Y – Der letzte Kampf
Abenddämmerung, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar
Lange starrte Thorn auf die Stelle, an der eben noch Ken Dorr gestanden hatte. Der höchste Prophet. Der Friedensbringer. Nichts war von ihm geblieben. An seiner Stelle klaffte nun nur noch eine leise Leere, der Stein flimmerte und zerfranste. Ein Loch im Geflecht der Welt. Trotz all seiner Macht war Ken Dorr einfach ausgelöscht worden von … Thorn wusste nicht, von was genau. Er wusste nur, dass die Herzen zerstört worden waren. Stinner, Bragor, Leander – niemanden würden sie zurückholen können. Im Gegenteil, wenn Themauras sich nicht geirrt hatte, dann würde … die welt aufhoeren zu seyn.
Noch immer starrte Thorn auf den verzerrten, nackten Stein. Hoffte darauf, dass alles sich nur als Täuschung herausstellen würde. Dass Ken Dorr sie einmal mehr genarrt hatte. Und hörte doch zugleich ein dreistimmiges Wispern aus seiner Erinnerung und wusste, dass alles Hoffen vergebens war.
Den Friedensbringer wirst du verdammen, und ihn doch herbeisehnen, wenn es zu spät ist. Dein Geist wird in Fragmente gesprengt und dein Körper von der Finsternis verschlungen werden.
Stille füllte die dunkle Halle aus. Es war nicht mehr die grausame Stille, die die schillernde Dunkelheit ausgestrahlt hatte, nur das Schweigen der Verzweifelten, die ihre letzten Gedanken in Einsamkeit dachten. Am Ende waren sie alle allein. Und dennoch meinte Thorn noch immer die seltsam verzerrten, lautlosen Worte zu vernehmen.
Freiheit! Euer ganzes Leben habt ihr für sie gekämpft. Doch welche Freiheit gibt es in einer Welt, die von ihren Regeln vollständig bestimmt ist? In der alles, was geschieht, einen Grund hat? In der die Gesetze der Natur den Fall jedes noch so kleinen Steins bestimmen, und die Gesetze der Logik selbst das Denken beherrschen? Ihr habt die Sklaverei nicht besiegt. Ihr alle seid Sklaven des Schicksals. Ihr gehorcht der Ordnung der Welt. Ihr hattet niemals eine Wahl. Die Kette von Ursache und Wirkung hält euch umschlungen, und hilflos werdet ihr vom Fluss der Zeit in seiner reißenden Strömung vorangetrieben. Wahre Freiheit gibt es nur im CHAOS. In der Zerschlagung aller Regeln! In der Auflösung aller Grenzen! In der Umkehr jeder Ordnung! Solange diese Welt besteht, kann es keine Freiheit geben.
Die Piraten der Schwarzen Kogge und die falschen Helden standen gedankenversunken an Ort und Stelle und starrten, genau wie Thorn, auf die schreckliche Leere, den Ken Dorr hinterlassen hatte. Der Königswolf in der Reihe hinter Thorn winselte ununterbrochen. Eara hing schwach in ihren Ketten, ihr Atem ging flach und Blut troff aus ihrer offenen Schulter. Sie sah nicht gut aus. Doch noch mehr schmerzte Thorn der Anblick Chadas. Mit hängenden Schultern kauerte sie auf ihrem Sitz, und in ihren grünen Augen lag Erschöpfung. Selbst ihr unbeugsamer Wille war der Hoffnungslosigkeit gewichen, oder kämpfte vielleicht noch immer mit dem, was sie gehört haben mochte. Ihr Kampfgeist hatte sie verlassen, denn es gab keine Kämpfe mehr zu schlagen. Nur noch das Ende abzuwarten.
Zu gerne hätte Thorn seine Hand ausgestreckt und die ihre genommen. Doch nicht einmal das war möglich. Seine Arme waren noch immer eng an den Körper gefesselt, und mit jeder Bewegung zogen die kalten, scharfkantigen Ketten sich enger. Der silberne Schlüssel, der seine Ketten lösen könnte, lag nur wenige Schritte entfernt und blinkte verheißungsvoll im letzten Licht der schwarzen Flammen, nahe und doch unerreichbar fern. Und wenn schon. Was hätte es noch gebracht, jetzt frei zu sein?
Kurz flackerte die ganze Halle, ein seltsames Flimmern glitt über den Fels und auch durch Thorns Körper und war sofort wieder verschwunden. Fast schien es, als wären die Farben, die er sah, ein Stück weit verblasst, doch das mochte auch dem dunklen Feuer zuzuschreiben sein. Thorn stöhnte. Er fühlte sich, als wäre er kurz auseinandergerissen und unvollständig wieder zusammengesetzt worden. Die Leere, die an Ken Dorrs Stelle zurückgeblieben war, war angewachsen.
Die Ordnung der Welt ist alt und brüchig, wie die dünne Farbschicht eines Gemäldes, hörte er wieder Kenvilars Stimme. Ganze Stücke brechen auf und von den Rändern her verschwindet sie ganz, bis nur noch die leere Leinwand bleibt.
Thorn schloss die Augen. Alles fühlte sich taub an. Sein Körper dank der Kälte und der gefesselten Glieder. Sein Geist dank der verwirrenden Gefühle, die unablässig auf ihn einströmten, seit der Zugang zu Krahal geöffnet war. Trauer, Schmerz, Verzweiflung, und allen voran eine tiefe Hoffnungslosigkeit.
„Wenn dies das Ende ist, dann freut mich, dass ich es nicht alleine erwarten muss.“, sagte plötzlich eine feindselige Stimme.
Thorn schlug die Augen auf und sah Callem ins Gesicht. Der Kapitän war lautlos zu ihnen getreten und starrte aus seinen gelben Augen kalt auf sie herab. Ohne diese Augen wäre sein kahler Schädel mit der tiefblauen Haut in der dunklen Halle fast unsichtbar gewesen.
„Es freut mich, dass es auch euch treffen wird. Euch und alles, was euch teuer war. Ich hoffe, es wird schmerzhaft sein!“
Thorn schüttelte langsam den Kopf. „Was hat Leander nur in dir gesehen?“, seufzte er.
Callem versteifte sich. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer hasserfüllten Fratze. „Wage es nicht, seinen Namen auch nur auszusprechen!“, zischte er. „Er hat euch in sein Herz gelassen. Er hat in euch Freunde gesehen! Er wollte euch warnen, also ließ ich ihn ziehen. Und ihr, ihr habt ihn ermordet!“
„Was?“ Thorn glaubte kurz, sich verhört zu haben. „Wir haben ihn ermordet? Das ist Unsinn! Er wurde tot im Schnee gefunden. Er war tot, noch bevor er uns sprechen konnte. Wir …“
„Erspart mir diese Lügen!“, rief Callem. Er hob zitternd den Feuerschild und atmete schwer.
„Ich habe sein Blut eingesammelt!“, rief Thorn. „Eine kleine Phiole voll! Um ihn vielleicht zurückzuholen! Sie ist in der Tasche vor mir, wenn du mir nicht glaubst!“
Callem sah ihn lange an. An seinem Hals pochte einer Ader. „Ich glaube dir nicht. Und eine Phiole Blut beweist gar nichts. Aber selbst wenn es stimmt: Leander ist losgegangen, um euch zu helfen. Euretwegen war er dort, wo er gestorben ist. Ob ihr ihn selbst ermordet habt oder nicht, ihr seid Schuld an seinem Tod. In beiden Fällen.“
Er ließ den Schild wieder sinken. „So einfach sterbt ihr nicht.“, murmelte er. Kraftlos drehte er sich um, um zu seiner Mannschaft zurückzukehren.
Thorn sah ihm hinterher und erstarrte, als sich in seiner Erinnerung etwas regte. In beiden Fällen.
„Es gibt einen Weg…“, flüsterte er.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Chada den Kopf hob, und auch Callem sah noch einmal zurück und betrachtete ihn forschend.
„Es gibt einen Weg!“, rief Thorn heiser. „Wir können das Ende aufhalten!“
Die Piraten und falschen Helden sahen auf und kamen langsam näher.
„Thorn? Was meinst du?“, fragte Chada ungläubig.
Er erwiderte ihren Blick. „Die Prophezeiung!“, sagte er so laut, dass auch der letzte Pirat ihn hören konnte. „Die letzte Prophezeiung von Hral, dem Weisen, dem Seher der Agren!“
Er sah zur Mannschaft der Schwarzen Kogge und den falschen Helden hinüber, die ihn verwirrt ansahen, und leckte sich nervös die Lippen.
„Es gibt eine Prophezeiung!“, versuchte er zu erklären. „Das Überleben der Agren hängt von ihr ab. Wir finden etwas … oder jemanden … einen reglosen Herrscher, der das Unheil vertagen kann!“
„Thorn.“, mischte sich Eara mit schwacher Stimme ein. Müde sah sie ihn an. „Wir haben diese Prophezeiung nie verstanden. Sie ist ein einziges Rätsel. Wieso soll sie uns jetzt helfen?“
„Weil es so weit ist.“, antwortete Thorn fest. Neue Zuversicht erfüllte ihn. „Ken Dorr war einst der Bleiche König, von Hral selbst auf eine Höhlenwand gezeichnet. Doch zuletzt war er ein anderer. Er ernannte sich selbst zum Höchsten Propheten. Und was ist ein Prophet … wenn nicht ein Verkünder?“
„Wenn der gezeichnete Verkünder entsteht,
und in falscher Ordnung wieder vergeht…“, flüsterte Chada. Ein fast erloschenes Licht leuchtete neu in ihren Augen. „Du hast recht, Thorn! Es gibt einen Weg!“
„Ach ja?“, brachte Eara leise hervor. „Und welchen? Es heißt, wir finden den Herrscher. Doch wo willst du suchen?“
Thorn holte tief Luft. „Ich weiß es nicht.“
Eara nickte müde. Flüsternd fuhr sie fort: „Und er wird erwachen, wenn wir seinen Namen sagen. Also, welchen Namen willst du nennen, wenn wir ihn erst gefunden haben?“
„Ich weiß es nicht.“ Langsam machte sich Verärgerung in ihm breit.
„Und am wichtigsten: Was hast du von einer Prophezeiung, von der Hral selbst sagte, dass sie nicht eintreffen werde?“
„Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht, Eara! Aber was ändert es? Wenn wir auch nur eine noch so geringe Chance haben, das alles aufzuhalten, alle zu retten, dann müssen wir sie nutzen!“
Eara senkte nur kraftlos den Blick.
„Nein.“, sagte da plötzlich eine leise Stimme. Callems Stimme. „Nein, Helden von Andor. Ihr müsst nicht. Ihr könnt nicht. Ich werde das nicht zulassen.“
Fassungslos öffnete Thorn den Mund. „Aber… es ist auch dein Leben, das sonst verloren ist! Das deiner Mannschaft! Die ganze Welt! Warum…?“
Callem sah reglos zu ihm herab. Rachedurst lag in seinen kalten Augen. „Weil ich diese Welt nie in mein Herz gelassen habe. Weil es außer mir selbst nur einen einzigen darin gab, der mir je etwas bedeutet hat! Und ihr seid Schuld an seinem Tod! Ich werde nicht zulassen, dass ihr eurem Ende doch noch entkommt!“
Sprachlos erwiderte Thorn den hasserfüllten Blick des Abtrünnigen. Er wusste nicht, was er noch sagen konnte.
Da hob der falsche Drukil den Kopf. Für einen Moment stand er zögernd im Schatten, dann trat er vor und sagte unsicher: „Sie sind nicht Schuld.“
Callem fuhr herum. Mit sichtlicher Überraschung musterte er Drukils Doppelgänger. „Was meinst du?“, fragte er gefährlich leise.
„Ken Dorr. Er hat gesagt, Leander weiß zu viel.“
Kurz blickte Callem zu der leeren Stelle hinüber. Thorn sah, wie sich seine Fäuste spannten. „Der Dieb hat ihn umgebracht?“, fragte er rau.
„Nein.“, antwortete Drukil leise. Er warf Thorn einen Blick zu, der fast entschuldigend war. „Er hat gesagt, Drukil muss es tun. Ein falscher Freund. Also … hat es ihm den Hals zerstochen.“
Callem fixierte Drukil. „Du!“, flüsterte er, während er langsam den Feuerschild hob.
„Ja. Es.“, bekräftigte Drukil. „Nicht die Helden. Nicht die Welt. Bestrafe nicht die Falschen.“
Callem schüttelte langsam den Kopf. Plötzlich schien ihn alle Kraft verlassen zu haben. Sein Arm senkte sich wieder. „Es ist egal.“, murmelte er. „Ich habe einen Schwur geleistet. Den Schwur, euch Helden alles zu nehmen, wie ihr auch mir alles genommen habt. Es spielt keine Rolle, bei wem die Schuld liegt. Ich habe etwas geschworen, und was ich schwöre, das halte ich. Um jeden Preis.“ Eine schwere Endgültigkeit lag in diesen Worten.
„Aber Kapitän!“, protestierte ein alter, gebeugter Mann mit dunkelgrauer Haut und knarziger Stimme. „Wir werden alle sterben! Deine Racheschwüre in allen Ehren, aber du kannst nicht von uns erwarten, dass wir einfach hier herumsitzen, anstatt uns zu retten!“
Callem seufzte schwer. „Nein, Krumm. Das kann ich wohl nicht.“ In einer blitzschnellen Bewegung griff er an seinen Gürtel und hatte Varlion in der Hand, das ehemalige Flammenschwert. Das Feuer war erloschen, jede Magie hatte es verlassen, doch es war noch immer ein großes, scharfes Schwert. Der gebeugte Pirat konnte kaum aufschreien, da hatte Callem ihm bereits den Kopf von den Schultern geschlagen.
„Noch jemand, der anderer Meinung ist?“, fragte der Kapitän kalt.
Niemand antwortete.
CHAOS zerriss eine verschneite Insel und einen brennenden Turm. Es brach sich durch die letzten Berge, verschlang zerklüfteten Fels und ein goldäugiges Mädchen. Dann erhob es sich über die Wellen, die ins Nichts brandeten. Hadria, das Land der Magie, war nicht mehr.
Abenddämmerung, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar
Der Kopf des alten Krumm rollte ein Stück und blieb vor Chadas Füßen liegen. Blut! Schon wieder Blut! Es wimmerte und richtete den Blick auf den goldenen Baum in seiner Hand, bis es das Blut nicht mehr sah.
Es hatte den Baum nicht losgelassen, seit das goldäugige Mädchen ihn in Chadas Hand gelegt hatte. Eigentlich war es kein Baum, sondern ein Stein in Baum-Form, glatt und leicht durchscheinend. Als die böse Dunkelheit sich durch die Halle erstreckt hatte, hatte ein dünner, schwarzer Faden das Gold berührt und klebte seitdem darin fest. In unnatürlichen Bewegungen kroch dieser letzte Rest der Schwärze durch den goldenen Baum. Der Anblick war seltsam fremd und zugleich hypnotisch. Chada starrte hinein, um nicht denken zu müssen. Um die Fragen nicht zu hören.
Mutter hatte gesagt, der Wert des Spiels sei unermesslich. Chada verstand nicht, was geschehen war, aber das Spiel war in Gefahr und die Menschen, die wie es aussahen, wussten einen Weg, um es zu retten. Also musste Chada ihnen helfen. Doch Mutter hatte auch gesagt, Chada müsse Kapitän Callem gehorchen, und der wollte nicht, dass es den Helden half. Mutters Befehle widersprachen sich! Aber Mutter hatte immer recht! Es verstand nicht, was es tun musste.
Du musst nichts tun, was du nicht tun willst.
Chada musste an die Worte des goldäugigen Mädchens denken. Aber es wusste nicht, was es nicht wollte. Es mochte kein Blut. Es mochte keine Furcht. Sollte es also abwarten, bis das Spiel nicht mehr da war? Aber Chada mochte auch so viele Dinge! Die Sterne am nächtlichen Himmel! Die Musik der Wellen! Die bunte, aufregende Welt! War das wichtiger als das Blut? Chada kniff die Augen zusammen, bis es den Baum nicht mehr sah.
Du kannst dich entscheiden.
Das war es, was das Mädchen gesagt hatte. Chada wusste, dass das stimmte. Und das machte ihm Angst. Bisher hatte Chada nur getan, was es tun musste. Das meiste davon hatte es nicht gemocht. Aber zumindest hatte es nichts falsch machen können. Es hatte einfach nur getan, was Mutter befohlen hatte. Doch eine Entscheidung zu treffen hieß auch, sich falsch entscheiden zu können. Es hieß Freiheit, und Freiheit war groß und furchtbar. Doch es konnte nicht mehr davor weglaufen.
Plötzlich nahm es Bilder und Worte wahr, die längst vergangen waren.
Die Welt ist ein Spiel. Also spiele es…
Es spielte mit seinen Geschwistern am dunklen Berg und planschte lachend im warmen Wasser…
Wie besiegt ihr einen Feind, der euch besser kennt als ihr selbst, der die Welt versteht, wo ihr raten müsst? Der alles versteht außer sich selbst…?
Es berührte den zersprungenen schwarzen Kristall und erblickte das Blut der Zukunft…
Gibt es denn etwas, was du gerne tust…?
Es saß nachts an Deck des schwarzen Schiffes und blickte hinauf zu einem Kosmos aus weit entfernten Sternen…
Ihr seid unsere Waffe, geschmiedet, das Ende ohne Anfang zu vereiteln…
Es schritt durch das Blut falscher Feinde und brachte Furcht und Tod…
Das Blut wird versiegen und der Schmerz ist vergessen…
Es sah ehrfürchtig zu einem großen Baum hoch, und Frieden erfüllte es…
Wenn ein Stein euch im Weg steht, dann nehmt ihn aus dem Spiel…
Es zerschoss schluchzend ein Auge voller Furcht…
Ihr dürft eure Macht missbrauchen, so viel ihr wollt. Aber vergesst niemals, dass ihr sie nicht ohne Grund besitzt…
Es hielt die Hand eines goldäugigen Mädchens…
Das helle Klingen einer Münze auf hartem Stein: Dies ist der Klang der Entscheidung. Auch du wirst ihn eines Tages hören…
Es stand mit geschlossenen Augen in einer großen, dunklen Halle und hatte Angst vor der Entscheidung, die es treffen musste…
Hole tief Luft, und mache einen Zug, den niemand vorhersehen kann. Mache deinen Zug…
Chada schlug die Augen auf, hob zitternd den goldenen Baum und holte tief Luft. Und plötzlich, als hätte der Atem eine Mauer durchbrochen, löste sich der dünne, schwarz schillernde Faden aus dem durchscheinenden Gold und glitt kühl in Chadas Mund wie feiner Rauch. Mit einem Mal hörte es auf zu zittern. All die Erinnerungen und Gedanken und Zweifel, die es lähmten, lösten sich auf. Alles Für und Wider verschwand. Alle Gründe verblassten. Alles, was es ausmachte, wurde unwichtig. Die flüsternden Stimmen verstummten. Alles verschwand, nur die Dunkelheit blieb zurück. Doch diese Dunkelheit war nichts als leere, schwarze Freiheit.
Eine Entscheidung nahte, doch es war eine Entscheidung, die von nichts mehr abhing. Eine Entscheidung ohne Ursache. Eine Entscheidung, die keinem Muster folgte und keiner Regel gehorchte. Eine Entscheidung, die sich wie ein dunkler Schleier über die Zukunft legte und die Wirklichkeit von Möglichkeit trennte. Eine Entscheidung, die niemand je vorhersehen konnte, kein Seher, kein Gott, kein Chaos. Eine Entscheidung aus wahrer Freiheit. Für einen kurzen Wimpernschlag hielt die Welt den Atem an.
Wer bist du?
Und dann hörte es, worauf es so lange gewartet hatte: Das helle Klingen einer Münze auf hartem Stein. Der Klang der Entscheidung.
Langsam ließ es die Luft wieder entweichen. Es lag kein schwarzer Rauch darin. Die Entscheidung war getroffen. Der Moment der Freiheit war vorüber. Alles weitere würde geschehen, wie es die Spielregeln der Welt geboten, solange sie noch galten.
Es hob den Blick und betrachtete Callems dunklen Schild und sein blutiges Schwert. Es mochte keine Schwerter. Es mochte kein Blut. Doch es hatte seine Entscheidung getroffen, und es würde dazu stehen, komme was wolle.
„Lass sie frei, Callem!“, forderte es laut.
CHAOS legte sich wie die Nacht über die Wellen des Hadrischen Meeres. Gewaltige Wassermassen stürzten ins Nichts hinab und verloren jede Struktur. Fische wurden verschlungen, Schiffe zerbarsten in den schillernden Schatten, stachelige Klippen wurden in die Leere jenseits der Welt gerissen und Treibholz hineingespült. Wie der Sturm kam CHAOS über Weiden und Höhlen und verwehte ihre Substanz.
Abenddämmerung, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar
Thorn riss die Augen auf. Chadas Stimme… Hell und entschlossen klang sie durch die weite Halle. Doch Chada saß noch immer in ihren Ketten und sah ebenso erstaunt aus, wie er es war. Nicht sie hatte gesprochen. Nicht die echte Chada. Sondern die Kopie.
Mit hoch erhobenem Haupt stand sie über dem Kopf des buckligen Piraten, in der einen Hand hielt sie ihren Bogen, der Chadas Bogen Audax zum Verwechseln ähnlich sah, in der anderen einen einzelnen Pfeil und einen kleinen Baum aus Bernstein.
Callem, der Abtrünnige, schüttelte müde den kahlen Kopf. „Ausgerechnet jetzt? Nachdem du mir all die Zeit so brav gehorcht hast, entdeckst du plötzlich die Heldin in dir? Du vergisst, wer du bist, Chada!“
„Nein! Im Gegenteil! Ich weiß jetzt endlich, wer ich bin!“, sagte die falsche Chada voller Stolz. „Ich bin nicht länger Nummer Zwei. Ich bin nicht länger Chada. Ich bin ich selbst! Ich werde nie wieder jemand anders sein! Und ich weiß jetzt, warum ich meine Macht erhalten habe!“
Callem hob sein erloschenes Schwert, doch die Chada, die nicht mehr Chada war, wich nur vorsichtig ein paar Schritte zurück und fuhr fort: „Piraten! Meine Mannschaft! Und meine Geschwister! Hört mir zu! Das Spiel selbst steht auf dem Spiel! Aber wir können es retten! Wir können uns selbst retten!“
„Genug!“, rief Callem erbost. Er hob den Arm mit dem Feuerschild und sah Chada fast traurig an.
Da ertönte ein hoher, schriller Ton, aus der schnell ein schiefe, rhythmische Flötenmelodie wurde. Thorn versteifte sich unter den scharfen Ketten. Wie ein stummer Befehl kroch die Melodie in seine Muskeln: Bleib still – starr wie Stein! Asche und Gebein!
Das Echo der Flötenklänge strömte von allen Seiten zu ihm zurück, vom runden Stein der halbkreisförmigen Sitzreihen weitergeleitet. Selbst seine Augen waren erstarrt. Nichts mehr regte sich in der ganzen Halle – bis auf Orril. Der schwarze Barde mit dem silbernen Haar ließ konzentriert seine Finger über seine beinerne Flöte tanzen, und langsam mischte sich eine weitere Melodie hinzu: Zu mir – zögere nicht! Motten im Licht!
Callem setzte einen steifen Schritt. Und noch einen. Wie eine hölzerne Puppe folgte der Kapitän der Melodie seines Barden. Der nahm, ohne sein Spiel zu unterbrechen, eine Hand von der Flöte und zog einen Dolch. Schwermütig sah er Callem entgegen,
Da mischte sich noch ein anderer Laut in die dunkle Melodie: Das Säuseln des Windes, seltsam fremd in dieser alten, toten Halle. Eine Windböe fuhr auf Orril nieder. Kurz meinte Thorn inmitten der Luft einen Strom gequälter Gesichter auszumachen, dann zerbarst die weiße Flöte in Orrils Händen. Die Melodie verstummte, die Starre wich. Orril stolperte zurück, doch die Winde, die ihn seiner Flöte beraubt hatten, stemmten sich plötzlich gegen ihn und warfen ihn um. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, hatte Callem ihm sein erloschenes Schwert in die Brust gestoßen.
Orril röchelte noch etwas. Wenn sich am schwarzen Barden seit ihrer ersten Begegnung außer seiner Haarfarbe nicht viel geändert hatte, bestimmt irgendetwas Pathetisches, doch es kam nicht mehr bei Thorn an.
„Gut gemacht, Thogger.“, knurrte Callem. Der Tarendruide zuckte unbehaglich zusammen, ein roter Glanz huschte durch seine Augen. Ansonsten reagierte er nicht. Callem zog sein Schwert aus Orrils Brust und beäugte den Rest seiner Mannschaft misstrauisch. „Ich rate euch, findet euch mit dem Ende ab und verbringt eure letzten Stunden in Frieden.“
Thorn holte tief Luft. „Nein!“, rief er. „Eure Chada hat recht! Es ist Wahnsinn, das Ende einfach abzuwarten! Ihr werdet sterben, wenn ihr uns nicht befreit!“
„Callems Schwur bindet ihn, aber nicht euch. Ihr seid frei!“, ergänzte die echte Chada eindringlich. Ihre Stimme gab auch Thorn Zuversicht. Er sah, wie die übrigen falschen Helden, Drukil, Orfen und sein eigenes Ebenbild, sich mit unsicheren Mienen hinter Chadas Kopie versammelten. Auch einer der Piraten, ein Mann mit braunem Zopf, einem silbernen Horn am Gürtel und dem Bruderschild in der Hand, gesellte sich zu ihnen. Nur noch fünf Piraten waren an Callems Seite geblieben: Eine Frau in brauner Kutte, die ihren Zauberstab an ihrer Seite hielt und mit leerem Blick ins Nichts starrte. Ein gedrungener Mann, der in seiner verbleibenden Hand den seiner Magie beraubten Hammer der Stärke hielt. Thogger, der Druide der Taren, der sich nicht mehr geregt hatte, seit seine Windgeister Orrils Flötenspiel durchbrochen hatten. Eine grünhäutige Frau mit verschlagenem Blick. Und Meres, der Hexer, der den Sternenschild an seiner Seite trug und mit ausdrucksloser Miene zu Callem sah.
„Das ist Meuterei!“, tobte der Pirat mit Orweyns Hammer. „Ich werde euch eigenhändig töten!“
„Geduld, Pero.“, murmelte Callem. „Die Zeit ist auf unserer Seite.“
„Dann wenigstens die Helden! Wir gehen kein Risiko ein und …“
Thorn versuchte, trotz seiner Ketten so weit wie möglich vor dem hässlich grinsenden Mann zurückzuweichen. Doch Callem bedachte seinen Gefolgsmann nur mit einem finsteren Blick. „Nein! Ihnen wird kein Haar gekrümmt! Sie sollen das Ende am eigenen Leib erfahren!“
Er betrachtete den Rest seiner Mannschaft aus dem Augenwinkel, während er den falschen Helden kampfbereit entgegensah. „Und ihr? Werdet auch ihr zu mir halten?“
„Ich folge dir.“, versprach die grünhäutige Frau grinsend. „Und dank Mutters Geschenk auch die anderen drei!“ Sie legte ihre Finger auf eine dünne Kette um ihren Hals und zog einen kleinen, rötlich glühenden Stein hervor.
„Warum, Kentar?“, fragte die falsche Chada. „Mutter hätte gewollt …“
„Mutter!“, lachte Kentar hämisch. „Kenvilar war nicht eure Mutter! Ich bin ihre einzig wahre Tochter! Sie schuf mich aus einem Teil ihrer selbst. Als etwas Neues! Ihr dagegen seid nichts als die Kopien anderer. Ihr wart nichts als ihre Werkzeuge! Sie hat euch nicht einmal Namen gegeben, nur Nummern! Ihr habt wahrlich Besseres zu tun, als euch nach ihren Wünschen zu richten! Ich habe schon lange damit aufgehört. Ich tue einzig, was ich selbst will.“
„Jeden Moment sterben, anstatt die Welt zu retten?“, schlug Thorn bissig vor.
„Ja!“, flüsterte Kentar mit einem wahnsinnigen Grinsen. „Die Welt ist eine Sinfonie des Grauens, und ich will jeden einzelnen Ton hören. Und Qurun … das ist der letzte Satz. Ein Ende wie ein Paukenschlag! Ich werde es nicht verpassen!“
Sie brach in schrilles, gackerndes Gelächter aus. Ihre Finger spielten unablässig mit dem roten Stein. Ein neuerliches Flimmern durchlief lautlos die Halle und kämpfte gegen die Struktur der Wirklichkeit.
Thorn fror.
CHAOS breitete sich über die vielen Inseln aus wie der Nebel, dem sie ihren Namen verdankten. Es flutete die weiten Hallen voller Silber und Perlmutt. Es verschlang eine blutige Ruine und die Möwen, die noch immer kreischend darüber flogen. Es zerriss armselige Hütten und große Werften. Es brauste über ein weites Tal hinweg, schneller als jeder Sturm. Zwischen den hohen Felszacken erklang ein Lied aus Stille und Freiheit, das kein Ohr vernehmen konnte.
Abenddämmerung, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar
Es hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Kentars schrilles Lachen hallte weit durch die dunkle Halle. Es umklammerte den goldenen Baum fester, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Callem hingegen schwieg und beobachtete es kampfbereit.
„Wir brauchen diesen Schlüssel!“, flüsterte Niron. „Nur er kann die Ketten öffnen.“
Es folgte dem Blick des Spähers und entdeckte in der Tat ein schwaches silbernes Glänzen neben den gefangenen Helden. Alleine hätte es es niemals bemerkt. Niemand hatte schärfere Augen als Niron – abgesehen vielleicht von Callems Vogel Roa, und von dem war nicht mehr als ein rotes Ei geblieben.
Es nickte knapp. „Dies hier ist der letzte Kampf.“, sagte es leise zu seinen Geschwistern. „Das Blut wird versiegen und der Schmerz wird vergessen. Nur dieser eine Kampf noch! Bereit?“
Thorn erwiderte warm seinen festen Blick und nickte. Orfen fasste sein Schwert fester. Und Drukil verkündete ernst: „Drukil hat sein Richtig gefunden.“
„Niron, du holst den Schlüssel. Wir lenken den Rest ab.“, beschloss es. Es hob das Zupfding und den letzten Pfeil. Hier. Du wirst ihn brauchen. Ohne den goldenen Baum loszulassen, legte es den Pfeil an. Callem hob mit finsterer Miene seinen dunklen Schild. Doch es hatte nicht vor, auf den Kapitän zu schießen.
Ich folge dir. Und dank Mutters Geschenk auch die anderen drei!
Es ließ den Pfeil fliegen. Kentar verschluckte sich an ihrem Lachen und starrte verblüfft auf ihre leeren Hände. Nur noch eine dünne silberne Kette lag zwischen ihren Fingern, vom Pfeil glatt durchtrennt. Der rote Stein kullerte irgendwo in die Schatten, bis es ihn nicht mehr sehen konnte.
Kentar sah sich fassungslos um. „Wo ist er? Wo ist der Stein?“, kreischte sie. Sie taumelte zurück und fiel auf die Knie, betastete hektisch die tiefen Risse im Boden.
„Kentar! Bleib hier!“, rief Callem, doch sie hörte nicht.
„Sei still!“, fauchte sie. „Mein Stein! Mein Geschenk!“ Der Kapitän machte Anstalten, ihr zu folgen, als ein Hornstoß durch die Halle scholl. Niron setzte sein Horn ab und lächelte grimmig. Dann lief er los, auf den Schlüssel zu. Es und seine Geschwister folgten. Noch im Laufen zog es seine beiden Dolche aus ihren Lederhüllen. Den goldenen Baum ließ es nicht los.
Callem stellte sich ihnen in den Weg, sogleich wurde er von Thorn und Drukil zugleich angegriffen. Orfen, der sich scheinbar ebenfalls auf den Kapitän stürzen wollte, musste stattdessen einen Angriff von Ean Quella parieren. Mit unheimlich leeren Augen schwang sie ihren Leuchtstock und trieb ihn zurück. Da Kentar noch immer nach ihrem Stein suchte und Thogger nach wie vor reglos da stand und mehr mit sich selbst als seiner Umgebung beschäftigt zu sein schien, blieben noch Pero, der erste Maat, mit seinem bösen Hammer, und Meres mit seinen vielen Beuteln und Pulvern und dem grünen Feuer. Wen sollte es ablenken?
Diesmal musste es nicht selbst entscheiden. „Chada!“, rief Pero grinsend. In seiner rauen Stimme mischten sich Hass und Häme. „Du wirst diese kleine Meuterei bereuen!“ Er hob seinen Hammer und die spitz funkelnde Hakenhand.
Es hielt sich nicht mit einer Antwort auf und stach nach seinem Bauch. Pero drehte sich nicht rechtzeitig weg, ein flacher Schnitt blieb zurück. „Na warte!“, zischte er. „Ich werde deinen hübschen Schädel einschlagen und ihn dem Kapitän vor die Füße legen!“
Es duckte sich unter dem Hammer weg und versetzte ihm einen tiefen Schnitt am Arm. Von da an verzichtete Pero darauf, seine Attacken anzukündigen. Vorsichtig umkreisten sie sich. Ab und zu versuchte Pero einen Angriff mit seinem Hammer, während er die Hakenhand als Deckung hinten ließ. Es versuchte gar nicht erst, die schwere Waffe mit Dolchen zu parieren, sondern wich stets aus, stach gelegentlich kurz zu und hielt nach Lücken in seiner Deckung Ausschau.
Ein seltsames, schreckliches Flimmern durchlief die Halle, gefolgt von einer kurzen Stille, die den Kampflärm durchbrach, ehe sie verschwand. Seltsam blass sah die Halle aus, als hätten alle Farben an Leuchtkraft verloren. Das dauerte alles zu lange! Die Helden mussten befreit werden! Jetzt!
Es warf einen raschen Blick zu den Gefangenen. Niron hatte den Schlüssel bereits in der Hand, aber kam nicht dazu, die Helden zu befreien, da er in einen Kampf mit Meres verstrickt war. Aus dem Augenwinkel sah es Orfen, der sein Schwert tief in Ean Quellas Bauch gestoßen hatte und zugleich ihren Leuchtstock so fest gegen den Kopf bekam, dass er mit verdrehtem Hals liegen blieb und nicht wieder aufstand. Es sah Callem, der in silberne Flammen gehüllt vor Drukil stand und in weiten Schlägen auf ihn einhieb. Zu seinen Füßen lag ein verkohlter Körper, in dem es nur mit Mühe Thorn erkennen konnte.
Es erstarrte. Übelkeit stieg in ihm auf.
Ein Hammer kam auf es zu. Pero hatte gemerkt, dass es sich hatte ablenken lassen. Der Schlag war langsam, dennoch konnte es ihm nur knapp ausweichen, zu sehr sah es die verbrannte Haut noch vor sich – und da spürte es ein schreckliches Reißen an seiner linken Hand. Schreiend sprang es zurück und ließ den Dolch und den goldenen Baum fallen. Quer durch das Fleisch zog sich ein klaffender Schnitt, so tief, dass seine Finger ihm nur noch zur Hälfte gehorchten. Und da war Blut. Schon wieder Blut!
Pero grinste und hob seinen blutverschmierten Haken. Es hatte zu sehr auf den schweren Hammer geachtet! Es wimmerte und war noch ganz benommen vor Schmerz, als es schon den nächsten Angriff auf sich zukommen sah, wieder mit dem fiesen Haken. Es stolperte zurück und hob den verblieben Dolch, um den Angriff abzuwehren. Der Haken verkeilte sich im Dolch, und während es noch versuchte, ihn zu lösen, sah es, wie Pero mit einem hämischen Grinsen mit seinem Hammer ausholte.
Plötzlich fuhr ein jäher Windstoß zwischen ihnen hernieder und riss sie auseinander. Es und Pero fielen zu Boden. Suchend hob es den Blick.
Thogger hatte seinen Stock und den runden silbernen Schild mit Stacheln zugleich erhoben. Böen brausten durch den Saal und zerrten an allem, was sie greifen konnten. Ein besonders heftiger Windstoß warf Callem zu Boden und entriss ihm seinen dunklen Schild.
„Thogger!“, schrie Callem wütend. „Was tust du?“
Der Tarus senkte den Kopf und betrachtete seinen Kapitän. Der rote Schimmer war aus seinen Augen verschwunden. „Ich rette die Welt! Ich rette … mein Volk!“
Ein gewaltiger Druck legte sich über die Halle, presste Callem, Pero und Meres zu Boden und ließ zugleich alle anderen unbehelligt. Es atmete schwer und rappelte sich auf.
„So lange konnte ich nur zusehen! So lange habe ich mich in die Irre leiten lassen! Doch das ist vorbei!“ Die Hand um seinen Stock zitterte, doch Thoggers Stimme war ruhig und kräftig. „Alles, was ich getan habe, habe ich für mein Volk getan! Nichts kann mich dazu bringen, sie jetzt im Stich zu lassen!“
Es sah, wie Niron den Schlüssel in das Schloss steckte, das die Ketten um Thorn zusammenhielt. Den anderen Thorn. Den echten Thorn. Den Fremden, der noch lebte. Es sah weg.
„Sie werden in Sicherheit sein!“, keuchte Callem, doch der Druck verstärkte sich nur noch weiter und bald japste er nur noch nach Luft.
„Sie werden tot sein!“, brüllte Thogger. „Eure giftigen Worte versagen! Der rote Stein ist fort! Ihr könnt mich nicht länger lenken! Ihr…“
„Thogger! Hinter dir!“, rief plötzlich Nirons Stimme erschrocken. Thogger drehte sich um, doch zu spät. Ean Quella stand hinter ihm. Sie stützte sich schwer auf ihren Stock und hatte die andere Hand auf die entsetzliche, klaffende Wunde in ihrem Bauch gepresst. Orfens Schwert hatte sie tödlich verwundet, und es hatte gedacht, sie könne sich höchstens noch in Schmerzen winden. Doch in ihren Augen lag kein Schmerz. Nur eine unheimliche Leere.
Thogger hatte kaum Zeit, den Sturmschild zu heben. Ein grelles Licht flammte auf, Ean Quellas Sock sauste nieder und Thogger ging zu Boden. Da war Blut. Schon wieder Blut! Der Sturmschild entglitt seinen Fingern. Ean Quella, die sich ohne ihren Stock nicht mehr aufrecht halten konnte, stürzte dem Hörnermenschen hinterher.
Ein lautes Heulen erhob sich über die Halle. Farblose Schemen tosten klagend um Thoggers Leichnam, auch es wurde von reißenden Winden erneut zu Boden gedrückt. Dann verschwanden die Gestalten und der Druck erlosch.
Es sprang auf, doch Pero war schneller. Während es noch sein Gleichgewicht wiederfand, hob der erste Maat seinen Hammer und ließ ihn mit einem triumphierenden Grinsen niedersausen. Kaltes Metall traf es in die Brust und es keuchte auf. Ansonsten geschah nichts. Der Schlag war kaum mehr gewesen als ein Stupser.
Pero betrachtete es verblüfft und starrte verwirrt auf seinen Hammer. „Meine Stärke…“, flüsterte er, und er klang, als trauere er um einen toten Freund. Es zögerte nicht länger und trieb ihm den Dolch in den Hals, ehe er sich wieder gefangen hatte.
Pero sackte in sich zusammen und röchelte. Unter Schmerzen presste er etwas hervor, das wie „Mein Kapitän…“ klang, dann regte er sich nicht mehr. Pero war tot. Doch der Kampf war noch nicht vorbei.
CHAOS senkte sich über eine Insel, die wie ein versteinerter Arrog aus den Fluten ragte, über einen schwarzen Berg in finsterer Tiefe und über die kleine, einsame Gestalt in der Glut darunter. Das Feuer der Tiefe erlosch. Alle Stimmen verklangen in der ohrenbetäubenden Stille, und aus Schmerz wurde Freiheit.