sie den Wortlaut der nicht eintreffenden Prophezeiung von Hral, dem Weisen, vor wenigen Stunden erst gehört.
„Farrun hat dich aus deiner Hütte vertrieben, um etwas Wasser aufzubewahren?“, fragte Thorn empört. Ihm schien die merkwürdige Parallele entgangen zu sein.
„Er hat die Bewohner aller Hütten gefragt, ob irgendjemand freiwillig Platz macht. Keiner wollte. Also hat er denjenigen ausgewählt, der am meisten Ärger machte.“
„Ärger?“, wiederholte Thorn fassungslos.
„Erst habe ich mich geweigert, den Baum der Lieder auf meiner neuen Weltkarte in den Mittelpunkt zu setzen. Und als ich dann auch noch dagegen protestiert habe, dass Salae aus den Bewahrern ausgeschlossen wurde, nur weil sie sich weigerte, die allmorgendlichen Messen zu besuchen …“ Merrik verstummte vielsagend.
„Eine Messe jeden Morgen?“, vergewisserte sich Chada. „Früher hatten wir eine in zehn Tagen, und selbst das war mir schon zu häufig.“
„Früher hieß der Oberste Priester noch Melkart. Farrun hat einen Feldzug gegen den Zweifel begonnen. Er möchte die Entkommenen, die unter den Krahdern teilweise nie etwas von Mutter Natur hörten, ins Licht führen, wie er es formuliert. Als erstes hat er alle Flüchtlinge fortgeschickt, die sich nicht zum Glauben an Mutter Natur bekennen wollte – um die Übrigen vor ihren Irrlehren zu schützen. Keine Sorge, nur die wenigsten waren so dumm.“
„Auch die Verwundeten?“, fragte Eara gelassen. Nur sie selbst spürte den Ärger, der in ihr keimte und den sie tief in sich einschloss, auf dass die Schwäche verkümmern möge.
„Nein, so weit würde Farrun zum Glück nicht gehen. Dafür ist er viel zu sehr von der Heiligkeit allen Lebens überzeugt.“ Merrik seufzte schwer. „Mittlerweile hat er Dutzende Würdenträger ihrer Ämter enthoben und durch seine Anhänger ersetzt. Einige sind vollkommen unfähig, aber da unser Seelenheil für Farrun wichtiger ist als leibliches Wohl, spielt das wohl keine große Rolle. Einzig Melkart wagt es noch, unserem geschätzten Obersten Priester ab und an Widerworte zu geben.“
Es war mittlerweile dunkel geworden. Falls die Sonne noch nicht gänzlich untergegangen war, so erreichten ihre Strahlen doch niemanden mehr, der unter den schneebedeckten Baumwipfeln wanderte. Die Luft kühlte merklich ab und ohne ein Wort zu sagen machten sie einträchtig kehrt, der erschöpfte Drukil mit leichter Verspätung.
„Zumindest glaubt er an das, was er tut.“, murmelte Chada bedrückt. „Er meint es gut.“
„Leider!“, bestätigte Merrik. „Wenn es ihm nur um Macht ginge, dann könnte er schon lange aufhören. Aber er hat eine Vision. Er möchte die ganze Welt läutern, angefangen mit den Bewahrern. Er wird bis zum Letzten gehen, um seinen heiligen Glauben zu verbreiten.“
Sie schwiegen und trotteten durch den Schnee zurück zum Baum der Lieder. Eara betrachtete aufmerksam ihre Spuren vom Hinweg und musterte auch den Boden in der Umgebung. Der Mond stand rund und gelb am Himmel und bestrahlte eine makellose Schneedecke, die weiße Fläche nur von den gezackten Schatten der Äste in unzählige Splitter geteilt. Falls irgendjemand sie oder Merrik im Auftrag Farruns belauschte, hatte er keine für Eara sichtbaren Spuren hinterlassen.
„Aber genug davon!“, meinte Merrik schließlich. „Warum habt ihr mich besucht? Wie kann ich euch helfen?“
Leander stieg leichtfüßig über einen morschen Ast; woher er von dem Hindernis wusste, war Eara schleierhaft. „Stell dir vor, du hast eine der Früchte vom Baum der Lieder.“, setzte der Blinde an. „Du bringst sie zum Weißen Kliff und wirfst sie ins Meer. Du siehst zu, wie sie davontreibt, vermutlich nach Osten. Wo wäre sie in einem Jahr?“
Merrik blieb so abrupt stehen, als sei er gegen eine Wand gelaufen. „Ihr sucht nach der toten Frucht.“
„Ist das ein Problem?“, fragte Eara ruhig.
Merrik lachte schallend und scheuchte einen späten Vogel aus seinem Versteck. „Nein! Aber ich musste mir soeben Ladons Gesicht vorstellen, wenn er davon erfährt.“
Der Kartograph rieb sich die Hände gegen die Kälte und setzte seinen Weg fort. „Die Strömung fließt im Süden des Hadrischen Meeres fast durchgehend nach Osten, wenn die tote Frucht also unterwegs nicht angespült wurde, müsste sie inzwischen den Stürmischen Ozean erreicht haben. Was aber ab dort mit ihr geschehen sein könnte, kann ich euch nicht sagen. Ich habe die Barbarenlande durchstreift und kartographiert, aber bis auf die Küstenlinie ist mir der Stürmische Ozean unbekannt. Eigentlich hatte ich vor, ihn im vergangenen Jahr zu befahren und womöglich einen Blick auf die Himmelssäule zu werfen, aber dann kam mir eine Reise ins Graue Gebirge dazwischen. Und seitdem ist meine Abenteuerlust verraucht.“
„Die … Himmelssäule?“ Leanders Stimme klang laut durch den eingefrorenen Wald. „Ich kenne eine alte Geschichte, in der von ihr die Rede ist. Doch dies ist das erste Mal, dass ich sonst von ihr höre. Was ist sie?“
Merrik blickte gedankenverloren ins Leere. Erst nach einem Dutzend Herzschlägen antwortete er schließlich: „Ein alter Druide in einem der Küstendörfer erzählte mir davon. Da die Welt immer wieder aus ihrer Verankerung riss und in die Himmelsschüssel fiel, wobei sie stets großen Schaden anrichtete, ließen die Sternenraben schließlich eine gewaltige Birke wachsen, deren Äste sich erst unter den Wellen des Stürmischen Ozeans ausbreiteten und die die Welt stützte. Die Himmelssäule. Doch als nach dem Friedensschluss mit den Blausplittern die Ära der großen Totemtiere begann, verblasste auch der Baum, und nur alle fünfhundert Jahre erscheint er in dieser Welt. Für ein Jahr kann man seinen Stamm aus der Ferne sehen, bevor er wieder verschwindet.“
Himmelsschüssel? Blausplitter? Eara hatte nur die Hälfte verstanden, aber die Mythen der Barbaren interessierten sie nicht sonderlich und Leander kannte sie vermutlich alle schon. Zumindest fragte er nicht nach.
„Der Druide war sich sicher, dass er das Jahr der Himmelssäule bestimmen konnte und er hoffte, dass er bis dahin noch am Leben wäre. Ich vertraue mündlichen Überlieferungen nur eingeschränkt und die Geschichte in ihrer Gesamtheit erscheint mir nur wenig glaubwürdig, aber wenn der Alte sich nicht täuschte, dann war die Himmelssäule das vergangene Jahr über zu sehen. Es wäre der perfekte Zeitpunkt für meine geplante Reise gewesen und damals war ich sehr neugierig.“
Doch es heißt, dass zweimal im Jahrtausend, wenn die Himmelssäule an Größe gewinnt, die Glocken in der Tiefe läuten und Solantis für eine Stunde aus den Fluten auftaucht.“, hauchte Leander fassungslos. „Zweimal im Jahrtausend. Alle fünfhundert Jahre. Derselbe Zyklus, in dem sich die Herzen der Mutter erneuern. Der Zusammenhang hätte mir auffallen müssen!“
Bis auf Merrik erstarrten sie alle. Der Kartograph sah den Seher nur verwirrt an. „Hätte er nicht!“, erwiderte Eara, bevor Merrik eine Frage stellen konnte. „Fünfhundert ist die Hälfte eines Jahrtausends und bietet sich daher für Übertreibungen an. Falls tatsächlich ein Zusammenhang besteht …“
„Das tut er!“, unterbrach Leander sie überzeugt. „Fünfhundert Jahre allein haben noch nichts zu bedeuten, aber die tote Frucht wuchs letztes Jahr am Baum der Lieder – im selben Jahr, in dem nach der Aussage dieses Druiden auch die Himmelssäule erschien. Soll das etwa Zufall sein?“ Er schien keine Antwort zu erwarten. „Wenn es mir nur früher aufgefallen wäre, dann hätten wir rechtzeitig dorthinkommen können. Doch diese Chance ist nun vertan. Mit der heutigen Nacht geht unser Jahr zu Ende.“
„Unser Jahr schon.“, merkte Chada zögernd an. „Aber wieso muss diese … Himmelssäule ausgerechnet zu Mittwinter auftauchen?“
Leander hielt inne, ein feines Lächeln umspielte seine blauen Lippen. „Das ist genial! Die Himmelssäule ist unser bester Ansatz auf der Suche nach dem Samen. Wenn sie noch nicht verschwunden ist … Merrik, wo genau hat dieser Druide die Himmelssäule vermutet?“
„Ich weiß nur, dass sie irgendwo im Stürmischen Ozean sein soll, bei mittlerem Wind also mindestens neun Tage auf dem Schiff von hier. Aber falls sie noch nicht verschwunden ist, sollte sie kaum zu verfehlen sein. Wenn ihr tatsächlich vorhabt, nach ihr zu suchen, dann haltet euch in Küstennähe, bis ihr einen weißen Strich in den Himmel ragen seht.“
Sie näherten sich wieder der Lichtung. Eben gingen einige Bewahrer umher und zündeten die bunten Lampions an, die im Laufe des Tages aufgehängt worden waren. Andere bereiteten ein großes Feuer vor, das wohl im Zentrum der Lichtung brennen sollte.
„Wenn du möchtest, kannst du uns begleiten.“, schlug Eara vor. „Noch hast du eine Gelegenheit, den Stürmischen Ozean zu besuchen und vielleicht sogar die Himmelssäule zu sehen. Außerdem kannst du so den Anwandlungen des Obersten Priesters entgehen.“
Merriks Mund klappte auf, aber Eara war nicht minder erstaunt über ihr eigenes Angebot. Sie hatte es gesagt, ohne sich mit den anderen zu beraten oder – und das war das schlimmste – gründlich darüber nachzudenken. Sie hatte einfach nur einem Abenteurer einen Gefallen tun wollen, ohne davor die Konsequenzen abzuwägen. Wie vertrauenswürdig war Merrik eigentlich? Und würde er sie nicht höchstens aufhalten, obwohl doch so viel von ihrem Erfolg abhing? Was war der Wunsch eines Kartographen im Vergleich zum Wohl einer ganzen Welt?
„Ich danke dir, Eara.“, flüsterte Merrik mit feuchten Augen. „Aber ich habe mehr als genug Reisen für zwei Leben hinter mir. Ich werde mich schon mit Farrun arrangieren. Bringt mir ein Stück Rinde von der Birke mit.“
Eara ließ sich ihre Erleichterung nicht anmerken. Der Vorfall war schon besorgniserregend genug. Die Stimme der Schwäche! Hatte sie kurzzeitig die Kontrolle übernommen? So wie an dem Tag, an dem sie ihre Hand verloren hatte? Eara schloss ihre Hand fester um ihren schwarzen Stab. Sie hatte über ihre Schwäche triumphiert und alle Gefühle ausgebrannt, daran konnte kein Zweifel bestehen. Oder?


Mondhoch, 90. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

„Bloddar! Bloddar!, riefen sie. Blut! Blut! Uns allen standen die Haare zu Berge beim Anblick der anrückenden Horde und wir …“
Leander erhob seine Hand und brachte sie zum Schweigen. „Hervorragend!“, freute er sich. „Wieder eine Vokabel! Bloddar bedeutet also Blut. Und dann scheint saatogen tatsächlich Adern zu meinen.“ Er schnappte nach Luft. „Bei der Vorsehung! Dann heißt bloddag vadostyl übersetzt Blut der Ewigkeit! Wenn noch irgendein Zweifel bestand, dass Themauras´ Übersetzung wichtig ist, dann ist er hiermit ausgeräumt.“
Leander sprang von seinem Hocker auf und tigerte zwischen den Regalen hin und her. „skykkattissyr bloddag vaddostyl keetom saatogen aelkrissyl. Er sendet das Blut der Ewigkeit durch die Adern des Weltenkreises. Nein, als Partizip … das Blut der Ewigkeit durch die Adern der Welt schickend! Bleibt die Frage, was ein thinghudyr eigentlich ist …“
Eara legte das rissige Pergament beiseite und beobachtete, wie der Seher seinen zerstückelten Text um die fehlenden Worte ergänzte. „Warum bin ich hier?“, unterbrach sie seine Gedanken.
Leander hielt inne und wandte sein Gesicht in ihre Richtung. „Ist das eine existentialistische Frage?“
„Warum soll ich dir diese Texte vorlesen?“, präzisierte Eara.
Leander legte den Kopf schief. „Weil ich sie nicht selbst lesen kann? Es sind Momente wie diese, in denen ich meine Sehkraft am meisten vermisse.“
„Warum ausgerechnet ich? Du hättest jeden Bewahrer fragen können, weshalb soll gerade ich die Schriftrollen nach allem durchsuchen, was mit der vergessenen Barbarensprache zu tun hat?“
Leander schritt zum kleinen Doppelfenster der Kammer und lehnte sich aus dem rechten der beiden. „Hör sie dir doch an!“, rief er in die Nacht. „So lustig! So glücklich! Wie hätte ich einen von ihnen aus seiner Freude reißen können?“
Eara stand auf und lehnte sich aus dem anderen Fenster. Unten auf dem Platz brannte ein riesiges Feuer, umgeben von einem guten Dutzend kleinerer. Der Schnee auf den Dächern und Baumwipfeln leuchtete golden im flackernden Licht. Drumherum tanzten ausgelassen die Bewahrer. Sie sangen und johlten, während einige von ihnen, gekleidet in bunte Tücher, schwarz bemalte Puppen in die Flammen warfen, die wohl die Mächte des Chaos symbolisierten. In Earas Augen war es zutiefst unlogisch, ausgerechnet das Chaos in nur einer einheitlichen Farbe darzustellen, während die Streiter der Ordnung sich wie wandelnde Regenbögen herausgeputzt hatten. Aber vermutlich waren Religion und Logik einfach unvereinbare Gegensätze.
„Und du hattest keine Lust auf einen lallenden Vorleser?“, vermutete sie mit einem Blick auf die Fässer, die zwischen den Lehmhütten bereitstanden. Sie bezweifelte, dass es sich bei ihnen allen nur um Löschwasser handelte.
Leander schmunzelte. „Das auch. Wir brechen morgen früh auf, bis Sonnenaufgang möchte ich noch möglichst viele Wörter übersetzt haben.“
„Und warum nicht Drukil? Er wird die Feier auch nicht eben genießen.“
„Abgesehen davon, dass er nicht lesen kann, meinst du? Ich hoffe, er findet ein wenig Schlaf.“
Eara unterdrückte ihre Verärgerung.Natürlich konnte der Hautwandler nicht lesen! „Schlaf? Im Wald? Wie sollen wir morgen einen Bären mit an Bord nehmen?“
„Er hat den Bären den ganzen Tag bekämpft.“, erläuterte Leander. „Ich hoffe, das genügt, um ihn selbst im Wald für eine Nacht zurückzuhalten. Nur wenn Drukil heute einschläft und morgen als Mensch erwacht, wird er seine Angst vor sich selbst vielleicht überwinden können. Er muss sehen, dass er sich kontrollieren kann, dass er keine Bedrohung darstellt.“
Eara betrachtete skeptisch das Gewimmel um das große Feuer. Sie bezweifelte, dass Drukil würde einschlafen können, egal wo er sich aufhielt.
Leander trat vom Fenster zurück und setzte sich wieder auf seinen Hocker. „Machen wir weiter, Eara!“, forderte er. „Die Nacht ist noch lang.“


Morgendämmerung, 1. Dunkeltag 77 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

Farrun breitete langsam seine Arme aus, der weiße Stoff leuchtete noch heller als der Schnee. „Ein großes Jahr liegt hinter uns. Ein Jahr der Einsamkeit und des hoffnungsvollen Bangens. Ein Jahr des Triumphes und des scheinbaren Sieges. Ein Jahr voll von großem Entsetzen und zerschlagenen Träumen. Ein Jahr, das keiner von uns jemals vergessen wird, bis Mutter Natur unsere Seelen von den Schrecken unseres vergangenen Lebens befreit.“
„Er hält wirklich keine fünf Sätze ohne eine Erwähnung seiner Göttin aus.“, raunte Leander ihr zu. Dann rückte er noch ein Stück näher an die wärmende Glut heran. Sobald Eara sich an dem erloschenen Nebenfeuer niedergelassen hatte, waren die Bewahrer hastig aufgestanden und hatten sich einen anderen Platz gesucht. Wer seine Feierstimmung aufrechterhalten wollte, ertrug den dunklen Nebel um sie nur schlecht.
„Die Zukunft liegt in Finsternis.“, rief der Oberste Priester getragen. „Alte Feinde haben sich in ihrem Unleben zu neuer Macht erhoben und gefährden alles, was wir für sicher hielten. Die Tage sind kurz wie zu keiner anderen Zeit, die Nächte dagegen lang und kalt.“
Das konnte wirklich nur jemand sagen, der noch nie in Hadria gewesen war. Um diese Zeit zeigte die Sonne dort für fast einen halben Mond ihr lachendes Antlitz nicht. Und kalt … die Temperaturen im Wachsamen Wald waren geradezu sommerlich.
„Die Flammen des Lebensfeuers sind fast erloschen.“ Eara konnte nur rätseln, ob sich Farrun damit auf die verkohlten Scheite des großen Feuers zu seinen Füßen bezog oder ob es eine theologische Anspielung war.
„Und ausgerechnet ein Dunkeljahr erwartet uns, wo wir uns doch so sehr nach Licht sehnen.“
„Was für ein Humbug!“, flüsterte Leander empört. „Dunkeljahre sind nicht dunkler als alle anderen auch. Als Astronomen bemerkten, dass 365 Tage pro Jahr nicht ausreichten, hätte man den überzähligen Tag ebensogut als zweiten Lichttag anstatt als dritten Dunkeltag bezeichnen können, dann wäre jetzt alle vier Jahre ein Lichtjahr.“
„Das waren gerade fünf Sätze ohne Mutter Natur.“, entgegnete Eara geistesabwesend.
„Doch die Heilige Mutter wacht über uns!“, rief Farrun freudig. Leander schenkte Eara ein vielsagendes Lächeln und senkte dann wieder den Kopf. „Sie steht uns bei, in dunklen wie in lichten Zeiten. Nun liegt es an uns, die Dunkelheit nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Hoffnungsschimmer zu betrachten. Denn es ist nicht der falsche Schein eines glücklichen Lebens, der uns in die Arme der Lebensspenderin treibt. Nein, die Erfahrung zeigt, dass gerade Entbehrung und Leid uns verdeutlichen, wie nötig wir ihren Trost haben. Der Ewige Rat ist ein Werkzeug des Chaos, aber vielleicht können wir die vielen verlorenen Seelen dieser Welt auch durch die Dunkelheit ins Licht führen. Wenn wir es wagen, Verantwortung zu übernehmen. Ich sage, es ist an der Zeit, die alten Vorstellungen zurückzulassen. Wir haben die Jahrhunderte unter diesen Bäumen überdauert und viel Wissen aufgezeichnet. Jeder zweite der vierundzwanzig Propheten wirkte an diesem Ort, jeder dritte von ihnen erfuhr sogar hier seine Erleuchtung und konnte uns erleuchten. Nun ist es an der Zeit, dieses Licht in alle Welt hinauszutragen.“
„Wie seltsam. Mein schwacher Geist hätte erwartet, dass die Menschen mehr von Vorräten und Kleidung als von leeren Worten haben.“, sagte Eara leise zu Leander.
Der Blinde schüttelte in gespieltem Entsetzen den Kopf. „Jedes Leben ist endlich!“, deklamierte er. „Aber wenn wir die Verirrten nicht so früh wie möglich läutern, dann wird die Heilige Mutter ihre Seelen womöglich über Jahrhunderte reinigen müssen, ehe sie sie wieder in den heiligen Kreislauf des Lebens einspeisen kann.“
„Nicht schlecht. Du hörst dich genau wie der Oberste Priester an.“
„Oh Eara, du zeigst doch nicht etwa Humor?“, erwiderte Leander grinsend. Sie stockte und legte ihre dunkle linke Hand auf ihre Brust.
„Was ist, sind dir die Worte ausgegangen, mit denen du dich selbst belügst? Ist dir klar geworden, dass auch du fühlen musst?“
„Der Weg des Eises …“, begann sie stockend.
„Ist nur eine Metapher!“, beendete Leander ihren Satz abfällig. „Mag sein, dass du deine Gefühle unterdrückst. Aber ausgelöscht hast du sie nicht.“
Eara schloss ihre Augen. „Du täuschst dich!“, behauptete sie mit schneidender Stimme.
„Nun sei nicht beleidigt!“, meinte Leander ruhig. „Gefühle sind nichts Schlechtes. Einige sollte man bezähmen, wie Hass, oder Zorn. Aber es gibt auch Gefühle, die niemals schaden können. Mitleid. Freundschaft.“
Eara starrte in die Glut des kleinen Feuers. „Liebe?“
„Nein!“ Der Seher schrie das Wort fast, bevor er es leiser wiederholte: „Nein. Die Liebe gehört nicht dazu. Kein Gefühl richtet größeren Schaden an. Alles wahrhaft Grauenhafte, was wir tun, lässt sich auf Liebe zurückführen. Ein purer Egoist wie Ken Dorr würde niemals mehr tun, als ihm nützt. Aber die Liebe verleitet uns zu Taten, die über jedes Maß hinausgehen.“ Er erschauderte. „Glaub mir, Eara. Ich weiß, was ich getan habe, und weshalb.“
„Wer war sie?“, flüsterte sie ihm zu.
Leander schüttelte langsam den Kopf. „Er.“ Mehr sagte er nicht. Nur dieses eine Wort.
Eara blinzelte und schwieg viele Herzschläge. „Pass bloß auf, dass das der Oberste Priester nicht erfährt.“, ermahnte sie schließlich.
Leander öffnete den Mund und stockte. „Warum soll … Was hat Farrun denn noch alles angerichtet?“
„Bisher nichts. Aber ein Bewahrer hat mir erzählt, dass er sich vor kurzem zu dem Thema geäußert hat.“, berichtete Eara. Fast war sie froh, nicht länger über ihre eigenen Emotionen sprechen zu müssen. Aber natürlich nur fast. „Er sagte wohl, Mutter Natur sei die Göttin von Liebe, Leben und Fruchtbarkeit. Eine Liebe aber, die keine Fruchtbarkeit in sich birgt und die niemals ein Leben hervorbingen wird, habe diesen Namen nicht verdient.“ Eara bemerkte, dass sich eine Verachtung in ihren Tonfall schlich, die sie nicht bewusst dort hineingelegt hatte. Sie schloss die Augen und drängte die Stimme der Schwäche zurück.
Leander wandte seinen Kopf in Richtung des Obersten Priesters, der noch immer am erloschenen Feuer predigte. „Hoffen wir, dass er seinen Worten niemals Taten wird folgen lassen.“ Ein spöttischer Unterton schlich sich in seine Stimme. „Aber selbst seine entsetzlichen Worte entstammen der Liebe – in diesem Fall die falsch verstandene Liebe zu seiner Göttin. Mitleid ist gut. Liebe aber ist gefährlich.“
„Jedes Gefühl ist gefährlich.“, widersprach Eara. „Dein Mitleid wird nie allen im gleichen Maße gelten. Es ist nicht unparteiisch. Wenn du deinem Mitleid vertraust, dann wirst du diejenigen bevorzugen, in die du dich besser hineinversetzen kannst.“
„Wenn nur alle etwas mehr Mitleid zeigen würden, dann könnten wir in Eintracht nebeneinander leben, anstatt uns zu bekriegen. Der Ewige Rat hätte nie existiert.“
Es wird aber immer einige geben, denen Mitleid fremd ist, dachte Eara. Und die Stimme der Schwäche spottete: Das eigene Mitleid abzutöten, wird daran bestimmt nichts ändern.
„Aber selbst wenn du recht hast und sogar Mitleid schlechte Seiten hat, kommst du um Gefühle trotzdem nicht herum. Leugne es, so viel du willst, ich weiß es besser!“
„Wie kommst du bloß auf diese Vorstellung?“, fragte sie ruhig.
„Warum bist du hier, Eara?“
Sie musterte das erwartungsvolle Gesicht des Sehers. „Ist das eine existentialistische Frage?“
Leander grinste kurz. „Weshalb tust du, was du tust? Welchen Grund hast du, irgendjemandes Leid zu verhindern?“
„Leid ist schlecht. Deshalb versuche ich, so viel davon wie möglich abzuwenden.“, erklärte Eara kurz angebunden. Hatten sie das alles nicht schon einmal besprochen?
„Nicht so voreilig, Eara!“, flüsterte Leander belustigt. „Das sind gleich zwei Annahmen, die du nicht aus reiner Logik heraus folgern kannst. Woher willst du wissen, dass Leid schlecht ist? Wir, die wir noch zu Empfindungen imstande sind, vermeiden Leid, aber ein Stein vermeidet es auch, nach oben zu fallen. Erst wenn du selbst ein Leid gespürt hast, kannst du wissen, dass es etwas Schlechtes ist.“
Eara zögerte und die Stimme der Schwäche bestürmte sie. „Aber ich habe es gespürt.“, erwiderte sie. „Über viele Jahre hinweg. Die Erinnerung existiert noch immer.“
Leander hielt seine steifen Finger über die Glut. „Du bist mehr als nur eine Maschine mit deinen Erinnerungen! Die Vernunft ist doch für uns alle nur Mittel zum Zweck, ein bloßes Werkzeug. Bevor da anfangen kannst, sie anzuwenden, brauchst du erst einen Grund, warum du sie anwenden solltest. Und dieser Grund muss wieder einen Ursprung haben. Auch wenn du anerkennst, dass Leid schlecht ist, welche Motivation hast du dann, etwas dagegen zu tun? Welche Motivation hast du, auch nur darüber nachzudenken? Welche Motivation hast du, aus eigenem Antrieb irgendetwas zu tun als mit leerem Blick in der Ecke zu liegen?“
Eara presste ihre dunkle Hand schmerzhaft fest in ihre Brust und suchte verzweifelt nach einer Antwort, die es nicht gab.
„Keine!“, verkündete Leander triumphierend. „Ohne Prämissen keine Konklusion. Vernunft folgt niemals nur aus sich selbst heraus. Erst Gefühle sind ein Anreiz dafür, die eigene Vernunft auch anzuwenden. Ohne sie wärest du nur ein kompliziertes Uhrwerk ohne Gewicht, eine Mühle auf dem Trockenen. Gefühle sind die Triebfeder deines Handelns, die Vernunft kann erst wirken, wenn eine Emotion sie antreibt. Du willst deine Gefühle unterdrücken, aber jedes Wollen geht unweigerlich auf Gefühle zurück. Du kannst deine Emotionen niemals vollkommen auslöschen, Eara. In dem Moment, in dem dir das gelingt, fällst du reglos zu Boden und stehst nicht wieder auf.“
Das war entsetzlich! Auch die Stimme der Schwäche hatte schon versucht, Eara von der Notwendigkeit ihrer Gefühle zu überzeugen versuchte. Aber Leander berief sich nicht auf die angebliche Überlegenheit von Emotionen, oder auf das, was die Kälte in ihr bewirkte, sondern bewies sie mit seiner Vernunft. Er bekämpfte Eara mit ihren eigenen Waffen.
Eara griff hastig nach ihrem schwarzen Stab, der neben ihr auf dem Boden lag. Leander sabotierte die Mauern, die sie um ihr Herz errichtet hatte, er durchbrach ihre Widerstände und er wusste nicht, was er damit anrichtete. Er würde das Monster freilassen!
„Alles, was du tust, geht auf Gefühle zurück.“, setzte Leander unbarmherzig nach. „Wenn du den Glauben aufrechterhalten willst, dass deine Handlungen gut sind, dann musst du auch akzeptieren, dass Gefühle gut sind. Und wenn du das akzeptiert hast …“
„Du irrst dich!“, protestierte Eara viel zu hastig, um glaubwürdig zu sein. „Meine Gefühle sind ausgelöscht! Ich handle nur nach meiner Vernunft!“ Sie brach ab und sammelte sich. „Aber selbst wenn du recht hast, folgt aus deinen Thesen noch lange nicht, dass ich mehr Gefühle zulassen sollte. Dass sie Ursache meiner Ziele sind bedeutet noch lange nicht, dass sie auch ein gutes Mittel sind, um diese Ziele zu erreichen. Macht es wirklich einen Unterschied, ob meine Emotionen ausgelöscht sind oder nur so tief begraben, dass man sie niemals mehr wird befreien können?“
„Sag niemals nie! Du hast einen Panzer aus Eis um dein Herz gelegt, aber wir können ihn schmelzen. Die Glut deiner Gefühle kannst du nicht löschen, aber wir können sie anfachen.“
„Das können und das werden wir nicht!“, verlangte sie. „Du hast keine Ahnung, was du damit anrichten würdest! Du weißt nicht, was ich getan habe!“
Kleine Hände, die ein Stück Brot brechen. Ein strahlendes Lächeln. Augen voller Grausamkeit, die sich in Furcht verwandelt. Eine Kette von Schreien, zerrissen nur durch abgehackte Schluchzer und vergebliches Flehen, schrill und kreischend, quälend laut, ewig andauernd, nicht verstummend, niemals endend, nachhallend bis jetzt. Eara schloss die Augen und konnte doch kein Bild und kein Geräusch ausschließen. Nie wieder!
„Und du weißt nicht, was ich getan habe.“, versuchte es Leander, doch Earas Entschluss stand fest.
„Und wenn schon! Du hast Varkur nicht kennengelernt. Ich aber habe gesehen, wohin es führt, wenn ein Dunkler Magier seinen Gefühlen freien Lauf lässt. Ich bin ein Monster, Leander, gefährlicher als Drukil. Ich kann das Monster kontrollieren. Gefühle aber sind Schwäche! Wenn ich die Schwäche freilasse, wird sie mich zersetzen, dann euch, dann alles um mich herum.“
„Gefühle sind keine Schwäche.“, versicherte Leander schlicht.
Earas Blick ruhte auf den glühenden Kohlen unter Leanders blauen Fingern. Langsam ließ sie ihren Stab los, hob ihre gesunde Hand und drückte sie in die Hitze. Schmerz raste durch ihre Adern, aber kein Feuer brannte heißer als Dunkle Magie und die Qual reinigte sie nur von den Emotionen, die immer weiter emporsteigen wollten. Die Stimme der Schwäche war verletzlich, ihr allein konnte der Schmerz noch etwas anhaben.
Leander runzelte die Stirn und benötigte einige Herzschläge, um zu begreifen. Dann schrie er entsetzt auf und packte ihren Arm, zerrte daran. Eara hielt noch einen weiteren Herzschlag stand, dann ließ sie zu, dass er ihre Hand aus der Glut zog. Wo die Holzkohle keine schwarzen Flecken hinterlassen hatte, war die Haut auf ihrer Hand rot und rau, von hässlichen braunen Brandblasen übersät. Selbstekel erfasste sie, ehe auch er vor dem Schmerz kapitulierte. Eara berührte mit dem Schatten ihrer linken Hand kurz das Handgelenk ihrer rechten und die Hitze erstarb.
„Was machst du denn?“, schrie Leander fassungslos. „Was sollte das? Willst du deine zweite Hand auch noch verlieren?“ Einige Bewahrer blickten verärgert zu ihnen hinüber, bevor sie sich wieder auf Farruns Rede konzentrierten.
Woher wusste der Blinde überhaupt, dass sie ihre Hand verloren hatte? Vermutlich hatten die anderen es ihm erzählt, nur dass er im Gegensatz zu ihnen kein Unwohlsein bei dem Gedanken daran zu verspüren schien.
„Eine empirische Beweisführung, um meine Argumentation zu unterstützen.“, sagte Eara ruhig, während sich ihr Puls wieder beruhigte. „Gefühle können mich nicht beeinflussen, auch Schmerz nicht. Selbstverständlich hätte ich die Hand nicht so lange dort unten gelassen, dass bleibende Schäden entstehen könnten. Ich kann die Verletzungen problemlos heilen.“
Sie richtete ihren Blick auf die verunstaltete Haut, umklammerte mit der dunklen Hand ihren Stab und murmelte eine Formel, um ihre Konzentration zu stärken. Sie spürte ihre Hand. Nicht den Schmerz, nicht durch ihre Nerven, denn die waren betäubt, aber mit den Sinnen der Zauberei. Sie spürte, wie ihre Hand sein sollte. Rein, unverletzt, makellos. Das Fleisch hatte sich noch nicht an seine Versehrtheit gewöhnt, noch störte die Verletzung die Ordnung der Welt.
Ein hellblaues Licht entflammte an der Spitze ihres Stabes, als der Zauber zu wirken begann. Die arkanen Energien flossen aus ihrem Körper in den Stab und zurück in die verbrannte Hand. Trockene Schuppen rieselten zu Boden, die Brandblasen lösten sich zu feinem Staub auf und junge Haut kam unter den Verbrennungen zum Vorschein. Nach drei Herzschlägen sah ihre Hand aus, als hätte sie nie in einem Feuer gelegen.
Eara nahm eine von Leanders Händen in ihre eigene. „Spürst du die Haut, so glatt wie ehedem? Mir kann nichts geschehen. Der Schmerz kann mir nichts anhaben. Weil ich die Schwäche verbannt habe. Du sagst, Gefühle seien keine Schwäche? Dann beweise es!“
Sie führte seine Hand zur Glut. Leander begann leicht zu zittern, dann entriss er ihr die blauen Finger. „Deiner Hand wird nichts geschehen, Leander. Ich kann sie sofort heilen. Lege sie zwischen die Kohlen, ertrage den Schmerz und zeige mir, dass ich Unrecht habe.“
Seine Hand zuckte zur Hitze hin, dann verkrampfte sie sich und er legte sie auf seinen Schoß. „Ich werde mich nicht auf diese albernen Mutproben einlassen.“, presste er hervor.
„Ich sehe deine Angst, Leander.“, flüsterte Eara. „Du fürchtest dich so sehr. Nicht vor dem Schmerz, aber davor, nach deinem Augenlicht auch noch deinen Tastsinn einzubüßen. Ganz egal, wie sehr dein Verstand weiß, dass nichts geschehen kann, deine Furcht ist mächtiger. Dein Gefühl, deine Schwäche, kontrolliert dich.“
Leander schwieg und Eara rutschte wieder auf ihren alten Platz zurück. Gemeinsam hörten sie dem Obersten Priester bei seiner Rede zu. „Darum vertraut in die Mutter allen Lebens, glaubt an ihre Gnade und ihre Macht. Der Ewige Kreislauf geht fort und fort. Und auf jede Dunkelheit folgt ein neues Licht.“
Farrun hielt erwartungsvoll die Luft an, als die ersten Sonnenstrahlen des neuen Jahres ihren Weg durch die Baumwipfel suchten. Ein einzelner Lichtspeer fand durch die rauchgeschwängerte Luft des Festplatzes, traf genau in sein Gesicht. Ein seliges Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Obersten Priesters aus. Eara musste zugeben, dass er sich den perfekten Moment für seine Worte ausgesucht hatte.
Er griff nach dem goldenen Baum auf seiner Brust, riss sich das Schmuckstück vom Hals und hielt es ehrerbietig in die Höhe. „Nach jedem Jahr, das vergeht, beginnt ein neues. Für jedes Leben, das erlischt, wird ein weiteres entstehen. Auf jeden Tod folgt ein neues Leben, auf jedes Ende folgt ein neuer Anbeginn, und wie in jedem Neubeginn auch eine Ahnung des Ausganges schon enthalten ist, so enthält auch jedes Ende zugleich eine Ahnung des Neuanfangs. Nur der stete Wechsel ermöglicht eine Veränderung, Werden und Vergehen halten sich stets im Gleichgewicht.“ Er führte den Baum vor sein Gesicht und drückte seine Lippen darauf.
„Aus Tod erwächst neues Leben!“ Die letzten Worte sprachen alle Bewahrer gemeinsam, und auch Eara sprach sie mit, ohne an sie zu glauben. Sie übertönten zumindest die aufdringliche Stimme der Schwäche, die wieder und wieder die gleiche Frage stellte: Wen sollte die Hand im Feuer wirklich überzeugen? Leander? Oder dich selbst?
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G - Das schwarze Herz

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:18

G – Das schwarze Herz

Abenddämmerung, 1. Dunkeltag 77 A.Z.
Kaserne der Rietburg, Andor

Die breite Silhouette des Statthalters zeichnete sich deutlich gegen die lodernden Flammen im Kamin ab. Sein graues Haar war fast vollständig unter dem breiten Verband verschwunden, den Janis selbst ihm unter Readems aufmerksamen Blicken angelegt hatte.
„Seid gegrüßt, alle miteinander!“, begann Orfen stockend. Janis wusste, dass er Reden wie diese auch nach all der Zeit als Statthalter Andors noch immer verabscheute. „Ich weiß, dass dies eigentlich ein Tag des Feierns sein sollte. Mittwinter, der Beginn eines neuen Jahres, der Zeitpunkt, zu dem die Tage wieder länger werden. Ich bedaure sehr, dass die Festlichkeiten dieses Jahr zurückgestellt werden müssen. Wer darüber ganz zurecht zornig ist, kann den Feinden da draußen bei Gelegenheit einen Tritt von mir verpassen. Ich selbst komme ja nie dazu.“
Leises Gelächter brandete im Speisesaal der Kaserne auf. Die Kreaturen gelangten bei ihren unregelmäßigen Kurzangriffen immer wieder auf die Mauern. Sobald aber der Statthalter erschien, nahmen sie fluchtartig reißaus. Es hieß, ihre Angst vor Orfen sei so gewaltig, dass sie lieber den Zorn ihres Feldherrn ertrugen. Dass sie es in Wahrheit auf Nomions Befehl hin taten, wusste nur Janis.
„Jedenfalls ist dieses Jahr bisher kein gutes Jahr zum Feiern. Ich möchte nichts beschönigen, unsere Situation ist beschissen. Die Heerscharen des Feindes sind mal wieder reichlich ausgedünnt, doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Geist mit der Maske wieder auftaucht und all unsere Erfolge zunichtemacht, vielleicht mit einer neuen Überraschung im Schlepptau.“
Als der Schwarze Herold zuletzt aufgetaucht war, wurde er von zwei Dutzend Gorain begleitet, Fluggors, die seitdem wie riesige, hässliche, rote Fledermäuse am Himmel flatterten. Anfangs hatten sie Kreaturen über die Mauer getragen, aber nachdem die Bogenschützen jeden Fluggor in Reichweite mit Pfeilen gespickt hatten, hatten sie stattdessen große Steine gesammelt, die sie seither weit in den Himmel trugen und gelegentlich auf die Burg fallen ließen, wenn besonders viele Menschen unter freiem Himmel unterwegs waren. Die Verletzungen, die diese Brocken anrichteten, waren mit die schlimmsten, die Janis und Readem im Siechenhaus behandeln mussten, zumal nicht nur Krieger, sondern auch Schutzsuchende getroffen wurden. Kaum jemand traute sich mehr ins Freie, obgleich Dächer aus Rietgras selbstverständlich keinen Schutz boten. Auch Orfens Verletzung stammte vom Splitter eines solchen Steins, der Statthalter hatte großes Glück gehabt, dass er nur eine Schürfwunde davongetragen hatte.
„Die Schildzwerge können uns nicht unterstützen, weil sie Cavern sonst schutzlos zurücklassen würden. Die Söldner sind fort – gebt mir die Schuld daran, wenn ihr wollt. Von unseren zweihundert Rekruten ist der fünfte Teil tot oder kampfunfähig, obwohl es bisher nur drei ernsthafte Versuche gab, unsere Verteidigung zu durchbrechen. Die wenigen unter uns, die nicht an Durchfall leiden, sind am Fieber erkrankt. Unsere Pfeile gehen fast so schnell zur Neige wie unsere Vorräte. Und noch immer warten wir sehnsüchtig auf eine Nachricht der Helden von Andor.“
Orfens raue Stimme verstummte und für einige Herzschläge erfüllte nur das Knacken der Scheite die Kaserne. Die knapp eintausend Ohren im Speisesaal lauschten gespannt. Dann richtete der Statthalter sich plötzlich auf und ballte die Faust. „Aber all dies führt nur dazu, dass wir nicht vergessen, wer wir sind! Und ich spreche nicht davon, was den einen vom anderen trennt. Ich spreche nicht von Andori oder Befreiten, nicht von Kriegern oder Schutzsuchenden, nicht von jung oder alt, nicht von Mann oder Frau, nicht von Zwerg oder Mensch. In Zeiten wie diesen verblassen all diese Unterschiede zu einem flüchtigen Schatten. Wir alle sind gleich! Wir sind gemeinsam in unserem selbstgewählten Kerker, wir hoffen gemeinsam, wir leben gemeinsam, und wenn wir unterliegen, dann werden wir gemeinsam sterben. Aber wir werden nicht unterliegen! Denn wir sind diejenigen, die zwischen dem Licht und der Finsternis stehen. Die Schrecken, die der ewige Rat verbreiten will, möchte ich mir nicht ausmalen. Aber wir können das verhindern. Bisher ist kein Andori gestorben, der sich nicht hier zwischen den Mauern der Rietburg aufhielt. Nomions Armee könnte das Rietland verheeren, aber diese Burg ist ihm wichtiger. Solange wir bestehen, besteht Hoffnung! Solange wir standhaft sind, können unzählige andere in Freiheit leben. Die Rietburg ist der Schlüssel zu Andor. Auf unseren Schultern lastet eine Verantwortung, schwer wie die Steine dieser Burg. Aber ich weiß, dass wir unserer Verantwortung gerecht werden können. Wir sind Andor! Dieses Königreich besteht jetzt auf den Tag genau seit 77 Jahren und hat alles überstanden. Seit drei von vier Teilen eines Jahrhunderts wacht die Rietburg auf ihrem Felsen über das goldene Land. Wir haben den immer neuen Ansturm der Dunklen Kreaturen überlebt, drei Trollkriege, das Erwachen eines Drachen und selbst den Einfall der Krahder. Der Ewige Rat ist nur eine Ansammlung von Verlierern! Wir aber sind zäh! Wir sind Andor!“
Orfen räusperte sich und atmete tief durch. Das Fieber setzte auch dem Statthalter zu. „Jeder von uns hat Verluste erlitten. Allein die Krahder, die wir bis zum Erscheinen des Hexers als vernichtet glaubten, haben uns alle etwas gekostet. Niemand hier in diesem Raum hat nicht ein Elternteil, ein Familienmitglied, einen Freund an sie verloren, sei es während des Angriffs oder unter ihrer grausamen Knechtschaft. Und wenn es nicht die Krahder waren, dann einer unserer anderen Feinde. Ihr alle wisst, ich bin nicht eben gesellig, doch sogar ich habe Verluste zu beklagen. Einst lebte ich in den Bergen. Ich fand dort Frieden und konnte all das hier hinter mir lassen. Ich verliebte mich in die Einsamkeit … und in eine Frau. Wir waren beide schweigsam, mürrisch, zurückgezogen…“ Ein wehmütiges Lächeln erschien in Orfens Gesicht. Janis hatte nicht gewusst, dass der Statthalter zu einem solchen Gesichtsausdruck überhaupt fähig war. „Aber wenn wir nebeneinander in einer dunklen Höhle saßen, dann verstanden wir uns auch ohne Worte. Wenn wir uns ansahen, dann entdeckten wir, dass sogar die Einsamkeit geteilt werden kann. Im Nachhinein hatten wir kaum mehr als ein halbes Jahr miteinander, aber damals erschien es mir wie eine viel zu kurze Ewigkeit.“
Orfens dunkle Augen glänzten leicht im Feuerschein. Und seine waren nicht die einzigen. Der Statthalter hatte recht. Jeder hier hatte schon Verluste erlitten.
„Ein Troll beendete unsere gemeinsame Zeit. Ich kann nicht erklären, wie es ist, von der Jagd zurückzukehren, nur um festzustellen, dass alles, was einem lieb und teuer war, auf einen Schlag vergangen ist. Ich kann meinen Wunsch, diesen einen Morgen rückgängig zu machen, wenigstens diese letzten Stunden noch bei ihr verbringen zu können, wenn auch mein Leben dann zwischen den Kiefern eines Trolls sein Ende gefunden hätte, nicht beschreiben. Meine Wünsche und Gebete aber blieben unerhört, und ich konnte nichts tun, als den Mörder zu stellen und zur Strecke zu bringen. Sein Horn zierte meine Klinge, als ich ins überfüllte Andor zurückkehrte, aber mittlerweile ist auch dieses letzte Andenken verloren. Die Krahder haben alles zerstört, was mir noch von ihr geblieben war. Nun habe ich nichts mehr als ihren Namen und die Erinnerung, beides werde ich um keinen Preis der Welt hergeben.
Doch das Leben geht immer weiter. Es ist unmöglich, die Zeit zurückzudrehen, und all die Trauer hat auch gute Seiten: Sie zeigt uns, wofür wir kämpfen. Wir kämpfen dafür, dass sich so etwas nicht öfter wiederholt, als es nötig ist. Wir kämpfen dafür, dass anderen das Grauen einer so plötzlichen Trennung erspart bleibt. Wir kämpfen dafür, dass wir einander auch in Zukunft noch lieben können, denn eines ist gewiss: So entsetzlich dieser eine Moment auch war und so groß die Sehnsucht, die seitdem mein ganzes Leben andauert, all das wiegt nichts im Vergleich zu diesem einen halben Jahr! Wir tragen die Erinnerungen in uns und allein ihretwegen werden wir niemals aufgeben können, allein deshalb genügt schon einer von uns, um den Ewigen Rat aufzuhalten. Der Ewige Rat kämpft für seine Rache, für seine Macht. Wir aber kämpfen für etwas, das ungleich kostbarer ist! Wir sind Andor! Wir sind frei!“


Mondhoch, 1. Dunkeltag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor
Ein Herz pulsiert in der Dunkelheit. Das Herz ist die Dunkelheit. Ein schwarzes Herz zwischen den Schatten, ein starkes Herz, ein reines Herz. Es pocht und pocht, doch plötzlich zögert es. Es bäumt sich auf, bockt wie ein junges Fohlen und verstummt dann. Das Pochen verklingt und die Dunkelheit ist groß und überall. Ein stummes schwarzes Herz, bis ein Tropfen Wasser es benetzt. Da sprießt Leben wie eine junge Pflanze hervor und das Herz pocht wieder. Es pocht und pocht in der Dunkelheit und es ist nicht mehr schwarz, sondern bunt. So pocht und pocht es, bis es im Licht zerspringt.

Ein Hahn, groß, furchtbar und rot, kauert auf einer Burg, die in weißem Gold schwimmt. Jede seiner Regungen reißt Mauern und Balken ein und er wirft einen Schatten in den Himmel, finster und gigantisch. Seine leeren Augen starren hungrig in die Ferne. Er wird morden und fressen, bis alles verschlungen ist und nichts übrigbleibt als er selbst, bis er gezwungen ist, seinen eigenen Leib hinunterzuschlingen. Der Hahn spreizt seine Flügel, und er wächst, und das Gold ist nicht länger weiß, sondern wirklich Gold, dann schwarz, dann wieder weiß. Der rote Hahn erhebt sich aus seinem grauen Nest.


„Sei gegrüßt, mein kleiner Verräter.“ Janis blinzelte. Langsam erst nahm er die Kopie der Rietburg wahr, die hier die ganze Welt bedeutete. Er stand im Kräutergarten am Siechenhaus, Nomion ragte neben ihm in den grauen Himmel seines Traums.
„Es gab heute keine Besprechung, Nomion. Komm in ein paar Tagen wieder!“
Der Hexer beugte sich zu ihm herab, seine gelben Augen funkelten höhnisch. „Aber ich habe eine Frage an dich, Janis: Meine Kreaturen berichten mir von einer blau leuchtenden Frau, die bei den Großangriffen eure Krieger unterstützt. Erst war ich ratlos, aber einige Nachforschungen haben ergeben, dass es sich um einen alten andorischen Wassergeist handeln muss. Ein Wassergeist wie der, über den auch deine Mutter gebot.“ Nomions heisere Stimme nahm einen kalten Klang an. „Hast du gedacht, ich würde es nicht bemerken? Hast du gedacht, ich würde keine Berichte darüber erhalten, was auf der Nordseite der Burg vor sich geht? Auf wessen Seite stehst du, kleiner Verräter?“
„Auf der Seite desjenigen, der meine Mutter zurückholen kann.“, erwiderte Janis fest. „Ja, ich habe Vara die Burg verteidigen lassen. Um das Vertrauen des Statthalters zu erringen, musste ich ihm von meiner Herkunft erzählen. Nur dadurch konnte ich zu den Besprechungen hinzukommen. Mein Wissen hat Euch deutlich mehr geholfen, als Varas Hilfe Euch geschadet hat, zumal die Burg ohnehin noch nicht fallen soll.“
„Das verstehe ich, Janis.“, hauchte Nomion. „Was ich nicht verstehe, ist, weshalb du mir das alles verschwiegen hast. Ich will für dich hoffen, dass du mir nicht noch mehr verheimlichst, sonst muss ich anfangen, an deiner Treue zu zweifeln.“
Der Hexer schwieg lange und musterte ihn. Als Janis nichts antwortete, flüsterte er schließlich: „Also gut, vergessen wir den Vorfall. Ich bin nicht nur des Wassergeists wegen hier. Der Schwarze Herold hat eine weitere Aufgabe für dich.“
Janis verschränkte seine Arme vor der Brust. „Noch eine Aufgabe? Den Statthalter zu diskreditieren erfordert meine ganze …“
„Stell dich nicht so an! Es ist kein Aufwand, sondern eine Ehre. Das erste Mitglied des Ewigen Rates möchte Gnade zeigen. Wenn die Rietburg fällt, dann soll jedes zweite Leben geschont werden. Für jeden, den die Kreaturen töten, soll einer überleben.“ Ein bösartiges Grinsen verzerrte die hageren Züge des Krahders. „Irgendwer muss schließlich weitererzählen können, dass der Statthalter ein Verräter ist.“
Janis stockte der Atem. Das war das beste, was er seit seinem Verrat gehört hatte! Er würde nicht sechshundert Leben für seine Mutter opfern müssen, sondern nur die Hälfte!
Nur? Denkst du wirklich, mein Leben wäre mir wichtiger als das von dreihundert anderen?
Dir nicht, Mutter. Aber mir.

„Deine Aufgabe ist es, zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss.“, fuhr Nomion fort. „Stelle zwei Listen auf. Diejenigen, die weiter an ihren Statthalter glauben, die die Macht des Ewigen Rates am ehesten anzweifeln, die Widerspenstigen und Rebellen, müssen sterben. Die Folgsamen dürfen leben. Ich vertraue darauf, dass du dich nicht nur von Sympathien, sondern auch von dieser Vorgabe leiten lässt.“
„Selbstverständlich!“, beteuerte Janis.
Nomion musterte ihn lange, ehe er sich wieder aufrichtete und seinen Blick über die Rietburg schweifen ließ. „Also gut. Was macht das Fieber?“
„Bisher haben sich etwa dreißig Krieger aller Art angesteckt. Zwerge, Bogenschützen, der Statthalter. Wer keinen Durchfall hat, ist an Fieber erkrankt. Meister Readem und ich ebenfalls. Wo wir können, versuchen wir, Kontakt zu den Verwundeten zu vermeiden, um eine Verbreitung im Siechenhaus zu verhindern.“
„Dreißig nur?“ Der Hexer schüttelte unwillig den Kopf. Dann erstarrte er. „Du bist ebenfalls erkrankt?“, fragte Nomion ehrlich verblüfft. „Iss irgendwann ein paar Sapian-Knollen, sie wirken fiebersenkend. Auffallen wird es nicht, die Leute werden denken, du hättest dich am Durchfall angesteckt.“
Nomion ging davon aus, dass der Durchfall inzwischen eine gewöhnliche Krankheit war, und Janis hatte ihn nicht aufgeklärt. Sollte der Hexer doch denken, was er wollte, Janis ging es längst nicht mehr um den Effekt der Knollen, sondern nur darum, dass Orfen vielleicht beobachtet wurde.
„Was ist mit deinem Auftrag? Hat die Beliebtheit des Statthalters nachgelassen?“
„Nicht wirklich. Höchstens das verschwundene Gold nehmen ihm noch immer viele übel, und die unterschiedlichen Essensrationen schüren Zwietracht. Es versteht zwar jeder, dass satte Krieger sie besser verteidigen können, aber es ist wohl nur schwer zu ertragen, wenn die eigenen Kinder hungrig auf die großen Brote der Krieger blicken.“
„Sie sollten sich freuen, weniger zu bekommen.“, murmelte Nomion finster. „Auch, weil sie für meine Truppen dann weniger saftig aussehen. Aber kann ich deinen Worten entnehmen, dass du wieder einmal keine Fortschritte gemacht hast?“
„Orfen hat heute eine sehr bewegende Rede gehalten. Er sprach über seine verlorene Liebe und wofür wir kämpfen. Niemand wird jetzt gerade einen Verräter in ihm sehen. Und dennoch ist heute der Tag meines Triumphes. Ohne es zu wissen, hat der Statthalter mir etwas geschenkt. Das, was ich all die Zeit suchte, was ich brauchte, um aus Indizien Beweise zu machen. Das fehlende Glied in der Kette. Der Schlüssel für meinen Erfolg. Stundenlang habe ich mir den Kopf zerbrochen, dabei war die Antwort so offensichtlich.“
Nomions Augen glühten unheilvoll. „Wovon sprichst du? Was hat der Statthalter dir geschenkt?“
Nun habe ich nichts mehr als ihren Namen und die Erinnerung. Der Statthalter irrte sich! Es war möglich, die Zeit zurückzudrehen! Janis verabscheute das Lächeln, das sich ganz von alleine auf seine Lippen legte. „Ein Motiv!“


Später Vormittag, 2. Dunkeltag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

Mitron schrieb Janis schwungvoll. Dann nickte er dem blassen Rekruten zu und rollte das Pergament zusammen. Sie führten Buch über jeden, der am Fieber erkrankt war. Janis kam die Aufgabe zu, die Namen festzuhalten. Bestimmt würden sich bald auch die ersten Schutzsuchenden anstecken, sodass er auch ihre Namen in Erfahrung bringen könnte. Nur anhand von Gesichtern konnte er keine Liste darüber führen, wem er das Leben schenken wollte.
Die anfängliche Euphorie darüber, dass nur jeder Zweite zu sterben hatte, war schnell der Verzweiflung gewichen. Wie sollte er bestimmen, wessen Leben am besten geschont wurde? Kheela hatte ihn gelehrt, dass er niemanden bevorzugen durfte, nur weil er ihn mochte. Sara und Rodur waren dennoch die ersten, die er in Gedanken auf die Leben-Seite geschrieben hatte, aber selbst dafür hatte er ein schlechtes Gewissen. Fieberhaft überlegte er seitdem, wen er zum Tode verurteilen durfte, konnte, musste. Mutters Stimme war dabei auch keine Hilfe.
Jeder hat es verdient zu leben. Wenn dir wirklich etwas an ihnen liegt, dann opfere sie nicht. Keinen von ihnen.
Als erstes hatte Janis beschlossen, dass er keine Familien auseinanderreißen würde. Kein Kind sollte mit dem Verlust seiner Eltern leben müssen, wenn es sich vermeiden ließ. Er würde lieber eine Familie opfern und eine retten, als von zweien nur die Hälfte übrig zu lassen. Doch nur auf dieser Grundlage konnte er noch lange nicht entscheiden. Er wollte nicht losen, also brauchte er mehr Kriterien und begann erst langsam, Leben gegeneinander abzuwägen und die vermutlich wertvollsten zu schonen.
Wen sollte er bevorzugen? Die Glücklichen, weil sie von ihrer Zukunft am meisten hatten? Oder die Unglücklichen, die schon genug gestraft worden waren? Die Rekruten, die bereit waren, ihr Leben für andere zu opfern? Oder die Schutzsuchenden, von denen bis zum Fall der Rietburg weniger sterben würden? Die Jüngeren, weil er ihnen andernfalls die meisten Jahre raubte? Oder die Alten, die mit ihrer Erfahrung am besten dazu beitragen könnten, aus den Trümmern, die der Ewige Rat hinterlassen würde, eine halbwegs sichere Zukunft aufzubauen?
„He, Faulpelz! Schläfst du etwa schon wieder?“
Janis hob den Kopf und musterte das stupsnasige Mädchen vor sich. „Sann? Solltest du nicht Schwertmeister Armonds Decken wechseln?“
Sann streckte ihm ihre Zunge entgegen. „Der Alte Mann hat mich unterbrochen“, verkündete sie triumphierend. „Er will dich sehen, Faulpelz!“
Meister Readem hatte sein Versprechen gehalten und sich des Mädchens nach dem Tod ihres Vaters angenommen. Um sie abzulenken, hatte er ihr einfache Aufgaben übertragen. An den Abenden spielte er mit ihr irgendwelche Ballspiele, aber da er sich nicht sonderlich geschickt anstellte, nannte Sann ihn nur noch den Alten Mann. Woher der Heiler die Energie dazu nahm, war Janis ein Rätsel, er selbst wünschte sich nach den langen Tagen im Siechenhaus nur noch eine ruhige Nacht in seinem neuen Bett in der Vorratskammer. Die Treffen mit Sara und Rodur hatten sie auf seine Mittagspause verlegt.
Da Janis sich beständig weigerte, bei Sanns Spielen mitzumachen und sie offenbar niemanden mehr namentlich ansprechen wollte, hatte sie ihm die wenig schmeichelhafte Bezeichnung „Faulpelz“ verliehen. Nur einmal hatte Janis versucht, ihr das Nimm-Spiel beizubringen, aber nach ihrer dritten Niederlage hatte Sann es lustiger gefunden, ihm die Steinchen stattdessen ins Gesicht zu werfen.
Vor dem Lager des Schwertmeisters saß Sarit, eine Runenmeisterin der Schildzwerge, mit der sich Armond in den letzten Tagen angefreundet hatte; zumindest hatte Janis die beiden öfter zusammen gesehen. „Meister Readem ist drinnen.“, murmelte sie mit leerem Gesicht und deutete auf den mit Vorhängen abgetrennten Bereich. Ein flaues Gefühl stieg in Janis auf. Er griff nach dem Vorhang und schlug ihn vorsichtig beiseite, auf alles gefasst.
Der Schwertmeister lag blass und leblos auf seiner Pritsche. Armond war vom selben Stein verletzt worden wie Orfen, allerdings weitaus schwerwiegender. Mindestens ein Dutzend Splitter waren in seinen Körper eingedrungen und hatten Brust und Bauch perforiert. Selbst wenn er überlebte, würde er nie wieder kämpfen können.
Readem und Janis hatten alles für ihn getan, hatten sogar ihre kostbaren Vorräte vom seltenen Gallenkraut angetastet. Das bittere Kraut wirkte gleichzeitig schmerzstillend, wundheilend und belebend; es galt als das Heilkraut schlechthin und als Wundermittel gegen jedes Leiden, obgleich es abhängig machen konnte und in großen Mengen giftig war. Readem hatte erst protestiert, das wertvolle Kraut ausgerechnet dem Verwundeten zu geben, der die schlechtesten Chancen hatte, Janis aber konnte Orfens Befehl nachvollziehen. Der Schwertmeister war wichtig, sein Tod würde den Kriegern den Mut rauben.
„Wie geht es ihm?“, wollte Janis wissen. Anstatt zu antworten, breitete Readem ein Laken über Armonds Körper aus. Janis schluckte schwer. „Verstehe!“, krächzte er. Und zugleich schrie ihm sein schlechtes Gewissen entgegen, dass Armond doch ohnehin totgeweiht gewesen war. Dass der Schwertmeister nicht zu den Folgsamen gehörte, die er vielleicht retten konnte. Normalerweise gelang es Janis, seinen Verrat auszublenden, heute aber kreisten seine Gedanken unablässig um die beiden Listen. Alle Hilfe, die er den Kranken gewährte, kam ihm zutiefst scheinheilig vor, da er zu dem Schluss gekommen war, lieber einen Gesunden als einen Versehrten am Leben zu lassen.
„Mach dir keine Vorwürfe, Sajin.“, sagte Readem sanft. „Es gleicht einem Wunder, dass er überhaupt so lange durchgehalten hat.“ Der alte Heiler lächelte schief und blickte dann müde auf den zugedeckten Körper. „Er war ein großer Mann.“
„Ist er tot?“, schrie plötzlich eine Kinderstimme und Sann kam zum Bett gerannt. Sie erblickte das Laken und jubelte: „Jaa! Nie wieder die Decken wechseln!“
Janis runzelte die Stirn. „Du solltest dich nicht darüber freuen.“, wies er sie zurecht. „Denk doch nur an das, was mit deinem Vater passiert ist.“
„Aber er hat gestunken! Und …“, begann Sann empört. Dann riss sie die Augen auf und starrte Janis entsetzt an. „Was … ist Vater etwas passiert?“
Janis öffnete den Mund und brachte kein Wort hervor. Er wirbelte zu Readem herum, machte einen Schritt auf ihn zu und flüsterte ihm fassungslos ins Ohr: „Sie weiß es nicht? Sie weiß es nicht?!“
Readem nahm ungerührt den letzten Vorhang ab und faltete ihn zusammen. Die Vorhänge wurden immer gebraucht, um zumindest einem Teil der Verwundeten etwas Privatsphäre zu gewähren. „Nein, wohl nicht.“, erwiderte er ruhig.
„Aber … denkt Ihr etwa, damit tut Ihr ihr einen Gefallen? Wir müssen es ihr sagen!“
Die gefalteten Vorhänge legte Readem auf einen Stapel und warf ihn sich über die Schulter. „Wie du meinst.“ Er beugte sich zu Sann herab, die sie beide noch immer ängstlich ansah, und betrachtete sie wehmütig. „Sann.“, sagte er leise. „Lisanna. Hör mir zu! Dein. Vater. Ist. Tot.“
Der Ausdruck in Sanns Gesicht änderte sich nicht. Einige Herzschläge stand sie unbewegt da. Dann plötzlich rief sie schrill: „Hast du das gehört, Faulpelz? Der Alte Mann versucht es jeden Tag mit dieser Lüge. Aber ich weiß es besser!“ Sann lachte höhnisch. „Vater ist nicht tot. Er ist im Geheimauftrag des Statthalters unterwegs und der Alte Mann hat sich den Tod ausgedacht, um sein Verschwinden zu erklären. Bald kommt Vater wieder und holt mich hier raus und dann muss ich nie wieder Nachttöpfe leeren und Decken wechseln und Verbände schleppen!“ In ihren Augen strahlte eine Gewissheit, die Janis mit keinen Worten würde durchbrechen können. Sann lächelte zuversichtlich und hopste davon.
Readem richtete sich auf, sein Rücken knirschte dabei bedenklich. „Ich habe es versucht, immer wieder, Tag für Tag. Es ist nichts zu machen. Ihr fällt gar nicht auf, dass sie vorgestern noch felsenfest überzeugt war, der Schwertmeister“, Readem tippte kurz auf das Laken, „und nicht der Statthalter habe ihrem Vater den Geheimauftrag erteilt. Wenn unser Geist mit dieser Wirklichkeit nicht zurechtkommt, dann erschafft er sich seine eigene. Vielleicht, wenn wir Daron auf einem Floß die Narne hätten hinuntertreiben lassen … vielleicht hätte sie seinen Tod dann akzeptieren können. Aber dazu war keine Zeit. Wenn sie alt genug ist, wird sie die Wahrheit womöglich erkennen.“
Readem schlurfte zu Sarit, legte der Zwergin tröstend eine Hand auf die Schulter und wechselte ein paar Worte mit ihr. Dann rief er nach einem der freiwilligen Helfer, die ihnen im Siechenhaus zur Hand gingen, um Armonds Leichnam fortzuschaffen.


Sonnenhoch, 2. Dunkeltag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

„Schwertmeister Armond ist tot.“, begrüßte Janis seine Freunde. Saras Augen färbten sich tiefblau und Rodur ließ fast die Brote fallen, die er auf beiden Armen balancierte. Barram schlug sich die Hand vor den ungepflegten Bart an eine Stelle, wo wohl ungefähr der Mund sein musste. Natürlich war Barram dabei. Er kam immer, auch wenn Janis ihn nie eingeladen hatte.
„Möge seine Knechtschaft mit dem Tod beendet sein.“, murmelte Rodur. „Das haben wir in Krahd immer gesagt. Irgendwie hatte es damals mehr Inhalt.“
Sie gingen zwischen den Betten hindurch zum Anbau des Siechenhauses und setzten sich in der Vorratskammer um Janis´ neues Bett. Rodur legte wie üblich die Brote und das Pökelfleisch auf die kratzige Decke und nahm sich gleich seinen Anteil, während Janis aus dem Essensschrank seine eigene Ration holte und es mit einer kurzen Notiz vermerkte. Readem bestand darauf, dass jeder Zugriff auf die Vorräte – seien es Kräuter, Verbände oder Lebensmittel – notiert werden musste.
„Du isst ja genau so viel wie wir!“, bemerkte Barram mit vollem Mund.
Sogar Janis war froh über den unbeholfenen Versuch, das Thema zu wechseln. Dennoch fiel seine Antwort recht kühl aus: „Du kommst seit einem halben Mond mit Rodur und Sara hierher, damit ich meine Mittagspause nicht alleine verbringen muss, und bemerkst erst jetzt, dass ich die gleiche Menge verspeise wie ihr?“
„Ich habe auf andere Dinge geachtet.“, murmelte Barram verlegen in seinen struppigen Bart und Janis ignorierte den bitteren Geschmack, der sich dabei in seinem Mund ausbreitete. „Ich bin nun mal nicht Sara!“, ergänzte der Zwerg mit einem hörbaren Schmunzeln. Bei diesen Worten kehrte ein erster Anflug von Violett in Saras Augen zurück, aber Janis empfand keine Freude darüber.
Sie gebärdete etwas in der Sprache, die Barram ihr beigebracht hatte. Janis kaute mechanisch und schluckte seinen Zorn zusammen mit dem trockenen Brot hinunter. Auch wenn er sich stets etwas ausgeschlossen fühlte, sprach nichts dagegen, dass Sara im Gespräch mit Barram diese andere Gebärdensprache verwendete.
„Keine Angst, Kleiner!“, schnaubte Barram, wobei er Krümel in seinen Bart spuckte. „Ich sage niemandem, dass du eine größere Portion isst.“
Janis hasste diesen gönnerhaften Tonfall und die schleimige Freundlichkeit. Auch wenn er sich gegenüber Barram nie unhöflich verhielt, so ließ er ihn doch spüren, dass er ihn im Gegensatz zu Sara und Rodur noch nicht in ihrer Mitte anerkannt hatte, und der Zwerg bemühte sich regelmäßig, dies zu ändern. „Was willst du damit andeuten? Denkst du etwa, ich würde mir mehr nehmen, als mir zusteht?“
Als Barram sein Irrtum aufging, zuckte er zusammen und sein Bart erbebte dabei. „Readem und ich werden vom Statthalter zu den Verteidigern gezählt, auch wenn wir nicht auf den Mauern stehen.“, fuhr Janis fort. Readem teilte seine überzähligen Speisen allerdings unter den freiwilligen Helfern auf. Es missfiel ihm, dass Orfen überhaupt zwischen Verteidigern und Schutzsuchenden unterschied. Nach Meinung des alten Heilers sollte jeder Erwachsene die gleiche Menge Essen erhalten, ob er einen Beitrag zur Verteidigung der Rietburg leistete oder nicht. Janis hatte sich noch kein Urteil darüber gebildet, ob Orfens oder Readems Lösung die bessere war.
„Es tut mir leid, Sajin!“, versicherte Barram hastig. „Ich hätte ahnen müssen, dass der Statthalter dir größere Rationen gewähren würde.“
Auch wenn die Entschuldigung aufrichtig klang, machte etwas im Tonfall des Zwergs ihn stutzig. „Jeder, der einen Beitrag zum Schutze Andors leistet, erhält volle Portionen.“, stellte Janis klar. „Readem und ich. Warguth, der Schmied. Baumeister Mard, mit dem du viel zu tun haben solltest.“
Rodur schluckte genüsslich seinen letzten Krümel herunter und starrte dann mit großen Augen und knurrendem Magen auf das zweite bisher unangetastete Brot vor Barram, bis der Zwerg sich erbarmte und ihm einen Teil abgab. Rodurs Freundschaft zu erringen war nicht schwer.
„Aber meinst du nicht, es könnte auch an dir liegen, Sajin?“, überlegte Barram. „Der Statthalter hat offensichtlich einen Narren an dir gefressen. Er überträgt dir die Verantwortung für die Bodenreform. Er lädt dich zu seinen Treffen ein, bei denen sonst nur Meister Kunar, Kommandantin Daroscha und Schwertmeister Arm… jetzt wohl nicht mal mehr der. Aus irgendwelchen Gründen scheint er dir bedingungslos zu vertrauen.“
In Barrams dunklen Augen lag mehr als nur Neugierde. Janis erwiderte den Blick ungerührt. „Es scheint wohl so.“, bestätigte er nichtssagend. Sara zeigte keine Reaktion, doch Rodur senkte verlegen den Blick. Janis war klar, dass dieses Zeichen des gemeinsamen Geheimnisses auch Barram nicht entgangen war. Der Zwerg hakte nicht nach, aber die Art, wie er langsam nach seinem Pökelfleisch griff, ohne Janis dabei aus den Augen zu lassen, verriet ihm, dass er noch lange nicht aufgegeben hatte.
Saras Gebärden lenkten Janis ab. An ihrer Seite formten ihre Hände unauffällig Zeichen, die Barram und Rodur von ihrer Position aus nicht sehen konnten. Sohn-von-Feuer. Krank. - Fieber. Stark. - Sprechen. Darüber.
Janis ließ sich nichts anmerken. Er biss von seinem Pökelfleisch ab und kaute gemächlich, während das unangenehme Schweigen sich ausbreitete. Wie zufällig hob er seinen Blick und musterte Rodur. Sara hatte recht. Seine Augen glänzten besorgniserregend und auf seiner Stirn lag ein dünner Schweißfilm. Dass er krank war, war nichts Neues, sie alle vier litten an dem Fieber und standen auch bereits auf der Liste. Doch was Janis sah, deutete darauf hin, dass Rodurs Krankheit sich gefährlich verstärkt hatte.
„Du hast ja schon wieder aufgegessen.“, seufzte er, um seinen langen Blick zu erklären.
Rodur lächelte traurig und sein Magen knurrte schon wieder. Manchmal hatte Janis den Verdacht, dass sein Freund das absichtlich hervorrufen konnte.
„Du bist so ein Vielfraß!“ Janis beugte sich nach vorne und übergab ihm seinen zweiten Streifen Fleisch, auch wenn er selbst ebenfalls hungrig war. Mitten in der Bewegung stockte er und kniff scheinbar nachdenklich die Augen zusammen. Dann beugte er sich noch weiter nach vorne und legte Rodur seine Hand auf die Stirn.
„Du glühst ja!“, rief er erschrocken und zog seine Hand zurück. „Warum hast du nichts gesagt?“
Rodur schüttelte ärgerlich den Kopf. „Mir geht´s gut! Das ist nichts Schlimmes!“, murrte er trotzig und biss vom Fleisch ab.
„Dein Fieber wird nicht dadurch harmloser, dass dir niemand sagt, wie gefährlich es ist!“
Rodur stopfte sich das letzte Stück Fleisch in den Mund und stand auf. „Wir sehen uns morgen.“, schmatzte er. „Ich muss jetzt zu Daroschas Training. Und du übrigens auch, Sara!“
Während Kunar meinte, das Schießen auf Kreaturen sei Übung genug, verdonnerte Daroscha nach wie vor jeden Nachmittag alle Rekruten, die nicht als Wachen auf den Mauern standen, zu harten Übungen.
„Rodur, mach dich nicht lächerlich! Du kannst in diesem Zustand unmöglich mitmachen. Am besten, du bleibst gleich im Siechenhaus, jetzt ist ja ein Bett freigeworden. Hier können wir dein Fieber im Auge behalten.“
„Nein!“, schrie Rodur entsetzt. „Mir geht es gut! Sehr gut! Ich kann kämpfen. Ich kann arbeiten. Ich bin keine Belastung!“ Mit diesen Worten stürmte er davon.
Fassungslos blickte Janis seinem Freund hinterher und sah dann zur ebenso ratlosen Sara. Ich. Sprechen. Mit. Sohn-von-Feuer. gebärdete sie hilflos, dann erhob sie sich, nahm ihr letztes Brot mit und verließ ebenfalls den Raum.
Janis hatte erwartet, dass Barram sie begleiten würde, aber der Zwerg blieb sitzen. „Hast du eine Ahnung, was in ihn gefahren sein könnte?“, fragte Janis ihn widerwillig.
„Wenn er krank im Bett liegt, leistet er keinen Beitrag mehr zur Verteidigung der Rietburg und erhält somit weniger Essen.“, überlegte Barram unsicher.
Janis schüttelte den Kopf. Sicher, Rodur aß mehr als irgendjemand sonst, den Janis kannte, er war immer heißhungrig … aber doch wohl nicht so sehr?
Eine Weile schwiegen sie beide. „Sajin!“, begann Barram schließlich mit ernstem Gesicht. „Ich muss dir etwas …“
Ein Klopfen unterbrach ihn und Sann treckte ihren Kopf in die Vorratskammer. „Faulpelz! Der Alte Mann schickt mich. Der Statthalter ist da und wartet auf dich.“
„Ich komme gleich!“, antwortete Janis verärgert. Sann grinste frech und verschwand.
„Der … Statthalter?“, vergewisserte sich Barram.
„Irgendjemand muss sich Orfens Wunde ansehen.“, erläuterte Janis. „Was wolltest du sagen?“
Barram starrte ins Leere und stand dann mühsam auf, sein schweres Kettenhemd rasselte. „Nichts, nichts. Kümmere dich gut um den Statthalter, Kleiner.“


Früher Nachmittag, 2. Dunkeltag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

„Die Wunde ist gut verheilt, Statthalter. Morgen oder übermorgen solltet Ihr den Verband ganz abnehmen können.“
Janis tauchte seine Hände in eine Schale mit schmutzigem Wasser und hoffte, sie damit zumindest ein wenig zu säubern. Da der Brunnen im Burghof bei weitem nicht für alle ausreichte, hatten sie die großen Fässer im Burgkeller mit Trinkwasser gefüllt, aber ihre Vorräte waren begrenzt. „Schwertmeister Armonds Opfer hat Euch gerettet.“
Orfen schnaubte. „Es war keine Zeit für ein heroisches Opfer, Sajin! Er stand zufälligerweise zwischen der Aufprallstelle und mir. Er hatte Pech und ich hatte Glück, so einfach ist das.“ Orfen seufzte. „Ein guter Mensch ist von uns gegangen. Ich hätte das viel früher erkennen müssen.“
Vorsichtig strich der Statthalter über das Bett, auf dem er saß und auf dem am Morgen noch der Schwertmeister gelegen hatte. „Warum habe ich ihm so viel verschwiegen?“, flüsterte er nach einem misstrauischen Blick zu den Vorhängen. „Wenigstens von den Knollen im Brunnen hätte ich ihm berichten sollen. Wenn ich ihm wirklich vertraut hätte, wäre das doch kein Problem gewesen.“
Der Statthalter stützte seinen Kopf auf seine Hände und krallte die Finger in sein grau meliertes Haar. Janis wischte sich schweigend die Hände an der Hose trocken. Nach mehreren Dutzend Herzschlägen blickte der Statthalter schließlich auf und murmelte rau: „Vermutlich war es trotzdem richtig. Je weniger etwas wissen, desto besser. Wenn ich jedem vom Gift berichte, dem ich vertraue, und wenn von denen wieder jeder seine Freunde einweiht … dann weiß es bald auch der Verräter.“ Seine dunklen Augen hefteten sich auf Janis. „Wir müssen Verschwiegenheit bewahren. Auch wenn es uns schmerzt, so viele unter dem Durchfall leiden zu sehen, wir dürfen niemanden einweihen. Verstehst du das, Sajin?“
Janis nickte und dachte dabei an alle, die bereits etwas ahnten. Sara. Rodur. Readem. Barram. Da Janis wusste, wer der Verräter war, gab er sich keine große Mühe, die Sapian-Knollen zu verschweigen.
„So, du stimmst mir also zu?“, fragte Orfen mürrisch. „Dann erkläre mir, weshalb Meister Readem vor kurzem auf mich zukam. Er erzählte mir von seinem Verdacht, der Durchfall sei keine Krankheit, sondern ein Gift im Brunnen. Er selbst habe seit mehreren Tagen nur noch Wasser aus unseren Vorräten, nicht aber aus dem kleinen Brunnen getrunken, daraufhin sei sein Durchfall zurückgegangen. Er erzählte mir außerdem, dass du ihn auf die Idee mit den Sapian-Knollen gebracht hast!“
Wieso hatte Readem mit dem Statthalter gesprochen?! Janis unterdrückte seinen Zorn. „Ich habe ihm nur gesagt, dass einiges darauf hindeutet.“
Orfen stöhnte auf. „Das alles war vertraulich! Sobald der Verräter erfährt, dass ich Sapian-Knollen ins Wasser gebe, ist unser Plan hinfällig. Wir wollen ihn auf frischer Tat ertappen, das funktioniert nicht, wenn er vorgewarnt ist.“
„Verzeiht, Statthalter! Aber er als Heiler musste erfahren, dass der starke Durchfall kein Anzeichen einer schlimmeren Krankheit ist und dass er keine Kräuter dafür verschwenden muss.“
„Wie oft wurde das Gift bisher nachgefüllt, sagtest du?“
„Dreimal.“, erinnerte sich Janis seiner Lüge. „Jedes Mal während eines Angriffs, während Vara – in Eurem Auftrag – auf den Mauern die Krieger unterstützte. Wenn wir den Verräter finden wollen, muss sie die Angriffe im Brunnen abwarten.“
„Das Gift wurde dreimal nachgefüllt.“, wiederholte Orfen, ohne auf den Vorwurf einzugehen. „Das bedeutet, irgendjemand muss die giftigen Kräuter besitzen. Nun, wir wissen einen Ort, an dem alles aufbewahrt wird, was der Verräter benötigt.“
Der Statthalter blickte vielsagend in Richtung des Anbaus. „Ihr meint … das Gift stammt aus dem Siechenhaus?“, vergewisserte sich Janis.
„Vielleicht verstehst du jetzt, weshalb ich so besorgt war, dass Meister Readem von den Sapian-Knollen wusste.“
Janis brauchte ein paar Herzschläge, um zu begreifen. „Meister Readem? Der Verräter? Nein, das … das ist absurd!“
Der Statthalter blickte ihn finster an. „Readem, der Zugriff auf alle Kräuter in den Vorräten hat. Der viele Informationen über unsere Vorräte und unsere Verteidigung hat. Der dich bei jedem Angriff aus dem Siechenhaus schickt, vorgeblich, damit du nach den Stellen mit den meisten Verwundeten Ausschau hältst. In dessen Händen Schwertmeister Armond gestorben ist.“
„Nein! Nein, Statthalter! Ihr irrt Euch! Der Schwertmeister war nicht mehr zu retten, während der Angriffe bereitet Readem das Siechenhaus für die Verwundeten vor, und er schreibt genau auf, wie viele Kräuter er geerntet hat und wie viele er aus dem Vorrat entnimmt.“
„Und hast du jemals kontrolliert, ob die Zahlen stimmen?“ Sein Gesichtsausdruck verriet dem Statthalter anscheinend genug. „Dann tu das bitte.“
„Das werde ich tun.“, log Janis. „Aber ich versichere Euch, Readem sorgt sich von ganzem Herzen um die Verwundeten.“
Orfen stand ächzend auf. „Wenn du meinst. Dann tappen wir wohl weiterhin im Dunkeln.“ Er straffte sich und schlug den Vorhang zur Seite. „In drei Stunden haben wir eine Besprechung in meinen Gemächern. Heute nur noch zu viert.“
Mit diesen Worten stapfte der Statthalter schwerfällig davon. Janis sah ihm zwischen den Betten und Vorhängen hindurch hinterher, bis er die Tür des Siechenhauses hinter sich zuschlug.


Abenddämerung, 2. Dunkeltag 77 A.Z.
Königsgemächer im Kronenturm der Rietburg, Andor

Janis blieb keuchend stehen und betrachtete verdutzt Kommandantin Daroscha, die vor der Tür des Statthalters wartete. „Du bist zu spät!“, knurrte sie. „Aber der Statthalter ebenfalls, also hör auf so zu hecheln. Hatte mein Lauftraining denn überhaupt keinen Effekt?“
„Beachte sie nicht, Sajin. Ihre Ungeduld macht unsere werte Kommandantin noch unfreundlicher als sonst.“, merkte Meister Kunar an. Der Bewahrer lehnte so weit von Daroscha entfernt wie möglich an der anderen Wand des leeren Vorzimmers. Neben ihm stand Mretox, ein schwarzhaariger Schildzwerg mit winzigen Äuglein, der Kommandantin Daroscha nicht ausstehen konnte. Warum er überhaupt unter ihrem Kommando zur Rietburg gezogen war, wusste Janis nicht, vielleicht waren die beiden auch erst nach Beginn der Belagerung aneinandergeraten. Durch ihre Abneigung gegen die Kommandantin geeint hatten sich Mretox und Meister Kunar jedenfalls schnell angefreundet.
„Das ist noch gar nichts.“, lachte Mretox jetzt. „Du hättest sie erleben sollen, als sie vor zwei Feuerzyklen eine Wette gegen ihren Bruder Atrom verloren hat. Sie hat den ganzen Tag gezetert und die Tür ihrer Ausbildungshalle mit Wurfäxten gespickt – angeblich hat sie zuvor Atroms Gesicht auf das Holz gemalt, aber hinterher war nicht mehr genug übrig, um dieses Gerücht zu bestätigen.“
Daroschas Gesicht verfinsterte sich noch weiter und Kunars grüne Augen begannen zu leuchten. „Wie spannend, Mretox! Darüber würde ich nur zu gerne mehr erfahren.“
In diesem Moment erklomm hinter Janis auch Statthalter Orfen die steile Wendeltreppe und begutachtete finster den großen Abstand zwischen Kunar und Daroscha. Ohne ein Wort zu verlieren durchquerte er das Vorzimmer und öffnete mit einem großen Eisenschlüssel seine Tür.
Mretox lächelte entschuldigend und flüsterte Meister Kunar noch etwas ins Ohr, dann entfernte er sich, während die Kommandantin und Janis bereits in die karge Kammer des Statthalters eintraten.
„Ich nehme an, ihr habt schon von Armonds Tod erfahren?“, fragte Orfen mürrisch, nachdem auch Kunar zu ihnen gestoßen war. Der Bewahrer nickte betrübt und Kommandantin Daroscha neigte immerhin bestätigend ihren kurzgeschorenen Kopf. „Ich denke darüber nach, den jungen Peta zu seinem Nachfolger zu ernennen. Aber das hat noch Zeit.“, berichtete Orfen, während er sich in seinen ungepolsterten Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen ließ. „Daroscha, du sagtest, du hast Nachrichten für mich?“
Die Kommandantin kniff ihre Augen zusammen. „Für Euch ja, Statthalter.“
Janis runzelte die Stirn, als ihm der Sinn des Gesagten klar wurde. „Was soll das heißen?“, ereiferte sich Meister Kunar. „Wir sind hier in diesem Raum, weil wir alle vertrauenswürdig sind.“
Daroscha warf dem Bewahrer ein missmutigen Blick zu und wartete, bis Orfen andeutungsweise nickte, ehe sie fortfuhr: „Unsere Runenmeister haben mir drei Nachrichten übermittelt. Erstens: Es ist unseren Spähern erneut gelungen, eine Kreatur lebend zu fangen. Einen Skral diesmal. Die Befragung ist noch nicht abgeschlossen, sie müssen vorsichtiger sein, weil seine Schreie Artgenossen anlocken könnten. Nichts trägt weiter als der Ruf eines Skrals. Aber er stand anscheinend recht weit oben in der Hierarchie von Nomions Armee, er weiß mehr als die beiden Gors, die wir vor zwanzig Tagen erwischt haben.“
„Auch, wann der Schwarze Herold das nächste Mal erscheinen wird?“, fragte Orfen mit einem dringlichen Unterton.
„Leider nein, zumindest kommen unsere Späher zu dem Schluss. Und sie vergewissern sich meistens sehr gründlich, ehe sie die Antworten der Kreaturen weiterleiten. Aber der Skral glaubt, auch Nomion wisse es nicht. Das würde erklären, weshalb der Krahder kaum Großangriffe befiehlt: Er weiß selbst nicht, wann seine Verluste wiederaufgefüllt werden.“
Janis wusste, dass der Hexer gar nicht die Absicht hatte, die Rietburg schon jetzt einzunehmen. Dennoch hätten einige wenige schlagkräftige Angriffe ihre Verteidigung gewiss nachhaltiger geschwächt als der zwar zermürbende, aber wenig zielführende tägliche Ansturm. Die Behauptung des Skrals bot eine Erklärung für die Zurückhaltung des Hexers.
„Dafür konnte uns der Skral noch andere Dinge sagen.“, ergänzte Daroscha. „Er hat wohl behauptet, Nomion hätte seiner Armee den Befehl gegeben, den Statthalter nicht zu verletzen. Wenn er die Wahrheit sagte, ist es nicht die Furcht vor dem Statthalter, die die Kreaturen von den Mauern treibt, sondern die Furcht vor ihrem eigenen Feldherrn.“
„Das erklärt so einiges.“, murmelte Orfen finster. „Aber warum? Was hat er davon, wenn mir nichts geschieht?“
„Seine Rache.“, sagte Janis. Genaugenommen war das nicht einmal gelogen. „Wenn Ihr sterbt, Statthalter, dann kann der Schwarze Herold Euch nicht noch Schlimmeres antun.“
Beklommenes Schweigen machte sich breit. „Besser, unsere Krieger erfahren nichts davon.“, meinte Meister Kunar. „Wusste der Skral noch etwas?“, fragte er dann zaghaft und ohne eine Spur seiner sonstigen Feindseligkeit.
„Allerdings! Wie viele Vorräte wir noch haben. Und wie viele Pfeile. Wie viele am Durchfall und am Fieber erkrankt sind. Und wie viele gefallen. Genau wie die Gors damals, nur noch ausführlicher.“ Daroscha warf einen langen, argwöhnischen Blick in die Runde. „Wir haben einen Spion in unseren Reihen, und er besitzt beängstigend viel Talent. Oder er hat leichten Zugang zu allen wichtigen Informationen.“
Besorgnis wuchs in Janis heran. Er verstand nun, weshalb die Kommandantin ursprünglich nur den Statthalter hatte einweihen wollen. Er konnte es sich nicht leisten, dass irgendjemand ihn verdächtigte. Aber er konnte auch nicht viel tun, um es zu verhindern.
„Zweitens: Kommandant Mart bereitet sich darauf vor, mit ein paar Getreuen unsere Späher im Rietland zu verstärken.“, fuhr die Kommandantin ungerührt fort. „Unsere Runenmeister behaupten, mit seiner Hilfe könnte die Belagerung durchbrochen werden. Er hat wohl irgendeine Wunderwaffe gegen diesen Schwarzen Herold dabei. Wenn der Geist sich das nächste Mal an der Rietburg zeigt, könnte er besiegt werden. Danach würden die Kreaturen des Feindes für immer tot bleiben.“
Die neue Hoffnung hob Kunars Mundwinkel wieder. Es war das erste Mal, dass Janis ihn sich ehrlich über Daroschas Worte freuen sah. Auch er selbst setzte ein Lächeln auf. „Wer ist dieser Mart?“, fragte Janis.
„Ein enger Vertrauter des Fürsten.“, gab Daroscha als Antwort, dann richtete sie sich wieder an Orfen: „Ich weiß nicht, wann er hier ankommen wird. Aber er wird noch weitere Späher mitbringen, vielleicht werden sie dann auch endlich herausfinden, wie all die Kreaturen ernährt werden. Wir wissen nur, dass es Nomion bisher nicht gelungen ist, die Andori gefangenzunehmen oder auszurauben, der gefangene Skral berichtete, sein einziger Vorstoß wurde von Menschenkriegern gestoppt. Sechsfinger womöglich. Die Kreaturen ernähren sich von Vieh, doch bisher ist unklar, woher sie es beziehen.“
„Wahrscheinlich die Kollaboration einiger Andori, die auf die Gnade der zukünftigen Machthaber hoffen.“, spekulierte Meister Kunar halblaut.
„Würde ihnen nicht ein einziger Ochse genügen?“, überlegte Janis. Über die Versorgung der Kreaturen hatte er sich bisher keine Gedanken gemacht, aber bei genauerer Betrachtung hätte ihm klar sein müssen, dass Nomion seine Armee nicht hungern ließ. „Sobald er einmal aufgefressen wurde, könnte der Schwarze Herold ihn immer wieder beschwören, bis alle satt sind.“
Kommandantin Daroscha runzelte die Stirn. „Würde dann nicht das Fleisch aus den Mägen der Kreaturen verschwinden? Die gefallenen Kreaturen haben sich bei der Wiederbelebung durch den Herold stets in blaues Licht aufgelöst.“ Sie stieß einen zwergischen Fluch aus. „Wir wissen einfach zu wenig über diese Macht! Aber da der Schwarze Herold sich hier nur selten blicken lässt, ist das für Nomion vermutlich keine Option.“
Sie zögerte kurz und schien noch mehr dazu sagen zu wollen, dann schüttelte sie den Kopf. „Drittens: Die Helden von Andor sind aus dem Grauen Gebirge zurückgekehrt. Fürst Kram hat seinen Runenmeistern wohl nicht alles anvertraut, aber uns wurde übermittelt, sie hätten einen Plan, falls Marts Hilfe nicht den gewünschten Erfolg bringt. In spätestens fünfunddreißig Tagen sollte der Ewige Rat besiegt sein.“
Die anfängliche Freude in den Gesichtern von Orfen und Kunar wich blankem Entsetzen. „Fünfunddreißig Tage?“, flüsterte der Statthalter fassungslos. „Unsere Vorräte reichen vielleicht noch für die Hälfte der Zeit.“
„Wir müssen strenger rationieren. Minimalportionen für jeden, Pferde und Ziegen werden geschlachtet, notfalls auch einige unserer Falken, kein kräftezehrendes Training mehr für die Rekruten.“, schlug Kunar vor. „Und wir können anfangen, den Schnee zu sammeln und zu schmelzen, damit sollte zumindest das Trinkwasser kein Problem darstellen. So können wir bestimmt noch einen Mond durchhalten. Danach hoffen wir auf Kommandant Mart und das spätestens.“
Großartig! Minimalportionen für jeden. Janis freute sich schon darauf, Rodur diese Nachricht zu überbringen.
„Die meisten der Vorschläge klingen sogar ganz brauchbar.“, gab Kommandantin Daroscha zu. „Aber das Training ist zu wichtig, um es auszusetzen. Wir brauchen Krieger, keine verweichlichten Bauern, die das Beil eines Holzfällers nicht von einer Streitaxt unterscheiden können. Unter normalen Bedingungen hätte ich es noch nicht gewagt, ihnen überhaupt eine echte Waffe in die Hand zu drücken, ganz zu schweigen davon, sie damit kämpfen zu lassen.“
„Die hochgelobte Ausbilderin der Schildzwerge hat also in zwei Monden nichts erreicht?“, vergewisserte sich Meister Kunar in gespieltem Unglauben. „Traurig. Meine Schüler beherrschen zumindest die Grundlagen des Bogenschießens.“
„Mehr als das kannst du ihnen ja auch nicht beibringen.“, erwiderte Daroscha bissig.
Janis blendete den Streit der beiden Lehrmeister aus und widmete sich den drei Stimmen, die in seinem Inneren um Gehör stritten: Daroschas offenkundiges Misstrauen, Nomions Zweifel und Kheelas Gnadenersuche.
Bitte, Janis. Verheimliche dem Ewigen Rat, was ihn zerstören könnte.
Von der Gefahr für den Schwarzen Herold musste Nomion erfahren. Dieser geheimnisvolle Plan der Helden aber … Die Rietburg würde gewiss schon vor Ablauf der fünfunddreißig Tage fallen. Sobald Janis das Leben seiner Mutter zurückhatte, konnte der Ewige Rat von ihm aus eher früher als später zerschlagen werden. Er entschloss sich, lieber Nomion noch mehr zu verschweigen, als Daroschas Argwohn weiter als nötig zu vertiefen.
Du kannst noch so oft behaupten, dass du nur das tust, was für deine Ziele das Beste ist: Tief in deinem Innern weißt du, dass du diese Entscheidung gefällt hast, weil du Andor nicht seine letzte Hoffnung rauben wolltest.
Wenn mir so viel an Andor läge, würde ich dann Kunar und Daroscha zum Tode verurteilen? Und Orfen zu einem weitaus schlimmeren Schicksal?
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G - Das schwarze Herz (Fortsetzung)

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:18

Späte Nacht, 6. Wintertag 77 A.Z.
Dachgeschoss im Kronenturm der Rietburg, Andor

Langsam reckte der Schwarze Herold seine Faust empor und blaue Lichtstrahlen schossen daraus hervor. Die andere Hand hielt er über den beinernen Kelch, den Nomion ihm entgegenhielt. Der Hexer hielt seinen Kopf gesenkt, doch selbst im Halbdunkel und auf diese Entfernung bemerkte Janis, wie schwer dem Riesen schon diese kleine Geste der Unterwerfung fiel.
Die Rietburg wurde von einem Sturm aus blauem Licht umschlossen wie von einer riesigen Faust. Das fahle Leuchten schwoll an, bis es heller strahlte als die violetten Flammen des Ewigen Feuers vor dem Tor, heller als der Halbmond zwischen den dichten Wolken, heller als der Ring aus grünem Feuer um Nomions großes Zelt. Der Widerschein des Schnees warf das Licht weit über das Rietland. Der Herold gab sich wirklich keine Mühe, seine Ankunft zu verbergen. Daroscha hatte berichtet, dass Kommandant Mart die Rietburg erst morgen erreichen würde. Doch da Janis noch keine Gelegenheit gehabt hatte, Nomion diese Botschaft zu überbringen, konnte die Anwesenheit des Schwarzen Herolds nur bedeuten, dass der Geist seine Warnung ignorierte.
Janis trat verärgert näher an die Zinnen des Kronenturms, während sich die ersten Kreaturen aus dem blauen Licht formten. Neben ihm legten die Bogenschützen ihre Pfeile ein. Im Burghof eilten die Verteidiger auf ihre Positionen. Die letzten Schutzsuchenden wurden rasch in die Sicherheit des Burgkellers geleitet.
Im Zentrum des Burghofs stand Orfen und brüllte gegen den Lärm. „… sie nicht töten, sondern verletzen!“, meinte Janis zu verstehen. Es war ihre neueste Taktik. Die Krieger sollten die Kreaturen blenden, ihnen die Füße abhacken oder was ihnen sonst einfiel, um sie lebendig auszuschalten. Auch eine unsterbliche Armee nutzte dem Ewigen Rat nichts, wenn sie nicht kämpfen konnte. Bis jede einzelne Kreatur verstümmelt worden war, wäre die Rietburg allerdings längst gefallen.
Als das blaue Licht schließlich schlagartig erlosch, war das Heer aus gelb glühenden Augen für einen Herzschlag das einzige, was Janis´ geblendete Augen wahrnahmen. Dann stürmten die Kreaturen vor.
Janis umrundete die Bogenschützen auf dem Kronenturm, blendete den Lärm aus. Das Sirren der Bögen, das Kreischen der Kreaturen, die Schreie der Verwundeten, all das verblasste. Mit unbewegtem Gesicht suchte er das Grauen um sich herum nach den Orten ab, an denen die meisten Krieger verwundet wurden und an denen die freiwilligen Helfer nach der Schlacht zuerst suchen sollten.
Die Mauer nördlich von Brandurs Turm, wo es ein ganzes Dutzend Skrale mit ihren erbärmlichen Leitern auf den Wehrgang schaffte, bis der Statthalter ankam und sie unter lautem Jubel der Krieger das Weite suchten.
Der zersplitternde Stein, den ein Fluggor allzu zielsicher auf die Nordmauer abgeworfen hatte.
Die Bogenschützen im Torhaus, die sich so sehr auf die beiden Trolle konzentrierten, die mit Baumstämmen an das Burgtor pochten, dass sie beinahe von den übrigen Kreaturen überrannt worden wären.
Das geisterhaft grüne Feuer, das plötzlich einen der Krieger in eine menschliche Fackel verwandelte und sich rasend schnell ausbreitete, bis Vara den Ort erreichte und die schlimmsten Brände löschen konnte.
Als endlich der Morgen dämmerte und der Strom der Kreaturen versiegte, war der bisher tödlichste Angriff abgewehrt. Mindestens zwanzig Verteidiger waren gefallen und Janis vermutete, dass ebensoviele die folgende Nacht nicht mehr erleben würden. Sie hatten an einem einzigen Morgen den vierten Teil ihrer Krieger verloren, auch wenn die temporären Verluste in Nomions Armee zweifelsohne ebensogroß waren. Fast erwartete Janis, die Kreaturen in blauem Licht wiederauferstehen zu sehen, doch der Schwarze Herold war irgendwann während der Schlacht wieder verschwunden.
Die ersten Schutzsuchenden tröpfelten aus dem Keller. Sann kletterte auf den Kronenturm und Janis hob sie über die Zinnen, um ihr die umkämpftesten Stellen zu zeigen. Sie war nicht stark genug, um Verwundete zum Siechenhaus zu tragen und konnte auch kaum bei ihrer Versorgung helfen, daher sollte sie die freiwilligen Helfer zu den Orten lotsen, die Janis sich während des Angriffs gemerkt hatte.
„Das sollte das Wichtigste gewesen sein.“, seufzte Janis und setzte sie ab. Kaum berührten ihre Füße den Boden, durchzuckte plötzlich ein grauenhafter Schmerz seinen Schädel. Er stöhnte auf und konnte nicht verhindern, dass er kraftlos gegen die kalte Mauer sank.
Schrecken.
„Faulpelz? Alles in Ordnung?“, hörte er Sanns besorgte Stimme wie durch dichten Nebel. „Das ist nicht lustig, Faulpelz!“ Er presste sich eine Hand auf die Stirn und unterdrückte einen Schrei.
Schmerz.
„Faulpelz?“ Janis keuchte und richtete sich mühsam auf. Was bei allen Kreaturen der Tiefe war mit ihm los? Kälte durchfuhr ihn, als er begriff. Vara! Sie sandte ihm eine Botschaft!
Furcht.
Janis hatte ihr aufgetragen, auf Sara und Rodur zu achten. Wenn der Wassergeist ihn jetzt kontaktierte … Janis wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Die Angst verlieh ihm neue Kraft. Mühsam zog er sich am Stein hoch und schrammte sich dabei die Finger blutig.
Hilflosigkeit.
Hektisch glitt sein Blick über die Mauern. Er fand Sara nahe des Torhauses. Sie stand mit unbekümmerter Miene neben Meister Kunar, aber ihre Augen strahlten in so tiefem Blau, dass Janis der Atem stockte. Doch sie betrachtete nur den Tod um sich herum und schien selbst in keiner Gefahr zu schweben.
Wut.
Wo steckte Rodur? Er war nicht unter den Verteidigern, die sich um Orfen sammelten, er stillte nicht seinen Durst am kleinen Brunnen – schließlich wusste er von den Sapian-Knollen. Erst nach viel zu vielen Herzschlägen entdeckte Janis ihn. Er lag auf dem Wehrgang neben Brandurs Turm und ein unaufmerksamer Beobachter hätte meinen können, er ruhe sich nur aus. Doch er krümmte sich und auch wenn er zu weit entfernt war, als dass Janis es mit Sicherheit sagen konnte, meinte er einen schmerzverzerrten Ausdruck auf dem Gesicht seines Freundes zu erkennen. Die Erleichterung, dass Rodur noch am Leben war, wich schnell der Furcht.
Trauer.
Vara stand neben ihm und betrachtete ihn traurig, ihr blauer Schatten fiel auf ihn. Sie ist wunderschön. Er hätte Rodur davon überzeugen müssen, dass sein Fieber einen Kampf unmöglich machte. Er hätte… Janis schloss die Augen und sammelte sich. Für Vorhaltungen würde später Zeit sein.
„Faulpelz? Was ist los?“
Janis drehte sich um. „Sann! Die ersten Helfer, die du findest, schickst du mit einer Trage zu Brandurs Turm!“ Er riss die Bodenluke auf und stürmte die Wendeltreppe herunter. Der Schmerz pochte im Takt seiner Schritte, aber sein Entsetzen treib ihn weiter. Er stolperte durch den Schneematsch im Burghof, rutschte aus und besudelte sich mit Schlamm, ohne es zu bemerken. Der eigentlich kurze Weg schien sich ewig hinzuziehen.
Rodur hob kaum den Blick, als Janis sich endlich neben ihn kniete und ihn an der Schulter schüttelte. Seinen Augen flackerten panisch in alle Richtungen, Schweiß strömte über sein Gesicht.
„Rodur!“, flüsterte Janis verzweifelt, und als er keine Antwort erhielt, rief er den Namen noch lauter.
Rodurs Blick klarte auf. „Sajin!“, keuchte er schwach, dann holte er rasselnd Luft. Sein Versuch, noch etwas zu sagen, endete in einem ungesund klingenden Husten. Als Rodur sich wieder beruhigt hatte, klebte Blut an seinem Mund. Das war kein Fieber mehr!
Behutsam tastete Janis seinen Freund nach einer Verletzung ab, aber er fand nichts. „Was ist geschehen?“, fragte er fassungslos.
„Nichts … nichts!“ Erneut hustete Rodur. „Einfach so … nur Schmerz … es zerreißt meine Brust … keine Luft …“
Janis hob den Blick und suchte nach Nomion, fürchtete einen bösen Zauber. Doch der Hexer war in dem großen Zelt verschwunden, das die Kreaturen in den letzten Tagen für ihren Feldherrn errichtet hatten. Janis nahm Rodurs Handgelenk. Sein Puls war schnell und unregelmäßig.
In diesem Moment erklangen hastige Schritte. Zwei der freiwilligen Helfer aus dem Siechenhaus rannten über den Wehrgang. Anscheinend hatte Sann den Auftrag ausgeführt.
„Bringt ihn ins Siechenhaus!“, forderte Janis. Es gelang ihm beinahe, die Verzweiflung aus seiner Stimme zu bannen.
Die beiden legten Rodur vorsichtig auf ihre Trage. „Der Himmel ohne Sterne … verfolgt mich … bedrückt mich … raubt mir den Atem … kein Ambacu ist jemals frei …“, flüsterte Rodur im Fieber. Janis folgte seinem wirren Blick in den wolkenverhangen Himmel.
„Sieh doch nach Osten.“, wisperte Janis. „Die Sonne geht auf. Wozu noch Sterne?“
Rodur blinzelte und wimmerte, als seine Trage angehoben wurde. „Sajin … Janis … ich habe Angst.“ Seine Augen fielen zu und seine Brust zuckte, während sein rasselnder Atem stockte. Sein Puls setzte unter Janis´ Fingern immer wieder kurz aus.
Den folgenden Weg zum Siechenhaus registrierte Janis nur bruchstückhaft. Irgendein vernünftiger Teil seines Geistes bemächtigte sich seiner Zunge und rief die beiden Helfer zur Eile. Vara begleitete sie, ob aus eigenem Antrieb oder auf einen unbemerkten Befehl hin, wusste Janis nicht. Im Siechenhaus wurde Rodur auf das erstbeste freie Bett verfrachtet. Vor einem Angriff verlangte Readem von allen Verwundeten, die laufen konnten, das Siechenhaus erst einmal zu verlassen, damit Platz für gefährdetere Patienten war. Trotzdem würden die Betten heute nicht ausreichen.
Unmittelbar nachdem die Helfer Rodur abgelegt hatten und aufbrachen, um noch mehr Verwundete zu bergen, brachen sein rasselnder Atem und sein hüpfender Puls gleichzeitig ab und erwachten nicht wieder zum leben.
Atem. Herzschlag. Alles ist miteinander verbunden. Stirbt das eine, so stirbt das andere. Wenn du es wiedererwecken willst, dann rege auch beides wieder an.
Verzweifelt presste Janis seinen Mund auf Rodurs und blies kräftig hinein. Er schlug rhythmisch auf seine Brust. Pusten. Schlagen. Pusten. Schlagen. Mutter hatte ihm diese Technik beigebracht, um einen eben Ertrunkenen zum Leben zu erwecken. Es war die einzige Hilfe, die Janis einfiel.
Irgendwann trat Readem zu ihm. „Lass ihn gehen, Janis.“, sagte der alte Heiler traurig. „Wir haben ein Dutzend Verwundete hier, die wir jetzt retten können. Retten müssen. Sie sterben in ihren Betten, weil sich niemand um sie kümmert.“
„Er ist mein Freund.“, hauchte Janis ohne innezuhalten.
„Verschwende deine Zeit und Kraft nicht an einem Toten. Nicht, wenn du andere sterben lässt.“
„Er ist mein Freund!“, schrie Janis zornig.
Ein wehmütiges Lächeln erschien auf Readems Lippen. „Er war es. Trauere nicht zu lange.“
Er schlurfte davon und Janis brach seine Bemühungen ab. Er hatte versagt! Er hatte sich nicht genug angestrengt! Er schloss die Augen und begrüßte die Dunkelheit, die ihn umfing. Dunkelheit…
Sein Traum kam ihm in den Sinn. Ein Herz, das in der Dunkelheit zu schlagen aufhörte. Bis das Wasser es berührte. Er riss die Augen auf.
Vor sich sah er nicht Rodurs Körper, sondern wirbelndes Wasser unter einer Schicht aus Eis. Die Hand eines Kindes, seine Hand, die vergeblich nach dem gezackten Loch griff. Dann das liebevolle Gesicht seiner Mutter, Tränen in ihren Augen. Mach das nie wieder, Janis. Die Narne ist tückisch, selbst im Winter. Ohne Vara hätte auch ich dich nicht retten können.
Die Erinnerung verblasste. Janis hob den Kopf und sah Vara an, die neben Rodurs Lager stand. Hatte sie ihn begleitet, weil sie wusste, dass sie gebraucht wurde?
Er gab ihr einen kurzen Befehl und sie löste sich auf, floss durch Rodurs Mund und Nase und verschwand in seinem Körper. Wieder schloss Janis seine Augen.
Der Körper seines Freundes lag in der Dunkelheit ausgebreitet vor ihm. Das Blut hatte zu fließen aufgehört, aber Wasser durchspülte ihn jetzt. Erkundete jeden Winkel, zwängte sich durch seine Adern, füllte seinen Lungenflügel aus, brodelte in seinem Bauch. Das Herz. Eine kurze Vorstellung genügte und Janis sah es vor sich. Einen verwinkelten, ausgehöhlten Muskel. Das Wasser pulsierte, schwoll an und ab, regte es an, viel besser als seine Schläge. Es durchsuchte das Herz, suchte und fand nichts. Kein Hindernis, keine Schwäche, nur die Stille.
Atem. Herzschlag. Alles ist miteinander verbunden.
Nicht das Herz.
Die Lunge. Das Bild veränderte sich, als Janis und damit auch Vara sich auf ein anderes Organ konzentrierte. Rodurs Lunge, von Wasser ausgefüllt und ihrer Funktion beraubt. Doch auch hier war nur die Stille zu finden.
Alles ist miteinander verbunden.
Janis stockte. Verbunden. Das Wasser strömte von der Lunge zum Herzen und zurück. Durch die Adern hindurch, von denen die Lunge durchzogen war. Und es wurde gebremst. Ein Hindernis blockierte seinen Weg, ein Fremdkörper. Es war kein Steinsplitter, keine Gorklaue, kein Riss in der Ader. Es war Blut. Blut, das nicht mehr fließen konnte. Blut, das fest geworden war. Geronnen. Das den Weg versperrte, verstopfte. Unaufhaltsam für den Druck des Herzens. Aber nicht für das Wasser.
Mit aller Gewalt brach Vara hindurch, zerpflückte das Hindernis, riss es auseinander. Der Weg war frei. Doch das Blut floss nicht. Das Herz blieb stumm.
Erneut begann das Wasser zu pulsieren. In regelmäßigen Abständen flutete es das Herz und zog sich zurück. Zugleich verließ es die Lunge, machte Platz für die Luft, die folgen musste. Angetrieben durch die Kraft des Wassers begann das Blut zu strömen.
Janis wartete. Er wollte nicht aufhören, wollte seinen Erfolg nicht riskieren. Wir haben ein Dutzend Verwundete hier, die wir jetzt retten können. Er wusste, dass er nicht ewig warten konnte. Entweder Rodurs Herz würde aus eigenem Antrieb zu schlagen beginnen, oder es gab keine Hoffnung mehr. Langsam zog er sich zurück, befahl Vara hinaus. Dann schlug er die Augen auf.
Zaghaft griff Janis nach Rodurs Handgelenk und horchte auf seine Fingerspitzen. Nichts … nur Stille.
Ohne die Hand loszulassen sank Janis in sich zusammen und schluchzte. Er hatte versagt!
Da spürte er es. Schwach, kaum wahrnehmbar. Ein Zucken in der Ader. Langsam. Und gleichmäßig. Das Herz in der Dunkelheit … es schlug wieder! Sacht hob und senkte sich Rodurs Brust. Janis hatte nicht versagt! Er hatte ihn gerettet. Er spürte in sich hinein, eine unsichtbare Verbindung entlang. Vara war wie immer angefüllt mit überwältigender Trauer. Aber jetzt vielleicht weniger als sonst.
Nicht ich habe es geschafft!
Sondern wir!
Gemeinsam!



Früher Nachmittag, 7. Wintertag 77 A.Z.
Dachgeschoss im Kronenturm der Rietburg, Andor

„Sajin? Können wir zu ihm?“ Janis schlug die Augen auf, starrte in Barrams ungepflegten Bart und versuchte sich zu erinnern, wo er war.
„Oh, hast du geschlafen? Ich wollte dich nicht …“
„Nur ausgeruht.“, behauptete Janis, woraufhin Barram und Sara einen skeptischen Blick wechselten. Mühsam stand er von der unbequemen Bank neben dem Eingang des Siechenhauses auf und streckte sich. Er hatte eine Nacht ohne Schlaf und einen Morgen ohne Auszeit hinter sich, aber jetzt endlich waren alle Verwundeten, für die sie noch etwas hatten tun können, versorgt. Anscheinend war er beim ersten Versuch einer Pause gleich eingenickt, dem gequälten Stöhnen und dem besorgten Murmeln der Angehörigen zum Trotz. Auch jetzt noch hallten die bedrückenden Geräusche gedämpft durchs Siechenhaus und gaben sich alle Mühe, die tiefe Stille zu übertönen, die in den verputzten Ecken lauerte. Die sich in den Schatten der Vorhänge verbarg, in der Asche im Kamin und in den stummen Tränen der Freiwilligen, die draußen im Burghof den Scheiterhaufen vorbereiteten, da in der gefrorenen Erde niemand begraben werden konnte.
Er führte Sara und Barram vorsichtig an den provisorischen Lagern vorbei, die kaum mehr waren als einige Decken auf dem kalten Fliesenboden. Das Siechenhaus bot Platz genug für die alltäglichen Verletzungen der Andori, für Unfälle und Krankheitswellen, aber nicht für die Folgen einer Schlacht.
Die Andori und Geflüchteten, die mit leeren Augen neben den Verwundeten kauerten und ihre Hände hielten, wichen respektvoll vor ihm zur Seite. Inzwischen hatte vermutlich jeder auf dieser Burg schon von ihm gehört. Er war kaum mehr als ein Kind und doch schon der zweite Heiler neben Readem. Ihm verdankten Dutzende wenn nicht ihr Leben, dann doch zumindest einen frischen Verband. Er hatte Kommandantin Daroscha und den Statthalter zu Boden geschickt, auch wenn sich an Letzteres hoffentlich kaum noch jemand erinnerte. Und jetzt noch der uralte Wassergeist, der vor aller Augen seinen Freund geheilt hatte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis jemand erriet, wer er war.
Zwei Helfer liefen an ihnen vorbei, sie trugen eine Bahre, auf der ein zugedeckter Körper lag. Janis hielt sie an und lüftete das Laken. Mitron. Ein junger Rekrut, der seine mangelnden Fähigkeiten durch übermäßigen Enthusiasmus ausgeglichen hatte. Janis zwang sich, sich das bleiche Gesicht einzuprägen, dann winkte er die beiden Helfer weiter und setzte seinen Weg fort. Mitron hatte bereits auf der Liste der Toten gestanden, jetzt musste ein anderer diesen Platz einnehmen. Verzweifelt überlegte Janis, wen er zum Tode verurteilen sollte. Zwei Personen kamen ihm in den Sinn, beide hier in diesem Raum: Das hagere Gesicht von Casimir, dem Falkner stieg in ihm auf. Er konnte besser mit Vögeln als mit Menschen umgehen, doch er hatte das Herz am rechten Fleck. Janis hatte ihm vor einer Stunde erst eine Fleischwunde am Arm genäht, die eine Gorklaue hinterlassen hatte. Das andere Gesicht bestand aus kaum mehr als dunklen Augen, einer breiten Nase und einem buschigen, ungepflegten rotbraunen Bart. Barram. Janis warf unauffällig einen Blick über die Schulter. Der Zwerg trampelte ungeschickt hinter ihm her und ließ Sara nicht aus den Augen. Janis unterdrückte seinen Ärger und setzte Casimirs Namen auf die Liste der Toten. Der Falkner hatte keine Angehörigen mehr und weniger Lebensjahre vor sich als ein Zwerg.
Und, ist er deshalb weniger wert als ich?
Für mich schon, Mutter.

Schließlich blieben sie vor einem Vorhang stehen, den Janis behutsam beiseiteschob. Auf der Pritsche, in Decken eingewickelt, lag Rodur. Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn und sein glattes schwarzes Haar lief schlaff und leblos über seine geschlossenen Augen. Irgendwelche Helfer hatten ihm die schmutzigen Kleider der Schlacht abgenommen und ihm leichte, anonyme Leinenkleidung angelegt. Es tat Janis weh, seinen Freund so verloren zu sehen. Rodur war zwei Köpfe größer als er und ein gutes Stück kräftiger, doch in diesem Moment sah er klein und schutzlos aus.
Vara stand mit gesenktem Kopf am Fußende des Bettes und betrachtete Rodur traurig. Janis hatte sie hier wachen lassen, falls sie erneut benötigt wurde, doch bisher war alles ruhig geblieben. Das Wasser, das ihren durchscheinenden, leicht formlosen Körper bildete, floss langsam wie Sirup durch sie hindurch. Das Licht aus den hohen Fenstern des Siechenhauses drang kaum durch die Vorhänge ums Bett und ihr leichter blauer Schimmer hatte sich um Rodurs schlafende Gestalt gelegt.
Janis setzte sich wortlos auf einen der beiden Hocker neben dem Bett und kontrollierte Rodurs Puls. Sara ließ sich auf dem anderen nieder und strich Rodur sanft das glatte Haar aus der Stirn.
„Was genau hatte er?“, fragte Barram leise.
„Ein Klumpen geronnenen Blutes hat sich in seiner Lunge festgesetzt und so viele Adern verstopft, dass sein Kreislauf gestört war.“
„Und woher weißt du das?“ Janis erstarrte. Was war das denn für eine Frage? Nicht: Wie geht es ihm jetzt? Wann wird er aufwachen? Nicht: Wie konnte das passieren? Wie wurde er geheilt? Nur diese unbeteiligte und zugleich aufdringliche Frage. Er drehte sich zu Barram um. Der Zwerg sah Rodur nicht einmal an, der Blick seiner dunklen Augen ruhte auf Vara und seine Stirn war gerunzelt. „Es hat etwas mit dieser Wasserfrau zu tun, oder? Es heißt, sie hat ihn gerettet? Was weißt du darüber?“
Janis kniff die Augen zusammen. „Ja, sie hat ihn gerettet.“, antwortete er kurz angebunden. „Rodurs Zustand ist jetzt jedenfalls stabil. Er wird bald aufwachen.“
Barram blinzelte und strich sich durch den Bart. „Das ist wirklich gut zu hören!“, versicherte er freudig. „Aber das beantwortet nicht die Frage, was du …“
„Ich bin mir sicher, es wird ihn erfreuen, dass du ihn besucht hast, Barram.“, ergänzte Janis, ohne weiter auf die Frage einzugehen. Der Gipfel der Unhöflichkeit.
Der Zwerg atmete tief ein. Sara schüttelte langsam den Kopf, ein Schatten huschte durch das tiefe Blau ihrer Augen, der wohl auch Barram nicht entging. Er ließ die Luft wieder entweichen, ohne etwas gesagt zu haben. Typisch, erst eine Geste von Sara brachte ihn zum Schweigen! Der Baumeister war klug genug, um nicht weiter nachzuhaken. Aber auch ihm musste klar sein, dass Janis den Fragen nicht ewig davonlaufen konnte.
„Richte ihm meine besten Wünsche aus.“, murmelte Barram schließlich unbehaglich. „Ich lasse euch drei jetzt etwas Zeit für euch.“ Ehe noch jemand etwas sagen konnte, war der Zwerg hinter den Vorhängen verschwunden.
„Danke, dass du mir seine Fragen erspart hast.“, sagte Janis nach einer Weile.
Dein. Geheimnis. - Dein. Entscheidung. gebärdete Sara, ohne den Blick von Rodur zu wenden. Aber. Rund-Zwerg. Erfahren werden. Bald. Von. Allein.
„Ich weiß.“, murmelte Janis. „Trotzdem danke.“
Sara setzte ein schwaches Lächeln auf, ohne ihn anzusehen. Janis musterte prüfend ihre Augen und suchte nach einem Anflug von Violett darin. Doch alles was er fand war das traurige, dunkle Blau einer sternenlosen Nacht.
Und. Ich. Danken. Kind-Von-Fluss. - Sohn-Von-Feuer. Schlafen. Aber. Wenigstens. Nein. Tot.
„Er wird bald aufwachen.“, wiederholte Janis eindringlich. „Ich verspreche es.“ Denn alles andere könnte ich nicht verkraften.
Sara hob den Kopf und erwiderte seinen ernsten Blick. Er sah seine Ängste in ihren Augen gespiegelt, sah eine Schwärze, die sich noch hinter dem Tintenblau ihrer Iriden verbarg. Und dann, endlich, veränderten ihre Augen sich. Ein sanfter Schimmer erschien darin wie das erste Licht der Dämmerung. Ja. - Sohn-von-Feuer. Erwachen werden. - Ich. Vertrauen. Kind-von-Fluss.
Kurz schien es Janis, als sei zumindest ein Teil ihres Lächelns echt. Dann wandte sie sich ab und betrachtete wieder den schlafenden Rodur. Hilflos musste Janis mitansehen, wie der Schimmer in ihren Augen erneut im unauslöschlichen Blau versank. Angeblich. Gut. Wenn. Mit. Schläfern. Sprechen. - Aber. Mädchen-Ohne-Worte. Nein. Können. gebärdete sie bedauernd.
Janis schwieg. Er hätte anbieten können, ihre Worte laut auszusprechen, aber das wusste Sara auch so. „Er würde nicht wollen, dass wir verzweifelt auf seine Genesung warten und ihm Worte zuflüstern, die er nicht hören kann.“, meinte er schließlich. „Er würde wollen, dass wir an ihn denken, wie er gesund ist. Dass wir fröhlich sind für ihn.“
Ich. Fürchten. Das. Sein. Unmöglich. Ihr vorgetäuschtes Lächeln verblasste endgültig. Das verhasste Blau verdunkelte sich noch weiter und Janis ertrug es nicht länger.
„Ich habe für Rodur getan, was ich konnte. Ihm kann ich nicht mehr helfen. Doch dir, Sara, dir kann ich helfen. Mancher Schmerz kann alleine nicht überwunden werden. Aber du bist nicht mehr allein.“
Er zögerte. „Ich weiß, wie schwer es ist. Ich kenne die Stille, die in mir wartet, bis niemand mehr um mich ist. Ich kenne die Dunkelheit, die mir in der Nacht den Atem raubt. Ich kenne die Einsamkeit, die mich so hartnäckig verfolgt wie mein Schatten. Ich kenne die Sehnsucht, die mir eine glückliche Erinnerung nach der anderen aufzwingt und sie in nichts als Schmerz verwandelt. Ich kenne die Tränen, die in mir vertrocknen, noch ehe sie geweint werden können. Ich kenne das Entsetzen, wenn der Anblick ihres sorgsam geflochtenen Haars immer mehr verschwimmt, oder der friedliche Klang ihres Atems im Schlaf, und ich kenne die Furcht, dass mir eines Tages nichts mehr bleibt. Ich weiß, dass ich all das nicht zurücklassen kann. Dass die Trauer ein Teil von mir ist, ob ich will oder nicht. Dass manchmal keine Wahl bleibt, als sie zuzulassen. Doch nur manchmal, Sara.“
Sara saß auf ihrem Hocker wie eingefroren. Einzig das tiefe Blau ihrer Augen wirbelte unruhig wie die See bei Sturm.
„Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden. Aber diejenigen, die das behaupten, haben keine Ahnung! Sie haben nicht gespürt, was wir spüren! Deine Schatten werden dich nicht verlassen, nur weil genug Zeit verstreicht. Sie werden dich erst verlassen, wenn du dich dazu entscheidest. Deine Trauer verfolgt dich nicht, Sara, du verfolgst sie. Du vergräbst dich in sie, weil sie das einzig Vertraute ist in einer fremd gewordenen Welt. Du hast sie an dich gekettet. Meine Mutter hat mir vor vielen Jahren einmal gesagt: Frischer Kummer wäscht dich rein, aber alte Trauer vergiftet dich. Damals habe ich es nicht verstanden. Heute tue ich es. Ich bitte dich, Sara: Löse deine Ketten. Lass die Trauer frei.“
Sie starrte in Rodurs Gesicht, doch Janis wusste, dass sie es nicht sah. Langsam hoben sich ihre Hände und formten ein einsames Zeichen: Wie.
„Akzeptiere, dass das Verlorene verloren ist. Lebe dein Leben jetzt, nicht in der Vergangenheit. Genieße die kleinen Freuden der Gegenwart. Lass den Kummer dich reinwaschen, nicht vergiften. Vergiss niemals, dass du nicht mehr allein bist.“
Welches. Freuden. Als-Frage-Gemeint. - Alles. Leer. - Nichts. Hier. Zu. Genießen.
„Es gibt so vieles, was du genießen kannst. Du musst nur lernen, es zu sehen. Soll ich dir ein Rätsel stellen? Das magst du doch.“
Sara nickte zögernd und drehte leicht den Kopf, sodass sie seine Hände beobachten konnte. Janis blinzelte und versuchte zwanghaft, sich an eines von Kheelas Rätseln zu erinnern.
Ein Schmerz, ein Ausruf und ein ewig Nein, wird stets der Grund von aller Freundschaft sein.
Nimm mir ein nu, so bin ich ein Nu.

Es war zwecklos! Sara kannte sie alle schon. Sein Kopf war wie leergefegt und er wusste, dass ihre Ungeduld wuchs. Als er gerade anfangen wollte, ein eigenes Rätsel zu erfinden, fiel ihm endlich doch noch eines ein.
Ding. Gehen. Von. Mund. Zu. Mund. Aber. Nein. Gerücht. - Zwei. Menschen. Kosten. Ding. Aber. Ding. Kosten. Nichts. gebärdete er schnell.
Saras Augen verengten sich für den Bruchteil eines Herzschlags, doch sie musste wohl nicht lange nachdenken. Sie hob den Kopf, sah ihn an – und ehe Janis reagieren konnte, beugte sie sich vor. Er spürte, wie etwas hauchzart über seinen Mund streifte, war sich nicht sicher, ob es ihre Lippen oder nur ihr Atem war. Der Duft von Bittermandel und Rietgrasblüte stieg ihm in die Nase, im nächsten Moment war sie schon wieder fort und saß auf ihrem Hocker, als wäre nichts geschehen. Sie hatte sich abgewandt und machte es Janis unmöglich, aus der Farbe ihrer Augen zu lesen, doch zumindest entging ihr so auch, dass er knallrot anlief.
War das gerade wirklich geschehen? Was sollte er daraus schließen? Hatte sie das seinetwegen getan, oder nur des Rätsels wegen? Hatte sie sich abgewandt weil sie schüchtern war, oder weil sie sich über ihn lustig machte? Wie musste er reagieren? Er hatte geglaubt, Sara zu kennen, aber plötzlich erfüllte ihn nur noch nervöse Verwirrung.
Schließlich räusperte er sich und sagte betont neutral: „Die Antwort ist richtig.“ Es gelang ihm einigermaßen, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen.
Natürlich. Richtig. - Noch. Mehr. Rätsel. Als-Frage-Gemeint. gebärdete Sara, noch immer von ihm abgewandt.
Janis beschloss, nicht weiter über den Vorfall nachzudenken. „Ich fürchte nein.“, brachte er hervor, während er überall hinsah, nur nicht zu Sara. Er betrachtete das durchscheinende Antlitz Varas, die ihn traurig musterte, dann Rodur, der blass auf seinem Bett lag. Ihm kam eine Idee. „Doch, ein Rätsel habe ich noch! Du hast einen jungen Mann, der an starkem Fieber leidet. Eines Tages bricht er plötzlich zusammen. Die Adern seiner Lunge werden von festem Blut verstopft, das vermutlich irgendwann irgendwoanders in seinem Körper geronnen ist und sich erst durch die Anstrengung gelöst hat, denn er hat eine Schlacht hinter sich. Die Frage ist: Woher stammt dieser Blutklumpen? Der junge Mann ist bis auf das Fieber gesund, bewegt sich regelmäßig, isst und trinkt mehr als genug, sein Körper ist gut durchblutet und er hat keine inneren Verletzungen.“
Sara richtete ihren Blick auf Rodurs schlafendes Gesicht. In ihren Augen tobten Stürme aus Farben, violett und blau und tausend Schattierungen dazwischen, schillernde Muster irrlichterten durch die schmalen Kreise um ihre Pupillen. Janis wusste nicht, was das hypnotische Farbenspiel ihm verriet, doch er konnte sich kaum von diesem Anblick lösen und auf das achten, was ihre Hände ihm sagten: Du. Sein. Heiler. - Du. Müssen. Lösen.
„Ich habe es versucht. Aber ich kenne keine Krankheit, die so etwas verursachen könnte.“
Dann. Vielleicht. Nein. Krankheit. Von einem Herzschlag auf den anderen erloschen die bunten Farben in ihren Augen und wichen einem eisigen Grau, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Sondern. Gift.
Janis erstarrte. Der Traum holte ihn wieder ein, der Traum, mit dem er Rodur gerettet hatte. Das schwarze Herz in der Dunkelheit. Warum ausgerechnet ein schwarzes Herz? Ihm wurde schlecht. Er hörte erneut seine eigene Stimme, als er zum Statthalter sprach: Das Schwarze Herzblatt verstärkt langfristig die Blutgerinnung, das Blut der Vergifteten wird im Körper verklumpen und erstarren. Die Folgen sind schmerzende und absterbende Gliedmaßen, Atemnot bis zum Lungenversagen, Herzschwächen und Schlaganfälle.
Wie hatte das geschehen können? Irgendjemand hatte seine Lüge zur Wahrheit gemacht. Wieso wusste er nichts davon?
„Schwarzes Herzblatt, in Kombination mit Gelbkralle! Das wäre denkbar. Aber wo soll dieses Gift sein?“, fragte er.
In. Essen. antwortete Sara ohne zu zögern. Deshalb. Nur. Krieger. Krank. - Krieger. Gegessen haben. Mehr. - Und. Sohn-Von-Feuer. Noch. Mehr.
Janis spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Die heisere Stimme Nomions krächzte ihm höhnische Worte entgegen: Sie sollten sich freuen, weniger zu bekommen.
„Warum sind dann nur so wenige krank? Wenn wirklich Gift im Essen ist, dann müsste mittlerweile jeder Verteidiger Fieber haben, und schon die ersten Schutzsuchenden.“
Sohn-Von-Feuer. Und. Kind-Von-Fluss. Und. Mädchen-Ohne-Worte. Und. Rund-Zwerg. Sein Krank. Saras Augen weiteten sich. Nur. Krank. Wer. Nein. Trinken. Aus Brunnen. - Deshalb. Wolf-Krieger. Geben. Knollen. In. Wasser. - Nein. Gift. Sondern. Gegen-Gift.
„Du hast recht.“, flüsterte Janis. „Die Effekte von Sapian-Knollen und Schwarzem Herzblatt heben sich gegenseitig auf.“ Er sprang auf. „Ich hole sofort Sapian-Knollen für Rodur und …“ Janis brach ab. Er hatte die Vorhänge zurückgeschlagen und starrte einem ungepflegten Bart entgegen, über dem sich zwei erschrockene Augen befanden. „Barram? Was … was machst du noch hier? Du bist doch schon vor Ewigkeiten …“ Janis stockte. Hatte der Zwerg etwa …?
„Ich sagte, ich lasse euch etwas Zeit für euch. Aber ich hatte vor, Rodur danach auch noch mal zu besuchen.“, erklärte Barram viel zu hastig.
„Ich verstehe.“, antwortete Janis kühl, dann trat er ohne ein weiteres Wort um das runde Kettenhemd in seinem Weg herum. Ihn konnte Barram nicht täuschen. Wenn er ihnen wirklich Zeit für sich hätte lassen wollen, dann hätte Barram sich nicht direkt neben die Vorhänge gestellt. Dazu sein ertappter, fast schuldiger Gesichtsausdruck, als Janis die Vorhänge gelüftet hatte, und die mehr als nur ungewöhnliche Neugierde, die der Zwerg ihm schon seit geraumer Zeit entgegenbrachte – Barram hatte gelauscht! Wie viel hatte er gehört? Wahrscheinlich jedes ausgesprochene Wort, also die Hälfte des Gesprächs.
Janis verbannte jeden Ärger aus seinem Gesicht, während er durchs Siechenhaus zum Anbau ging. Einer der Verwundeten winkte ihm freundlich zu und Janis erkannte Casimir, den er vorhin auf die Todesliste gesetzt hatte. Janis erwiderte das Lächeln des Mannes und freute sich in Gedanken für ihn, denn der Falkner war soeben auf die Liste der Lebenden hochgestuft worden. Ein anderer Name stand nun an dessen Stelle zwischen denen, die den Fall der Rietburg nicht überleben würden: Barram.
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Zwischenspiel XIII - Spielsteine

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:19

Zwischenspiel XIII – Spielsteine

Später Vormittag, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Nummer Zwei kreischte auf, als es ins Wasser fiel. Alles war warm und blau. Prustend kam Nummer Zwei wieder nach oben. „Nummer Vier hat Nummer Zwei geschubst!“, beschwerte es sich. Nummer Vier grinste hämisch, im nächsten Moment plumpste es ebenfalls ins Wasser und Nummer Drei lachte, ehe es hinterhersprang.
„Jetzt sind wir alle nass!“, quengelte Nummer Zwei. „Mutter hat gesagt, das ist schlecht für uns.“
„Mutter ist auch immer nass.“, erwiderte Nummer Drei.

„Aber Mutter muss nass sein.“
Nummer Drei zuckte zusammen, als Mutter hinter ihm aus dem Wasser tauchte. Ihre orangenen Augen glühten belustigt. „Nummer Vier hat Nummer Zwei geschubst und Nummer Drei hat Nummer Vier geschubst und dann ist Nummer Drei selbst gesprungen.“, offenbarte Nummer Zwei triumphierend. „Nummer Drei und Nummer Vier sind beide schuld, und Nummer Zwei ist unschuldig!“
Mutter lächelte geheimnisvoll und bedeutete ihnen mit einem Wink ihres Stabes, wieder an Land zu gehen. Sobald Nummer Zwei das warme Wasser verlassen hatte, wurde ihm kalt und es begann zu zittern. Es holte den Heißstein aus der Tasche, den es aus Rissglut mitgenommen hatte, und wärmte sich daran.

„Was hast du da, Nummer Zwei?“
Stolz zeigte Nummer Zwei seinen Fund, aber Mutter sah es finster an.
„Du warst im Allerheiligsten. Ich habe euch verboten, dorthinzugehen! Gib mir das!“
Traurig gab Nummer Zwei den Heißstein ab. „Der Traurige Graue hat Nummer Zwei berührt, und Nummer Zwei war kalt, und Rissglut war warm. Nummer Zwei ist nicht weit reingegangen.“, berichtete Nummer Zwei verlegen. Was hatte es sich nur dabei gedacht? Mutter hatte immer recht!
„Tu das nie wieder! Wenn ein Stück hiervon diesen Ort verlässt, geschieht ein großes Unglück! Ich habe euch den Zugang zum Allerheiligsten nicht ohne Grund verboten.“
Mutter seufzte und winkte mit ihrem Stab. Sofort wurde Nummer Zwei trocken, und Nummer Drei und Vier ebenfalls. Dann kam Nummer Eins zum Wasser herunter, Mutter hatte es herbefohlen.
„Es wird Zeit für eine weitere Lektion. Heute sprechen wir über das Leben und die Welt, über Macht und Verantwortung. Sagt mir, meine Kinder, was ist das Leben?“
Mutters geschuppter Schwanz rollte sich unter dem Wasser zusammen und sie legte ihren Oberkörper auf den schwarzen Fels, ohne ihre Kinder aus den Augen zu lassen.
„Das Leben ist Freiheit.“, rief Nummer Drei, aber Mutter schüttelte entschieden den Kopf.
„Das Leben ist Verantwortung.“, vermutete Nummer Eins. Mutter reagierte nicht und wartete.
Nummer Zwei zögerte. „Das Leben …“, begann es. „Das Leben ist wunderschön.“

„Ach, Nummer Zwei! Das kannst du nur sagen, weil du erst einen Bruchteil davon gesehen hast. Das Leben, meine Kinder, ist ein Spiel. Es ist ein Spiel, das festen Regeln folgt. Diese ganze Welt folgt jenen Regeln. Und wir alle müssen uns ihnen beugen. Aber jemand spielt dieses Spiel, der uns nichts Gutes wünscht.“
Ihre Stimme wurde leiser und sang mit dem Lied der Wellen.
„Wie besiegt ihr einen Feind, den ihr nicht kennt, der euch jedoch ganz genau kennt? Der von jedem eurer Gedanken, jedem eurer Pläne, jeder eurer Ideen schon weiß, ehe sie in eurem Kopf entstanden? Der weiß, wie ihr handelt und was ihr seid, wie ihr euch verhaltet und wie ihr reagiert? Wie besiegt ihr einen Feind, der euch besser kennt als ihr selbst, der die Welt versteht, wo ihr raten müsst? Der alles versteht außer sich selbst? Wie besiegt ihr einen Feind, der jede Regel des Spiels begreift, und der die Position aller Steine kennt? Der weiß, dass die Steine den Regeln folgen müssen und nur entlang bestimmter Wege gezogen werden dürfen? Der weiß, welche Steine er setzen muss, um dem Spiel sein Ende aufzuzwingen?“
Nummer Zwei überlegte angestrengt, aber ihm fiel keine Antwort ein. „Wie besiegen wir den Feind?“, fragte es neugierig.
Mutter starrte es perplex an, echte Überraschung funkelte in ihren orangenen Augen.

„Ihr? Gar nicht! Und das müsst ihr auch nicht. Ihr seid ein Teil des Spiels, aber ihr spielt es nicht. Ihr seid nur … Spielsteine. Seht euch um. Alles, was eure mittelmäßigen Augen einfangen können, ist nur eine Ansammlung von Spielsteinen. Der Fels. Ihr selbst. Die Kleidung, die ich für euch gemacht habe. Das Meer. Die Möwen. Selbst die Sonne.“
„Auch du, Mutter?“, fragte Nummer Vier sorgenvoll.
„Ja und nein. Ich bin Spielstein und Spieler zugleich. Ich bin ein Stein, der sich die Linien, über die er ziehen muss, selbst malt. Der andere Steine in Position rückt. Ich bin ein Spielstein, so wie alles, aber zugleich spiele ich mit. Und ich gebe mir Mühe, nicht zu verlieren. Doch wir sind nicht hier, um über mich zu reden. Es geht nur um euch, meine Kinder. Ihr seid die Spielsteine, die die Niederlage der Dreieinigkeit abwenden könnten. Darum habe ich euch große Macht verliehen. Eines Tages mag der Zeitpunkt kommen, da ihr euch entscheiden müsst, wie ihr mit eurer Macht umgehen müsst. Ich sage euch: Ihr dürft eure Macht missbrauchen, so viel ihr wollt. Aber vergesst niemals, dass ihr sie nicht ohne Grund besitzt. Das ist mein Leitsatz, und ich möchte, dass ihr euch den Leitsatz eurer Mutter zu eigen macht.“
„Und … aus welchem Grund hat Nummer Zwei seine Macht erhalten? Wie kann es der Dreieinigkeit helfen?“
„Das wird sich zeigen. Vorerst werdet ihr meinen Befehlen gehorchen.“
Mutters Stimme erklang in ihren Köpfen und trug ihnen auf, ihre Geschenke zu holen. Nummer Zwei beobachtete, wie sein Körper sich in Bewegung setzte. Es kletterte in die Leuchtgänge und holte das Zupfding, ohne dass es etwas dafür tun musste. Als Nummer Zwei zum Wasser zurückkehrte, fiel der Bann von ihm ab und es musste selbst entgegennehmen, was Mutter ihm entgegenhielt. Neugierig untersuchte es den grünen Stachel in seinen Händen.
„Aua! Es hat Nummer Zwei gebissen!“, rief Nummer Zwei ängstlich. Voller Abscheu hielt es den Stachel so weit es konnte von sich weg.

„Es soll beißen. Das ist sein Zweck.“
Nummer Zwei sah eingeschüchtert zu Mutter auf und senkte dann wieder seinen Blick. Entsetzt bemerkte es einen roten Fleck auf seiner Hand. Es ließ den Stachel fallen und betastete das Rot. Es war nass wie das Meer. Und es wurde größer!
„Nummer Zwei läuft aus!“ Es schloss die Augen, aber das Nass ging nicht weg! Es würde immer mehr werden, und es würde alles bedecken, das wusste Nummer Zwei. Das Nass würde überall sein und alles wäre rot! Aber Nummer Zwei mochte alles so, wie es war: Bunt und strahlend und aufregend und immer wieder neu!

„Das ist nur dein Blut. Es hält dich am Leben. Das Blut wird versiegen und der Schmerz ist vergessen.“
„Blut.“ Nummer Zwei kostete das neue Wort aus. Es klang böse. „Nummer Zwei mag kein Blut.“ Es nahm den Stachel wieder auf und ging zum Zupfding. Verunsichert sah es zu Mutter, aber sie nickte nur.
„Deine Hände wissen, was sie tun müssen.“
Nummer Zwei strahlte und ließ den Stachel wieder fallen. Es klemmte das Zupfding zwischen seine Beine und fasste mit beiden Händen an den Faden. Langsam ließ es seine Finger arbeiten und zeigte seiner Mutter, was es gelernt hatte. Als Nummer Zwei es geschenkt bekommen hatte und es sich anschauen sollte, hatte es das Zupfding in die Leuchtgänge mitgenommen und ausprobiert. Wenn es am Faden zog, machte das Zupfding einen Ton. Und wenn es mit der anderen Hand den Faden festhielt, war der Ton anders. Je tiefer die zweite Hand, desto heller. Das Zupfding konnte klingen wie die Kreischer, wie der Wind, wie das Meer. Es war wunderschön und frei. Nummer Zwei hatte gespielt und die Melodien waren aus ihm herausgeflossen.
„Was machst du da?“
Mutter runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, dass ihr grünes Haar nur so flatterte.
„Du musst den Pfeil auf die Sehne legen.“
Eingeschüchtert brach Nummer Zwei ab und legte den Stachel an den Faden. „Pfeil. Sehne.“, flüsterte es, um sich die Worte einzuprägen.
Mutter hatte recht, wie immer. Nummer Zwei wusste, was es zu tun hatte. Es stand auf, hob das Zupfding, hielt den Pfeil mit der anderen Hand fest.

„Die toten Algen da vorne.“
Mutter deutete mit ihrem Stab auf den braunen Teppich und Nummer Zwei ließ den Pfeil fliegen.
„Das Loch im Fels.“
Der Pfeil verschwand darin.
„Die Möwe dort oben.“
Nummer Zwei kniff die Augen zusammen und fixierte den Kreischer. Das Zupfding sang und der Pfeil flog. Der Kreischer stürzte vom Himmel und landete vor Nummer Zweis Füßen. Der Pfeil hatte sich ihm in die gefiederte Brust gebohrt und die Federn waren nicht mehr weiß, sondern rot. Blut! Schon wieder Blut! Nummer zwei hasste Blut! Das Zupfding entglitt seinen Händen und es kniete sich neben den Kreischer.
„Das Blut wird versiegen und der Schmerz ist vergessen.“, flüsterte Nummer Zwei und strich dem Kreischer über den Schnabel. Er regte sich nicht. Die kleinen Augen starrten blicklos in den Himmel, der die Farbe des Meeres angenommen hatte. „Warum … warum macht er nichts mehr?“, fragte Nummer Zwei mit wachsendem Grauen.
Mutter antwortete nicht und Nummer Zwei begann zu zittern. „Warum regt er sich nicht mehr? Nummer Zwei wollte das nicht!“

„Das ist die Lektion, die ihr heute lernen müsst: Alles, was ihr seht, sind nur Spielsteine. Diese Möwe ist bedeutungslos. Es kann euch egal sein, ob sie lebt oder stirbt, ob sie sich freut oder leidet. Sie ist nur ein Spielstein, ein Mittel zum Zweck. Der Wert des Spiels ist unermesslich, aber der Wert eines Steins äußert sich nur darin, wohin er gesetzt wurde. Wenn ein Stein euch im Weg steht, dann nehmt ihn aus dem Spiel.“
Mutter griff sich den Vogel und zerriss ihn. Die Überreste warf sie ins Wasser. Nummer Zwei krümmte sich zusammen. „Nein! Nein! Das ist falsch! Falsch! Es tut weh!“
„Ja, es tut weh. Glaub mir, mein Kind, du ahnst nicht, wie sehr. Vor langer Zeit haben wir versucht, den Schmerz zu bekämpfen. Den Schmerz einer ganzen Welt. Wir haben unseren Fehler zu spät erkannt. Es ist uns gelungen, die Niederlage aufzuhalten. Doch zu welchem Preis … Wir mussten uns das eigene Herz aus der Brust brennen. Das Spiel haben wir nicht verloren, aber dafür alles, was gut war an uns. Du kannst den Schmerz dieser Welt nicht bekämpfen, mein Kind. Du kannst ihn nur genießen.“
Mutter deutete auf die dunklen Wolken, die sich um die Überreste des Kreischers im Wasser gebildet hatten und die sich jetzt langsam auflösten.
„Das Blut wird versiegen und der Schmerz ist vergessen.“
Nummer Zwei schrie und warf die Pfeile von sich. Es wollte sie nicht mehr! Es rannte zu den Leuchtgängen. Mutters Stimme erklang in seinem Kopf, flüsterte Nummer Zwei zu, dass es aufbrechen musste, wenn die Sonne verschwunden war. Doch sie befahl es nicht zurück.
Nummer Zwei stolperte durch die Leuchtgänge und wimmerte. Der Blick aus den leeren Augen des Kreischers verfolgte es. Es wusste nicht, wie lange es rannte, bis es schließlich zusammenbrach. Doch das Bild des Kreischers wich nicht. Nummer Zwei fror.
Als es aufblickte, erkannte es, dass es genau hinter dem Eingang des Allerheiligsten lag. Vor ihm waren Dreiwand und Rissglut, und dazwischen der zersprungene schwarze Kristall, der ihm bei seinem letzten Besuch solche Angst eingeflößt hatte.
Nummer Zwei blinzelte den geschliffenen Facetten entgegen. Seine Hand hob sich fast von alleine und berührte die glatte Oberfläche.
Es stand vor einem gewaltigen Baum. Im schwarzen Himmel war ein weißer Riss und Feuer umgab es.
Es kauerte in einer weißen Ebene, silberne Flammen wanden sich um eine schwarze Säule, die zwischen gefallenen Sternen stand.
Es stand in einem zerbrochenen Kreis und klammerte sich an einen goldenen Baum, und schwarze Freiheit erfüllte es.
Es schritt über eine Insel, über der Kreischer den Himmel verdunkelten, und die Stiefel versanken im Blut.
Ein Baum stand eingehüllt in Dunkelheit und Verzweiflung, und Blut floss durch seine Äste.
Ein Ozean aus Blut wogte unter einem Himmel aus ängstlichen Schreien, und Nummer Zwei wusste, dieses Blut war von seinen Händen vergossen werden. Das Blut versiegte nicht, und der Schmerz war nicht vergessen.
Ein rot glühender Stein wurde von Blut benetzt. Er leuchtete und das Blut floss in ihn hinein, um in seinen Tiefen zu verschwinden.
Entsetzt schrie Nummer Zwei auf und wankte von dem Kristall zurück. Es hatte den Schmerz nicht bekämpft … es hatte ihn verursacht. Nummer Zwei wollte das nicht! Nummer Zwei hasste das Blut!
Es zitterte am ganzen Leib. Der rote Stein! Er hatte das Blut aufgesaugt. Nummer Zwei blickte Rissglut hinunter. Dann schlich es sich hinein. Es kroch über die Risse und verbrannte sich die Finger, bis es endlich einen kleinen Heißstein fand. Mutter hatte verboten, ihn mitzunehmen. Mutter hatte immer recht! Aber Nummer Zwei konnte das Blut nicht ertragen. Es steckte den Heißstein in seine Tasche und floh aus dem Allerheiligsten, floh vor dem Stein, floh vor dem Blut. Es verkroch sich tief in die Leuchtgänge und klemmte das Zupfding zwischen seine Beine. Langsam berührte es den Faden, nein, die Sehne, und entlockte dem Zupfding die ersten Töne. Immer schneller spielte es, Stunde um Stunde, und lauschte den immer neuen Melodien, während draußen die Sonne verschwand.
Als Nummer Zwei seine Hände schließlich sinken ließ, war Blut auf seinen Fingern. Es wimmerte. Da erklang Mutters Befehl. Nummer Zwei stand auf, nahm das Zupfding, verließ die Leuchtgänge.
Die Sonne schwamm im Meer, und der Himmel war rot. Rot wie das Blut des Kreischers. Wieder sah Nummer Zwei die blicklosen Augen vor sich. Es stand unter Mutters Befehl und der Körper tat nichts ohne ihre Anweisung. Aber Nummer Zweis lautloser Schrei flog frei wie ein Kreischer in den Himmel und verklang im endlosen Dunkel zwischen den Sternen.
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