o – Die Politik der Einigung
Morgendämmerung, 26. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria
Eara streckte die Hand aus und konzentrierte sich. Ihr Blick ruhte auf dem schwarzen Holz vor ihr. Ihr neuer Stab, wenn sie sich denn mit ihm verbinden konnte. Er war schlicht, ohne Schnitzereien oder Ornamentik, aber komplett aus kostbarem Ebenholz gefertigt. Kreisrund, glatt wie poliertes Glas, einheitlich tintenschwarz und jedes Licht verschluckend. Wer wohl auf die Idee gekommen war, einer Dunklen Magierin einen Stab aus schwarzem Holz zu schaffen?
Das obere Ende verjüngte sich zu drei Spitzen, gekrümmten Dornen, die sich voneinanderweg wölbten, nur um sich oben fast wieder zu berühren. In dem so entstandenen Hohlraum sammelte sich jetzt ihre Dunkle Magie. Sie umschlängelte die drei Spitzen, züngelte um den Stab und umhüllte ihn mit einer kalten Dunkelheit. Dann schwebte der Zauberstab langsam empor und berührte ihre Handfläche. Die angenehme Kühle, die vom Holz ausging, fühlte sich beruhigend an. Dieser Stab war ihrer würdig!
Über den drei Spitzen entflammte ein dunkelblaues Licht und beleuchtete den schmucklosen, quadratischen Raum. Die beiden Zauberstabmacher, der eine in schwarzer und der andere in brauner Robe, duckten sich ängstlich. „Ihr habt gute Arbeit geleistet! Mein Dank sei Euch gewiss!“ Die beiden nickten eifrig. „Eure Belohnung wird Euch gebracht werden.“ Noch immer nur ein Nicken. Eara versuchte nicht, eine Antwort aus ihnen herauszukitzeln. Ohne Abschiedsworte trat sie aus dem kleinen Raum und ließ die beiden Zauberer zurück.
Torven erwartete sie vor der Kammer. „Der Zauberstab passt also zu dir!“, sagte er mit säuerlichem Gesichtsausdruck. Sein Widerwillen war ihm deutlich anzusehen, als sein Blick über die pure Dunkelheit wanderte. Ihren letzten Zauberstab hatte er selbst ihr überreicht, als sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte und sich aufmachte, in den Süden zu reisen und Erfahrung zu sammeln.
„Offensichtlich! Die beiden Zauberer haben hervorragend zusammengearbeitet.“, ergänzte Eara spitz. Torven schüttelte unwillig den Kopf. Natürlich war es kein Zufall, dass sie je einen Zauberer aus beiden Orden mit der Herstellung ihres neuen Stab betraut hatte. Ein Zeichen ihrer Politik der Einigung, wie Earas Anhänger ihre Pläne mittlerweile nannten. Zu bedauerlich, dass Torven nicht zu diesen Anhängern gehörte.
„Könnten wir uns jetzt der Befragung des Gefangenen widmen, anstatt noch weiter Propaganda zu verbreiten?“, fragte der Oberste missmutig. In der Tat hatte Eara in den letzten Tagen hauptsächlich daran gearbeitet, die Vereinigung der beiden Orden voranzutreiben. Die Verschwörung hatte bisher auf weitere Anschläge verzichtet, sie verhielt sich geradezu verdächtig ruhig, und dank Gundeyn waren ihr Ruf und das Ansehen ihrer Ideen noch etwas gestiegen. Das Verhör des verräterischen Bibliothekars Marnus hatte Eara dabei immer weiter verschieben müssen, da auch Torven und Variah ihr bestes gegeben hatten, um ihre Meinung zu vertreten. Doch die lange Wartezeit hatte vielleicht schon dazu beigetragen, Marnus´ Schweigen zu brechen. Ansonsten würde Eara auf unangenehmere Methoden zurückgreifen müssen…
Auf halbem Weg zur Kammer der astrologischen Erforschung stieß auch Variah zu ihnen und zu dritt standen sie schließlich vor der Tür der Kammer. Sie hatten Marnus hier eingesperrt und von einem einzelnen Wächter bewachen lassen. Hätten sie ihn in den Karzer gesteckt, dann hätte das Risiko bestanden, dass die Verschwörer ihn befreiten. Hier dagegen war er sicher, solange seine Verbündeten nicht wussten, dass er hier versteckt war.
Eara stieß die Tür auf. In der Mitte des Raumes, neben einem goldenen Teleskop, stand ein Stuhl. Hier hatten sie Marnus magisch angekettet. Nur von außen hätte man seine verzauberten Fesseln lösen können, er selbst wäre dazu nicht imstande. Für den Fall, dass sich zufällig doch jemand hierherverirrte, war eine junge Zauberin des Turmes namens Deria als Wache hier stationiert.
Bei dem Anblick, der sich Eara bot, stockte sie kurz. Deria war noch immer hier, doch sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Eine äußere Verletzung war nicht zu erkennen, aber das musste in der Feste von Yra nichts heißen. Entscheidender war jedoch das, was sich auf dem Stuhl in der Mitte des Raumes befand, oder eher das, was fehlte. Nur noch die eisernen Ketten lagen dort, viele Kettenglieder gewaltsam aufgebrochen. Marnus jedoch war verschwunden.
Nachdenklich trat Eara näher. Als erstes widmete sie sich Deria und stellte fest, dass die Zauberin überlebt hatte. Sie wusste nicht, ob sie das freuen sollte, ihr Tod hätte die gesamte Zaubererschaft erzürnt. Doch darüber nachzudenken war überflüssig, also versuchte Eara herauszufinden, was genau geschehen war. Ein Herzschlag der Konzentration verriet ihr, dass Deria von einem mächtigen Schlafzauber außer Gefecht gesetzt worden war, die Kettenglieder dagegen waren mittels Dunkler Magie zerstört worden. Beides war noch nicht lange her, vielleicht den zweiten Teil einer Stunde.
„Marnus wurde befreit!“, rief Torven unnötigerweise. Eara musterte die beiden Obersten unauffällig, doch falls einer von ihnen für die Befreiung verantwortlich war, spielte er meisterhaft. Variah kniete am Stuhl und untersuchte die Kette, doch ihr Erstaunen war eben dadurch authentisch, dass sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Torven dagegen eilte jetzt zu der bewusstlosen Deria, das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Eara kannte ihren alten Mentor lange genug, um zu wissen, dass es nicht gespielt war. Besorgt nahm er eine Hand Derias und atmete erleichtert aus, als er erkannte, dass ihr keine Gefahr drohte.
Variah erhob sich. „Ich glaube, wir sollten die Versammlung zusammenrufen.“, erklärte sie betont ruhig. Eara nickte nur. Wenn irgendjemand in diesem Raum emotionslos war, dann sie.
Später Vormittag, 26. Herbsttag 76 A.Z.
Speisesaal in der Feste von Yra, Hadria
„Deria berichtete, dass zwei Zauberer plötzlich in den Raum stürmten. Sie waren vermummt und ihre Stäbe hatten sie nicht dabei, das einzige, was wir mit Sicherheit über sie sagen können, ist, dass sie zu unterschiedlichen Orden gehörten. Der Zauberer des Turmes wob einen Schlafzauber, den Deria nicht mehr rechtzeitig verhindern konnte. Ich bitte ihr gegenüber um Nachsicht, wir hatten ihr sogar erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Besucher sehr gering ist. Der Fehler ist nicht bei ihr zu suchen, sondern höchstens bei uns, die wir diesen Ort für sicher hielten.“
Sarakal, der stellvertretende Oberste des Turms, hielt inne und blickte Eara über seine Hakennase hinweg finster an. Der gesamten Versammlung war klar, dass die Idee, Marnus ausgerechnet in der Kammer der astrologischen Erforschung unterzubringen, von ihr kam. Sarakal war es gelungen, die Schuld auf Eara zu lenken, was durchaus auch richtig war. Der Wächterin Deria machte Eara nicht den geringsten Vorwurf, im Gegenteil. Es war tatsächlich ihre eigene Schuld, dass Marnus befreit worden war. Nur, dass Eara es nicht nur als Schuld, sondern auch als Verdienst betrachtete.
„Das ganze war eine Prüfung, und die Versammlung hat versagt!“, ergriff sie das Wort. „Genau dreiundzwanzig Personen wussten, wo Marnus gefangengehalten wurde: Er selbst, doch er konnte sich wohl kaum mitteilen. Die Wächterin Deria, doch über sie wurde ein Bann verhängt, sie konnte Marnus´ Aufenthaltsort nicht wissentlich verraten. Ich selbst wusste natürlich Bescheid, schließlich kam der Vorschlag von mir. Und dann noch ihr, die verehrten Hohen Zauberer. Die zehn größten Zauberer beider Orden, und einer von ihnen hat uns verraten. Möchte er sich freiwillig stellen?“
„Was erlaubt Ihr Euch, Souveränin Eara?“, brüllte der kurzgewachsene Ventor, der stellvertretende Oberste des Feuers. „Wollt Ihr etwa behaupten, dass einer der Hohen Zauberer Teil der Verschwörung ist?“
Eara hätte diesen Protest eher von einem der beiden Obersten selbst erwartet, ebenso wie sie auch die Verteidigung der Wächterin eher von Torven persönlich vermutet hätte. Doch die beiden Obersten schwiegen beharrlich und warfen sich nur schwer deutbare Blicke zu. Das Reden überließen sie ihren Stellvertretern.
„Genau das möchte ich damit sagen, Ventor. Oder wie sonst ist es zu erklären, dass die Verschwörer wussten, wo Marnus versteckt war?“
„Vielleicht wurden wir belauscht!“
Eara streckte ihren neuen Stab aus und das Törchen nach Norden hin öffnete sich. Ein wenig Schnee wirbelte herein und alle konnten einen Blick auf den verschneiten Balkon werfen. „Auf dieser Seite gibt es nur diese kleine Tür, und Spuren im Schnee würde man ebenso bemerken wie die Folgen eines Levitationszaubers.“ Sie ruckte mit ihrem Stab und die Tür fiel wieder zu. „Nach Süden, in den Turm der Erleuchtung, steht der Wächter Boridas am Portal, mit der einzigen Aufgabe, allzu neugierige Zauberer vom Lauschen abzuhalten. Nein, machen wir uns nichts vor, der Verräter befindet sich hier in diesem Raum!“
Betroffene und misstrauische Blicke flogen durch die Luft. Der Argwohn richtete sich dabei ausschließlich gegen die Zauberer des jeweils anderen Ordens, sowie gegen Eara selbst. Sie zu verdächtigen war tatsächlich nicht allzu abwegig, Marnus´ Verschwinden bekräftigte ihre bedrohlichen Worte über die Macht der Verschwörung und ließ die Zauberer noch enger zusammenrücken. Doch in diesem Fall war der Verdacht unbegründet, sie hatte keine Kontakte zur Verschwörung.
Eara wartete, bis die Gemüter sich wieder ein wenig beruhigt hatten, dann fuhr sie fort: „Dass wir den Bibliothekar nicht vernehmen können, ist ein schwerer Rückschlag. Er hätte uns womöglich die Identitäten aller Verschwörer mitteilen können, doch nun konnte er entkommen. Er konnte entkommen, weil ich versucht habe, diese Zusammenkunft der beiden Orden in meine Entscheidungen einzuweihen und ihnen ein Mitspracherecht zu verschaffen. Ich denke, die Konsequenz ist klar: Solange der Verräter nicht gefunden ist, bleibt mir keine andere Wahl, als meine Befehle unabhängig von euch zu geben und euch in Dinge, die der Geheimhaltung unterliegen, nicht länger einzuweihen.“
Wie zu erwarten protestierten die Hohen Zauberer. Eara jedoch wunderte sich über das anhaltende Schweigen der beiden Obersten. Selbst jetzt noch sprachen die beiden Stellvertreter in ihrem Namen, sie selbst maßen sich mit Blicken und musterten Ventor und Sarakal aufmerksam. Was war nur los mit ihnen? Warum hielten sie sich zurück? Es schien fast, als wollten sie ihre Stellvertreter testen. Eara überlegte, ob es das tatsächlich sein könnte: ein Test. Nicht, ob sie sich als Stellvertreter ihrer Orden eigneten, das hatten beide schon lange bewiesen. Aber vielleicht interessierte es die Obersten eher, ob sie sich auch in einem anderen Amt gut machen würden. Zum Beispiel, dem des Souveräns. Beide Obersten waren gegen eine Vereinigung der Orden und die Möglichkeit, sie als Souveränin durch jemand anders zu ersetzen, hatte Torven schon direkt nach ihrer Ankunft in Yra erwähnt. Es schien ganz so, als versuchten sie jetzt tatsächlich, sich auf einen neuen Souverän zu einigen.
Eara verließ die noch immer streitende Versammlung, ignorierte die empörten Rufe und begab sich zu ihren Gemächern. Sie musste schnell handeln.
Sonnenhoch, 26. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria
Auf ihren Befehl hin erschien Gundeyn in beachtlich kurzer Zeit. Er war rot im Gesicht und keuchte. Für seine Souveränin sei ihm keine Anstrengung zu viel, betonte er stolz. Eara nickte stumm. Dann sagte sie: „Ich möchte, dass du versuchst, Ventor unbeliebt zu machen. Die Zauberer sollen ihn hassen. Ich liefere dir einen Grund, aber dann sei bereit. Und lobe die Hitars. Sie sind doch viel bessere Stellvertreter der beiden Orden, findest du nicht auch?“
Gundeyn grinste boshaft. „Was ich finde, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, was Ihr denkt. Denn die anderen Zauberer werden schon bald das gleiche denken, das verspreche ich Euch! Was ist mit Sarakal?“
„Um den kümmere ich mich persönlich. Versammle du eine möglichst große Gruppe Novizen und niedere Zauberer und suche einen Vorwand, damit sie leise sind. Sie sollen in genau zwei Stunden vor dem Schrein von Mutter Natur sein, hinter der Ecke, sodass man sie nicht sieht. Und sag ihnen bloß nicht, dass ich das veranlasst habe.“
Gundeyn kicherte. „Ich bin gespannt, was das wird. Ihr könnt Euch auf mich verlassen. Noch etwas?“
„Ja! Überlege dir ein Zeichen, das alle tragen sollen, die für die Vereinigung sind. Die Hohen Zauberer sollen sehen, wie groß der Zuspruch geworden ist. Und sorge dafür, dass auch die Gegner der Vereinigung ein solches Zeichen bekommen, das sie offen tragen. Das sollte es uns erleichtern, die Verschwörer aufzuspüren. Dann möchte ich, dass du für mich Kontakt zum hadrischen Schwarzmarkt herstellst. Ich will einige Nachforschungen anstellen.“
„Ich werde alles arrangieren. Der Kontakt zum Schwarzmarkt könnte womöglich eine Weile dauern, immerhin seid Ihr die Herrscherin über Hadria, viele könnten eine Falle wittern. Aber seid unbesorgt, das schaffe ich schon. Ich werde Euch bald mit einer guten Nachricht beglücken.“
Gundeyn besaß freien Zugang zu ihren Gemächern und könnte ihr somit jederzeit mitteilen, wenn er ihren Wunsch erfüllt hatte. Eara entließ ihn und ging selbst hinaus.
Vor ihrer Tür wartete der Mechanicus. „Eara!“, rief er in heller Aufregung. „Mein Arkanum ist absent. Komplett!“
„Das ist ärgerlich.“, antwortete sie, auch wenn ihr bewusst war, das ärgerlich in Anbetracht der Umstände ein äußerst harmloses Wort war. Wenn die Verschwörer im Besitz des Arkanums waren, dann hatten sie nie wieder Geldprobleme.
„Ärgerlich, allerdings! Und die Drachenschuppe, die du mir dediziert hast, ist auch verschwunden.“ Hedal nickte nachdrücklich. Dann ergänzte er: „Dafür habe ich einen essenziellen Progress bei der Dechiffrierung der Runensteine gemacht: Es handelt sich um eine summarische Trinität. Der Nutzen eines separaten Steins ist marginal, erst wenn man alle drei kombiniert hat, ist ihre Macht praktikabel.“
„Das hätte ich dir auch von Anfang an sagen können.“
„Aber es hätte noch alternative Varianten mit identischem Resultat gegeben. Eine summarische Trinität tritt nur äußerst exzeptionell auf, mir sind nur zwei Exempel bekannt. Wenn analoge Objekte von so eminenter oder exotischer Potenz existieren, dass ein Sterblicher eines davon nicht kontrollieren könnte, geschweige denn zwei, dann kann es passieren, dass ihre Kombination die Applikation zulässt. Es funktioniert nur, wenn es genau drei verschiedene Exemplare gibt. So kann eine gewaltige Potenz freigesetzt werden, die in den einzelnen Exemplaren absolut nutzlos ist. Wie exakt das funktioniert konnte bisher nicht dekryptiert werden. Aber das hieße, dass das Arkanum in den Steinen für den Effekt irrelevant ist, denn die Stärke der Steine basiert auf Runenmagie, wie sie auch die Zwerge verwenden. Deren Runen sind variabler und simpler zu kontrollieren, allerdings auch signifikant schwächer. Ich werde das Arkanum also extrahieren und experimentieren, was dann geschieht.“
„Na also, dann hast du bald ja wieder einen Vorrat.“
Der Mechanicus klatschte ein mal laut. „Ja, das stimmt!“, freute er sich. Dann fügte er verärgert hinzu: „Aber es geht trotzdem nicht, dass mein Arkanum einfach entwendet wird!“
„Wenn ich herausfinde, was damit geschehen ist, sage ich es dir.“, bestätigte Eara. „Ach, Hedal: Welches Wetter sagt dein Meteorometer für die heutige Nacht an?“
„Einen destruktiven Orkan!“ Er riss die Augen auf. „Wieso fragst du?“
„Oh, reine Neugierde! Nun, Hedal, wo du schon hier bist, habe ich eine äußerst wichtige Bitte an dich, die dir nicht gefallen wird …“
Früher Nachmittag, 26. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria
Eara wusste genau, wie sie die beiden Stellvertreter daran hindern konnte, neuer Souverän zu werden. Jeder Mensch hatte einen Schwachpunkt, man musste ihn lediglich finden und benutzen. In Sarakals Fall waren es seine Selbstzweifel. Jeder machte Fehler, doch der stellvertretende Oberste des Turms sorgte sich zu sehr um die, die ihm anvertraut waren. Er wollte niemandes Leid selbst verursachen. Die Stimme der Schwäche wisperte in ihrer üblichen Naivität, dass dies doch eine positive Eigenschaft sei. Aber Eara hatte höchstens kühle Verachtung für diesen Charakterzug übrig. Sie hatte begriffen, dass jede Entscheidung für etwas auch eine Entscheidung gegen etwas war. Jede Handlung verursachte Leid und sie würde stets den Weg des geringsten Übels wählen – was es auch kosten möge.
„Souveränin!“, rief Sarakal erstaunt, als er seine Tür auf ihr Klopfen hin öffnete. „Wollt Ihr hereinkommen?“
Eara trat an ihm vorbei in die kleine Kammer. Sein Status hätte ihm das Recht auf größere Räumlichkeiten verliehen, doch dem stellverstretenden Obersten des Turmes war das Streben nach Luxus fremd.
„Der Eiserne Turm ist schon wieder braun vor Rost. Ich möchte, dass Ihr noch heute Nacht beginnt, diesen Rost zu entfernen und endlich die Zinklegierung aufzutragen, die Hedal seit Jahren vorschlägt. Er lagert sie schon ewig in seinem Laboratorium, wenn sie früher benutzt worden wäre, dann könnten wir es uns die Mühe jetzt sparen.“ Jedes Jahr mussten einige Zauberer des Turmes den Rost abkratzen, der sich im nasskalten Wetter am Eisen sammelte. Ein Zauber war bislang nicht dagegen entwickelt worden.
„Gerne, Souveränin. Aber wir haben nicht genug Kohle vorrätig, um die Legierung zum schmelzen zu bringen.“ Eara war beeindruckt, was Sarakal alles im Kopf hatte. Beinahe tat es ihr leid, was sie mit ihm vorhatte.
„Deswegen werdet Ihr dieses Jahr einen mächtigen Zauberer des Turmes dabeihaben, der das Metall direkt oben zum Schmelzen bringen kann.“
Sarakal betrachtete sie misstrauisch. „Das ist aber kein erneuter Versuch, Propaganda für die Politik der Einigung zu machen, oder?“
„Ich verstehe Eure Bedenken, und ich möchte Eure Bereitschaft nicht missbrauchen.“ Eara tat so, als müsste sie überlegen. „Gut, ich weiß, wie ich es mache. Ich gebe Euch von allen Hohen Zauberern des Feuers denjenigen mit, der am meisten gegen die Vereinigung der Orden ist. Dolor begleitet Euch!“
Sarakal schluckte schwer. Dolor hasste die Zauberer des Turmes leidenschaftlich und machte aus diesem Hass auch keinen Hehl. Er hätte am liebsten den Ordenskrieg wieder aufgenommen und seine Feinde gnadenlos getötet, auch auf das Risiko hin, den Krieg zu verlieren. Sein Fanatismus machte ihn selbst in seinem eigenen Orden unbeliebt, und so war es ein kleines Wunder, dass er es geschafft hatte, in den Rang eines der zehn Hohen Zauberer aufzusteigen. Selbstverständlich verabscheute er die Idee einer Vereinigung.
Auch Sarakal war klar, dass Dolor den Eisernen Turm lieber von etwas anderem als nur Rost befreit hätte, doch er war zu höflich, um einen Wunsch zu äußern, nachdem es doch seine Schuld war, nun ausgerechnet mit ihm den Eisernen Turm säubern zu müssen. Er dachte, dass Eara ihm einen Gefallen hatte tun wollen und wollte sie jetzt nicht in Verlegenheit bringen. Also nickte er nur und Eara wünschte ihm viel Erfolg, während sie sich innerlich fragte, wie ein so lieber Mensch es wohl geschafft hatte, in der Hierarchie der Orden so weit aufzusteigen.
Ventors Schwäche war sein Stolz. Er war ein brillanter Magier, ein guter Anführer, und dieser Stärken war er sich deutlich bewusst. Etwas zu deutlich, wie einige sagten.
Sie passte ihn ab, als er gerade seine Gästekammer betreten wollte. „Kommt mit, ich habe eine Aufgabe für Euch!“
Ventor starrte überrascht zu ihr hoch. „Eine Aufgabe? Ist es dringend?“
Wortlos drehte Eara sich um und Ventor war neugierig genug, ihr zu folgen. Sie ging auf direktem Wege zum Schrein der Heiligen Mutter. Erst, als sie ihn fast erreicht hatte, drosselte sie ihre Geschwindigkeit.
„Also, was ist es?“ Ventor war schlecht gelaunt, weil er davon abgehalten worden war, seine Kammer zu betreten. Das war vortrefflich!
Eara stellte sich genau an die Ecke und sah Ventor freundlich an. „Der Schrein wurde schon lange nicht mehr gesäubert. Ich wünsche, dass Ihr Eurer Pflicht gegenüber Mutter Natur nachkommt. Und denkt daran: Keine Dunkle Magie auf die Mauern Yras!“
Ventor lachte kurz bis er begriff, das das kein Witz war. „Was soll das, Souveränin? Warum wollt Ihr dazu ausgerechnet mich haben? Es gibt Dutzende niedere Zauberer, die diese Arbeit fast genau so gut erledigen könnten. Einer von ihnen soll das machen!“
„Sehen wir über das fast mal hinweg. Warum sollte einer von ihnen das tun müssen? Meint Ihr etwa, Eure Zeit sei kostbarer als die eines einfachen Novizen, nur weil Ihr einen höheren Rang innehabt? Haltet Ihr Euch für mehr wert?“, fragte Eara bewusst laut und in zornigem Tonfall. Sie wusste, dass ein solcher Ton auch eine wütende Antwort provozierte.
Und tatsächlich schrie Ventor fast schon: „Natürlich! Ich bin mächtiger, habe einen höheren Rang und ein fundiertes Wissen über Magie. Selbstverständlich bin ich mehr wert.“
Eigentlich stimmte Eara ihm zu, doch jetzt würde sie das gewiss nicht eingestehen. Stattdessen ging sie um die Ecke und bestaunte Gundeyns Werk. Knapp zwei Dutzend Novizen und niedere Zauberer saßen um einen Echozähler, eine Erfindung von Hedals Vorgängerin zum Messen der Schallgeschwindigkeiten verschiedener Materien, die auf Störgeräusche äußerst empfindlich reagierte. Alle hier hatten vollkommen still sein müssen. Und alle hatten das Gespräch in perfekter Qualität vernommen, das zwischen der Souveränin und dem stellvertretenden Obersten des Feuers stattgefunden hatte. Oder vielmehr dem ehemaligen stellvertretenden Obersten des Feuers.
„Nun, dann schlage ich vor, Ihr sucht Euch von diesen vielen wertlosen Zauberern einen aus, der Eure Arbeit für Euch übernimmt!“
Ventor folgte ihr und erbleichte beim Anblick der versammelten Zauberer. Hasserfüllt blickte er Eara an. „Ihr seid eine intrigante Schlange!“, zischte er gedämpft. Sie würdigte ihn keiner Antwort.
Ventor blickte hektisch auf die zornige Menge vor sich, dann drehte er sich um und rannte davon. Noch bevor der Flüchtende aus Earas Blickfeld verschwand, begann Gundeyn mit seiner Hasstirade.
Frühe Nacht, 26. Herbsttag 76 A.Z.
Großer Hof in der Feste von Yra, Hadria
Als die Nacht begann, suchte Eara unter einem Vordach Unterschlupf. Von hier aus konnte sie den Eisernen Turm beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Bald erschien Sarakal, drei niedere Zauberer des Turmes sowie Dolor im Schlepptau. Der schnurrbärtige Zauberer des Feuers beschwerte sich schon jetzt und zeigte überheblich auf die dunklen Wolken, die sich über Yra auftürmten. Doch Sarakal besaß durchaus auch Durchsetzungsvermögen, zielstrebig ging er auf die Holzkonstruktion neben dem Eisernen Turm zu und wies die anderen an, die Eimer mit der Legierung, die Hedal entwickelt hatte, hochzutragen. Dann versah er die Plattform mit einem Levitationszauber und sie schwebte dem grauen Himmel entgegen.
Der Sturm, den der Mechanicus angekündigt hatte, ließ nicht lange auf sich warten. Mit der Zeit wurde der Streit zwischen Dolor und den Zauberern des Turmes vom Wind verschluckt. Eara betrachtete ruhig, wie immer heftigere Böen an der Holzplattform zerrten, während Sarakal versuchte, den Feuerzauberer unter Kontrolle zu halten.
Irgendwann fiel auch noch Schnee vom Himmel und Eara verlor die Sicht zu den Zauberern. Sie verließ ihr Versteck und stellte sich unter den Turm, wartete auf das, was unweigerlich geschehen musste.
Als erstes fielen ihr Holzbalken und ein glühender Zinkklumpen entgegen, denen sie auswich. Dann sah sie zwei Gestalten durch das Schneetreiben fallen. Sie hatte lange abgewogen, ob sie einen Novizen sterben lassen sollte, falls es zu dieser Situation kam, aber sie war zu dem Schluss gekommen, dass Sarakal auch ohne dieses letzte Mittel schwach genug war. Also wartete sie, bis die beiden den Boden fast erreicht hatten, ehe sie sie auffing. Die beiden wurden von Schatten in der Luft gehalten und vor ihr abgesetzt, starrten sie fassungslos an, überrascht, noch am Leben zu sein. Sie zitterten in der Kälte und riefen etwas, was über den Sturm nicht zu verstehen war. Eara schickte sie mit Gesten ins Warme und wollte gerade nach den anderen schauen, als noch drei Gestalten erschienen. Dieses Mal schwebten sie nach unten und landeten selbstständig vor ihr. Eara winkte ihnen mit ihrem Ebenholzstab zu und dirigierte sie zurück in die Gebäude der Feste.
Erst drinnen konnten sie sich wieder unterhalten. „Hah, ich habe ja gesagt, dass wir bei dem Wetter nicht hoch sollten!“, rief Dolor grimmig. Dann ergänzte er fast unhörbar: „Schade, dass niemand gestorben ist!“, und ging grußlos. Die drei niederen Zauberer des Turms wärmten sich gegenseitig auf, während Sarakal vorsichtig zu Eara trat.
„Ich möchte Euch sagen, dass Ihr bei diesem Sturm nicht länger zu arbeiten braucht, da kommen mir plötzlich ein paar Zauberer entgegengestürzt.“, log Eara. „Dürfte ich erfahren, was genau passiert ist? Wieso war es fünf Zauberern nicht möglich, eine Holzplattform zu verstärken, ehe sie zerbricht? Wieso war es nicht möglich, alle sicher zu Boden zu bringen?“
Sarakal blickte betreten zu Boden. „Es tut mir so unermesslich leid! Wenn ich bedenke, was beinahe passiert wäre … Welch glückliche Fügung, dass Ihr gerade zur rechten Zeit dort wart!“ Der Stellvertreter hatte nicht den geringsten Verdacht geschöpft. „Es ist meine Schuld. Ich lag im Streit mit Dolor und habe nicht gemerkt, wie schlecht es um die Konstruktion stand. Als sie zerbrach, konnte ich nicht alle oben halten, bevor sie im Schnee verschwanden. Bestraft mich, wie Ihr es für angemessen haltet.“
Es war beachtlich, dass er selbst jetzt noch die Schuld auf sich nahm, anstatt sie Dolor zuzuschieben, der vermutlich den größeren Anteil daran hatte. Doch Sarakal wusste, dass er als Anführer der Aktion auch die Konsequenzen zu tragen hatte. „Ich kann Euch nicht bestrafen.“, sagte Eara gnädig. „Der Fehler liegt bei mir. Dolor ist schwierig, dass wissen wir beide. Ich dachte, es wäre Euch möglich, ihn zu kontrollieren, doch ich habe Euch überschätzt. Ich bin mir sicher, Ihr habt Euer bestes gegeben, es war einfach nicht genug. Dafür werde ich Euch nicht bestrafen.“
Sarakal blickte sie betroffen an. „Meint Ihr wirklich, dass ich mich so wenig zum Anführer eigne?“
„Ich bin mir sicher, wenn es nicht ausgerechnet Dolor gewesen wäre, Ihr hättet meinen Auftrag gut ausgeführt. Ihr seid gerade recht, um eine Gruppe von fünf Personen zu leiten.“
Sarakal riss die Augen auf. „Fünf Personen? Ist das alles, was ich kann?“
Eara zuckte zusammen und stammelte: „Oh, als Stellvertreter seid Ihr sicher auch … Ich meine, gewiss könnt Ihr auch größere Gruppen führen. Wenn Ihr eines Tages Oberster werdet, dann habt Ihr ja hoffentlich auch dazugelernt. Womit ich natürlich nicht sagen möchte, dass Ihr das jetzt nicht vielleicht auch schon schaffen würdet ...“
Dem von Schuldgefühlen gepeinigte Sarakal entging, dass Eara echte Unsicherheit längst abgelegt hatte. „Nein, Ihr habt recht! Die heutige Nacht hat gezeigt, wo meine Grenzen sind. Ich möchte niemanden durch meinen Hochmut in Gefahr bringen. Schon morgen trete ich von meinem Amt als stellvertretender Oberster des Turmes zurück, so wahr ich hier stehe.“
Eara vergewisserte sich, dass die drei niederen Zauberer das gehört hatten, dann tat sie so, als wolle sie ihn von seiner Entscheidung abbringen, womit sie seinen Entschluss erfolgreich bekräftigte. Am nächsten Morgen suchte Sarakal Torven auf und erklärte ihm seinen Rücktritt. Und niemand überprüfte jemals, ob die Holzkonstruktion, auf der die Zauberer den Eisernen Turm hatten sanieren wollen, nicht schon vor ihrem Gebrauch sabotiert worden war.
Sonnenhoch, 27. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria
Erst zum Mittag suchten Torven und Variah die Souveränin auf. Ihr Zorn war den beiden deutlich anzumerken. „Wie kannst du es wagen, unsere beiden Stellvertreter einfach abzusetzen?“, brüllte Torven.
„Sarakal ist von alleine gegangen und Ventor hat vor zwei Dutzend Novizen verkündet, dass er sich für mehr wert hält als sie. Er ist die meistgehasste Person Yras.“ Bei diesen Worten erinnerte sie sich in Gedanken daran, Gundeyn zu belohnen.
Variah ballte ihre Hände zu Fäusten, wohl mit dem Ziel, ihre Fingernägel nicht versehentlich in Earas Gesicht zu graben. „Glaubt Ihr, wir halten es für Zufall, dass die Novizen genau dort warteten, wo Ihr diese Aussage herausgefordert habt? Glaubt Ihr, wir bemerken nicht, dass der Auftrag, der zu Sarakals Rücktritt führte, von Euch kam? Gebt es doch zu, Ihr habt bemerkt, dass wir einen der beiden zum Souverän machen wollten und das vermeiden wollen.“
„Und wenn es so wäre?“, gab Eara ruhig zurück.
Torven stampfte laut auf, um seinem Zorn Luft zu machen. „Du hast doch behauptet, du würdest widerspruchslos gehen, wenn wir einen Ersatz für dich präsentieren!“
Eara nickte langsam. „Und daran halte ich mich! Aber vorher sorge ich dafür, dass ihr den Richtigen präsentiert.“
„Und dieser Richtige wäre wahrscheinlich einer der Hitars, richtig? So, wie dein fetter Diener Stimmung für sie macht! Aber nicht mit uns! Wir bestimmen sie nicht als Souverän und auch nicht als Stellvertreter.“
„Sialla wird die neue stellvertretende Oberste des Turms und Mortol der stellvertretende Oberste des Feuers!“, ergänzte Variah süffisant.
„Ist das euer Erst? Sialla ist so eitel, dass man ihr nur einen Spiegel geben muss und sie vergisst alles um sich herum. Und jeder weiß, dass Mortol von Aschenbaumharz abhängig ist, das er sich regelmäßig auf dem Schwarzmarkt besorgen muss. Meint …“ Sie stockte. Natürlich! Sie war ja so dumm! Dass sie nicht früher darauf gekommen war… Doch jetzt musste sie sich erst den beiden Obersten widmen. „Meint ihr wirklich, es wäre für mich ein Problem, die beiden ebenso abzusetzen wie ihre Vorgänger? Wenn ihr tut, was ich möchte, dann könnt ihr euch und mir einiges an Arbeit ersparen, aber das Ergebnis ist so oder so das gleiche.“
Torven zitterte und hätte offensichtlich am liebsten die geflügelte Figur, die in die Spitze seines Stabes geschnitzt war, in ihr Gesicht geschlagen, doch er hielt sich zurück. Variah stieß das Ende ihres Stabes auf den Boden und Funken stoben hervor, ein Zeichen ihres Zorns. „Komm, Torven! Sie ist viel zu stur, hier richten wir nichts aus! Sialla und Mortol sind zu angreifbar, sie könnten sich ohnehin nicht lange halten. Aber wir werden niemals die Hitars in die Position bringen, in der Ihr sie gerne hättet!“
„Sie haben keinen Finger gerührt, um Ventor und Sarakal zu beseitigen.“ Dass das auf ihre Anweisung hin geschehen war, erwähnte Eara nicht.
„Und wenn schon! Wir werden sie nicht zu unseren Stellvertretern machen. Und Euch ersetzen wir auch noch, versprochen!“ Variah wirbelte herum und verließ erhaben die Gemächer.
Torven blickte Eara traurig an. „Früher warst du so ein liebes Mädchen, so eine gute Zauberin. Was ist nur aus dir geworden?“ Auch er ging, ohne eine Antwort zu erwarten.
Dass die beiden noch nicht wussten, wen sie zu ihren Stellvertretern machen wollten, kam Eara entgegen. Gundeyn warb für die Hitars, und Eara hoffte darauf, dass die Obersten sich irgendwann dem Druck der Masse würden beugen müssen. Den gleichen Plan verfolgte sie auch bei der Vereinigung, in beiden Fällen hatte sie formell kein Mitspracherecht. Doch die Zeit arbeitete für sie…
Nachdem die Tür sich geschlossen hatte, verfasste sie eine kurze Nachricht, in der sie Mortol zu sich bestellte. Warum bloß hatte sie Gundeyn beauftragt, Kontakte zum Schwarzmarkt herzustellen, wenn sie doch bereits jemanden mit diesen Kontakten kannte? Mortol würde ihr weiterhelfen können!
Abenddämmerung, 27. Herbsttag 76 A.Z.
Speisesaal in der Feste von Yra, Hadria
Eara trat in den Speisesaal und betrachtete den überfüllten Raum. Es roch nach Zwiebelsuppe, das Stimmengewirr der Zauberer erfüllte die Luft. Im Kamin brannte ein großes Feuer aus dem Holz, das für Schiffbau nicht verwendet werden konnte und Eara meinte, auch Reste der Plattform zu erkennen, die in der letzten Nacht zu Bruch gegangen war. Bei ihrem Eintreffen unterbrachen die Zauberer ihr Abendmahl und es wurde so still, dass sie den Wind hinter der kleinen Holztür an der Nordseite hören konnte, obwohl sie am genau entgegengesetzten Ende des Raumes stand. Nur hier und da klapperte noch das Tongeschirr und flüsterten einige Novizen miteinander. Eara wandte sich zielstrebig zum Tisch der Hohen Zauberer, der an der Ostwand einen Ehrenplatz innehatte. Die beiden Obersten musterten sie kalt, die Hitars zwinkerten ihr zu und Mortol hob grüßend die Hand, ehe er sie nach einem eisigen Blick Variahs schnell wieder sinken ließ.
Mortol hatte sich bereiterklärt, mit ihr den hadrischen Schwarzmarkt zu durchleuchten. An Marnus´ Bolzen war Forinkäfergift gewesen. Doch das war in Hadria strengstens verboten. Nur illegal hätte der Bibliothekar in den Besitz der tödlichen Substanz gelangen können, in Yra allerdings verkaufte sie hoffentlich niemand. Da Marnus die Feste schon lange nicht mehr verlassen hatte, musste jemand anderes es besorgt haben. Jemand, der wohl zu den Verschwörern gehörte. Und ihn wollte Eara finden.
Mortol war ein molliger Magier, der allerdings trotz seiner Statur stets einen gehetzten Eindruck machte, eine Folge seiner Sucht. Der Aschenbaum war ein unscheinbares Gewächs mit grauer Rinde und dunkelgrünen Nadeln, die fast schon schwarz wirkten. Doch das Harz dieses Baumes war gefährlich. Es wurde konzentriert und gebacken, die so entstandenen Klumpen besaßen eine feste, klebrige Konsistenz und konnten wunderbar gekaut werden. Wer den süßlichen Saft schluckte, wurde für kurze Zeit von Euphorie ergriffen, die kurzfristig keine negativen Auswirkungen hatte. Doch schon der Genuss eines murmelgroßen Klumpens trieb in die Abhängigkeit.
Mortol war schon als Kind süchtig gewesen, noch ehe die Zauberer sein Talent für die Zauberei entdeckt hatten. Es war unmöglich gewesen, ihn noch zu heilen, und selbst die Dunkle Magie hatte ihm nicht zu helfen vermocht. Seitdem wurde stillschweigend toleriert, dass Mortol regelmäßig einige zwielichtige Ecken in Nordgard frequentierte und das Geld, das er sich mit vielen Zusatzarbeiten verdiente, für die Droge ausgab. Inzwischen zeigte er die üblichen Erscheinungen eines Abhängigen: Haarausfall, schwarze Zähne und wässrige Augen.
Eara stellte sich mit dem Rücken zu den Hohen Zauberern an deren Tisch und fixierte die Menge vor sich. An einigen Roben erkannte sie kleine Messingbroschen über dem Herzen und sie begriff, dass es sich um die Kennzeichnung handelte, die sie von Gundeyn für die Anhänger der Politik der Einigung verlangt hatte. Messingbroschen! Nach einem Tag! Wie machte er das bloß immer? Es waren deprimierend wenige, aber immerhin fing ihre Kampagne auch gerade erst an.
Sie klopfte dreimal mit ihrem Stab auf den Boden, obgleich sie längst die ungeteilte Aufmerksamkeit der Speisenden besaß.
„Wer von euch unterstützt alles die Vereinigung der beiden Orden?“, hob Eara an. Sie betrachtete den Wald aus Armen, der sich plötzlich vor ihr erhob, sie registrierte aber auch die Unsicherheit auf vielen Gesichtern.
„Und wer ist gegen diese Vereinigung? Keine Angst, niemand wird dafür bestraft.“ Fast ein Drittel der Arme hoben sich, etwas weniger als für die Vereinigung. Die Unentschlossenheit, die sie dieses Mal bemerkte, rührte wohl auch daher, dass alle wussten, wofür sie selbst stand. Wer legte sich schon gerne mit der Souveränin und mächtigsten Dunklen Magierin Hadrias an? Eara merkte sich die Mutigen.
„Das finde ich persönlich zwar bedauerlich, aber es ist euer gutes Recht. Jeder kann sich seine eigene Meinung zu dem Thema bilden, solange er sie friedlich übermittelt. Und wer von euch unterstützt … die Verschwörung?“ Dieses mal meldete sich niemand. Aber alles andere hätte sie auch verwundert.
„Die Frage mag seltsam anmuten, aber mich erreichten einige Gerüchte über fehlgeleitete junge Zauberer, die die Verschwörer nicht als das sehen, was sie sind.“ Von diesen Gerüchten hatte ihr natürlich Gundeyn berichtet.
„Es gibt einige, die behaupten, diese Verschwörung bestehe aus überzeugten Kämpfern, die für ihre Ideale einstehen. Aus stolzen Verfechtern ihrer freien Meinung. Aus Oppositionellen, die von mir und der Zusammenkunft der Hohen Zauberer gewaltsam unterdrückt werden. Diesen sage ich: Ihr habt ein falsches Bild von dieser Verschwörung. Die Verschwörer sind verblendete Narren, gewaltbereit und radikal. Sie arbeiten zusammen, um Zusammenarbeit in Zukunft zu verhindern. Sie vereinigen die Kräfte beider Orden, um die Vereinigung der beiden Orden zu vereiteln… um jeden Preis! Sie schrecken nicht vor Mordversuchen zurück. Sie verzauberten die tapfere Wächterin Deria brutal. Sie sind stark durch ihren gemeinsamen Hass und mächtig durch ihr verschiedenes Wissen. Sie destabilisieren die Ordnung Hadrias, sie vernichten, anstatt zu erschaffen. Auf solche stolzen Kämpfer kann ich getrost verzichten! Wenn irgendjemand unter euch mit diesen Verschwörern sympathisiert, dann rate ich ihm, seine Meinung noch zu überdenken. Wenn irgendjemand unter euch sich einen Sieg der Verschwörung wünscht, dann rate ich ihm, vorsichtig zu sein. Seine Wünsche könnten schon bald wahr werden. Wir wissen fast nichts über die Verschwörung, nur ihre Macht haben sie bereits eindrucksvoll demonstriert. Einen haben wir enttarnt, mindestens fünf verbleiben. Sie könnten überall sitzen, jetzt vielleicht direkt neben euch. Auch in der Versammlung ist mindestens ein Spion von ihnen.“
Auf diese Ankündigung folgte entsetztes Aufkeuchen. Die Zauberer blickten misstrauisch zum Tisch hinter ihr und tuschelten. Eara konnte sich gut vorstellen, wie sich die Blicke der Hohen Zauberer hasserfüllt in ihren Rücken bohrten. Aber solange es nur Blicke waren…
„Und das bringt mich zu meinem nächsten Punkt. Es gibt einige, die behaupten, ich würde die Versammlung ignorieren. Sie sagen, ich tue, was mir beliebt. Die Zusammenkunft schert mich einen Dreck. Die Wünsche und Interessen der Hohen Zauberer, der Repräsentanten der beiden Orden, sind mir egal. Ich regiere, ohne die Versammlung miteinzubeziehen. Diesen sage ich: Ihr habt recht! Ich regiere tatsächlich unabhängig von der Versammlung und den beiden Orden, nicht umsonst lautet mein Titel Souveränin. Aber nicht, weil sie mir egal wären, im Gegenteil: Die Hohen Zauberer sind mir wichtig, die niederen Zauberer sind mir wichtig, die Novizen sind mir wichtig. Und in ihrer aller Interesse kann ich es mir nicht erlauben, zwanzig Zauberern die Macht zu geben, von denen einer erwiesenermaßen einer zutiefst abscheulichen und destruktiven Verschwörung angehört. Überlegt nur, welchen Einfluss er hätte! Welche Informationen er verwenden könnte, um uns allen zu schaden! Die einzige Möglichkeit, euch zu schützen, ist es, die Versammlung nicht miteinzubinden, bis der Verräter entdeckt ist. Erst dann werden wir gemeinsam das tun können, was für Hadria am besten ist. Im Moment muss ich diese schweren Entscheidungen notgedrungen alleine fällen.“
Die Zauberer vor ihr warfen sich unbehagliche Blicke zu. Einige fürchteten wohl, sie könnte ihre Macht ausbauen, um endgültig zur absoluten und uneingeschränkten Herrscherin aufzusteigen. Doch leider war das Eara unmöglich.
„Und ich fürchte, ich muss euch nun mitteilen, dass ich diese Feste leider für einige Tage verlassen muss. Der Kampf gegen die Gegner in unseren eigenen Reihen muss manchmal von außen geführt werden. Manchmal braucht es einen Überblick, um mit frischer Kraft voranschreiten zu können. Ich denke, ihr versteht, dass ich euch das Ziel meiner Reise nicht anvertrauen kann, ohne auch die Verschwörer einzuweihen. Doch ich bitte euch, auch in meiner Abwesenheit die Befehle auszuführen, die zu eurem Schutz gedacht sind. Wir leben in dunklen Zeiten, doch gemeinsam werden wir sie überstehen. Jeder könnte ein Verschwörer sein, aber wir werden unsere Aufgaben nur meistern, wenn wir wir zusammenstehen. Darum lautet meine Bitte: Misstraut euren Freunden, aber helft euren Feinden! Wir müssen unsere kleinlichen Rivalitäten vergessen und zu gemeinsamer Stärke finden, um auch diese Krise meistern zu können. Schon im voraus danke ich euch allen für eure Standhaftigkeit und eure Einsatzbereitschaft! Wenn wir zusammenhalten, dann werden wir über diese Verschwörer triumphieren, das ist gewiss!“
Nach dem Mahl winkte Eara Dolor zu sich, den Zauberer des Feuers, der für seinen Hass auf den anderen Orden berüchtigt war und den Eara benutzt hatte, um Sarakal von der eigenen Unfähigkeit zu überzeugen.
„Sehr beeindruckende Rede, Souveränin! Sie folgte einem klaren Prinzip: Den Feind so lange schlechtmachen und aufbauschen, bis die Zuhörer nicht mehr bemerken, welchen Stuss man von sich gibt.“, knurrte Dolor bissig.
„Du hältst die Verschwörung also nicht für gefährlich?“
„Pah, da sind drei Zauber des Turms“, bei diesen Worten spuckte er aus, „dabei, die können doch gar nichts hinkriegen! Sie sind keine Bedrohung!“
„Und du sagst das nur, weil du das denkst? Nicht etwa, um mich von ihnen abzulenken und in Sicherheit zu wiegen?“
Dolor schüttelte den Kopf. „Ich stehe zu dem, was ich sage!“
„Du kannst doch nicht bestreiten, dass du von allen Hohen Zauberern am meisten gegen die Vereinigung bist. Und dass du schon immer bereit warst, Gewalt gegen die Zauberer des Turmes und die Abweichler im eigenen Orden einzusetzen.“
„Du hältst mich für den Verräter?“, hakte Dolor nach. „Das ist Unsinn!“
„Hast du auch Gründe, warum das Unsinn ist?“
„Du magst Souveränin sein, aber nur weil ich auch damals nicht der Oberste war. Ich hätte nicht zugelassen, dass eine Zauberin des Turms“, erneut spuckte er aus, „in dieses Amt kommt, und wenn sie noch so oft Dunkle Magie verwendet! Und ich brauche mich nicht vor einer Zauberin des Turms“, er spuckte aus, „zu rechtfertigen, soweit kommt´s noch. Ich bin es nicht, glaub´ es oder lass es bleiben!“
„Ich frage, weil mich ein Hoher Zauberer auf dich angesprochen hat. Er hatte den Verdacht, du könntest es sein.“
„Bestimmt ein Zauberer des Turmes!“ Dolor spuckte aus und Eara fragte sich, woher der ganze Speichel wohl kam. „Die hassen mich fast so sehr wie ich sie!“
„Tatsächlich war es ein Zauberer deines Ordens.“, merkte sie an.
„Das sollte mich wahrscheinlich auch nicht wundern. Weichlinge und Zauderer, allesamt! Die meisten behaupten, es gebe Zauberer des Turms“, erneutes Ausspucken, „die sympathisch seien oder mit denen man sogar vernünftig reden könne.“
„Auch ich war einst eine Zauberin des Turmes.“
„Ein eindeutiger Beweis für meine These!“
„Du beweist Mut. Nicht viele würden es wagen, so mit mir zu sprechen.“
„Ich sage, was ich denke und stehe dazu! Ich freue mich auf den Tag, an dem es jemandem gelingt, dich zu meucheln, aber bis dahin versuche ich persönlich, die Zauberer des Turms“, natürlich spuckte er wieder aus, „zu schwächen! Du wirst uns ohnehin nicht vereinigen können!“
„Du weißt aber, dass diese Verschwörer Verbrecher sind?“
„Alle Zauberer des Turms“, ein weiterer Spuckeklumpen trudelte zu Boden, „sind Verbrecher! Aber die Zauberer des Feuers sind nur deshalb Verbrecher, weil du sie so nennst. Eine Zauberin des Turms!“ Selbstverständlich spuckte er aus.
„Ein Mordversuch ist also kein Verbrechen?“
„Nur ein Zauberer des Turms“, diesmal benötigte er etwas länger, um die Spucke im Mund zu sammeln, „hat das versucht, die anderen haben dich lediglich kritisiert. Und das zurecht! Ist es jetzt schon ein Verbrechen, gegen dich zu sein?“
„Ich kann frei bestimmen, was ein Verbrechen ist!“, erwiderte Eara nachdenklich, fügte dann jedoch hinzu: „Aber eine Vereinigung der beiden Orden kann langfristig nur funktionieren, wenn sie nicht unter Zwang entsteht.“
„Also, kann ich gehen oder werde ich hingerichtet?“
„Du darfst dich entfernen!“
„Ja, unentschlossen wie üblich. Erst rufst du mich, dann lässt du mich wieder gehen, ohne etwas erreicht zu haben. Typisch Zauberer des Turms!“ Zehn! zählte Eara Dolors letztes Ausspucken stumm mit. Der verließ sie und hinterließ - neben einer kleinen Pfütze auf dem Boden - die Erkenntnis, dass er mit der Verschwörung tatsächlich nichts zu tun hatte. Er verabscheute die Zauberer des Turms viel zu sehr, um mit einigen von ihnen zusammenarbeiten zu können.
Morgendämmerung, 28. Herbsttag 76 A.Z.
Großer Hof in der Feste von Yra, Hadria
Mortol packte noch im Gehen die letzten Dinge in seine Tasche. Um seinen Hals hing ein Beutel, den er regelmäßig beäugte und von dem Eara vermutete, dass er das kostbare Aschenbaumharz enthielt. Sie traten hinaus in die morgendliche Kälte und machten sich auf den Weg nach Süden. Doch bevor sie die Feste von Yra verlassen konnten, stapften zwei Gestalten durch den knöchelhohen Neuschnee. Es waren Torven und Variah, die beiden Obersten.
„Wartet!“, rief Torven. Eara hielt an und auch Mortol geduldete sich, bis die beiden sie erreicht hatten. Wegen der Kälte stampfte er mit den Füßen auf und ging unruhig im Kreis.
Die beiden Obersten stellten sich vor ihr auf und sahen sie mit einem triumphierenden Blick an, der Eara nicht gefallen wollte. „Wir haben uns geeinigt!“, verkündete Variah stolz.
„Worauf geeinigt?“, hakte Eara nach, doch sie begriff es noch vor Torvens Antwort: „Auf einen neuen Souverän!“ Sie blinzelte. Welchen Fehler hatte sie gemacht? Was hatte sie übersehen? Ventor und Sarakal kamen nicht infrage und sie wusste niemand anderen, dem sowohl Torven als auch Variah ihre Zustimmung geben würde. Sialla und Mortol waren zu angreifbar, höchstens Koraph war noch bei beiden Orden beliebt, doch der war schon zu alt, um noch mächtige Zauber zu wirken, mittlerweile ein Anhänger von Earas Politik und hatte außerdem kein Interesse daran, Souverän zu werden.
„Wir haben uns auf Frysirr geeinigt.“, sagte Variah und ihre Augen funkelten listig. Eara war noch verwirrter. Niemand in der Versammlung hieß so, und ihr fiel auch sonst niemand passendes ein. Sie kannte nur einen Frysirr, doch den konnte Variah unmöglich meinen! Oder?
„Der Zauberer des Turmes? Der vor dreißig Jahren als Novize abschloss und seitdem noch immer nicht über den Rang eines einfachen niederen Zauberers hinausgekommen ist?“
„Ganz recht! Niemand behauptet, dass ein Souverän mächtig sein muss. Er beweist Geduld und Ausdauer!“, bestätigte Torven, was Mortol mit einem ungläubigen Keuchen quittierte, ehe Variah ihm ihren Stab in die Seite stieß.
„Das kann unmöglich euer ernst sein!“, sagte Eara kopfschüttelnd. „Wir sprechen tatsächlich vom selben Frysirr? Der vor zwanzig Sommern bunte Bänder in sein Haar flocht, um irgendwelche grünen Kobolde aus Hadria zu vertreiben?“
„Von Frysirr selbst abgesehen hat seitdem niemand mehr grüne Kobolde in Hadria gesehen.“, erwiderte Variah ohne mit der Wimper zu zucken.
„Der als Novize den Auftrag bekommen hat, einen Becher Schwefelsäure möglichst schnell zu entsorgen?“
„Er hat die Aufgabe schneller erledigt, als ich es geschafft hätte.“, antwortete Torven säuerlich.
„Er hat ihn ausgetrunken und musste danach für drei Monde ins Hospital.“, präzisierte Eara.
Torven nickte. „Gehorsam und Opferbereitschaft! Zwei äußerst wichtige Tugenden!“
„Gehorsam wohl insbesondere euch beiden gegenüber?“, vermutete Eara. Doch schon in dem Moment erkannte sie, dass das unmöglich das Ziel der Obersten sein konnte. Was in Frysirrs Kopf vorging, konnte niemand anderes verstehen, seine verqueren Gedanken waren von normalen Menschen weder nachzuvollziehen noch zu beeinflussen. Aber was wollten sie dann?
„Ihr seid von eurem Entschluss, Frysirr zu erwählen, wohl nicht mehr abzubringen?“ fragte Eara ohne wirkliche Hoffnung.
Zu ihrem Erstaunen wiegte Variah nachdenklich den Kopf und überlegte: „Nun, man kann über alles reden. Über die Wahl Frysirrs zum Souverän. Über das Machtgefälle von Souverän und Versammlung. Über die Vereinigung der beiden Orden …“ Torven nickte bedeutungsvoll.
Und Eara begriff endlich. Die Obersten wollten Frysirr nicht als Souverän, schließlich war auch ihre Absicht nicht, Hadria zu schaden. Sie wollten lediglich, dass Eara von ihren Plänen absah. Das war Erpressung! Doch die beiden hatten sich auf einen neuen Souverän geeinigt, nun sollten sie ihn bekommen!
„Oh nein.“, sagte Eara ruhig. „Ich respektiere die Meinung der Obersten. Ich habe Vollmachten, von denen ihr nur träumen könnt, aber zugleich bin ich eurem Willen untergeordnet. Wenn ihr als Repräsentanten der Orden der festen Überzeugung seid, dass Frysirr besser als Souverän geeignet wäre, dann möchte ich euch nicht im Wege stehen.“
„Soll das heißen, du gehst einfach? Du protestierst nicht gegen unsere Entscheidung? Du … versuchst nicht, einen Kompromiss zu finden?“, hakte Torven nach und plötzlich schien seine Stimme nicht mehr von Genugtuung, sondern von Unsicherheit geprägt.
„Aber sicher. Wer wäre ich, die Ansichten der Obersten zu ignorieren? Zumal ich Yra doch ohnehin verlassen muss! Es ist ja geradezu verantwortungslos, wenn niemand anderes die Führung übernimmt… Wenn ihr Frysirr wollt, dann werde ich euch nicht vom Gegenteil überzeugen. Lass uns gehen, Mortol.“
Sie drehte sich um und stapfte durch den hohen Schnee nach Süden, Mortol folgte ihr eilig. Halb erwartete Eara, die Obersten Frysirrs Wahl widerrufen zu hören, doch die beiden waren zu stur, um jetzt nachzugeben. Also waren sie schon bald hinter den Mauern Yras verschwunden.
„Warum habt Ihr nicht versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen?“, wollte Mortol wissen. Der Zauberer des Feuers tat sich deutlich schwerer als sie, sich einen Weg zu bahnen. Eara ignorierte seine Frage einfach und eine Weile herrschte Ruhe.
„Wo ist der Schlitten? Wartet er jenseits der Weißen Brücke?“
„Wir brauchen keinen Schlitten!“, antwortete Eara knapp. Erneut folgte kurzes Schweigen.
„Habt Ihr bereits Nachforschungen bezüglich Dolor angestellt, Souveränin?“
„Er ist es nicht.“
„Aber er ist fanatisch gegen die Vereinigung, er hat keine Skrupel, Zauberer des Turms …“
„Er ist es nicht!“, wiederholte Eara etwas schärfer. „Ich bin dir dankbar, dass du deinen Verdacht geäußert hast, aber ich kann dir versichern, dass er mit dieser Sache nichts zu tun hat.“
Eara trat auf die Kuppe eines Hügels und sah auf die Küste hinunter. In einiger Entfernung war die Weiße Brücke zu erkennen, doch vor ihnen in der Senke wirbelte ein waagrechter Strudel in der Luft. Dunkelblaue Schlieren drehten sich gemächlich und beschatteten den Schnee. In der Mitte, wo das Blau in ein tiefes Schwarz überging, erstrahlte ein kleiner weißer Punkt und kurz fühlte sich Eara an die Augen des Schwarzen Herolds erinnert, die in der Dunkelheit von Varkurs Grab weiß erstrahlt waren. Doch dieser Lichtpunkt war nur der Zugang, der durch das Portal führte. Die in Hadria allgegenwärtige Dunkle Magie aus der Unterwelt schuf diese Portale, und wenn man in eines trat, dann vermochte man an einem vollkommen anderen Ort, bei einem zweiten Durchgang, aufzutauchen.
Ohne zu zögern stellte sich Eara vor dem Portal auf und wartete ab, bis auch Mortol sich seinen Weg zu ihr gepflügt hatte. Dann griff sie seine Hand, um zu vermeiden, dass er zurückblieb, wenn sich das Portal hinter ihr schloss. Sie konzentrierte sich auf den Punkt, bis er anschwoll und das grelle Licht die Dunkelheit des Portals verschluckte. Entschlossen ließ sich Eara nach vorne fallen.
Im nächsten Moment lag das Portal verlassen da, nur noch die deutlichen Spuren im Schnee verrieten, dass vor kurzem noch zwei Personen hier gestanden hatten. Der blauschwarze Strudel wurde langsamer, die dunklen Schlieren bildeten keinen Kreis mehr, sondern zerfaserten. Dann lösten sie sich ganz auf.