N – Was Heimat ist
Mondhoch, 21. Wintertag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor
„Es ist so weit!“, krächzte Nomion heiser. Ein zufriedenes Grinsen lag auf seinen Lippen, während er vom Torturm aus ins graue Nichts jenseits der Rietburg blickte, wo in der Realität sein Zelt stand. „Ich werde angreifen, wenn die Sonne zum dritten Mal aufgeht.“
Janis hob die Augenbrauen. „Also hat der Schwarze Herold mit sich reden lassen?“
Nomions Lächeln versteinerte. „Nein!“, zischte er, aus seinen gelben Augen leuchtete mühsam unterdrückter Zorn. „Seit er entschieden hat, deiner Warnung zu glauben, will er sich nicht mehr bei der Rietburg blicken lassen, und er will die Kreaturen auch nicht aus der Ferne innerhalb eurer Mauern auftauchen lassen. Die Leute werden sich sonst fragen, weshalb der Ewige Rat ein Abkommen mit Orfen überhaupt nötig hatte, und das will er nicht riskieren. Als ob uns die Meinungen irgendwelcher wertlosen Menschen zu kümmern bräuchten.“ Der Krahder schnaubte verächtlich. „Ich werde die Burg wohl auf konventionellem Wege einnehmen müssen. Meine Übermacht ist eindeutig, die Leitern liegen bereit, und für euer Burgtor“, Nomion tippte mit dem Ende seines Schädelstabes auf das Mauerwerk zu seinen Füßen und riss dabei das Rietdach des Torturms noch weiter ein, „habe ich mir eine besondere Überraschung ausgedacht. Ich werde auch so siegreich sein. In drei Tagen steht hier nur noch eine Ruine, das verspreche ich dir, mein kleiner Verräter. Und jeder zweite hier wird tot sein, du eingeschlossen.“
Nomion betrachtete ihn mit lauernder Miene, aber Janis nickte nur stumm. Seine Entscheidung hatte sich nicht geändert. Sein eigenes Leben bedeutete ihm nichts, nur um der anderen willen bedauerte er, was geschehen musste. Er wünschte, er müsste weniger für seine Ziele opfern. Doch der Ewige Rat verlangte jedes zweite Leben, und Janis konnte nichts dagegen tun.
Ach nein? Hast du es überhaupt versucht? Hast du auch nur darüber nachgedacht, wie du wenigstens einen Teil retten könntest?
Was hätte ich tun sollen, Mutter? Der Befehl war eindeutig, nur die Hälfte der Burgbewohner sollte überleben.
Du sagst es. Die Hälfte … der Burgbewohner.
Das ist so typisch für dich! Du bist nichts als eine unvollständige Erinnerung, kannst mir nur mitteilen, was ich schon längst weiß, und versuchst trotzdem noch, mich meine eigenen Schlüsse ziehen zu lassen? Sag einfach, was du sagen willst!
Kheelas Stimme schwieg, aber Janis ahnte auch so, was sie sagen wollte. Es war ein simpler Einfall, den er kurz gedacht und dann schnell irgendwo vergraben hatte. Zu naheliegend, zu beängstigend. Wenn weniger hier sind, sobald die Rietburg fällt, müssen auch weniger sterben. Wenn jeder Zweite fliehen kann, dann ist jeder Vierte gerettet. Wenn es ihm irgendwie gelingen könnte, zumindest die Schutzsuchenden aus der Rietburg zu bringen… Wenn Nomions Belagerung nur kurz durchbrochen wurde, für einen Tag vielleicht… Wenn seine Armee geschlagen wurde und die Flüchtlinge die Burg verlassen konnten, ehe der Schwarze Herold die Kreaturen zurückholte… Wie viele könnten dann leben?
Nomions heisere Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Nun denn, kleiner Verräter! Genieß deine letzten Tage!“, flüsterte er hämisch, dann begann der Traum sich aufzulösen. Doch der hartnäckige kleine Gedanke verfolgte Janis noch, als er schon längst aufgewacht war.
Vor den Toren der Rietburg, in einer breiten Schale aus Stein, loderte unruhig das Ewige Feuer, das violette Flackern schien hell in der dunklen Nacht. Langsam, ganz langsam, veränderte sich etwas. Die Wachen auf der Mauer, die Kreaturen vor der Burg, niemand bemerkte einen Unterschied. Doch unten, wo das Feuer aus dem Stein brach, fast nicht zu sehen, breitete sich zwischen den violetten Flammen ein gelber Schimmer aus.
Später Vormittag, 22. Wintertag 77 A.Z.
Königsgemächer im Kronenturm der Rietburg, Andor
„Komm herein, Sajin!“ Kunar winkte ihn herein und wechselte einen undeutbaren Blick mit Kommandantin Daroscha.
Orfen galt als Verräter, Peta war gestorben, noch bevor er Schwertmeister hatte werden können, und einen Nachfolger gab es bislang nicht, daher trugen nun ein Bewahrer und eine Zwergin die Verantwortung über die Rietburg. Die Gemächer, in denen einst König Brandur, Thorald, Ken Dorr und Orfen gelebt hatten, standen nun leer und wurden von Daroscha und Kunar nur noch als Besprechungszimmer genutzt, vielleicht aus Nostalgie. Überraschenderweise waren die beiden sich bislang noch nicht an die Gurgel gegangen, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Zu ihren Besprechungen luden sie Janis nicht mehr ein.
„Weshalb bin ich hier?“, fragte er daher.
„Unsere derzeitige Situation ist, gelinde gesagt, besorgniserregend, und wir wollten die Dringlichkeit …“
„Wir haben keine Vorräte mehr!“, unterbrach Daroscha ungeduldig. „Alle Pferde sind geschlachtet, alles Gemüse aufgebraucht. Das einzige, was wir noch an Nahrung haben, ist Brot und Getreide, von dem ein Teil vergiftet ist. Wisst ihr inzwischen endlich, welcher Teil? Habt ihr wenigstens einen Anteil, von dem ihr ausschließen könnt, dass er gefährlich ist?“
Janis schüttelte langsam den Kopf. Er wusste, dass nur einer der Großbauern ein Verräter war, und sein Verdacht fiel auf Sadam, den Aufsteiger, aber das alles beruhte auf Dingen, die Nomion ihm gesagt hatte. Er konnte sich niemandem mitteilen. „Readem und ich haben unser Getreide säckeweise durchsieben lassen, ohne Ergebnis. Schwarzes Herzblatt entfaltet seine Wirkung auch getrocknet und zermahlen, und wenn unsere Feinde schlau sind, haben sie es genau so ins Getreide gegeben. Oder direkt ins fertige Brot. Dann können wir nur auf einen Glücksfund hoffen.“, antwortete Janis also.
Daroscha murmelte einen zwergischen Fluch. Kunar verzog angeekelt die Miene. „Bitte, Kommandantin, zügelt Eure Zunge.“, presste der Bewahrer hervor. Daroscha schnaubte nur.
„Darf ich dann gehen?“
Kunar nickte abwesend, aber Daroscha hielt ihn mit einer Geste zurück. „Sag Readem, Leichen werden in Zukunft nicht mehr verbrannt.“
„Der Boden ist gefroren, wir können sie nicht begraben.“, wandte Janis ein. Wurde selbst ihr Brennholz knapp?
„Sie werden auch nicht begraben.“
Janis und Meister Kunar begriffen etwa gleichzeitig. Das Gesicht des Bewahrers lief erst weiß und dann tiefrot an. „Kommandantin, Ihr meint nicht … das ist …“
Daroscha verschränkte die Arme. „Hör auf mit dem Gestammel, Kunar! Wir können es uns nicht mehr leisten, verwertbares Fleisch zu verbrennen oder einzubuddeln. Wir werden diese Burg halten! Dafür werde ich tun, was immer nötig ist!“
Meister Kunar sah sich mit aufgerissenen Augen hilfesuchend nach Janis um, aber er war noch damit beschäftigt, seine Übelkeit zu bekämpfen. War in der Suppe von gestern wirklich nur Pferdefleisch gewesen?
„Das ist barbarisch! Niemand würde … das essen!“
„Sajin und Readem, wir beide, die Köche, sonst braucht niemand etwas davon zu erfahren. Wenn wir ihnen morgen nur noch Wasser in ihre Schüsseln füllen, dann werden die, die vielleicht noch einen halben Bissen Fleisch finden, ihr Glück ganz bestimmt nicht hinterfragen.“
Kunar öffnete empört den Mund, aber Daroscha ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Was sonst sollen wir tun? Der nächste Schritt wäre, unser Korn auszuteilen. Wir teilen die Menschen in Gruppen ein, jeder bekommt nur Brot aus einem der Speicher. So sterben zumindest nur die, die das Pech hatten, der falschen Gruppe zugeteilt zu werden, der Rest bleibt verschont. Ist es das, was du willst?“
Kunar tat etwas für ihn sehr Ungewöhnliches und schwieg. Daroscha nickte und rief: „Sajin, du weißt, was du Readem zu sagen hast.“
Janis drehte sich wie betäubt um. Die Leichen, die sie noch nicht verbrannt hatten, reichten niemals für alle. Daroscha und Kunar würden die Lager öffnen müssen und das vergiftete Getreide unter die Menschen bringen. Er konnte nicht verhindern, dass Sadams Getreide verteilt wurde. Er konnte nicht verhindern, dass die Liste der Lebenden noch weiter schrumpfen würde, ehe Nomion in zwei Tagen angreifen würde. Er konnte nichts tun.
Man kann immer etwas tun, mein Schatz! Du weißt das! Selbst Worte verändern die Welt! Wenn jeder Zweite fliehen kann, dann ist jeder Vierte gerettet.
Janis hielt im Türrahmen inne.
Sei still, Mutter! Ich werde nicht gefährden, was ich erreicht habe. Ich werde DICH nicht gefährden!
Ja, das weiß ich. Aber musst du das denn?
„Ist noch etwas, Sajin?“, hörte er Kunar. Janis zitterte. Und ein hartnäckiger kleiner Gedanke setzte sich durch.
„Es gäbe noch eine Möglichkeit.“, murmelte Janis. Er fühlte sich hohl.
„Was meinst du?“ Anspannung lag in Daroschas Stimme.
Janis drehte sich um. „Ich gehe nicht davon aus, dass ein Großteil unserer Vorräte vergiftet wurde. Anstatt aufzupassen, dass nur wenige vom Gift betroffen sind, könnten wir das genaue Gegenteil versuchen: Wir sorgen dafür, dass wir es gleichmäßig auf alle verteilen. Jeder ernährt sich von Brot und Korn, das gleichmäßig aus allen Speichern kam.“
Kunar runzelte in einer einstudiert wirkenden Bewegung die Stirn. „Also entweder alle sterben oder keiner?“
„Oh, es werden alle sterben. Ich gehe davon aus, dass genug Schwarzes Herzblatt in unsere Vorräte gemischt wurde, um alle zu vergiften, zumal ein Teil unserer Krieger schon Vergiftungserscheinungen gezeigt hat. Aber eine kleine Portion alleine reicht nicht für einen nennenswerten Effekt. Wenn alle höchstens ein vergiftetes Brot essen, dann kann nicht viel passieren. Wir gewinnen etwas Zeit.“
„Und dann? Was bringen uns ein paar Tage?“
Ernst erwiderte Janis den Blick aus Kunars grünen Augen. „Und dann ist die Zeit gekommen, Nomions Armee zu zerschlagen.“
Zuerst herrschte verblüfftes Schweigen. Dann meinte Daroscha höhnisch: „Ich verstehe. Sajin meint, uns mit seinem taktischen Geschick beeindrucken zu müssen. Lass mich ein paar Dinge klären: Wir haben keine hundert einsatzfähigen Krieger mehr. Wir haben lange ausgehalten, vielleicht hast du deshalb den Eindruck gewonnen, unsere Kräfte seien ausgeglichen, aber selbst im Schutze unserer Burg und von unseren hohen Mauern herab können wir den Feind nur mit Mühe zurückschlagen. Die Kreaturen sind uns um ein Vielfaches überlegen, eine offene Feldschlacht wäre Wahnsinn.“
Daroscha nahm ihn nicht ernst! Janis fühlte sich in seinem Stolz verletzt und sein Zorn wuchs, aber er konnte sich beherrschen. „Mir ist klar, dass wir allein nicht gewinnen können. Aber vielleicht müssen wir diese Schlacht nicht alleine schlagen. Eine Hundertschaft Söldner ist im Rietland unterwegs.“
„Sechsfinger.“, murmelte Kunar nachdenklich. Er zögerte kurz und schüttelte den Kopf. „Dieser Großbauer Sadam hat Sechsfinger angeheuert, und er wollte uns seine Söldner nicht zur Unterstützung dalassen. Warum sollte er seine Meinung ändern?“
„Ich weiß, was Sadam für seine Hilfe verlangt hat.“ Oh, nur ein kleines Versprechen. Als Gegenleistung möchte ich … die Hand der Königin. „Wir geben ihm, was er wollte. Wir greifen die Kreaturen von zwei Seiten an und zerschlagen die Armee. Wir füllen unsere Speicher mit neuen Vorräten und schicken die Flüchtlinge zu ihren Höfen zurück. Natürlich ist das kein endgültiger Sieg, Nomion und seine Kreaturen werden wiederkommen, selbst wenn wir sie töten. Aber es ist ein Aufschub. Und niemand muss verhungern oder vergiftet werden.“ Und wenn Nomion die Burg dann am nächsten Tag erobert, dann stirbt nur jeder Zweite von denen, die zurückgeblieben sind.
„Es wäre äußerst nützlich, Sechsfingers Unterstützung zu erhalten.“, meinte Daroscha. Es gelang Janis nicht, ihren Gesichtsausdruck zu lesen. „Aber du überschätzt unsere Kräfte trotzdem, Sajin. Selbst wenn wir die Kreaturen überraschend von zwei Seiten zugleich mit je hundert Kriegern angreifen, würden wir verlieren. Wir können nicht ausrücken, das wäre Selbstmord.“
Janis schluckte. Er hatte nicht geahnt, wie übermächtig der Feind war. Aber sie hatten einen Ausfall gar nicht nötig. Ich werde angreifen, wenn die Sonne zum dritten Mal aufgeht. „Was, wenn sie uns angreifen?“, meinte Janis unschuldig. „Wenn Nomion versucht, die Rietburg einzunehmen, und seine Armee dann plötzlich von hinten angegriffen wird?“
Kunar kniff die Augen zusammen. „Die Übermacht ist zu groß. Wir müssten zuerst Nomion selbst ausschalten. Wenn es Sechsfinger gelingt, den Krahder überraschend zu töten und wir die Kreaturen anschließend in die Zange nehmen, dann hätten wir eine echte Chance. Doch auch das wird nicht funktionieren. Nomion hat bisher immer einen Teil seiner Armee zum Schutz bei sich behalten, er wird seine Taktik nicht plötzlich ändern.“
Janis biss sich auf die Zunge, um nicht Doch, wird er! zu schreien. Er überlegte kurz, wie er sein Wissen am besten nutzen konnte, ohne zu viel zu verraten. Für euer Burgtor habe ich mir eine besondere Überraschung ausgedacht. „Wir bereiten einen Hinterhalt im Burghof vor, und dann öffnen wir ihnen das Tor.“
„Hm.“, meinte Daroscha. „Wie stellst du dir das vor? Wir machen auf und winken sie herein? Darauf fällt niemand herein. Aber wir könnten einen Ausfall vortäuschen. Wir beginnen ein kleines Scharmützel und flüchten mit den Kreaturen im Nacken in die Burg zurück, sobald die Ersten gefallen sind. Wir sorgen dafür, dass Kreaturen durchs Tor gelangen, dann können sie es von innen öffnen und Nomion sieht seine Chance gekommen. Und sobald er seine Reserven zur Burg geschickt hat“, Daroschas Faust schlug hart auf die Tischplatte, „zerquetscht Sechsfinger erst den Krahder und dann seine Armee.“
Kunar wechselte einen langen Blick mit der Kommandantin und nickte schließlich. „Wie viel Zeit haben wir, ehe das vergiftete Essen gefährlich wird, Sajin?“, fragte er.
„Heute und morgen.“, antwortete Janis ohne Zögern. Das stimmte nicht ganz, aber Sechsfinger musste angreifen, während Nomion versuchte, die Burg zu stürmen.
Kunar lächelte verhalten. „Also ein falscher Ausfall übermorgen früh, sobald es hell genug ist, dass unsere Krieger genau so gut sehen wie die Kreaturen. Vorausgesetzt, du kannst Sadam überzeugen.“
„Das kann ich.“, behauptete Janis. Wenn nicht würde Nomion ohnehin gewinnen. „Ich brauche nur Euer Einverständnis, dann kann ich einen Falken an Sadam schicken.“
„Und unser Einverständnis wofür genau?“, fragte Kunar verhalten. „Was verlangt Sadam?“
„Er will Prinzessin Chada heiraten.“
Ein paar Herzschläge lang sagten die beiden Lehrmeister nichts. Janis fürchtete schon, sie würden ähnlich reagieren wie Orfen, aber Kunar reagierte deutlich verhaltener. „Ich kenne Chada seit ihrer Kindheit.“, murmelte er zögernd. „Wir sprechen davon, sie an einen machthungrigen Großbauern zu versprechen, den sie nicht einmal kennt.“
„Was immer nötig ist.“, erwiderte Janis ernst. Kunar senkte den Blick und nickte. „Habe ich auch Euer Einverständnis, Kommandantin.“
„Mein Einverständnis schon. Aber haben wir überhaupt die Macht, ihm dieses Versprechen zu erfüllen?“
Janis zuckte mit den Schultern. „Spielt das eine Rolle? Wir werden uns dafür einsetzen, dass Sadam bekommt, was er wollte. Solange er der Meinung ist, dass das reicht, soll es mir recht sein.“
Daroscha schnaubte. „Gut. Alle Falken, die wir aussenden, werden von den verdammten Fluggors gerissen. Aber unsere Runenmeister haben andere Methoden. Komm in drei Stunden in meine Kammer.“
Früher Nachmittag, 22. Wintertag 77 A.Z.
Burggewölbe der Rietburg, Andor
Daroscha blickte nur kurz auf, als Janis eintrat. Dann sprach sie weiter leise auf Sarit ein. Die alte Runenmeisterin war damit beschäftigt, in der Mitte der Kammer ein Stehpult in Zwergengröße zusammenzusetzen. Auf der runenverzierten Ablage wurde von Metallklammern ein Bogen Pergament aufgespannt. An der Seite stand ein bronzenes Tintenfässchen, darunter lag in einer runden Vertiefung ein seltsamer glatter Holzgriff, in den Runen graviert waren. Unten am Griff war eine geschlitzte Metallspitze angebracht.
„Ich bin soweit.“, ächzte Sarit nach einer Weile. Daroscha nickte wortlos und die Runenmeisterin begann, einige Runen am Rand des Pultes anzutippen, bis kurz ein weißes Licht aus ihnen aufflammte. „Wir sind verbunden.“
Daroscha begann sofort, Worte auf zwergisch zu diktieren. Neugierig sah Janis zu, wie Sarit eilig den Holzgriff nahm, kurz mit der Spitze in das Tintenfässchen tunkte und dann Runen auf das eingespannte Pergament schrieb. Er hatte gerüchteweise gehört, dass die Feinschmiede Caverns eine künstliche Schreibfeder entwickelt hatten, aber er hatte sich eine elegante Feder aus Metall vorgestellt, kein unscheinbares Holzstück. Das Kratzen der Metallspitze auf dem Pergament klang ungewohnt, härter als von Gänsekielen.
Anhand Daroschas Tonfall konnte Janis eine Frage identifizieren. Sarit schrieb schnell fertig, dann legte sie den Griff in seine Vertiefung zurück und tippte eine Rune an seinem oberen Ende an. Kurz darauf erhob er sich wie von Geisterhand, tauchte sich selbst ins Tintenfässchen, kritzelte eine Antwort auf das Pergament und schwebte in sein Fach zurück.
„Kommandant Mart kann noch heute eine Botschaft an Sadam überbringen lassen.“, übersetzte Daroscha, nachdem sie einen Blick auf die Runen geworfen hatte.
Sarit löste unaufgefordert die Klammern und ersetzte das halb beschriebene Pergament durch ein leeres. Dann winkte sie Janis heran und erklärte: „Bewege den Stift nur oberhalb des Pultes, sonst bricht die Verbindung ab. Fülle immer genug Tinte nach, du weißt nicht, ob sie auf der anderen Seite ausreicht. Und drücke fest ins Pergament, sonst fließt drüben vielleicht keine Tinte.“ Mit diesen Worten nahm sie den Stift aus seiner Vertiefung und drückte ihn Janis in die Hand.
Beinahe hätte Janis ihn fallen lassen, er wog deutlich mehr, als er erwartet hätte. „Was ist da drin? Ein Bleikern?“
Sarit verdrehte die Augen, als hätte er etwas unglaublich Dummes gesagt. „Du hältst gerade zwei Stifte in der Hand, und da der andere ein paar Meilen entfernt ist, erfordert er zusätzliche Energie. Und jetzt schreib!“
Eingeschüchtert betrachtete Janis das leere Blatt vor sich. Da Mart und Daroscha die Botschaft ebenfalls lesen würden, konnte er nicht alles schreiben, was er einem Falken anvertraut hätte.
Verehrter Sadam, begann er. Vor Beginn der Belagerung habt Ihr dem Statthalter ein Angebot unterbreitet, das in aller Deutlichkeit abgelehnt wurde. Doch wie Ihr wahrscheinlich wisst, ist Statthalter Orfen nicht mehr hier. Unsere Lage ist verzweifelt, und wir sind auf Unterstützung angewiesen. Daher wollen wir auf Euer Angebot zurückkommen. Sendet uns Eure Söldner zu Hilfe, und Ihr sollt bekommen, was Ihr wolltet.
Janis zögerte kurz. Sadam wusste von den Nöten der einfachen Andori. Er galt als gerecht, oder zumindest als nicht ganz so skrupellos wie die anderen Großbauern. Er bezahlte seine Knechte gut, er hatte sich nicht an dem Versuch der anderen Großbauern, ihre eigenen Felder vor der Umverteilung zu entwerten, beteiligt. Janis glaubte nicht, dass ihm die Andori vollkommen gleichgültig waren.
Ihr müsst erkannt haben, was Ihr auslöst, wenn Ihr auf Eurem jetzigen Pfad bleibt. Fällt die Rietburg, dann fällt Andor. Ihr gefährdet unzählige Leben, sowohl durch das, was Ihr nicht tut, als auch durch das, was Ihr tut. Doch falls Ihr uns unterstützt, wird es keine Rolle mehr spielen, was Ihr vorbereitet habt. Wir werden nicht versuchen, Euch für irgendetwas zur Rechenschaft zu ziehen.
Janis schrieb nichts dazu, was geschehen würde, wenn Sadam nicht einging. Er konnte sich auch kaum deutlicher ausdrücken, ohne Daroschas Misstrauen zu erwecken. Er las, was er bisher geschrieben hatte, und entschied, dass er nach der Drohung auch locken musste. Was hatte Nomion dem Aufsteiger wohl versprochen? Macht? Vermutlich. Die Krone Andors? Gewiss nicht.
Diese Abmachung wird auch für Euch von größtem Nutzen sein. Ihr müsst entscheiden, ob Ihr bloß in der Gunst desjenigen stehen wollt, der Andor beherrscht, oder ob Ihr selbst dieser jemand sein wollt. Was wir bieten, werdet Ihr von niemandem sonst erhalten.
In der Hoffnung auf eine Übereinkunft
Janis konnte sich gerade noch davon abhalten, selbst zu unterzeichnen. Wenn Sadam ablehnte und den Brief Nomion zeigte, dann sollte besser nicht Janis´ Name darunterstehen. „Ihr solltet unterschreiben, Kommandantin. Sadam muss wissen, dass das Angebot Eure Unterstützung genießt.“
Daroscha nickte und nahm den Stift entgegen, dann begann sie zu lesen. Ihr Blick stockte kurz, als er über den zweiten Absatz glitt, doch sie fragte nicht, wofür man den Aufsteiger zur Rechenschaft ziehen könnte.
Schließlich nickte sie knapp, tauchte die Spitze des Stiftes in Tinte und unterschrieb.
Abenddämmerung, 22. Wintertag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor
Sara ließ ihr halb gegessenes Brot sinken und gebärdete: Sohn-von-Feuer. Wollen. Rest. Als-Frage-Gemeint.
Rodur starrte gierig auf das Brot und seufzte dann. „Nein, Sara. Du hast auf dein Frühstück verzichtet und heute Mittag nur ein bisschen Wasser getrunken. Du musst essen. Nicht wahr, Sajin? Ba…“ Rodur verstummte. Sein Blick ruhte für einen Moment auf dem Platz, auf dem Barram immer gesessen hatte.
Janis nickte. Wenn Rodur freiwillig auf Essen verzichtete, obwohl selbst Janis die Portionen als klein empfand, dann musste es wirklich ernst sein. Er hatte nicht gewusst, wie wenig Sara zu sich nahm. Sie verbrachten selten mehr als eine Mahlzeit am Tag zusammen, zu beschäftigt war Janis im Siechenhaus.
Sara nahm ihr Brot von Janis´ Bett und biss lustlos ab. Ihr Gesicht blieb reglos, und in ihren Augen lag nur das schreckliche, abwesende Schwarz, das sie seit Orfens scheinbarem Verrat kaum noch verließ. Sie stopfte sich die letzten Reste in den Mund, kaute mechanisch und gebärdete: Und. Du. Müssen. Trinken. Medizin. Rodur verzog das Gesicht, aber er leerte ohne zu protestieren das mit Sapian angereicherte Wasser, das Janis ihm bereitgestellt hatte. „Und jetzt geh´ ich kacken.“, sagte Rodur missmutig. Noch hatte sein Körper sich nicht an die tägliche Portion Sapian-Knollen gewöhnt, daher wurde er von Durchfall geplagt.
Janis verkniff sich einen neckenden Kommentar. Er blieb allein mit Sara zurück und suchte nach Worten, um sie ein paar Momente aus ihrer Starre zu reißen. Doch er kam nicht dazu, sie auszusprechen. Die Tür zum Anbau öffnete sich und Meister Readem steckte den Kopf herein. „Sajin, hast du Sann gesehen?“
Janis überlegte kurz. „Seit zwei Stunden nicht mehr.“
„Nicht schon wieder!“, murmelte Readem resigniert. „Bitte hole sie, sie dürfte in einer der Lagerhallen sein. Und sag ihr, sie soll aufhören, meine Schlüssel zu klauen.“
Janis nickte erschöpft. „Tut mir leid, aber die Pflicht ruft.“, sagte er zu Sara. „Wartest du hier auf Rodur?“
Die Angesprochene blickte nicht auf. In. Ordnung. sagten ihre Hände, während ihr Gesicht schwieg.
Janis versuchte sich an einem Lächeln, nach dem er sich nicht fühlte. „Danke. Dann bis gleich.“
Die Tür des dritten Speichers war nicht abgeschlossen, und mit Varas Hilfe wusste er schon beim Eintreten, wo er Sann zu suchen hatte. Zielstrebig ging er zwischen ein paar leeren Regalen hindurch und fand sie an der Rückwand, an einen Sack mit Getreide gelehnt, ihre Hände spielten mit irgendwas am Boden herum.
„Sann! Readem sucht dich.“, sagte Janis. Er wusste nicht, ob er seiner Stimme einen sanften oder wütenden Klang geben sollte, und scheiterte bei dem Versuch, beides zu kombinieren.
„Hallo, Faulpelz.“, antwortete Sann ungewöhnlich leise. „Ist der alte Mann auch hier?“
„Nein, er wartet im Siechenhaus. Du …“ Janis erstarrte. Im Dämmerlicht bemerkte er erst jetzt, was Sann tat. Sie streichelte sacht über den Rücken einer fetten Ratte. „Was machst du da?“, entfuhr es ihm.
Sann blickte auf. Tränenspuren waren auf ihrer Wange, doch ihre Stimme war ruhig. „Sag hallo zu Mumpel, Faulpelz. Und Mumpel, sag hallo zu Faulpelz.“ Sie hob die Ratte hoch, ihr nackter Schwanz glitt schlaff über den Boden. Erleichtert stellte Janis fest, dass die Ratte offensichtlich tot war. „Hallo, Faulpelz.“, quiekte Sann mit verstellter Stimme. Sie starrte Janis auffordernd an. „Und jetzt du!“
„Hallo, Mumpel.“, murmelte Janis lustlos.
Sann schenkte ihm ein unsicheres Lächeln. „Sehr gut! Du bist eingeladen, mitzumachen. Wir besprechen gerade, wie wir hier ausbrechen werden.“
Janis verzichtete darauf, Sann darauf hinzuweisen, dass die Tür zum Speicher offen stand und sie den Schlüssel hatte. „Wir? Mumpel und du?“
Sann nickte ernst. „Und meine anderen Freunde. Rumpel und Fumpel und Mimimi und …“
Den Rest bekam Janis nicht mehr mit, denn Sann war zur Seite gerückt und offenbarte den Blick auf mindestens zwei Dutzend tote Ratten, die zu einem ordentlichen Kreis angeordnet waren. Viele zeigten deutliche Verwesungserscheinungen, auf manchen krabbelten Maden, und ein süßlicher Geruch stieg Janis in die Nase, aber Sann schien sich an all dem nicht zu stören.
„Sann…“, unterbrach Janis, „woher kommen … deine Freunde?“
Sann blickte aus großen Augen zu ihm hoch. „Hampel war genau hier. Da unter dem Regal war Tata. Fumpel da vorne zwischen zwei Säcken, und …“
„Sann. Hast du deine Freunde alle in dieser Lagerhalle gefunden?“
Sie nickte eingeschüchtert. Ihre Gelassenheit schmolz dahin und offenbarte die tiefe Einsamkeit darunter. „Ja.“, flüsterte sie. „Sie waren alle einsam. Voneinander getrennt. Alle ganz … allein.“
Janis ließ den Blick über die Säcke und Brote schweifen. Das hier waren nicht die Vorräte Sadams, sondern Abgaben der Großbäuerin Kara, aber andererseits traute Janis es dem Aufsteiger durchaus zu, vorsichtshalber nicht das eigene Korn zu vergiften. Seine und Karas Abgaben waren am gleichen Tag eingetroffen, und Sadam hatte die Lieferung begleitet. Es spielte keine Rolle, ob Sadam die Vorräte vergiftet hatte oder ob doch Kara die Verräterin war. Janis wusste nun, was sie nicht anrühren durften, wenn er damit zu Kunar und Daroscha ging … würden sie alles ruinieren. Sie würden keinen Hinterhalt im Burghof vorbereiten, sie würden Sechsfinger nicht zu Hilfe holen, oder zumindest nicht binnen zwei Tagen. Sie wären unvorbereitet, wenn Nomion angriff. Und doppelt so viele würden sterben. Er musste sein Wissen für sich behalten.
„Ich habe sie hier zusammengebracht.“, wisperte Sann. Sie deutete auf den Kreis aus toten Ratten und Janis stellte fest, dass ihre Hand zitterte. „Damit sie … wieder zusammen sind. Es … es ist nicht gut, wenn Familien getrennt sind … oder?“
Janis sah erneut vor sich, wie Sann und ihr Vater Daron sich zum letzten Mal umarmten. Er fühlte erneut den traurigen Kuss, den seine Mutter ihm auf die Stirn gedrückt hatte, ehe sie ihn für immer verließ. Er dachte an Sara, deren Hände von ihren Eltern berichteten, während tiefes Blau in ihren Augen lag, und an Rodur, der leise von seinem Vater erzählte.
Janis machte einen unsicheren Schritt nach vorne, beugte sich herab und schloss Sann in die Arme. Ließ sie spüren, dass sie nicht allein war, wenn das ihre Einsamkeit auch nicht vertreiben konnte. „Nein.“, antwortete er leise und spürte ihre Tränen warm in seine Kleidung fließen. „Nein, das ist es nicht.“
Morgendämmerung, 24. Wintertag 77 A.Z.
Dachgeschoss im Kronenturm der Rietburg, Andor
In der Nacht hatte es geschneit, doch jetzt war der Himmel wolkenlos. Das Rietland leuchtete blendend weiß in der aufgehenden Sonne. Das Ewige Feuer vor der Rietburg loderte unruhig in einem dunklen Violett. Frischer Schnee bedeckte den gefrorenen Schlamm im Burghof und die eilig zusammengezimmerten Palisaden, die in einem weiten Halbkreis um das Burgtor standen. Sie waren gestern Nacht im Schutz der Dunkelheit aus angespitzten Pfählen, Fässern, aufgeschichteten Steinen und allem anderen errichtet worden, was sonst noch verfügbar gewesen war. Mit etwas Glück würden die Fluggors sie nicht sofort bemerken.
Hinter den Barrikaden hatten sich die Krieger und Rekruten versammelt. Ansonsten war die Rietburg wie ausgestorben, wer nicht mitkämpfte, war im Burggewölbe untergebracht. Janis lehnte sich über die Zinnen des Kronenturms. Heute war er alleine hier oben, ihre Bogenschützen waren auf den Mauern postiert, um auch außerhalb der Mauern eingreifen zu können. Er beobachtete, wie Kommandantin Daroscha auf ein Fass stieg, zweifelsohne um vor dem Ausfall irgendeine kurze Ansprache zu halten.
Sie kam nicht dazu. Ohne Vorwarnung ging der Torturm in Flammen auf. Fahles grünes Feuer züngelte über den Stein, verbrannte das Rietdach und die Balken zu Asche, sprengte das Tor aus den Angeln. Fünf Bogenschützen waren im Turm positioniert gewesen, von Vieren hörte Janis nur gequälte Schreie, die schnell abbrachen, der letzte rannte in eine Flammensäule gehüllt auf den Wehrgang, taumelte über die Zinnen und fiel als verkohlter Körper in den Schnee. Für euer Burgtor habe ich mir eine besondere Überraschung ausgedacht. Janis unterdrückte die Übelkeit, die plötzlich in ihm aufsteigen wollte. Er hätte nichts tun können, ohne seine Tarnung zu gefährden.
Auch nicht, wenn Sara dort gestanden hätte?
Nach nur zwanzig Herzschlägen erlosch das grüne Feuer wieder. Vom Torturm war nur noch eine ausgebrannte Ruine übrig, die Torflügel lagen zersplittert und verkohlt am Boden und würden keine Kreatur mehr aufhalten. Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Falls irgendjemand sich regte, verschluckte der Schnee das Geräusch. Dann ging eine Bewegung durch die Kreaturen vor der Burg. Auf einen unsichtbaren Befehl hin setzte die Armee sich in Bewegung. Gors stürmten auf das Burgtor zu, Skrale griffen nach ihren wackeligen Leitern und die Erde bebte vom Stampfen der Trolle. Besorgt bemerkte Janis, dass Kunar recht behielt: Vielleicht der vierte oder fünfte Teil der Armee blieb zum Schutz Nomions zurück. Der Hexer stand vor seinem Zelt und beobachtete reglos den Sturm auf die Rietburg.
Janis schloss die Augen und sammelte Kraft. Wie der heutige Tag ausging brauchte ihn nicht zu kümmern. Er hatte zumindest versucht, ein paar der Schutzsuchenden zu retten. Wenn es gelang, umso besser, wenn nicht, dann hatte er sein Ziel schon heute erreicht.
Im Burghof bellte Kommandantin Daroscha Befehle, Krieger eilten auf die Mauern oder verschanzten sich hinter ihren Barrikaden. Pfeile regneten auf die anrückenden Kreaturen nieder, die Bogenschützen hatten die Anweisung erhalten, heute ohne Rücksicht auf ihre allzu mageren Pfeilvorräte zu feuern.
Die ersten Kreaturen gelangten durch das zerborstene Tor und hielten inne, als sie den Ring aus Barrikaden bemerkten. Sie hatten wohl damit gerechnet, sich nur durch ein paar unvorbereitete Krieger kämpfen zu müssen, nicht durch einen zweiten Verteidigungsring. Doch die Verwirrung hielt nicht lange, gierig stürmten die Kreaturen weiter. Durch das zerstörte Tor quoll ein nicht enden wollender Strom aus ihnen.
Die Bogenschützen an den Mauern schossen mit Brandpfeilen in das dichte Gewühl im Hof. Einige trafen eine Kreatur, noch mehr erstickte der Schnee, aber ein paar erfüllten ihren Zweck und entzündeten die vorbereitete Mischung aus Öl und Rietgras, mit der in der vergangenen Nacht, im Schutze der Dunkelheit, der Boden bedeckt worden war. Das Feuer breitete sich nicht so schnell aus wie erhofft. Die dünne Schneedecke, die zuvor als willkommene Tarnung gedient hatte, nahm den Flammen jetzt die Luft. Trotzdem dauerte es nicht lange, bis der gesamte Burghof zwischen dem Tor und den Barrikaden in Flammen stand. Das Kreischen der vordersten Kreaturen währte nicht lange, der Gestank drang bis an Janis´ Nase.
Doch das Feuer war schnell heruntergebrannt. Die nachrückenden Kreaturen trampelten die letzten Flammen nieder und erreichten die Barrikaden etwa in dem Moment, in dem die ersten Leitern an die Mauern angelegt wurden. Das Morden begann.
Janis verschloss sich dem Leid ringsum und widmete sich seiner Aufgabe. Er versuchte den Überblick zu behalten und sich zu merken, wo die freiwilligen Helfer nach der Schlacht die meisten Verwundeten bergen konnten. Falls es ein Nach der Schlacht gab. Dieser Angriff unterschied sich deutlich von den bisherigen. Bislang hatte Nomion es nur darauf angelegt, sie auszutesten, ihnen Verluste beizubringen und sie zu zermürben. Jetzt jedoch ging es ihm um den Sieg.
An gleich drei Stellen fassten Skrale Fuß auf den Mauern und ließen sich nicht wieder vertreiben. Ohne Gnade machten sie die Verteidiger nieder, die sich ihnen in den Weg stellten. Bauern, die geglaubt hatten, Krieger zu sein, obwohl sie seit kaum mehr als zwei Monden ein Schwert in der Hand hielten. Auch die Barrikaden im Burghof waren kein Hindernis mehr, als die ersten Trolle ankamen. Von oben donnerten immer wieder zerstörerische Felsen herab, die Fluggors schleppten eifrig immer neue Geschosse von einem großen Haufen, den die Kreaturen in den letzten Tagen aufgeschichtet hatten. Janis kam mit seiner Aufgabe kaum hinterher.
Er konnte nicht benennen, was es war, das ihn aufblicken ließ. Vielleicht die Kreaturen, die für die Dauer eines Wimpernschlags im Kampf innehielten, als Nomions Aufmerksamkeit sich anderen Dingen zuwandte. Vielleicht die vereinzelten hoffnungsfrohen Rufe, die so gar nicht zu ihrer Situation passen wollten. Vielleicht auch der ferne Klang eines Horns.
Wilde Gestalten rannten brüllend auf Nomions Zelt zu. Sie trugen Felle, Kettenhemden und bunt zusammengewürfelte Rüstungsteile und schwangen Äxte, Lanzen und Schwerter in den unterschiedlichsten Formen, doch sie behielten eine geschlossene Formation bei und bewegten sich diszipliniert vorwärts. An der Spitze der bunten Truppe lief ein Mann mit vernarbtem Gesicht und Haaren, die wie eine schwarze Flamme von seinem Kopf abstanden. Sechsfinger war gekommen.
Nomion starrte den Söldnern ungläubig entgegen, seine hagere Gestalt strahlte mühsam zurückgehaltenen Zorn aus. Mit einem Wink seines knöchernen Stabes sandte er Sechsfinger die Kreaturen um sein Zelt entgegen. Janis konnte nicht einschätzen, welche Seite überlegen war, er stellte nur fest, dass es ziemlich viele Kreaturen waren, die sich Sechsfingers Schar entgegenstellten, und dass Nomion es anscheinend nicht für nötig hielt, Truppen aus der Rietburg abzuziehen.
Janis wartete nicht ab, bis Söldner und Kreaturen aufeinanderprallten, sondern widmete sich wieder seiner Aufgabe. Im Burghof wütete ein Wardrak zwischen den Verteidigern. Ein Skral trat auf die Spitze von Brandurs Turm und reckte triumphierend beide Schwerter in die Luft. Ein herabgeworfener Felsen zerschmetterte eine der Barrikaden und die Krieger dahinter krümmten sich, als die Splitter sie trafen. Janis merkte sich die Stellen.
Plötzlich begann die Welt sich zu drehen. Ein grauenhafter Schmerz überkam ihn, als würde sich eine heiße Klinge in seine Stirn bohren. Janis umfasste die Zinne vor sich und klammerte sich fest, um nicht zu stürzen. Dunkelheit ertränkte seine Sicht, nur das Gefühl des rauen Steins unter seinen Fingerkuppen gab ihm etwas Halt.
Von einem Moment auf den anderen konnte er wieder sehen. Doch was seine Augen ihm mitteilten, konnte nicht stimmen. Er fühlte noch immer den kalten Stein unter seinen Fingern und hörte aus der Ferne den Lärm der Schlacht, aber er stand in einem veränderten Burghof. Ohne den Schnee, ohne die Barrikaden, ohne das zerschmetterte Tor, ohne Kreaturen oder Verteidiger, ohne Leichen und Blut. Er hob den Kopf und sah über sich nur einen zeitlosen grauen Himmel wie die leere Leinwand eines unvollendeten Gemäldes.
„Was …?“ Janis versuchte, eine Hand auszustrecken. Das Gefühl des Steins unter seinen Fingern wich nicht, doch hier, in dieser Welt, bewegte sich sein Arm ansatzlos. „Nomion!“, rief Janis. „Was ist hier los?“
„Lustig. Dasselbe wollte ich dich fragen!“, zischte eine heisere Stimme. Janis fuhr herum. Er wusste, dass er eben noch alleine gewesen war, doch jetzt stand Nomion mitten auf dem Burghof und blickte zornig auf ihn herab. „Eine Falle hinter dem Tor? Söldner, die genau zum Zeitpunkt des Angriffs hier auftauchen?“ Nomion hob seinen Stab, ein fahles grünes Licht strahlte aus den Augenhöhlen des Schädels an der Spitze und etwas packte Janis wie eine gewaltige Faust und presste ihn zu Boden. Spitze Steinchen bohrten sich in seine Wange, von Nomion konnte er nicht mehr sehen als schmutzige graue Füße mit spitzen Zehennägeln. „Ich glaube nicht an Zufälle, Janis! Hat mein kleiner Verräter diesmal mich verraten? Antworte!“
Kurz war Janis von Furcht gelähmt. Wenn er sich jetzt verriet, dann war alles umsonst! „Ich habe dich nicht … verraten.“, keuchte er. Er konnte nur mit Mühe Luft holen und sein Brustkorb schmerzte unter dem Druck. „Was kann ich dafür, dass du … diesem Sadam vertraut hast?“
Der Druck verstärkte sich noch. „Sadam?“ In Nomions Stimme lag pure Verachtung. „Der der Rietburg mehr Vorräte zur Verfügung stellte als jeder andere? Dessen Söldner jeden Versuch meiner Kreaturen vereitelten, sich ein paar Rietländer zu erbeuten? Du hast wirklich geglaubt, Sadam sei der Verräter?“
Janis stöhnte. Also doch Kara. Was hatte Sadam sich wohl gedacht, als er den Brief gelesen hatte? Wir werden nicht versuchen, Euch für irgendetwas zur Rechenschaft zu ziehen. Janis schob alle Gedanken an den Aufsteiger beiseite. Er hatte ganz andere Probleme.
„Es war ein … Ausfall geplant, nehme ich an.“, presste Janis hervor. „Ich habe damit nichts zu tun! Warum hätte ich … den Ewigen Rat nach all meinen Mühen … jetzt hintergehen sollen?“
„Du verachtest den Ewigen Rat noch mehr als ich, das weiß ich.“, krächzte Nomion gefährlich ruhig. „Du hast geglaubt, es könnte nichts passieren, habe ich recht? Du hast geglaubt, ich würde von deinem kleinen Verrat nichts mitbekommen? Du hast geglaubt, dein Kopf sei sicher vor mir? Du hast dich geirrt! Ich bin Nomion, der Hexer! Ich habe dem Urtroll selbst meinen Willen aufgezwungen! Ein jämmerlicher Menschenjunge ist kein Hindernis für mich! Ich könnte dich dazu zwingen, lachend von diesem Turm zu springen. Wir werden schon sehen, was du mir verheimlichst.“
Janis wurde wie von langen Schnüren emporgerissen, bis er dicht vor Nomion in der Luft schwebte. Die gelben Augen glühten bedrohlich und ein wölfisches Lächeln lag auf Nomions Lippen. „Bisher war ich freundlich genug, mit meinen Besuchen abzuwarten, bis dein Geist sich von alleine geöffnet hat. Bisher habe ich es akzeptiert, wenn du mir etwas verheimlicht hast. Aber damit ist jetzt Schluss!“ Damit griff der Hexer nach seinem Kopf … und die Hand glitten widerstandslos durch seine Schädeldecke. „Dein Kopf gehört mir!“
Janis schrie auf, er konnte seinen Schrei in der Ferne widerhallen hören und ahnte, dass er ihn in beiden Welten zugleich ausstieß. Das Gefühl des Steins unter seinen Fingerspitzen verschwand, dumpf spürte er seinen Hinterkopf irgendwo aufschlagen. Etwas wühlte sich mit Gewalt durch seine Gedanken. Das Abbild der Rietburg, in dem er hing, erbebte und verformte sich. Mauern rissen auf und der graue Nebel jenseits der Traumwelt strömte herein. Aus den Schwaden formten sich Gestalten, von Menschen und Kreaturen, die gegeneinander kämpften und fielen. Über den leeren, grauen Himmel zuckten lautlos grüne Blitze.
Dann war es vorbei. Janis wurde achtlos fallen gelassen, der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen. Er hockte sich mühsam auf die Knie, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte seine Tränen weg. Nomion beachtete ihn kaum, in der Handfläche des Riesen lag winzig eine hölzerne Schatulle, die schon lange nicht mehr existierte. Die abgegriffenen Schnitzereien erkannte Janis sofort. Vor langer, langer Zeit kamen zwei Brüder in ein leeres Land mitten im Nichts. Sie waren Arauthor, der Hirte, und Nivor, der Bauer.
„Gib das … her!“, würgte Janis hervor.
Nomion grinst nur. „Das hier? Das willst du nicht. Hierin verbergen sich alle deine Geheimnisse. Alles, was du du vor mir verbirgst. Alles, was du vor deinen Freunden verbirgst. Vor allem anderen jedoch: Alles, was du vor dir selbst verbirgst. Du willst den Inhalt dieser Schachtel nicht. Ich dagegen… ich werde nicht davor zurückschrecken, deine Erinnerungen ans Licht zu zerren. Du warst aufmüpfiger, als gut für dich war, kleiner Verräter. Nun werden wir sehen, ob du die Wahrheit gesagt hast. Zeig mir deine Geheimnisse. Was verheimlichst du mir?“
Der Deckel der Schatulle klappte auf und Janis spürte, wie etwas mit gezackten Haken aus seinem Verstand gerissen wurde. Das Abbild der Rietburg verschwand.
Es war ein kühler Sommerabend, Janis war acht Jahre alt. Er stand am Ufer der Narne, seine Mutter neben ihm. Gemeinsam blickten sie ans andere Ufer, wo in der Dämmerung undeutlich eine Gestalt aus Wasser auszumachen war. Eines Tages wirst du diese Aufgabe übernehmen und sie als treuen Wegbegleiter an deiner Seite haben. Sie wird das Erbe von Etore, dem einfachen Bauern, immer weiter tragen. Kheelas Stimme klang voller Liebe und Zuversicht über das Rauschen des Flusses. Ein achtjähriger Janis wandte den Kopf, um ehrfürchtig zu ihr aufzusehen. Doch irgendwo in einer halb zerstörten Burg jenseits der Grenzen der Realität sackte ein anderer Janis vor den Füßen eines Krahders in sich zusammen. Und ganz oben im Kronenturm, hoch über dem Morden einer Schlacht, lag ein dritter Janis und krümmte sich vor Schmerz. Du irrst dich, Mutter. Ich habe die Flusslande im Stich gelassen. Ich habe meine Aufgabe nicht übernommen. Ich bin … eine Enttäuschung. Ich habe Etores Vermächtnis verraten, und ich habe dich verraten. Dich und alles, wofür du gekämpft hast.
Das Bild des Sommerabends wich einer kleinen Hütte zwischen den grauen Nebeln eines Traums. Janis stand im Schatten eines hageren Krahders mit beinernem Stab. Ich bin einverstanden. Drei kleine Worte, die alles verändert hatten.
Auch diese Erinnerung verschwand. Janis schwebte in einem tiefen, grauen Nichts, und ihm gegenüber war seine Mutter. Die silberne Ghirlada lag auf ihrem glatten hellbraunen Haar, in ihrer Hand hielt sie ihren leuchtenden Stab. Kheela sah ihn aus ihren hellblauen Augen an, die den seinen so sehr glichen. Und in ihrem Blick lag nichts als Verachtung.
Das ist der Beweis deiner Gleichgültigkeit, Janis! Deiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Land Andor und allen seinen Bewohnern. Gegenüber Orfen und den Helden. Gegenüber Rodur. Gegenüber Sara. Gegenüber allem, was mir wichtig war, gegenüber meinen Wünschen und Zielen… und damit auch gegenüber mir selbst.
Kheelas Stimme brannte wie Eis. Sie sprach voll Enttäuschung, und es war egal, dass das nicht Kheela war, und auch nicht die unvollständige Erinnerung, die er von ihr hatte, sondern nur die verzerrte Spiegelung eines Trugbildes, nur ein Schatten Nomions.
Nein, Mutter! Das stimmt nicht! Ich habe das alles für dich getan! Alles!
Erkennst du nicht, dass es genau das ist, wovon ich spreche? Wenn dir wirklich etwas an mir liegen würde, würdest du dann alles verraten, wofür ich gestorben bin? Du bist nur ein dummer, trotziger, kleiner Junge, der nicht einsehen will, dass seine Mutter tot ist! Dir ging es nie wirklich um mich! Nur um deinen Wunsch, um dein Ziel, um das, was du verloren hast! Dir ging es immer nur um dich selbst, Janis!
Nein! Ich habe nie mehr geopfert, als ich musste! Ja, ich würde dich um jeden Preis zurückholen, aber ich habe getan, was ich konnte, damit der Preis nicht zu hoch wurde.
Von Kheela kam nur ein spitzes, höhnisches Lachen als Antwort. Erinnerungen durchfluteten Janis. Peta, mit einem Pfeil im Hals. Barram, der tot neben Orfen kippt. Krieger, die in Angriffen fielen, von denen Janis bereits im Voraus gewusst hatte. Sann, die zum letzten Mal ihren Vater umarmte.
Das soll alles gewesen sein, was du tun konntest? Du hast nichts getan!
Janis musste Mutter beweisen, dass er ein guter Junge war. Dass er nicht tatenlos geblieben war. Nur ein unwichtiger kleiner Teil von ihm, der sich Vernunft nannte, wand sich und schrie, dass Nomion hier war, mitten in seinem Kopf, und nur darauf wartete, dass diese Erinnerungen ans Licht kamen. Doch diese Vernunft war machtlos.
Oh doch, das habe ich! Sieh hin, Mutter!
Ein anderes Bild formte sich. Eine äußerst frische Erinnerung. Janis, in den Gemächern des Statthalters, ihm gegenüber Kunar und Daroscha. Im letzten Moment gelang es der Vernunft, das Bild zumindest zu verändern. Eine dritte Gestalt erschien zwischen den beiden Lehrmeistern, die Gestalt von Orfen, der in seinem Lehnstuhl saß. Daroschas Stimme hallte laut durch die Kammer. „In spätestens vierzig Tagen sollte der Ewige Rat besiegt sein.“
Siehst du nun, was ich Nomion verheimlicht habe, Mutter? Bist du … stolz auf mich?
Das Bild verblasste. Janis kauerte wieder zu Nomions Füßen in der Rietburg. Langsam konnte er wieder klar denken. Nomion sah reglos auf ihn herunter, der Deckel der Schatulle war wieder zugeklappt. „Von wann ist diese Erinnerung? Wie soll der Ewige Rat besiegt werden?“, fragte er unheimlich ruhig.
Janis holte zitternd Luft. „Anfang des Jahres. Weiß nicht wie.“ Er wagte es nicht zu lügen.
Nomion kniff die gelben Augen zusammen. „Interessant.“ Dieses eine Wort steckte voller Berechnung. Auch Nomion hatte kein Problem damit, wenn der Ewige Rat zerschlagen wurde, erkannte Janis. Solange er es für seine Zwecke nutzen konnte.
Der Hexer schüttelte unwirsch den Kopf. „Aber deine Geheimnisse wiegen noch immer so schwer. Ich bin sicher, du hast mir noch mehr zu zeigen, kleiner Verräter.“
Janis sprang auf. „Verschwinde aus meinem Kopf!“, zischte er. „Du hast kein Recht, hier zu sein! Ich …“
Nomion lächelte nur und ließ wortlos die Schatulle wieder aufklappen. Sofort verschwanden der Hexer und der Burghof. Janis saß zusammen mit Sara an Rodurs Krankenbett. Rodur hockte dort, die Decke um sich geschlungen, starrte hasserfüllt ins Leere. „Uns jetzt wieder den Fängen der Krahder überlassen, nachdem wir endlich den Geschmack der Freiheit kosten durften, ist nur grausam. Wenn wir ihm wirklich noch etwas bedeuten, dann sollte er uns lieber alle sterben lassen.“
Ich habe ihn auf die Liste der Lebenden gesetzt. Aber wozu? „Kein Ambacu ist jemals frei.“ Ich verlängere nur seine Knechtschaft. Ich opfere mehr als nur Menschenleben. Ich opfere die Freiheit, die ihm und so vielen anderen geschenkt wurde.
Das Bild änderte sich. Janis stand auf der Spitze des Kronenturms, bei ihm Vara und seine Freunde. Ein dünner Laut hallte durch die Luft, ein Lachen zart wie der Flügelschlag einer Libelle. Ich habe mir geschworen, Sara erneut zum Lachen zu bringen. Ich habe mir geschworen, das Blau aus ihren Augen zu vertreiben. Und was habe ich erreicht?
Erinnerungen rasten durch seinen Verstand. Sara, die ihm ihre Gebärdensprache beibrachte. Die über eines seiner Rätsel nachdachte. Die ihn im Nimm-Spiel schlug. Eine verzweifelte Umarmung im strömenden Regen. Eine flüchtige Berührung, die vielleicht ein Kuss war. Der Duft von Rietgrasblüte und Bittermandel. Und über allem schwebte dieser eine Morgen nach Orfens Tod, als sie den Blick hob und ihn anstarrte aus Augen, in denen von all den schillernden Farben nur tiefe Schwärze zurückgeblieben war.
Ich habe mir vorgenommen, sie zu heilen, und stattdessen habe ich sie nur noch mehr zerbrochen. Ich habe es mir angewöhnt, von Rodur und Sara als Freunde zu denken, doch das stimmt nicht. Ich nutze die beiden aus. Ich belüge sie. Ich zerstöre sie. Ich bin nicht ihr Freund!
„Verschone mich von dem Zeug, das du vor dir selbst versteckst!“, dröhnte eine heisere Stimme ungeduldig durch seinen Schädel. „Was verheimlichst du mir?“
Was verheimlichst du mir? Erneut rissen die Haken in seinem Verstand. Die frische Erinnerung drängte sich wieder nach oben. Was verheimlichst du mir? Janis keuchte auf. Und er gab Nomion, was er verheimlicht hatte, schleuderte ihm das Bild geradezu entgegen. Ein Hahn, groß, furchtbar und rot, kauert auf einer Burg, die in weißem Gold schwimmt.
Keuchend schlug Janis die Augen auf. Kurz sah er über sich das Rietdach des Kronenturms und spürte die Bodenluke in seinem Rücken, dann hockte er wieder im Burghof vor Nomion und starrte auf schmutzige graue Füße. „Sieh an, sieh an.“, flüsterte der Krahder sanft. „Der rote Hahn.“
Janis sah auf. Sein Nacken schmerzte. „Du … weißt, was er bedeutet?“
„Gewiss. Auch ich habe ihn kommen sehen. Der rote Hahn hat sich auch meine Heimat einverleibt. Er ließ keinen Stein auf dem anderen und löschte jedes Leben aus.“ Die Hand, in der die Schatulle lag, ballte sich zur Faust. „Der rote Hahn ist die Feuersbrunst, die alles verschlingt. Pure Zerstörungskraft, grausam, hungrig und willenlos. Wenn er auch diese Burg frisst … nun, dann hoffe ich, dass er das noch heute erledigt.“
In Nomions gelb glühenden Augen lag etwas, was Janis dort noch nie gesehen und nicht erwartet hatte, ein Gefühl, das er nicht einschätzen konnte. Er witterte seine Chance. „Bitte, Nomion. Ich habe dich nicht hintergangen, sonst wüsstest du es inzwischen. Hör auf, in meinen Geheimnissen herumzuwühlen.“
Der Hexer zögerte sichtlich, doch dann schüttelte er das rätselhafte Gefühl ab. „Nein! In meiner Hand liegen noch immer so viele Erinnerungen, so viele Geheimnisse. Erst wenn ich das letzte gesehen habe, werde ich wissen, dass du an dem Verlauf der heutigen Schlacht keinen Einfluss hast.“ Er beugte sich langsam herab und versprach: „Aber falls doch werde ich einen Weg finden, selbst das zu zerstören, was nach dem Öffnen aller deiner Geheimnisse noch von die übrig sein wird.“
Diesmal war Janis vorbereitet. Was verheimlichst du mir? Kaum wühlten die Haken in seinem Verstand, hatte er ihnen schon irgendetwas hingeworfen, um Nomion abzulenken. Er stand in der großen Halle hinter dem Thron mit der gespaltenen Lehne und sah hinunter in die dunklen Augen Orfens, der neben einer Vertiefung im Boden hockte. „Andor ist jung und König Brandur kümmerte sich mehr um das Wohl seines Volkes als um vergoldeten Firlefanz. Er gestand sich einzig die Rietgraskrone zu, doch die trägt die rechtmäßige Königin bei sich.“, sagte der Statthalter rau.
Im nächsten Moment war Orfen wieder verschwunden und stattdessen blickte Janis in zwei gelb glühende Augen. „Langsam glaube ich, es spielt überhaupt keine Rolle, ob du mich heute verraten hast oder nicht, kleiner Verräter. Vielleicht sollte ich dem Schwarzen Herold einfach sagen, wen er für dich zurückholen soll. Als Strafe für deine Schweigsamkeit!“
„Wir hatten eine Abmachung!“, zischte Janis. „Ich …“
Nomion öffnete die Schatulle wieder. Janis wusste nicht, womit er ihn noch aufhalten konnte. Die frische Erinnerung trieb schon wieder an der Oberfläche. Also warf er sich so tief er konnte in den Fluss seiner Geheimnisse, voller Angst, was er am Grund finden mochte.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Nur vereinzelte Wolken malten weiße Tupfer in das endlose Blau. Janis saß alleine an der Narne und ließ die Beine ins Wasser baumeln. Kleine Fische knabberten an seinen Zehen. Obwohl der Fluss schnell dahinfloss, konnte er auf der Oberfläche deutlich sein Spiegelbild erkennen. Und dort, auf der anderen Seite des fließenden Spiegels, war er nicht alleine. Kheela saß neben ihm und hielt seine Hand. Janis sah auf und starrte auf den schrecklich leeren Platz neben sich. Im Wasser lächelte seine Mutter wehmütig.
„Das hier ist keine Erinnerung.“, murmelte Janis.
Nein. Aber du verbirgst mehr vor dir selbst als nur Erinnerungen. Das hier, mein Schatz, ist dein tiefstes Geheimnis. Eine Gewissheit, die du für immer vergessen wolltest. Deine größte Lüge.
Janis hielt den Atem an. „Wovon … sprichst du?“
Von mir. Von dem, was du aus mir gemacht hast. Sieh mich an, Janis. Nur ein Spiegelbild. Das ist alles, was ich bin.
Janis spürte, dass ihm die Tränen kamen. „Das weiß ich längst, Mutter. Meine Erinnerung ist fehlerhaft. Nur ein blasses Abbild, nicht wirklich du. Deshalb hole ich dich zurück! Deshalb tue ich das alles! Weil keine Erinnerungen dich jemals ersetzen könnten! Weil nicht du in mir weiterlebst, sondern bloß eine billige Imitation!“
Kheelas Spiegelbild im Wasser schüttelte sanft den Kopf.
Und da irrst du, mein Schatz. Nicht die Kheela aus deiner Erinnerung ist fehlerhaft. Die echte Kheela ist es. Das Bild, das du aus deinen Erinnerungen geschaffen hast, ist keine unvollständige Kopie. Es ist eine Steigerung. Es ist die perfekte Kheela, die es niemals gab. Du hast mehr als ein Jahr auf mich gewartet. Du hast gebangt, und gehofft, und du wusstest, wenn ich nur zurückkäme, dann würde alles wieder gut werden. Aber ich kam nicht zurück. Und je mehr Zeit verstrich, desto mehr hast du dir unsere leuchtende Zukunft ausgemalt. Als klar wurde, dass ich nicht mehr kommen würde … was hättest du tun sollen, als mich so im Gedächtnis zu behalten, wie du mich behalten wolltest? Als deine perfekte Mutter. Du hast bereitwillig alles vergessen, was deine Erinnerung belastet hätte. Alle meine Schwächen. Alle meine Fehler. Alles, was mich zu einem Menschen gemacht hätte.
„Nein! Ich hätte dich nie absichtlich verfälscht!“
Absichtlich… Wer weiß das schon? Du hast es getan, ob absichtlich oder nicht. An wie viele Tage erinnerst du dich, an denen wir gestritten haben? An wie viele Tage, an denen ich die Geduld oder die Beherrschung verloren habe? An wie viele Tage, an denen du dich ungerecht behandelt fühltest? Wie viele schlechte Erinnerungen hast du an mich, Janis?
Die Kheela im Wasser ließ die Hand seines Spiegelbildes los, das Bild im Wasser wurde fortgespült, und Erinnerungen stiegen auf wie Luftblasen. Schreie, Tränen, Zorn und Trotz. Der Fluss brodelte.
Es sind tausende. Aber du hast sie hier versenkt, weil du sie nicht ertragen hast. Du hast nur das übrig behalten, was dein Bild von mir gereinigt hat. Die echte Kheela wird nicht mithalten können mit mir. Nicht du bist die Enttäuschung, sondern ich.
„Nein!“, schrie Janis. „Nein, Mutter! Ich habe negative Erinnerungen an dich! Ich spüre Wut auf dich! Wut, weil du deinen Sohn zurückgelassen hast, um Fremden zu helfen! Diese Wut habe ich nicht von mir gewiesen!“
Wut, ja. Aber sei ehrlich, Janis: Dass ich bereit bin, selbst für Fremde alles zu geben, dass ich selbst dann helfe, wenn ich es am wenigsten will – das ist nichts, was du als Schwäche betrachtest. Das ist es, wofür du mich so sehr bewunderst. Du hast nicht die Momente verdrängt, in denen ich anderen half, sondern die, in denen ich dich bevorzugt habe.
Andere Bilder schäumten im Fluss auf. Janis, der darum bettelte, nicht allein gelassen zu werden, während draußen Kreaturen wüteten und Stürme tobten. Und Kheela, die daheim blieb und ihren Sohn tröstete. Immer und immer wieder. Während nicht weit entfernt Menschen in Not auf eine Hüterin der Flusslande wartete, die ihnen nicht zu Hilfe kam.
Du willst eine Heldin zum Leben erwecken, aber du wirst einen Menschen erhalten. Du willst etwas zurückholen, das es nie gegeben hat, und dafür opferst du alles, was wirklich Bedeutung hat. Dies ist deine größte Lüge, Janis: Dass ich anders bin als du.
Benommen blinzelte Janis und versuchte zu verstehen, wieso er zu Nomions Füßen im Burghof lag. „Traurig.“, flüsterte eine hämische Stimme. „Alles, wofür du gekämpft hast, eine Lüge. All deine Opfer für jemanden, der nichts davon verdient.“
Hass erfüllte Janis. „Du kanntest sie nicht, Nomion! Sie hatte Fehler, natürlich hatte sie die. Vielleicht war sie nicht so perfekt, wie ich es dachte. Es besteht kein Zweifel, dass sie ein guter Mensch war, doch vielleicht gab es bessere. Aber weißt du was? Das spielt keine Rolle! Sie war meine Mutter. Sie war die einzige, die für mich da war! Sie war das einzige, was mir wichtig war. Und ich würde alles für sie tun! Ob sie es verdient hat oder nicht! Ob sie es wollen würde oder nicht! Einfach, weil sie es ist. Verstehst du das, Nomion? Kannst du das überhaupt verstehen?“
Janis stand langsam auf. Sein ganzer Körper war ein einziger blauer Fleck, doch der Schmerz verlor jede Bedeutung. „Und jetzt verschwinde aus meinem Kopf. Meine Geheimnisse gehören mir.“
Nomion trat tatsächlich einen Schritt zurück, ehe er sich fing. „Was erlaubst du dir, kleiner Verräter?“ Er schwenkte seinen Stab und grüne Flammen brachen rund um Janis aus dem Boden. „Du kannst mich nicht vertreiben, bevor ich es nicht will. Ich habe diesen Traum heraufbeschworen. Ich bin Nomion, der Hexer aus Krahd, erster der Krahder, Meister des Urtrolls, Träger der grünen Flamme! Und was bist du? Ein kleiner Junge, der Diener eines Dieners, allein inmitten einer Heimat, die er verrät.“
Janis hob das Kinn und erwiderte den Blick aus den gelben Augen. „Nein, Nomion. Du irrst dich. Ich bin nicht allein.“
Der Nebel des Traums schob sich über das grüne Feuer und erstickte es. Er spürte eine tröstende Präsenz, die ihn stützte und ihm frische Kraft schenkte. Ein schlanke Hand ganz aus Wasser legte sich auf seine Schulter.
„Das kann nicht sein!“, murmelte Nomion, Janis war sich nicht sicher, ob die Melodie von Empörung oder Zorn in der heiseren Stimme überwog.
„Das hier ist mein Kopf. Mein Traum. Meine Heimat.“, erwiderte Janis ruhig. „Hier kannst du mir nichts anhaben. Du hast bis heute nicht begriffen, was das bedeutet, oder? Heimat. Das ist kein Wort für einen Haufen Steine. Heimat, das sind alle, die mir wichtig sind. Alle, denen ich wichtig bin. Die Menschen, zu denen ich gehöre.“
Und aus dem Nebel formten sich weitere Gestalten. Sara winkte vom Kronenturm herab, sie hielt einen Bogen in der Hand und ihre Augen strahlten violett. Rodur öffnete die Tür zur Schmiede und lächelte ein verschwitztes Lächeln. Im Inneren hob Warguth grüßend seinen Hammer. Readem saß gemütlich im Kräutergarten des Siechenhauses und nickte Janis zu, neben ihm stand Sann, Hand in Hand mit ihrem verstorbenen Vater Daron. Orfen trat aus der großen Halle, gefolgt von Armond und Peta. Meister Kunar und Kommandantin Daroscha liefen über den Burghof, tief in irgendeine nichtige Streiterei vertieft. Barram folgte den beiden und warf Janis ein verlegenes Lächeln zu. Fenster und Türen wurden aufgeschlagen und von überallher strömten Menschen. In zwei Reihen liefen sie über den Burghof, die Listen der Lebenden und der Toten, und dann lösten sich die Reihen auf und alle liefen wild durcheinander. Fröhliche Stimmen schollen weit durch die Traumwelt. Und hoch über der Burg schwebte ein gütiges Gesicht, das sich aus den leeren Wolken gebildet hatte. Das Gesicht seiner Mutter.
„Das hier ist meine wahre Heimat, Nomion!“, rief Janis. „Hier kannst du mir nichts anhaben.“ Der Krahder stand reglos an seinem Platz inmitten des Gewimmels der Menschen, die den Riesen in ihrer Mitte nicht weiter beachteten. Sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn. Wieder fixierte Nomion seinen Verräter, kurz zwang ein ungeheurer Druck ihn in die Knie.
Die Menschen in der Burg erstarrten und wandten Janis ihre Gesichter zu. Er spürte ihre Kraft, ihr Vertrauen, ihre Liebe, und er nahm alles an und stemmte sich dem Hexer entgegen. Stumm maßen sie sich mit Blicken. Die Welt schmolz zusammen auf ein gelbes Augenpaar, alles andere verflüchtigte sich zu grauem Nebel und bedeutungslosen Schemen. Schließlich zerbrach der Zorn in Nomions Augen und wich der Fassungslosigkeit, ehe auch die gelben Augen sich auflösten und nichts zurückblieb als eine leere Traumwelt. Dann verschwand auch die.