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Story: Der Ewige Rat

N - Was Heimat ist

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:22

N – Was Heimat ist

Mondhoch, 21. Wintertag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

„Es ist so weit!“, krächzte Nomion heiser. Ein zufriedenes Grinsen lag auf seinen Lippen, während er vom Torturm aus ins graue Nichts jenseits der Rietburg blickte, wo in der Realität sein Zelt stand. „Ich werde angreifen, wenn die Sonne zum dritten Mal aufgeht.“
Janis hob die Augenbrauen. „Also hat der Schwarze Herold mit sich reden lassen?“
Nomions Lächeln versteinerte. „Nein!“, zischte er, aus seinen gelben Augen leuchtete mühsam unterdrückter Zorn. „Seit er entschieden hat, deiner Warnung zu glauben, will er sich nicht mehr bei der Rietburg blicken lassen, und er will die Kreaturen auch nicht aus der Ferne innerhalb eurer Mauern auftauchen lassen. Die Leute werden sich sonst fragen, weshalb der Ewige Rat ein Abkommen mit Orfen überhaupt nötig hatte, und das will er nicht riskieren. Als ob uns die Meinungen irgendwelcher wertlosen Menschen zu kümmern bräuchten.“ Der Krahder schnaubte verächtlich. „Ich werde die Burg wohl auf konventionellem Wege einnehmen müssen. Meine Übermacht ist eindeutig, die Leitern liegen bereit, und für euer Burgtor“, Nomion tippte mit dem Ende seines Schädelstabes auf das Mauerwerk zu seinen Füßen und riss dabei das Rietdach des Torturms noch weiter ein, „habe ich mir eine besondere Überraschung ausgedacht. Ich werde auch so siegreich sein. In drei Tagen steht hier nur noch eine Ruine, das verspreche ich dir, mein kleiner Verräter. Und jeder zweite hier wird tot sein, du eingeschlossen.“
Nomion betrachtete ihn mit lauernder Miene, aber Janis nickte nur stumm. Seine Entscheidung hatte sich nicht geändert. Sein eigenes Leben bedeutete ihm nichts, nur um der anderen willen bedauerte er, was geschehen musste. Er wünschte, er müsste weniger für seine Ziele opfern. Doch der Ewige Rat verlangte jedes zweite Leben, und Janis konnte nichts dagegen tun.
Ach nein? Hast du es überhaupt versucht? Hast du auch nur darüber nachgedacht, wie du wenigstens einen Teil retten könntest?
Was hätte ich tun sollen, Mutter? Der Befehl war eindeutig, nur die Hälfte der Burgbewohner sollte überleben.
Du sagst es. Die Hälfte … der Burgbewohner.
Das ist so typisch für dich! Du bist nichts als eine unvollständige Erinnerung, kannst mir nur mitteilen, was ich schon längst weiß, und versuchst trotzdem noch, mich meine eigenen Schlüsse ziehen zu lassen? Sag einfach, was du sagen willst!

Kheelas Stimme schwieg, aber Janis ahnte auch so, was sie sagen wollte. Es war ein simpler Einfall, den er kurz gedacht und dann schnell irgendwo vergraben hatte. Zu naheliegend, zu beängstigend. Wenn weniger hier sind, sobald die Rietburg fällt, müssen auch weniger sterben. Wenn jeder Zweite fliehen kann, dann ist jeder Vierte gerettet. Wenn es ihm irgendwie gelingen könnte, zumindest die Schutzsuchenden aus der Rietburg zu bringen… Wenn Nomions Belagerung nur kurz durchbrochen wurde, für einen Tag vielleicht… Wenn seine Armee geschlagen wurde und die Flüchtlinge die Burg verlassen konnten, ehe der Schwarze Herold die Kreaturen zurückholte… Wie viele könnten dann leben?
Nomions heisere Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Nun denn, kleiner Verräter! Genieß deine letzten Tage!“, flüsterte er hämisch, dann begann der Traum sich aufzulösen. Doch der hartnäckige kleine Gedanke verfolgte Janis noch, als er schon längst aufgewacht war.

Vor den Toren der Rietburg, in einer breiten Schale aus Stein, loderte unruhig das Ewige Feuer, das violette Flackern schien hell in der dunklen Nacht. Langsam, ganz langsam, veränderte sich etwas. Die Wachen auf der Mauer, die Kreaturen vor der Burg, niemand bemerkte einen Unterschied. Doch unten, wo das Feuer aus dem Stein brach, fast nicht zu sehen, breitete sich zwischen den violetten Flammen ein gelber Schimmer aus.


Später Vormittag, 22. Wintertag 77 A.Z.
Königsgemächer im Kronenturm der Rietburg, Andor

„Komm herein, Sajin!“ Kunar winkte ihn herein und wechselte einen undeutbaren Blick mit Kommandantin Daroscha.
Orfen galt als Verräter, Peta war gestorben, noch bevor er Schwertmeister hatte werden können, und einen Nachfolger gab es bislang nicht, daher trugen nun ein Bewahrer und eine Zwergin die Verantwortung über die Rietburg. Die Gemächer, in denen einst König Brandur, Thorald, Ken Dorr und Orfen gelebt hatten, standen nun leer und wurden von Daroscha und Kunar nur noch als Besprechungszimmer genutzt, vielleicht aus Nostalgie. Überraschenderweise waren die beiden sich bislang noch nicht an die Gurgel gegangen, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Zu ihren Besprechungen luden sie Janis nicht mehr ein.
„Weshalb bin ich hier?“, fragte er daher.
„Unsere derzeitige Situation ist, gelinde gesagt, besorgniserregend, und wir wollten die Dringlichkeit …“
„Wir haben keine Vorräte mehr!“, unterbrach Daroscha ungeduldig. „Alle Pferde sind geschlachtet, alles Gemüse aufgebraucht. Das einzige, was wir noch an Nahrung haben, ist Brot und Getreide, von dem ein Teil vergiftet ist. Wisst ihr inzwischen endlich, welcher Teil? Habt ihr wenigstens einen Anteil, von dem ihr ausschließen könnt, dass er gefährlich ist?“
Janis schüttelte langsam den Kopf. Er wusste, dass nur einer der Großbauern ein Verräter war, und sein Verdacht fiel auf Sadam, den Aufsteiger, aber das alles beruhte auf Dingen, die Nomion ihm gesagt hatte. Er konnte sich niemandem mitteilen. „Readem und ich haben unser Getreide säckeweise durchsieben lassen, ohne Ergebnis. Schwarzes Herzblatt entfaltet seine Wirkung auch getrocknet und zermahlen, und wenn unsere Feinde schlau sind, haben sie es genau so ins Getreide gegeben. Oder direkt ins fertige Brot. Dann können wir nur auf einen Glücksfund hoffen.“, antwortete Janis also.
Daroscha murmelte einen zwergischen Fluch. Kunar verzog angeekelt die Miene. „Bitte, Kommandantin, zügelt Eure Zunge.“, presste der Bewahrer hervor. Daroscha schnaubte nur.
„Darf ich dann gehen?“
Kunar nickte abwesend, aber Daroscha hielt ihn mit einer Geste zurück. „Sag Readem, Leichen werden in Zukunft nicht mehr verbrannt.“
„Der Boden ist gefroren, wir können sie nicht begraben.“, wandte Janis ein. Wurde selbst ihr Brennholz knapp?
„Sie werden auch nicht begraben.“
Janis und Meister Kunar begriffen etwa gleichzeitig. Das Gesicht des Bewahrers lief erst weiß und dann tiefrot an. „Kommandantin, Ihr meint nicht … das ist …“
Daroscha verschränkte die Arme. „Hör auf mit dem Gestammel, Kunar! Wir können es uns nicht mehr leisten, verwertbares Fleisch zu verbrennen oder einzubuddeln. Wir werden diese Burg halten! Dafür werde ich tun, was immer nötig ist!“
Meister Kunar sah sich mit aufgerissenen Augen hilfesuchend nach Janis um, aber er war noch damit beschäftigt, seine Übelkeit zu bekämpfen. War in der Suppe von gestern wirklich nur Pferdefleisch gewesen?
„Das ist barbarisch! Niemand würde … das essen!“
„Sajin und Readem, wir beide, die Köche, sonst braucht niemand etwas davon zu erfahren. Wenn wir ihnen morgen nur noch Wasser in ihre Schüsseln füllen, dann werden die, die vielleicht noch einen halben Bissen Fleisch finden, ihr Glück ganz bestimmt nicht hinterfragen.“
Kunar öffnete empört den Mund, aber Daroscha ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Was sonst sollen wir tun? Der nächste Schritt wäre, unser Korn auszuteilen. Wir teilen die Menschen in Gruppen ein, jeder bekommt nur Brot aus einem der Speicher. So sterben zumindest nur die, die das Pech hatten, der falschen Gruppe zugeteilt zu werden, der Rest bleibt verschont. Ist es das, was du willst?“
Kunar tat etwas für ihn sehr Ungewöhnliches und schwieg. Daroscha nickte und rief: „Sajin, du weißt, was du Readem zu sagen hast.“
Janis drehte sich wie betäubt um. Die Leichen, die sie noch nicht verbrannt hatten, reichten niemals für alle. Daroscha und Kunar würden die Lager öffnen müssen und das vergiftete Getreide unter die Menschen bringen. Er konnte nicht verhindern, dass Sadams Getreide verteilt wurde. Er konnte nicht verhindern, dass die Liste der Lebenden noch weiter schrumpfen würde, ehe Nomion in zwei Tagen angreifen würde. Er konnte nichts tun.
Man kann immer etwas tun, mein Schatz! Du weißt das! Selbst Worte verändern die Welt! Wenn jeder Zweite fliehen kann, dann ist jeder Vierte gerettet.
Janis hielt im Türrahmen inne.
Sei still, Mutter! Ich werde nicht gefährden, was ich erreicht habe. Ich werde DICH nicht gefährden!
Ja, das weiß ich. Aber musst du das denn?

„Ist noch etwas, Sajin?“, hörte er Kunar. Janis zitterte. Und ein hartnäckiger kleiner Gedanke setzte sich durch.
„Es gäbe noch eine Möglichkeit.“, murmelte Janis. Er fühlte sich hohl.
„Was meinst du?“ Anspannung lag in Daroschas Stimme.
Janis drehte sich um. „Ich gehe nicht davon aus, dass ein Großteil unserer Vorräte vergiftet wurde. Anstatt aufzupassen, dass nur wenige vom Gift betroffen sind, könnten wir das genaue Gegenteil versuchen: Wir sorgen dafür, dass wir es gleichmäßig auf alle verteilen. Jeder ernährt sich von Brot und Korn, das gleichmäßig aus allen Speichern kam.“
Kunar runzelte in einer einstudiert wirkenden Bewegung die Stirn. „Also entweder alle sterben oder keiner?“
„Oh, es werden alle sterben. Ich gehe davon aus, dass genug Schwarzes Herzblatt in unsere Vorräte gemischt wurde, um alle zu vergiften, zumal ein Teil unserer Krieger schon Vergiftungserscheinungen gezeigt hat. Aber eine kleine Portion alleine reicht nicht für einen nennenswerten Effekt. Wenn alle höchstens ein vergiftetes Brot essen, dann kann nicht viel passieren. Wir gewinnen etwas Zeit.“
„Und dann? Was bringen uns ein paar Tage?“
Ernst erwiderte Janis den Blick aus Kunars grünen Augen. „Und dann ist die Zeit gekommen, Nomions Armee zu zerschlagen.“
Zuerst herrschte verblüfftes Schweigen. Dann meinte Daroscha höhnisch: „Ich verstehe. Sajin meint, uns mit seinem taktischen Geschick beeindrucken zu müssen. Lass mich ein paar Dinge klären: Wir haben keine hundert einsatzfähigen Krieger mehr. Wir haben lange ausgehalten, vielleicht hast du deshalb den Eindruck gewonnen, unsere Kräfte seien ausgeglichen, aber selbst im Schutze unserer Burg und von unseren hohen Mauern herab können wir den Feind nur mit Mühe zurückschlagen. Die Kreaturen sind uns um ein Vielfaches überlegen, eine offene Feldschlacht wäre Wahnsinn.“
Daroscha nahm ihn nicht ernst! Janis fühlte sich in seinem Stolz verletzt und sein Zorn wuchs, aber er konnte sich beherrschen. „Mir ist klar, dass wir allein nicht gewinnen können. Aber vielleicht müssen wir diese Schlacht nicht alleine schlagen. Eine Hundertschaft Söldner ist im Rietland unterwegs.“
„Sechsfinger.“, murmelte Kunar nachdenklich. Er zögerte kurz und schüttelte den Kopf. „Dieser Großbauer Sadam hat Sechsfinger angeheuert, und er wollte uns seine Söldner nicht zur Unterstützung dalassen. Warum sollte er seine Meinung ändern?“
„Ich weiß, was Sadam für seine Hilfe verlangt hat.“ Oh, nur ein kleines Versprechen. Als Gegenleistung möchte ich … die Hand der Königin. „Wir geben ihm, was er wollte. Wir greifen die Kreaturen von zwei Seiten an und zerschlagen die Armee. Wir füllen unsere Speicher mit neuen Vorräten und schicken die Flüchtlinge zu ihren Höfen zurück. Natürlich ist das kein endgültiger Sieg, Nomion und seine Kreaturen werden wiederkommen, selbst wenn wir sie töten. Aber es ist ein Aufschub. Und niemand muss verhungern oder vergiftet werden.“ Und wenn Nomion die Burg dann am nächsten Tag erobert, dann stirbt nur jeder Zweite von denen, die zurückgeblieben sind.
„Es wäre äußerst nützlich, Sechsfingers Unterstützung zu erhalten.“, meinte Daroscha. Es gelang Janis nicht, ihren Gesichtsausdruck zu lesen. „Aber du überschätzt unsere Kräfte trotzdem, Sajin. Selbst wenn wir die Kreaturen überraschend von zwei Seiten zugleich mit je hundert Kriegern angreifen, würden wir verlieren. Wir können nicht ausrücken, das wäre Selbstmord.“
Janis schluckte. Er hatte nicht geahnt, wie übermächtig der Feind war. Aber sie hatten einen Ausfall gar nicht nötig. Ich werde angreifen, wenn die Sonne zum dritten Mal aufgeht. „Was, wenn sie uns angreifen?“, meinte Janis unschuldig. „Wenn Nomion versucht, die Rietburg einzunehmen, und seine Armee dann plötzlich von hinten angegriffen wird?“
Kunar kniff die Augen zusammen. „Die Übermacht ist zu groß. Wir müssten zuerst Nomion selbst ausschalten. Wenn es Sechsfinger gelingt, den Krahder überraschend zu töten und wir die Kreaturen anschließend in die Zange nehmen, dann hätten wir eine echte Chance. Doch auch das wird nicht funktionieren. Nomion hat bisher immer einen Teil seiner Armee zum Schutz bei sich behalten, er wird seine Taktik nicht plötzlich ändern.“
Janis biss sich auf die Zunge, um nicht Doch, wird er! zu schreien. Er überlegte kurz, wie er sein Wissen am besten nutzen konnte, ohne zu viel zu verraten. Für euer Burgtor habe ich mir eine besondere Überraschung ausgedacht. „Wir bereiten einen Hinterhalt im Burghof vor, und dann öffnen wir ihnen das Tor.“
„Hm.“, meinte Daroscha. „Wie stellst du dir das vor? Wir machen auf und winken sie herein? Darauf fällt niemand herein. Aber wir könnten einen Ausfall vortäuschen. Wir beginnen ein kleines Scharmützel und flüchten mit den Kreaturen im Nacken in die Burg zurück, sobald die Ersten gefallen sind. Wir sorgen dafür, dass Kreaturen durchs Tor gelangen, dann können sie es von innen öffnen und Nomion sieht seine Chance gekommen. Und sobald er seine Reserven zur Burg geschickt hat“, Daroschas Faust schlug hart auf die Tischplatte, „zerquetscht Sechsfinger erst den Krahder und dann seine Armee.“
Kunar wechselte einen langen Blick mit der Kommandantin und nickte schließlich. „Wie viel Zeit haben wir, ehe das vergiftete Essen gefährlich wird, Sajin?“, fragte er.
„Heute und morgen.“, antwortete Janis ohne Zögern. Das stimmte nicht ganz, aber Sechsfinger musste angreifen, während Nomion versuchte, die Burg zu stürmen.
Kunar lächelte verhalten. „Also ein falscher Ausfall übermorgen früh, sobald es hell genug ist, dass unsere Krieger genau so gut sehen wie die Kreaturen. Vorausgesetzt, du kannst Sadam überzeugen.“
„Das kann ich.“, behauptete Janis. Wenn nicht würde Nomion ohnehin gewinnen. „Ich brauche nur Euer Einverständnis, dann kann ich einen Falken an Sadam schicken.“
„Und unser Einverständnis wofür genau?“, fragte Kunar verhalten. „Was verlangt Sadam?“
„Er will Prinzessin Chada heiraten.“
Ein paar Herzschläge lang sagten die beiden Lehrmeister nichts. Janis fürchtete schon, sie würden ähnlich reagieren wie Orfen, aber Kunar reagierte deutlich verhaltener. „Ich kenne Chada seit ihrer Kindheit.“, murmelte er zögernd. „Wir sprechen davon, sie an einen machthungrigen Großbauern zu versprechen, den sie nicht einmal kennt.“
„Was immer nötig ist.“, erwiderte Janis ernst. Kunar senkte den Blick und nickte. „Habe ich auch Euer Einverständnis, Kommandantin.“
„Mein Einverständnis schon. Aber haben wir überhaupt die Macht, ihm dieses Versprechen zu erfüllen?“
Janis zuckte mit den Schultern. „Spielt das eine Rolle? Wir werden uns dafür einsetzen, dass Sadam bekommt, was er wollte. Solange er der Meinung ist, dass das reicht, soll es mir recht sein.“
Daroscha schnaubte. „Gut. Alle Falken, die wir aussenden, werden von den verdammten Fluggors gerissen. Aber unsere Runenmeister haben andere Methoden. Komm in drei Stunden in meine Kammer.“


Früher Nachmittag, 22. Wintertag 77 A.Z.
Burggewölbe der Rietburg, Andor

Daroscha blickte nur kurz auf, als Janis eintrat. Dann sprach sie weiter leise auf Sarit ein. Die alte Runenmeisterin war damit beschäftigt, in der Mitte der Kammer ein Stehpult in Zwergengröße zusammenzusetzen. Auf der runenverzierten Ablage wurde von Metallklammern ein Bogen Pergament aufgespannt. An der Seite stand ein bronzenes Tintenfässchen, darunter lag in einer runden Vertiefung ein seltsamer glatter Holzgriff, in den Runen graviert waren. Unten am Griff war eine geschlitzte Metallspitze angebracht.
„Ich bin soweit.“, ächzte Sarit nach einer Weile. Daroscha nickte wortlos und die Runenmeisterin begann, einige Runen am Rand des Pultes anzutippen, bis kurz ein weißes Licht aus ihnen aufflammte. „Wir sind verbunden.“
Daroscha begann sofort, Worte auf zwergisch zu diktieren. Neugierig sah Janis zu, wie Sarit eilig den Holzgriff nahm, kurz mit der Spitze in das Tintenfässchen tunkte und dann Runen auf das eingespannte Pergament schrieb. Er hatte gerüchteweise gehört, dass die Feinschmiede Caverns eine künstliche Schreibfeder entwickelt hatten, aber er hatte sich eine elegante Feder aus Metall vorgestellt, kein unscheinbares Holzstück. Das Kratzen der Metallspitze auf dem Pergament klang ungewohnt, härter als von Gänsekielen.
Anhand Daroschas Tonfall konnte Janis eine Frage identifizieren. Sarit schrieb schnell fertig, dann legte sie den Griff in seine Vertiefung zurück und tippte eine Rune an seinem oberen Ende an. Kurz darauf erhob er sich wie von Geisterhand, tauchte sich selbst ins Tintenfässchen, kritzelte eine Antwort auf das Pergament und schwebte in sein Fach zurück.
„Kommandant Mart kann noch heute eine Botschaft an Sadam überbringen lassen.“, übersetzte Daroscha, nachdem sie einen Blick auf die Runen geworfen hatte.
Sarit löste unaufgefordert die Klammern und ersetzte das halb beschriebene Pergament durch ein leeres. Dann winkte sie Janis heran und erklärte: „Bewege den Stift nur oberhalb des Pultes, sonst bricht die Verbindung ab. Fülle immer genug Tinte nach, du weißt nicht, ob sie auf der anderen Seite ausreicht. Und drücke fest ins Pergament, sonst fließt drüben vielleicht keine Tinte.“ Mit diesen Worten nahm sie den Stift aus seiner Vertiefung und drückte ihn Janis in die Hand.
Beinahe hätte Janis ihn fallen lassen, er wog deutlich mehr, als er erwartet hätte. „Was ist da drin? Ein Bleikern?“
Sarit verdrehte die Augen, als hätte er etwas unglaublich Dummes gesagt. „Du hältst gerade zwei Stifte in der Hand, und da der andere ein paar Meilen entfernt ist, erfordert er zusätzliche Energie. Und jetzt schreib!“
Eingeschüchtert betrachtete Janis das leere Blatt vor sich. Da Mart und Daroscha die Botschaft ebenfalls lesen würden, konnte er nicht alles schreiben, was er einem Falken anvertraut hätte.
Verehrter Sadam, begann er. Vor Beginn der Belagerung habt Ihr dem Statthalter ein Angebot unterbreitet, das in aller Deutlichkeit abgelehnt wurde. Doch wie Ihr wahrscheinlich wisst, ist Statthalter Orfen nicht mehr hier. Unsere Lage ist verzweifelt, und wir sind auf Unterstützung angewiesen. Daher wollen wir auf Euer Angebot zurückkommen. Sendet uns Eure Söldner zu Hilfe, und Ihr sollt bekommen, was Ihr wolltet.
Janis zögerte kurz. Sadam wusste von den Nöten der einfachen Andori. Er galt als gerecht, oder zumindest als nicht ganz so skrupellos wie die anderen Großbauern. Er bezahlte seine Knechte gut, er hatte sich nicht an dem Versuch der anderen Großbauern, ihre eigenen Felder vor der Umverteilung zu entwerten, beteiligt. Janis glaubte nicht, dass ihm die Andori vollkommen gleichgültig waren.
Ihr müsst erkannt haben, was Ihr auslöst, wenn Ihr auf Eurem jetzigen Pfad bleibt. Fällt die Rietburg, dann fällt Andor. Ihr gefährdet unzählige Leben, sowohl durch das, was Ihr nicht tut, als auch durch das, was Ihr tut. Doch falls Ihr uns unterstützt, wird es keine Rolle mehr spielen, was Ihr vorbereitet habt. Wir werden nicht versuchen, Euch für irgendetwas zur Rechenschaft zu ziehen.
Janis schrieb nichts dazu, was geschehen würde, wenn Sadam nicht einging. Er konnte sich auch kaum deutlicher ausdrücken, ohne Daroschas Misstrauen zu erwecken. Er las, was er bisher geschrieben hatte, und entschied, dass er nach der Drohung auch locken musste. Was hatte Nomion dem Aufsteiger wohl versprochen? Macht? Vermutlich. Die Krone Andors? Gewiss nicht.
Diese Abmachung wird auch für Euch von größtem Nutzen sein. Ihr müsst entscheiden, ob Ihr bloß in der Gunst desjenigen stehen wollt, der Andor beherrscht, oder ob Ihr selbst dieser jemand sein wollt. Was wir bieten, werdet Ihr von niemandem sonst erhalten.
In der Hoffnung auf eine Übereinkunft

Janis konnte sich gerade noch davon abhalten, selbst zu unterzeichnen. Wenn Sadam ablehnte und den Brief Nomion zeigte, dann sollte besser nicht Janis´ Name darunterstehen. „Ihr solltet unterschreiben, Kommandantin. Sadam muss wissen, dass das Angebot Eure Unterstützung genießt.“
Daroscha nickte und nahm den Stift entgegen, dann begann sie zu lesen. Ihr Blick stockte kurz, als er über den zweiten Absatz glitt, doch sie fragte nicht, wofür man den Aufsteiger zur Rechenschaft ziehen könnte.
Schließlich nickte sie knapp, tauchte die Spitze des Stiftes in Tinte und unterschrieb.


Abenddämmerung, 22. Wintertag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

Sara ließ ihr halb gegessenes Brot sinken und gebärdete: Sohn-von-Feuer. Wollen. Rest. Als-Frage-Gemeint.
Rodur starrte gierig auf das Brot und seufzte dann. „Nein, Sara. Du hast auf dein Frühstück verzichtet und heute Mittag nur ein bisschen Wasser getrunken. Du musst essen. Nicht wahr, Sajin? Ba…“ Rodur verstummte. Sein Blick ruhte für einen Moment auf dem Platz, auf dem Barram immer gesessen hatte.
Janis nickte. Wenn Rodur freiwillig auf Essen verzichtete, obwohl selbst Janis die Portionen als klein empfand, dann musste es wirklich ernst sein. Er hatte nicht gewusst, wie wenig Sara zu sich nahm. Sie verbrachten selten mehr als eine Mahlzeit am Tag zusammen, zu beschäftigt war Janis im Siechenhaus.
Sara nahm ihr Brot von Janis´ Bett und biss lustlos ab. Ihr Gesicht blieb reglos, und in ihren Augen lag nur das schreckliche, abwesende Schwarz, das sie seit Orfens scheinbarem Verrat kaum noch verließ. Sie stopfte sich die letzten Reste in den Mund, kaute mechanisch und gebärdete: Und. Du. Müssen. Trinken. Medizin. Rodur verzog das Gesicht, aber er leerte ohne zu protestieren das mit Sapian angereicherte Wasser, das Janis ihm bereitgestellt hatte. „Und jetzt geh´ ich kacken.“, sagte Rodur missmutig. Noch hatte sein Körper sich nicht an die tägliche Portion Sapian-Knollen gewöhnt, daher wurde er von Durchfall geplagt.
Janis verkniff sich einen neckenden Kommentar. Er blieb allein mit Sara zurück und suchte nach Worten, um sie ein paar Momente aus ihrer Starre zu reißen. Doch er kam nicht dazu, sie auszusprechen. Die Tür zum Anbau öffnete sich und Meister Readem steckte den Kopf herein. „Sajin, hast du Sann gesehen?“
Janis überlegte kurz. „Seit zwei Stunden nicht mehr.“
„Nicht schon wieder!“, murmelte Readem resigniert. „Bitte hole sie, sie dürfte in einer der Lagerhallen sein. Und sag ihr, sie soll aufhören, meine Schlüssel zu klauen.“
Janis nickte erschöpft. „Tut mir leid, aber die Pflicht ruft.“, sagte er zu Sara. „Wartest du hier auf Rodur?“
Die Angesprochene blickte nicht auf. In. Ordnung. sagten ihre Hände, während ihr Gesicht schwieg.
Janis versuchte sich an einem Lächeln, nach dem er sich nicht fühlte. „Danke. Dann bis gleich.“

Die Tür des dritten Speichers war nicht abgeschlossen, und mit Varas Hilfe wusste er schon beim Eintreten, wo er Sann zu suchen hatte. Zielstrebig ging er zwischen ein paar leeren Regalen hindurch und fand sie an der Rückwand, an einen Sack mit Getreide gelehnt, ihre Hände spielten mit irgendwas am Boden herum.
„Sann! Readem sucht dich.“, sagte Janis. Er wusste nicht, ob er seiner Stimme einen sanften oder wütenden Klang geben sollte, und scheiterte bei dem Versuch, beides zu kombinieren.
„Hallo, Faulpelz.“, antwortete Sann ungewöhnlich leise. „Ist der alte Mann auch hier?“
„Nein, er wartet im Siechenhaus. Du …“ Janis erstarrte. Im Dämmerlicht bemerkte er erst jetzt, was Sann tat. Sie streichelte sacht über den Rücken einer fetten Ratte. „Was machst du da?“, entfuhr es ihm.
Sann blickte auf. Tränenspuren waren auf ihrer Wange, doch ihre Stimme war ruhig. „Sag hallo zu Mumpel, Faulpelz. Und Mumpel, sag hallo zu Faulpelz.“ Sie hob die Ratte hoch, ihr nackter Schwanz glitt schlaff über den Boden. Erleichtert stellte Janis fest, dass die Ratte offensichtlich tot war. „Hallo, Faulpelz.“, quiekte Sann mit verstellter Stimme. Sie starrte Janis auffordernd an. „Und jetzt du!“
„Hallo, Mumpel.“, murmelte Janis lustlos.
Sann schenkte ihm ein unsicheres Lächeln. „Sehr gut! Du bist eingeladen, mitzumachen. Wir besprechen gerade, wie wir hier ausbrechen werden.“
Janis verzichtete darauf, Sann darauf hinzuweisen, dass die Tür zum Speicher offen stand und sie den Schlüssel hatte. „Wir? Mumpel und du?“
Sann nickte ernst. „Und meine anderen Freunde. Rumpel und Fumpel und Mimimi und …“
Den Rest bekam Janis nicht mehr mit, denn Sann war zur Seite gerückt und offenbarte den Blick auf mindestens zwei Dutzend tote Ratten, die zu einem ordentlichen Kreis angeordnet waren. Viele zeigten deutliche Verwesungserscheinungen, auf manchen krabbelten Maden, und ein süßlicher Geruch stieg Janis in die Nase, aber Sann schien sich an all dem nicht zu stören.
„Sann…“, unterbrach Janis, „woher kommen … deine Freunde?“
Sann blickte aus großen Augen zu ihm hoch. „Hampel war genau hier. Da unter dem Regal war Tata. Fumpel da vorne zwischen zwei Säcken, und …“
„Sann. Hast du deine Freunde alle in dieser Lagerhalle gefunden?“
Sie nickte eingeschüchtert. Ihre Gelassenheit schmolz dahin und offenbarte die tiefe Einsamkeit darunter. „Ja.“, flüsterte sie. „Sie waren alle einsam. Voneinander getrennt. Alle ganz … allein.“
Janis ließ den Blick über die Säcke und Brote schweifen. Das hier waren nicht die Vorräte Sadams, sondern Abgaben der Großbäuerin Kara, aber andererseits traute Janis es dem Aufsteiger durchaus zu, vorsichtshalber nicht das eigene Korn zu vergiften. Seine und Karas Abgaben waren am gleichen Tag eingetroffen, und Sadam hatte die Lieferung begleitet. Es spielte keine Rolle, ob Sadam die Vorräte vergiftet hatte oder ob doch Kara die Verräterin war. Janis wusste nun, was sie nicht anrühren durften, wenn er damit zu Kunar und Daroscha ging … würden sie alles ruinieren. Sie würden keinen Hinterhalt im Burghof vorbereiten, sie würden Sechsfinger nicht zu Hilfe holen, oder zumindest nicht binnen zwei Tagen. Sie wären unvorbereitet, wenn Nomion angriff. Und doppelt so viele würden sterben. Er musste sein Wissen für sich behalten.
„Ich habe sie hier zusammengebracht.“, wisperte Sann. Sie deutete auf den Kreis aus toten Ratten und Janis stellte fest, dass ihre Hand zitterte. „Damit sie … wieder zusammen sind. Es … es ist nicht gut, wenn Familien getrennt sind … oder?“
Janis sah erneut vor sich, wie Sann und ihr Vater Daron sich zum letzten Mal umarmten. Er fühlte erneut den traurigen Kuss, den seine Mutter ihm auf die Stirn gedrückt hatte, ehe sie ihn für immer verließ. Er dachte an Sara, deren Hände von ihren Eltern berichteten, während tiefes Blau in ihren Augen lag, und an Rodur, der leise von seinem Vater erzählte.
Janis machte einen unsicheren Schritt nach vorne, beugte sich herab und schloss Sann in die Arme. Ließ sie spüren, dass sie nicht allein war, wenn das ihre Einsamkeit auch nicht vertreiben konnte. „Nein.“, antwortete er leise und spürte ihre Tränen warm in seine Kleidung fließen. „Nein, das ist es nicht.“


Morgendämmerung, 24. Wintertag 77 A.Z.
Dachgeschoss im Kronenturm der Rietburg, Andor

In der Nacht hatte es geschneit, doch jetzt war der Himmel wolkenlos. Das Rietland leuchtete blendend weiß in der aufgehenden Sonne. Das Ewige Feuer vor der Rietburg loderte unruhig in einem dunklen Violett. Frischer Schnee bedeckte den gefrorenen Schlamm im Burghof und die eilig zusammengezimmerten Palisaden, die in einem weiten Halbkreis um das Burgtor standen. Sie waren gestern Nacht im Schutz der Dunkelheit aus angespitzten Pfählen, Fässern, aufgeschichteten Steinen und allem anderen errichtet worden, was sonst noch verfügbar gewesen war. Mit etwas Glück würden die Fluggors sie nicht sofort bemerken.
Hinter den Barrikaden hatten sich die Krieger und Rekruten versammelt. Ansonsten war die Rietburg wie ausgestorben, wer nicht mitkämpfte, war im Burggewölbe untergebracht. Janis lehnte sich über die Zinnen des Kronenturms. Heute war er alleine hier oben, ihre Bogenschützen waren auf den Mauern postiert, um auch außerhalb der Mauern eingreifen zu können. Er beobachtete, wie Kommandantin Daroscha auf ein Fass stieg, zweifelsohne um vor dem Ausfall irgendeine kurze Ansprache zu halten.
Sie kam nicht dazu. Ohne Vorwarnung ging der Torturm in Flammen auf. Fahles grünes Feuer züngelte über den Stein, verbrannte das Rietdach und die Balken zu Asche, sprengte das Tor aus den Angeln. Fünf Bogenschützen waren im Turm positioniert gewesen, von Vieren hörte Janis nur gequälte Schreie, die schnell abbrachen, der letzte rannte in eine Flammensäule gehüllt auf den Wehrgang, taumelte über die Zinnen und fiel als verkohlter Körper in den Schnee. Für euer Burgtor habe ich mir eine besondere Überraschung ausgedacht. Janis unterdrückte die Übelkeit, die plötzlich in ihm aufsteigen wollte. Er hätte nichts tun können, ohne seine Tarnung zu gefährden.
Auch nicht, wenn Sara dort gestanden hätte?
Nach nur zwanzig Herzschlägen erlosch das grüne Feuer wieder. Vom Torturm war nur noch eine ausgebrannte Ruine übrig, die Torflügel lagen zersplittert und verkohlt am Boden und würden keine Kreatur mehr aufhalten. Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Falls irgendjemand sich regte, verschluckte der Schnee das Geräusch. Dann ging eine Bewegung durch die Kreaturen vor der Burg. Auf einen unsichtbaren Befehl hin setzte die Armee sich in Bewegung. Gors stürmten auf das Burgtor zu, Skrale griffen nach ihren wackeligen Leitern und die Erde bebte vom Stampfen der Trolle. Besorgt bemerkte Janis, dass Kunar recht behielt: Vielleicht der vierte oder fünfte Teil der Armee blieb zum Schutz Nomions zurück. Der Hexer stand vor seinem Zelt und beobachtete reglos den Sturm auf die Rietburg.
Janis schloss die Augen und sammelte Kraft. Wie der heutige Tag ausging brauchte ihn nicht zu kümmern. Er hatte zumindest versucht, ein paar der Schutzsuchenden zu retten. Wenn es gelang, umso besser, wenn nicht, dann hatte er sein Ziel schon heute erreicht.
Im Burghof bellte Kommandantin Daroscha Befehle, Krieger eilten auf die Mauern oder verschanzten sich hinter ihren Barrikaden. Pfeile regneten auf die anrückenden Kreaturen nieder, die Bogenschützen hatten die Anweisung erhalten, heute ohne Rücksicht auf ihre allzu mageren Pfeilvorräte zu feuern.
Die ersten Kreaturen gelangten durch das zerborstene Tor und hielten inne, als sie den Ring aus Barrikaden bemerkten. Sie hatten wohl damit gerechnet, sich nur durch ein paar unvorbereitete Krieger kämpfen zu müssen, nicht durch einen zweiten Verteidigungsring. Doch die Verwirrung hielt nicht lange, gierig stürmten die Kreaturen weiter. Durch das zerstörte Tor quoll ein nicht enden wollender Strom aus ihnen.
Die Bogenschützen an den Mauern schossen mit Brandpfeilen in das dichte Gewühl im Hof. Einige trafen eine Kreatur, noch mehr erstickte der Schnee, aber ein paar erfüllten ihren Zweck und entzündeten die vorbereitete Mischung aus Öl und Rietgras, mit der in der vergangenen Nacht, im Schutze der Dunkelheit, der Boden bedeckt worden war. Das Feuer breitete sich nicht so schnell aus wie erhofft. Die dünne Schneedecke, die zuvor als willkommene Tarnung gedient hatte, nahm den Flammen jetzt die Luft. Trotzdem dauerte es nicht lange, bis der gesamte Burghof zwischen dem Tor und den Barrikaden in Flammen stand. Das Kreischen der vordersten Kreaturen währte nicht lange, der Gestank drang bis an Janis´ Nase.
Doch das Feuer war schnell heruntergebrannt. Die nachrückenden Kreaturen trampelten die letzten Flammen nieder und erreichten die Barrikaden etwa in dem Moment, in dem die ersten Leitern an die Mauern angelegt wurden. Das Morden begann.
Janis verschloss sich dem Leid ringsum und widmete sich seiner Aufgabe. Er versuchte den Überblick zu behalten und sich zu merken, wo die freiwilligen Helfer nach der Schlacht die meisten Verwundeten bergen konnten. Falls es ein Nach der Schlacht gab. Dieser Angriff unterschied sich deutlich von den bisherigen. Bislang hatte Nomion es nur darauf angelegt, sie auszutesten, ihnen Verluste beizubringen und sie zu zermürben. Jetzt jedoch ging es ihm um den Sieg.
An gleich drei Stellen fassten Skrale Fuß auf den Mauern und ließen sich nicht wieder vertreiben. Ohne Gnade machten sie die Verteidiger nieder, die sich ihnen in den Weg stellten. Bauern, die geglaubt hatten, Krieger zu sein, obwohl sie seit kaum mehr als zwei Monden ein Schwert in der Hand hielten. Auch die Barrikaden im Burghof waren kein Hindernis mehr, als die ersten Trolle ankamen. Von oben donnerten immer wieder zerstörerische Felsen herab, die Fluggors schleppten eifrig immer neue Geschosse von einem großen Haufen, den die Kreaturen in den letzten Tagen aufgeschichtet hatten. Janis kam mit seiner Aufgabe kaum hinterher.
Er konnte nicht benennen, was es war, das ihn aufblicken ließ. Vielleicht die Kreaturen, die für die Dauer eines Wimpernschlags im Kampf innehielten, als Nomions Aufmerksamkeit sich anderen Dingen zuwandte. Vielleicht die vereinzelten hoffnungsfrohen Rufe, die so gar nicht zu ihrer Situation passen wollten. Vielleicht auch der ferne Klang eines Horns.
Wilde Gestalten rannten brüllend auf Nomions Zelt zu. Sie trugen Felle, Kettenhemden und bunt zusammengewürfelte Rüstungsteile und schwangen Äxte, Lanzen und Schwerter in den unterschiedlichsten Formen, doch sie behielten eine geschlossene Formation bei und bewegten sich diszipliniert vorwärts. An der Spitze der bunten Truppe lief ein Mann mit vernarbtem Gesicht und Haaren, die wie eine schwarze Flamme von seinem Kopf abstanden. Sechsfinger war gekommen.
Nomion starrte den Söldnern ungläubig entgegen, seine hagere Gestalt strahlte mühsam zurückgehaltenen Zorn aus. Mit einem Wink seines knöchernen Stabes sandte er Sechsfinger die Kreaturen um sein Zelt entgegen. Janis konnte nicht einschätzen, welche Seite überlegen war, er stellte nur fest, dass es ziemlich viele Kreaturen waren, die sich Sechsfingers Schar entgegenstellten, und dass Nomion es anscheinend nicht für nötig hielt, Truppen aus der Rietburg abzuziehen.
Janis wartete nicht ab, bis Söldner und Kreaturen aufeinanderprallten, sondern widmete sich wieder seiner Aufgabe. Im Burghof wütete ein Wardrak zwischen den Verteidigern. Ein Skral trat auf die Spitze von Brandurs Turm und reckte triumphierend beide Schwerter in die Luft. Ein herabgeworfener Felsen zerschmetterte eine der Barrikaden und die Krieger dahinter krümmten sich, als die Splitter sie trafen. Janis merkte sich die Stellen.
Plötzlich begann die Welt sich zu drehen. Ein grauenhafter Schmerz überkam ihn, als würde sich eine heiße Klinge in seine Stirn bohren. Janis umfasste die Zinne vor sich und klammerte sich fest, um nicht zu stürzen. Dunkelheit ertränkte seine Sicht, nur das Gefühl des rauen Steins unter seinen Fingerkuppen gab ihm etwas Halt.

Von einem Moment auf den anderen konnte er wieder sehen. Doch was seine Augen ihm mitteilten, konnte nicht stimmen. Er fühlte noch immer den kalten Stein unter seinen Fingern und hörte aus der Ferne den Lärm der Schlacht, aber er stand in einem veränderten Burghof. Ohne den Schnee, ohne die Barrikaden, ohne das zerschmetterte Tor, ohne Kreaturen oder Verteidiger, ohne Leichen und Blut. Er hob den Kopf und sah über sich nur einen zeitlosen grauen Himmel wie die leere Leinwand eines unvollendeten Gemäldes.
„Was …?“ Janis versuchte, eine Hand auszustrecken. Das Gefühl des Steins unter seinen Fingern wich nicht, doch hier, in dieser Welt, bewegte sich sein Arm ansatzlos. „Nomion!“, rief Janis. „Was ist hier los?“
„Lustig. Dasselbe wollte ich dich fragen!“, zischte eine heisere Stimme. Janis fuhr herum. Er wusste, dass er eben noch alleine gewesen war, doch jetzt stand Nomion mitten auf dem Burghof und blickte zornig auf ihn herab. „Eine Falle hinter dem Tor? Söldner, die genau zum Zeitpunkt des Angriffs hier auftauchen?“ Nomion hob seinen Stab, ein fahles grünes Licht strahlte aus den Augenhöhlen des Schädels an der Spitze und etwas packte Janis wie eine gewaltige Faust und presste ihn zu Boden. Spitze Steinchen bohrten sich in seine Wange, von Nomion konnte er nicht mehr sehen als schmutzige graue Füße mit spitzen Zehennägeln. „Ich glaube nicht an Zufälle, Janis! Hat mein kleiner Verräter diesmal mich verraten? Antworte!“
Kurz war Janis von Furcht gelähmt. Wenn er sich jetzt verriet, dann war alles umsonst! „Ich habe dich nicht … verraten.“, keuchte er. Er konnte nur mit Mühe Luft holen und sein Brustkorb schmerzte unter dem Druck. „Was kann ich dafür, dass du … diesem Sadam vertraut hast?“
Der Druck verstärkte sich noch. „Sadam?“ In Nomions Stimme lag pure Verachtung. „Der der Rietburg mehr Vorräte zur Verfügung stellte als jeder andere? Dessen Söldner jeden Versuch meiner Kreaturen vereitelten, sich ein paar Rietländer zu erbeuten? Du hast wirklich geglaubt, Sadam sei der Verräter?“
Janis stöhnte. Also doch Kara. Was hatte Sadam sich wohl gedacht, als er den Brief gelesen hatte? Wir werden nicht versuchen, Euch für irgendetwas zur Rechenschaft zu ziehen. Janis schob alle Gedanken an den Aufsteiger beiseite. Er hatte ganz andere Probleme.
„Es war ein … Ausfall geplant, nehme ich an.“, presste Janis hervor. „Ich habe damit nichts zu tun! Warum hätte ich … den Ewigen Rat nach all meinen Mühen … jetzt hintergehen sollen?“
„Du verachtest den Ewigen Rat noch mehr als ich, das weiß ich.“, krächzte Nomion gefährlich ruhig. „Du hast geglaubt, es könnte nichts passieren, habe ich recht? Du hast geglaubt, ich würde von deinem kleinen Verrat nichts mitbekommen? Du hast geglaubt, dein Kopf sei sicher vor mir? Du hast dich geirrt! Ich bin Nomion, der Hexer! Ich habe dem Urtroll selbst meinen Willen aufgezwungen! Ein jämmerlicher Menschenjunge ist kein Hindernis für mich! Ich könnte dich dazu zwingen, lachend von diesem Turm zu springen. Wir werden schon sehen, was du mir verheimlichst.“
Janis wurde wie von langen Schnüren emporgerissen, bis er dicht vor Nomion in der Luft schwebte. Die gelben Augen glühten bedrohlich und ein wölfisches Lächeln lag auf Nomions Lippen. „Bisher war ich freundlich genug, mit meinen Besuchen abzuwarten, bis dein Geist sich von alleine geöffnet hat. Bisher habe ich es akzeptiert, wenn du mir etwas verheimlicht hast. Aber damit ist jetzt Schluss!“ Damit griff der Hexer nach seinem Kopf … und die Hand glitten widerstandslos durch seine Schädeldecke. „Dein Kopf gehört mir!“
Janis schrie auf, er konnte seinen Schrei in der Ferne widerhallen hören und ahnte, dass er ihn in beiden Welten zugleich ausstieß. Das Gefühl des Steins unter seinen Fingerspitzen verschwand, dumpf spürte er seinen Hinterkopf irgendwo aufschlagen. Etwas wühlte sich mit Gewalt durch seine Gedanken. Das Abbild der Rietburg, in dem er hing, erbebte und verformte sich. Mauern rissen auf und der graue Nebel jenseits der Traumwelt strömte herein. Aus den Schwaden formten sich Gestalten, von Menschen und Kreaturen, die gegeneinander kämpften und fielen. Über den leeren, grauen Himmel zuckten lautlos grüne Blitze.
Dann war es vorbei. Janis wurde achtlos fallen gelassen, der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen. Er hockte sich mühsam auf die Knie, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte seine Tränen weg. Nomion beachtete ihn kaum, in der Handfläche des Riesen lag winzig eine hölzerne Schatulle, die schon lange nicht mehr existierte. Die abgegriffenen Schnitzereien erkannte Janis sofort. Vor langer, langer Zeit kamen zwei Brüder in ein leeres Land mitten im Nichts. Sie waren Arauthor, der Hirte, und Nivor, der Bauer.
„Gib das … her!“, würgte Janis hervor.
Nomion grinst nur. „Das hier? Das willst du nicht. Hierin verbergen sich alle deine Geheimnisse. Alles, was du du vor mir verbirgst. Alles, was du vor deinen Freunden verbirgst. Vor allem anderen jedoch: Alles, was du vor dir selbst verbirgst. Du willst den Inhalt dieser Schachtel nicht. Ich dagegen… ich werde nicht davor zurückschrecken, deine Erinnerungen ans Licht zu zerren. Du warst aufmüpfiger, als gut für dich war, kleiner Verräter. Nun werden wir sehen, ob du die Wahrheit gesagt hast. Zeig mir deine Geheimnisse. Was verheimlichst du mir?“
Der Deckel der Schatulle klappte auf und Janis spürte, wie etwas mit gezackten Haken aus seinem Verstand gerissen wurde. Das Abbild der Rietburg verschwand.
Es war ein kühler Sommerabend, Janis war acht Jahre alt. Er stand am Ufer der Narne, seine Mutter neben ihm. Gemeinsam blickten sie ans andere Ufer, wo in der Dämmerung undeutlich eine Gestalt aus Wasser auszumachen war. Eines Tages wirst du diese Aufgabe übernehmen und sie als treuen Wegbegleiter an deiner Seite haben. Sie wird das Erbe von Etore, dem einfachen Bauern, immer weiter tragen. Kheelas Stimme klang voller Liebe und Zuversicht über das Rauschen des Flusses. Ein achtjähriger Janis wandte den Kopf, um ehrfürchtig zu ihr aufzusehen. Doch irgendwo in einer halb zerstörten Burg jenseits der Grenzen der Realität sackte ein anderer Janis vor den Füßen eines Krahders in sich zusammen. Und ganz oben im Kronenturm, hoch über dem Morden einer Schlacht, lag ein dritter Janis und krümmte sich vor Schmerz. Du irrst dich, Mutter. Ich habe die Flusslande im Stich gelassen. Ich habe meine Aufgabe nicht übernommen. Ich bin … eine Enttäuschung. Ich habe Etores Vermächtnis verraten, und ich habe dich verraten. Dich und alles, wofür du gekämpft hast.
Das Bild des Sommerabends wich einer kleinen Hütte zwischen den grauen Nebeln eines Traums. Janis stand im Schatten eines hageren Krahders mit beinernem Stab. Ich bin einverstanden. Drei kleine Worte, die alles verändert hatten.
Auch diese Erinnerung verschwand. Janis schwebte in einem tiefen, grauen Nichts, und ihm gegenüber war seine Mutter. Die silberne Ghirlada lag auf ihrem glatten hellbraunen Haar, in ihrer Hand hielt sie ihren leuchtenden Stab. Kheela sah ihn aus ihren hellblauen Augen an, die den seinen so sehr glichen. Und in ihrem Blick lag nichts als Verachtung.
Das ist der Beweis deiner Gleichgültigkeit, Janis! Deiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Land Andor und allen seinen Bewohnern. Gegenüber Orfen und den Helden. Gegenüber Rodur. Gegenüber Sara. Gegenüber allem, was mir wichtig war, gegenüber meinen Wünschen und Zielen… und damit auch gegenüber mir selbst.
Kheelas Stimme brannte wie Eis. Sie sprach voll Enttäuschung, und es war egal, dass das nicht Kheela war, und auch nicht die unvollständige Erinnerung, die er von ihr hatte, sondern nur die verzerrte Spiegelung eines Trugbildes, nur ein Schatten Nomions.
Nein, Mutter! Das stimmt nicht! Ich habe das alles für dich getan! Alles!
Erkennst du nicht, dass es genau das ist, wovon ich spreche? Wenn dir wirklich etwas an mir liegen würde, würdest du dann alles verraten, wofür ich gestorben bin? Du bist nur ein dummer, trotziger, kleiner Junge, der nicht einsehen will, dass seine Mutter tot ist! Dir ging es nie wirklich um mich! Nur um deinen Wunsch, um dein Ziel, um das, was du verloren hast! Dir ging es immer nur um dich selbst, Janis!
Nein! Ich habe nie mehr geopfert, als ich musste! Ja, ich würde dich um jeden Preis zurückholen, aber ich habe getan, was ich konnte, damit der Preis nicht zu hoch wurde.

Von Kheela kam nur ein spitzes, höhnisches Lachen als Antwort. Erinnerungen durchfluteten Janis. Peta, mit einem Pfeil im Hals. Barram, der tot neben Orfen kippt. Krieger, die in Angriffen fielen, von denen Janis bereits im Voraus gewusst hatte. Sann, die zum letzten Mal ihren Vater umarmte.
Das soll alles gewesen sein, was du tun konntest? Du hast nichts getan!
Janis musste Mutter beweisen, dass er ein guter Junge war. Dass er nicht tatenlos geblieben war. Nur ein unwichtiger kleiner Teil von ihm, der sich Vernunft nannte, wand sich und schrie, dass Nomion hier war, mitten in seinem Kopf, und nur darauf wartete, dass diese Erinnerungen ans Licht kamen. Doch diese Vernunft war machtlos.
Oh doch, das habe ich! Sieh hin, Mutter!
Ein anderes Bild formte sich. Eine äußerst frische Erinnerung. Janis, in den Gemächern des Statthalters, ihm gegenüber Kunar und Daroscha. Im letzten Moment gelang es der Vernunft, das Bild zumindest zu verändern. Eine dritte Gestalt erschien zwischen den beiden Lehrmeistern, die Gestalt von Orfen, der in seinem Lehnstuhl saß. Daroschas Stimme hallte laut durch die Kammer. „In spätestens vierzig Tagen sollte der Ewige Rat besiegt sein.“
Siehst du nun, was ich Nomion verheimlicht habe, Mutter? Bist du … stolz auf mich?
Das Bild verblasste. Janis kauerte wieder zu Nomions Füßen in der Rietburg. Langsam konnte er wieder klar denken. Nomion sah reglos auf ihn herunter, der Deckel der Schatulle war wieder zugeklappt. „Von wann ist diese Erinnerung? Wie soll der Ewige Rat besiegt werden?“, fragte er unheimlich ruhig.
Janis holte zitternd Luft. „Anfang des Jahres. Weiß nicht wie.“ Er wagte es nicht zu lügen.
Nomion kniff die gelben Augen zusammen. „Interessant.“ Dieses eine Wort steckte voller Berechnung. Auch Nomion hatte kein Problem damit, wenn der Ewige Rat zerschlagen wurde, erkannte Janis. Solange er es für seine Zwecke nutzen konnte.
Der Hexer schüttelte unwirsch den Kopf. „Aber deine Geheimnisse wiegen noch immer so schwer. Ich bin sicher, du hast mir noch mehr zu zeigen, kleiner Verräter.“
Janis sprang auf. „Verschwinde aus meinem Kopf!“, zischte er. „Du hast kein Recht, hier zu sein! Ich …“
Nomion lächelte nur und ließ wortlos die Schatulle wieder aufklappen. Sofort verschwanden der Hexer und der Burghof. Janis saß zusammen mit Sara an Rodurs Krankenbett. Rodur hockte dort, die Decke um sich geschlungen, starrte hasserfüllt ins Leere. „Uns jetzt wieder den Fängen der Krahder überlassen, nachdem wir endlich den Geschmack der Freiheit kosten durften, ist nur grausam. Wenn wir ihm wirklich noch etwas bedeuten, dann sollte er uns lieber alle sterben lassen.“
Ich habe ihn auf die Liste der Lebenden gesetzt. Aber wozu? „Kein Ambacu ist jemals frei.“ Ich verlängere nur seine Knechtschaft. Ich opfere mehr als nur Menschenleben. Ich opfere die Freiheit, die ihm und so vielen anderen geschenkt wurde.
Das Bild änderte sich. Janis stand auf der Spitze des Kronenturms, bei ihm Vara und seine Freunde. Ein dünner Laut hallte durch die Luft, ein Lachen zart wie der Flügelschlag einer Libelle. Ich habe mir geschworen, Sara erneut zum Lachen zu bringen. Ich habe mir geschworen, das Blau aus ihren Augen zu vertreiben. Und was habe ich erreicht?
Erinnerungen rasten durch seinen Verstand. Sara, die ihm ihre Gebärdensprache beibrachte. Die über eines seiner Rätsel nachdachte. Die ihn im Nimm-Spiel schlug. Eine verzweifelte Umarmung im strömenden Regen. Eine flüchtige Berührung, die vielleicht ein Kuss war. Der Duft von Rietgrasblüte und Bittermandel. Und über allem schwebte dieser eine Morgen nach Orfens Tod, als sie den Blick hob und ihn anstarrte aus Augen, in denen von all den schillernden Farben nur tiefe Schwärze zurückgeblieben war.
Ich habe mir vorgenommen, sie zu heilen, und stattdessen habe ich sie nur noch mehr zerbrochen. Ich habe es mir angewöhnt, von Rodur und Sara als Freunde zu denken, doch das stimmt nicht. Ich nutze die beiden aus. Ich belüge sie. Ich zerstöre sie. Ich bin nicht ihr Freund!
„Verschone mich von dem Zeug, das du vor dir selbst versteckst!“, dröhnte eine heisere Stimme ungeduldig durch seinen Schädel. „Was verheimlichst du mir?“
Was verheimlichst du mir? Erneut rissen die Haken in seinem Verstand. Die frische Erinnerung drängte sich wieder nach oben. Was verheimlichst du mir? Janis keuchte auf. Und er gab Nomion, was er verheimlicht hatte, schleuderte ihm das Bild geradezu entgegen. Ein Hahn, groß, furchtbar und rot, kauert auf einer Burg, die in weißem Gold schwimmt.
Keuchend schlug Janis die Augen auf. Kurz sah er über sich das Rietdach des Kronenturms und spürte die Bodenluke in seinem Rücken, dann hockte er wieder im Burghof vor Nomion und starrte auf schmutzige graue Füße. „Sieh an, sieh an.“, flüsterte der Krahder sanft. „Der rote Hahn.“
Janis sah auf. Sein Nacken schmerzte. „Du … weißt, was er bedeutet?“
„Gewiss. Auch ich habe ihn kommen sehen. Der rote Hahn hat sich auch meine Heimat einverleibt. Er ließ keinen Stein auf dem anderen und löschte jedes Leben aus.“ Die Hand, in der die Schatulle lag, ballte sich zur Faust. „Der rote Hahn ist die Feuersbrunst, die alles verschlingt. Pure Zerstörungskraft, grausam, hungrig und willenlos. Wenn er auch diese Burg frisst … nun, dann hoffe ich, dass er das noch heute erledigt.“
In Nomions gelb glühenden Augen lag etwas, was Janis dort noch nie gesehen und nicht erwartet hatte, ein Gefühl, das er nicht einschätzen konnte. Er witterte seine Chance. „Bitte, Nomion. Ich habe dich nicht hintergangen, sonst wüsstest du es inzwischen. Hör auf, in meinen Geheimnissen herumzuwühlen.“
Der Hexer zögerte sichtlich, doch dann schüttelte er das rätselhafte Gefühl ab. „Nein! In meiner Hand liegen noch immer so viele Erinnerungen, so viele Geheimnisse. Erst wenn ich das letzte gesehen habe, werde ich wissen, dass du an dem Verlauf der heutigen Schlacht keinen Einfluss hast.“ Er beugte sich langsam herab und versprach: „Aber falls doch werde ich einen Weg finden, selbst das zu zerstören, was nach dem Öffnen aller deiner Geheimnisse noch von die übrig sein wird.“
Diesmal war Janis vorbereitet. Was verheimlichst du mir? Kaum wühlten die Haken in seinem Verstand, hatte er ihnen schon irgendetwas hingeworfen, um Nomion abzulenken. Er stand in der großen Halle hinter dem Thron mit der gespaltenen Lehne und sah hinunter in die dunklen Augen Orfens, der neben einer Vertiefung im Boden hockte. „Andor ist jung und König Brandur kümmerte sich mehr um das Wohl seines Volkes als um vergoldeten Firlefanz. Er gestand sich einzig die Rietgraskrone zu, doch die trägt die rechtmäßige Königin bei sich.“, sagte der Statthalter rau.
Im nächsten Moment war Orfen wieder verschwunden und stattdessen blickte Janis in zwei gelb glühende Augen. „Langsam glaube ich, es spielt überhaupt keine Rolle, ob du mich heute verraten hast oder nicht, kleiner Verräter. Vielleicht sollte ich dem Schwarzen Herold einfach sagen, wen er für dich zurückholen soll. Als Strafe für deine Schweigsamkeit!“
„Wir hatten eine Abmachung!“, zischte Janis. „Ich …“
Nomion öffnete die Schatulle wieder. Janis wusste nicht, womit er ihn noch aufhalten konnte. Die frische Erinnerung trieb schon wieder an der Oberfläche. Also warf er sich so tief er konnte in den Fluss seiner Geheimnisse, voller Angst, was er am Grund finden mochte.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Nur vereinzelte Wolken malten weiße Tupfer in das endlose Blau. Janis saß alleine an der Narne und ließ die Beine ins Wasser baumeln. Kleine Fische knabberten an seinen Zehen. Obwohl der Fluss schnell dahinfloss, konnte er auf der Oberfläche deutlich sein Spiegelbild erkennen. Und dort, auf der anderen Seite des fließenden Spiegels, war er nicht alleine. Kheela saß neben ihm und hielt seine Hand. Janis sah auf und starrte auf den schrecklich leeren Platz neben sich. Im Wasser lächelte seine Mutter wehmütig.
„Das hier ist keine Erinnerung.“, murmelte Janis.
Nein. Aber du verbirgst mehr vor dir selbst als nur Erinnerungen. Das hier, mein Schatz, ist dein tiefstes Geheimnis. Eine Gewissheit, die du für immer vergessen wolltest. Deine größte Lüge.
Janis hielt den Atem an. „Wovon … sprichst du?“
Von mir. Von dem, was du aus mir gemacht hast. Sieh mich an, Janis. Nur ein Spiegelbild. Das ist alles, was ich bin.
Janis spürte, dass ihm die Tränen kamen. „Das weiß ich längst, Mutter. Meine Erinnerung ist fehlerhaft. Nur ein blasses Abbild, nicht wirklich du. Deshalb hole ich dich zurück! Deshalb tue ich das alles! Weil keine Erinnerungen dich jemals ersetzen könnten! Weil nicht du in mir weiterlebst, sondern bloß eine billige Imitation!“
Kheelas Spiegelbild im Wasser schüttelte sanft den Kopf.
Und da irrst du, mein Schatz. Nicht die Kheela aus deiner Erinnerung ist fehlerhaft. Die echte Kheela ist es. Das Bild, das du aus deinen Erinnerungen geschaffen hast, ist keine unvollständige Kopie. Es ist eine Steigerung. Es ist die perfekte Kheela, die es niemals gab. Du hast mehr als ein Jahr auf mich gewartet. Du hast gebangt, und gehofft, und du wusstest, wenn ich nur zurückkäme, dann würde alles wieder gut werden. Aber ich kam nicht zurück. Und je mehr Zeit verstrich, desto mehr hast du dir unsere leuchtende Zukunft ausgemalt. Als klar wurde, dass ich nicht mehr kommen würde … was hättest du tun sollen, als mich so im Gedächtnis zu behalten, wie du mich behalten wolltest? Als deine perfekte Mutter. Du hast bereitwillig alles vergessen, was deine Erinnerung belastet hätte. Alle meine Schwächen. Alle meine Fehler. Alles, was mich zu einem Menschen gemacht hätte.
„Nein! Ich hätte dich nie absichtlich verfälscht!“
Absichtlich… Wer weiß das schon? Du hast es getan, ob absichtlich oder nicht. An wie viele Tage erinnerst du dich, an denen wir gestritten haben? An wie viele Tage, an denen ich die Geduld oder die Beherrschung verloren habe? An wie viele Tage, an denen du dich ungerecht behandelt fühltest? Wie viele schlechte Erinnerungen hast du an mich, Janis?
Die Kheela im Wasser ließ die Hand seines Spiegelbildes los, das Bild im Wasser wurde fortgespült, und Erinnerungen stiegen auf wie Luftblasen. Schreie, Tränen, Zorn und Trotz. Der Fluss brodelte.
Es sind tausende. Aber du hast sie hier versenkt, weil du sie nicht ertragen hast. Du hast nur das übrig behalten, was dein Bild von mir gereinigt hat. Die echte Kheela wird nicht mithalten können mit mir. Nicht du bist die Enttäuschung, sondern ich.
„Nein!“, schrie Janis. „Nein, Mutter! Ich habe negative Erinnerungen an dich! Ich spüre Wut auf dich! Wut, weil du deinen Sohn zurückgelassen hast, um Fremden zu helfen! Diese Wut habe ich nicht von mir gewiesen!“
Wut, ja. Aber sei ehrlich, Janis: Dass ich bereit bin, selbst für Fremde alles zu geben, dass ich selbst dann helfe, wenn ich es am wenigsten will – das ist nichts, was du als Schwäche betrachtest. Das ist es, wofür du mich so sehr bewunderst. Du hast nicht die Momente verdrängt, in denen ich anderen half, sondern die, in denen ich dich bevorzugt habe.
Andere Bilder schäumten im Fluss auf. Janis, der darum bettelte, nicht allein gelassen zu werden, während draußen Kreaturen wüteten und Stürme tobten. Und Kheela, die daheim blieb und ihren Sohn tröstete. Immer und immer wieder. Während nicht weit entfernt Menschen in Not auf eine Hüterin der Flusslande wartete, die ihnen nicht zu Hilfe kam.
Du willst eine Heldin zum Leben erwecken, aber du wirst einen Menschen erhalten. Du willst etwas zurückholen, das es nie gegeben hat, und dafür opferst du alles, was wirklich Bedeutung hat. Dies ist deine größte Lüge, Janis: Dass ich anders bin als du.
Benommen blinzelte Janis und versuchte zu verstehen, wieso er zu Nomions Füßen im Burghof lag. „Traurig.“, flüsterte eine hämische Stimme. „Alles, wofür du gekämpft hast, eine Lüge. All deine Opfer für jemanden, der nichts davon verdient.“
Hass erfüllte Janis. „Du kanntest sie nicht, Nomion! Sie hatte Fehler, natürlich hatte sie die. Vielleicht war sie nicht so perfekt, wie ich es dachte. Es besteht kein Zweifel, dass sie ein guter Mensch war, doch vielleicht gab es bessere. Aber weißt du was? Das spielt keine Rolle! Sie war meine Mutter. Sie war die einzige, die für mich da war! Sie war das einzige, was mir wichtig war. Und ich würde alles für sie tun! Ob sie es verdient hat oder nicht! Ob sie es wollen würde oder nicht! Einfach, weil sie es ist. Verstehst du das, Nomion? Kannst du das überhaupt verstehen?“
Janis stand langsam auf. Sein ganzer Körper war ein einziger blauer Fleck, doch der Schmerz verlor jede Bedeutung. „Und jetzt verschwinde aus meinem Kopf. Meine Geheimnisse gehören mir.“
Nomion trat tatsächlich einen Schritt zurück, ehe er sich fing. „Was erlaubst du dir, kleiner Verräter?“ Er schwenkte seinen Stab und grüne Flammen brachen rund um Janis aus dem Boden. „Du kannst mich nicht vertreiben, bevor ich es nicht will. Ich habe diesen Traum heraufbeschworen. Ich bin Nomion, der Hexer aus Krahd, erster der Krahder, Meister des Urtrolls, Träger der grünen Flamme! Und was bist du? Ein kleiner Junge, der Diener eines Dieners, allein inmitten einer Heimat, die er verrät.“
Janis hob das Kinn und erwiderte den Blick aus den gelben Augen. „Nein, Nomion. Du irrst dich. Ich bin nicht allein.“
Der Nebel des Traums schob sich über das grüne Feuer und erstickte es. Er spürte eine tröstende Präsenz, die ihn stützte und ihm frische Kraft schenkte. Ein schlanke Hand ganz aus Wasser legte sich auf seine Schulter.
„Das kann nicht sein!“, murmelte Nomion, Janis war sich nicht sicher, ob die Melodie von Empörung oder Zorn in der heiseren Stimme überwog.
„Das hier ist mein Kopf. Mein Traum. Meine Heimat.“, erwiderte Janis ruhig. „Hier kannst du mir nichts anhaben. Du hast bis heute nicht begriffen, was das bedeutet, oder? Heimat. Das ist kein Wort für einen Haufen Steine. Heimat, das sind alle, die mir wichtig sind. Alle, denen ich wichtig bin. Die Menschen, zu denen ich gehöre.“
Und aus dem Nebel formten sich weitere Gestalten. Sara winkte vom Kronenturm herab, sie hielt einen Bogen in der Hand und ihre Augen strahlten violett. Rodur öffnete die Tür zur Schmiede und lächelte ein verschwitztes Lächeln. Im Inneren hob Warguth grüßend seinen Hammer. Readem saß gemütlich im Kräutergarten des Siechenhauses und nickte Janis zu, neben ihm stand Sann, Hand in Hand mit ihrem verstorbenen Vater Daron. Orfen trat aus der großen Halle, gefolgt von Armond und Peta. Meister Kunar und Kommandantin Daroscha liefen über den Burghof, tief in irgendeine nichtige Streiterei vertieft. Barram folgte den beiden und warf Janis ein verlegenes Lächeln zu. Fenster und Türen wurden aufgeschlagen und von überallher strömten Menschen. In zwei Reihen liefen sie über den Burghof, die Listen der Lebenden und der Toten, und dann lösten sich die Reihen auf und alle liefen wild durcheinander. Fröhliche Stimmen schollen weit durch die Traumwelt. Und hoch über der Burg schwebte ein gütiges Gesicht, das sich aus den leeren Wolken gebildet hatte. Das Gesicht seiner Mutter.
„Das hier ist meine wahre Heimat, Nomion!“, rief Janis. „Hier kannst du mir nichts anhaben.“ Der Krahder stand reglos an seinem Platz inmitten des Gewimmels der Menschen, die den Riesen in ihrer Mitte nicht weiter beachteten. Sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn. Wieder fixierte Nomion seinen Verräter, kurz zwang ein ungeheurer Druck ihn in die Knie.
Die Menschen in der Burg erstarrten und wandten Janis ihre Gesichter zu. Er spürte ihre Kraft, ihr Vertrauen, ihre Liebe, und er nahm alles an und stemmte sich dem Hexer entgegen. Stumm maßen sie sich mit Blicken. Die Welt schmolz zusammen auf ein gelbes Augenpaar, alles andere verflüchtigte sich zu grauem Nebel und bedeutungslosen Schemen. Schließlich zerbrach der Zorn in Nomions Augen und wich der Fassungslosigkeit, ehe auch die gelben Augen sich auflösten und nichts zurückblieb als eine leere Traumwelt. Dann verschwand auch die.
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N - Was Heimat ist (Fortsetzung)

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:23

Janis schlug die Augen auf. Er hatte erwartet, wieder im Kronenturm zu liegen, doch stattdessen schwebte er hoch in der Luft; unter ihm ausgebreitet lag eine Ödnis aus Feuer und Stein. Ein Fluss aus Lava zog sich durch das Land, schneebedeckte Berge ragten am Horizont auf und zerfaserten halb in ein endloses graues Nichts. Direkt unter sich erblickte Janis einen riesigen schwarzen Baum, dessen tote Äste sich ihm spitz entgegenreckten. Normalerweise hatte Janis keine Angst vor Höhen, aber dieser Anblick ließ ihn schwindeln. Es ging hier ziemlich weit runter. Und er hing einfach mitten in der Luft.
Ein heiseres Flüstern riss ihn aus seinen Gedanken. „Was? Wie ist das möglich?!“ Eine Gestalt schwebte neben Janis, ein durchscheinender Schatten wie ein zerfetzter, fadenscheiniger Umhang. Aus dem verzerrten Schädel blickten ihn zwei bösartige gelbe Augen an, die er überall erkannt hätte. „Verschwinde von hier!“, zischte Nomion.
Und Janis begriff. „Das hier ist Krahd, oder?“, fragte er spöttisch. „Ich habe diesen Ort nie gesehen und kann schlecht davon träumen – aber das hier ist nicht mehr mein Traum, habe ich Recht? Es ist deiner.“ Janis setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf. „Nachdem du in meinem Kopf tun und lassen konntest, was du wolltest frage ich mich, was ich hier für … Unfug anstellen könnte.“
Und er spürte es. Er spürte die Macht, die er hier besaß. Diesmal war er der Eindringling. Der Spieß war umgedreht. Er konnte diesen Traum nach Belieben beenden oder in die Länge ziehen. Er konnte nach Geheimnissen wühlen und Schmerzen zufügen. Oh, diese berauschende Macht!
„Ich warne dich, Janis! Wage es nicht, mich zu provozieren! Hau einfach ab!“
Janis grinste abfällig. Das Gefühl der Macht raubte ihm jede Zurückhaltung. „Bitte! Was genau geschieht denn, wenn ich dich provoziere? Verbrenne ich dann in grünem Feuer? Werde ich aus deinem Kopf geworfen? Wenn du etwas davon könntest, dann hättest du es doch schon längst getan! Du magst ein großer Hexer sein, aber hier drinnen bist du nichts als ein machtloses Gespenst.“
Probehalber streckte Janis die Hand aus und berührte den Schatten.
Er sah eine kräftige Frau mit grauer Haut, die ihren Sohn schlägt, weil er schon wieder zu schwach gewesen ist. Andere Riesen, die den schmächtigen Jungen piesacken, der alles stumm erträgt, während in ihm ein tiefer Wunsch heranwächst. Langsam und geduldig, aber umso zerstörerischer. Der Wunsch, besser als die anderen zu sein. Der Wunsch, zu den Göttern seines Volkes zu gehören. Der Wunsch nach Unsterblichkeit.
Er sah einen jungen Riesen, der an Wildtieren und Kreaturen experimentiert, der ihnen Kräuter einflößt und mit präzisen Schnitten mitleidlos ihre Haut aufschneidet, der schließlich beginnt, in den Geist seiner Opfer einzudringen, ihre Gedanken zu verdrehen und ihre Körper zu beherrschen. Erst nur von vernunftlosem Getier. Dann von anderen Riesen. Zuletzt von einem Wesen, alt wie das Gebirge, unter dem es schläft. Ein Gigant aus vergangenen Äonen. Der Urvater aller Trolle.
Und Janis sah das Abbild eines schwarzen Drachen, gefolgt von einem Sturm aus Feuer, in dem die Welt vergeht. In dem Nomions Körper zu Asche verbrennt, während sein Geist verbleibt, eingesperrt in eine Welt, in der es keine Farben mehr gibt, keine Gerüche, keine Temperatur, angetrieben nur von seinem alten Verlangen, dessen Erfüllung aussichtsloser scheint als je zuvor: Unsterblichkeit! Er hat lange Jahre intrigiert und geforscht. Hat mit aller Macht nach ihr gestrebt. Erst in Form einer Quelle, aus der Blut fließt. Dann in Form eines schwarzen Baumes, der tote Gebeine auferstehen lässt. Dieser Baum ist es, an den er seine elendige Existenz kettet. In den er all seine Hoffnungen setzt. Er vertraut seinen Schülern die Asche an, sie in einem Tempel zu bewahren, bis der Tag kommt, an dem ihr Wissen groß genug ist, ihn ins Leben zurückzuholen. Doch der Tag kommt nicht und die Jahrhunderte vergehen, angefüllt mit nichts als dumpfen Geräuschen ohne jede Schönheit und grauen Bildern eines einsamen Turmes. Bis ein Geist mit schwarzer Maske ihn aufsucht und ein Bündnis anbietet. Bis der Rote Hahn das Land Krahd verschlingt, und damit auch den Schwarzen Baum und den letzten Anker, den Nomions Geist in dieser Welt hatte. Bis der Krahder die Augen aufschlägt in einem unterirdischen Saal und spürt, wieder am Leben zu sein.
Die Erinnerungen verblassten. „Das wirst du bereuen!“, zischte Nomions Geist. „Ich werde dem Schwarzen Herold berichten, wer deine Mutter war! Ich werde …“
Die Gestalt Nomions flackerte. Kurz sah Janis anstatt des schemenhaften Geistes wieder Nomions eigentlichen Körper vor sich schweben, eine tiefe Wunde klaffte in seinem Bein und Blut lief schwarz über die graue Haut. Das Bild verschwand so plötzlich, wie es gekommen war.
„Das war ich nicht.“, meinte Janis verdutzt.
„Ich wurde verletzt!“, zischte Nomion, eher überrascht als zornig. „Da draußen.“ Hektisch sah er sich um, musterte die entfernten grauen Nebelwände der Traumwelt. „Lass mich sofort gehen! Beende diesen Traum! Das hier ist deine letzte Chance, deine Dreistigkeit wiedergutzumachen.“
„Warum musst du das von mir fordern, Nomion? Du hast doch gesehen, wie ich mich von dir befreit habe. Warum tust du nicht das gleiche?“ Janis breitete seine Arme aus und deutete wahllos irgendwo in die Ödnis unter sich. „Hole dir Hilfe von denen, die aus diesem Ort eine Heimat machen. Beschwöre aus deiner Erinnerung die Krahder, die dir wichtig sind. Oder kannst du es nicht? Weißt du nicht, wie es ist, für einen anderen da zu sein? Alles zu tun für ihn? Alles zu geben?“
„Ich bin gestorben für mein Volk!“, heulte Nomion wütend.
„Du wurdest überrascht, fern der Schlacht, wo du dich in Sicherheit wähntest.“, erwiderte Janis verächtlich. „Alles, was du jemals wolltest, waren Macht und Unsterblichkeit, alle anderen waren dir gleichgültig.“
„Ich habe Macht. Ich habe Unsterblichkeit. Der Schwarze Herold gibt mir all das. Denkst du, ich bin zufrieden? Ich gehorche einem Geist, der nichts wäre ohne mein Wissen und die Macht, die er meinem Volk gestohlen hat! Ich arbeite zusammen mit dem Drachen, der mich ermordete! Und ich nehme das alles in Kauf, um mein Volk zu retten! Ist das Gleichgültigkeit?“
„Dann beweise es mir.“, flüsterte Janis. „Am Ende ist ein Volk auch nur eine Ansammlung von Einzelnen. Wenn dir dein Volk so wichtig ist, dann sollte es dir nicht schwer fallen, wenigstens einen davon hier zu beschwören, richtig? Wenn ein erbärmlicher Menschenjunge es geschafft hat, welche Herausforderung ist es dann für den großen Hexer Nomion?“
Nomion zitterte vor Zorn. Vage Umrisse von Riesen entstanden und lösten sich sofort wieder auf, ehe sie ein Gesicht erhalten konnten.
„Das dachte ich mir.“, sagte Janis, nachdem er sich die vergeblichen Versuche eine Weile angesehen hatte. „Da ist niemand. Niemand, der dir wichtig wäre. Niemand, dem du jemals wichtig gewesen wärst. Niemand, der zu dir gehört. Alles, was du je getan hast, hast du für dich selbst getan. Du bist wahrlich allein.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich dich verachten oder bemitleiden soll. Nach all den Jahrhunderten, die du in einem Turm im Grauen Gebirge verbracht hast, fern von allem, was Bedeutung hat, gefangen in der Schattenwelt, hast du noch immer nicht verstanden, was Heimat ist.“
Wieder flackerte Nomions Körper auf, klaffende Verletzungen überzogen seine Beine und das schwarze Blut floss in Strömen.
„Wenn ich den Ewigen Rat wirklich hintergangen hätte, dann bräuchte ich jetzt nur zu warten, bis nichts mehr von dir übrig ist. Bis du so schwer verletzt bist, dass du für den Ewigen Rat nicht mehr von Nutzen bist. Doch das werde ich nicht tun. Ich könnte es nicht. Weil an Verrat an dir auch ein Verrat an Kheela wäre.“ Irgendwie meinte Janis seine Worte ernst, obwohl sie eine Lüge waren. „Ich werde dich nicht zugrunde gehen lassen, solange du für Kheelas Rückkehr von Nutzen bist. Und du bist noch nützlich, nicht wahr? Du wirst doch niemandem verraten, wer meine Mutter war?“
Janis spürte Nomions Wut, doch der Geist nickte widerstrebend.
„Geh jetzt, Nomion! Rette dich! Und wenn du das nächste Mal angreifst, stelle sicher, dass du gewinnst.“

Als Janis diesmal die Augen aufschlug, lag er wirklich im Kronenturm. Er war endlich erwacht. Mühsam rappelte er sich auf und spähte über die Zinnen.
Sechsfingers Söldner waren noch immer in den Kampf mit Nomions Wachen verstrickt, doch der Hexer war von anderen Gegnern umringt, die mit aller Kraft auf seine Beine einhackten und zugleich einen Fallstrick um seine Füße wickelten. Schildzwerge, etwa ein Dutzend, koordiniert von einem dunkelhaarigen Zwerg. Kommandant Mart und seine Späher.
Nomion öffnete die gelben Augen und verzerrte das Gesicht. Er stieß seinen Stab in die Luft und schrie heiser Worte in seiner düsteren Sprache. Eine grüne Stichflamme schoss mindestens zehn Schritt aus dem nackten Fels empor. Die Zwerge, die ihn direkt umringten, wurden weggeschleudert und regten sich nicht mehr. Sein Zelt fing Feuer und knickte ein. Einzig Nomion schienen die grünen Flammen nichts anhaben zu können. Doch er wankte und wäre ohne seinen Knochenstab wohl umgekippt. Ob es die Erschöpfung des letzten Zaubers war oder die Wunden, die die Zwerge ihm zugefügt hatten, vermochte Janis nicht zu sagen. Über das Schlachtfeld hinweg kreuzten sich sein und Nomions Blick und der Hexer nickte unmerklich. Janis sah, wie sich seine Lippen bewegten. Ein letztes Mal flammte das Feuer hoch auf, hüllte den Krahder vollständig ein, dann erlosch es schlagartig. Von Nomion war nichts mehr zu sehen.
Die Kreaturen in der Burg hielten inne. Sie standen kurz vorm Sieg, doch sie waren ihres Heerführers beraubt und Verwirrung machte sich breit. Janis sah einen Troll, der kichernd mit seiner Keule auf die Kreaturen einhieb, an deren Seite er eben noch gekämpft hatte. Einige Gors, die auf erbitterten Widerstand stießen, machten sich keifend aus dem Staub. Die Feinde vor den Mauern wurden in kürzester Zeit von Sechsfinger in die Flucht getrieben, und ohne den Nachschub von außen gelang es den Verteidigern bald, auch der eingedrungenen Kreaturen Herr zu werden. Nur die Fluggors kreisten noch eine Weile um die Burg, ehe sie abdrehten.
Die Schlacht um die Rietburg war gewonnen.


Später Vormittag, 24. Wintertag 77 A.Z.
Burghof der Rietburg, Andor

Sadam, der Aufsteiger, zog an der Spitze seines eigenen Triumphzugs in die Rietburg ein. Ein Dutzend Ochsenkarren fuhr der Reihe nach durch das zerstörte Tor, vollgeladen mit Vorräten und von Söldnern flankiert. Er musste irgendwo in der Nähe gewartet haben, um im Falle eines Sieges schnell den Ruhm ernten zu können.
Und Ruhm erntete er. Die Schutzsuchenden waren aus dem Keller gekommen und nahmen gierig die Vorräte entgegen, die ihnen die Söldner anreichten. Sie schenkten Sadam bewundernde Blicke und gelegentliche Hochrufe. Er saß auf dem vordersten Wagen, nickte huldvoll und hatte ein gewinnendes Lächeln aufgesetzt, das seinen madenähnlichen Oberlippenbart unvorteilhaft zur Geltung brachte. Bei ihm auf dem Wagen saß eine schlanke Frau mit einem Jungen von vielleicht zehn oder elf Sommern und natürlich Sechsfinger, der den stechenden Blick seiner zweifarbigen Augen über die Menge schweifen ließ.
Janis wusste, dass er im Siechenhaus benötigt wurde, die vergangene Schlacht war blutiger als jede zuvor. Doch zunächst wühlte er sich zu Meister Kunar vor, den er vor der großen Halle erspäht hatte.
„Wenn Sadam sich jetzt entschließt, die Burg von seinen Söldnern einnehmen zu lassen, dann könnten wir ihm nichts entgegensetzen.“, seufzte der Bewahrer anstatt einer Begrüßung.
Janis runzelte die Stirn und betrachtete die freudigen Menschen im Burghof. Leise antwortete er: „Und wahrscheinlich würden die Andori ihn sogar unterstützen. Viele haben genug davon, sich von Bewahrern und Schildzwergen regieren zu lassen. Sadam hat sie alle gerettet, und er gibt sich große Mühe, sie das wissen zu lassen.“
Kunar nickte bedrückt. „Was willst du, Sajin?“
„Eigentlich bin gekommen, um Euch vor Sadam zu warnen. Er ist charmant, er versorgt uns mit neuen Vorräten und ja, er hat uns gerettet. Aber er ist auch gerissen und weiß genau, was er will. Doch mir scheint, Ihr seid Euch dessen bewusst.“
„In der Tat.“ Kunar seufzte. „Du kennst ihn von allen hier am besten, Sajin. Bleib kurz hier, während ich ihn in Empfang nehme.“
Der Karren machte rumpelnd vor ihnen Halt und Sadam stieg herab. Er bedachte Janis mit einem eindringlichen Blick und wandte sich dann an Kunar: „Seid gegrüßt! Mein Name ist Sadam, wie Ihr Euch vermutlich gedacht habt. Meine Söldner haben diese Burg aus den Klauen der Kreaturen befreit. Jetzt möchte ich mit dem amtierenden Befehlshaber sprechen. Dieser Botschaft, die mir die Zwerge gebracht haben“, er zog ein eingerolltes Pergament aus seinem Wams, „entnehme ich, dass das eine gewisse Kommandantin Daroscha ist. Wo ist sie?“
„Tot. Ich trage hier die Verantwortung.“, antwortete Kunar. Janis erstarrte. Tot. Es war unmöglich zu sagen, was in dem Bewahrer vorging. Seine Miene war ruhig, doch Janis fiel auf, wie ungewöhnlich still er war.
„Ich verstehe.“, antwortete Sadam ungerührt. „In diesem Fall seid Ihr es, für den ich zwei Geschenke bringe. Das erste sind die Vorräte, die in diesem Moment die Bäuche Eurer Leute und bald auch Eure Speicher füllen. Das zweite habe ich hier.“
Sadam gab einen Wink und Sechsfinger sprang aus dem Karren. Die beiden Bewahrer hinter Kunar versteiften sich, doch Sechsfinger warf nur einen großen Sack vor Kunars Füße und regte sich dann nicht mehr, nur die beiden Klingen an seiner rechten Hand schnappten unregelmäßig auf und zu. Aus dem Sack drang ein gedämpftes Stöhnen.
„Bei der Mutter! Wen habt Ihr da drinnen?“, entfuhr es Kunar.
„Im Gegensatz zu Euren zwergischen Spähern waren meine Söldner erfolgreich darin, die Quelle der feindlichen Vorräte aufzuspüren. Darf ich vorstellen:“ Sadam zog einen Dolch und schnitt den Sack auf. Aus dem Inneren starrte ihnen das hagere Gesicht einer alten Frau mit grauen Locken entgegen, die dunklen Augen waren hasserfüllt und ein Knebel hinderte sie am Sprechen. „Kara, Großbäuerin Andors und Dienerin des Ewigen Rates. Sie hat ihre Abgaben vergiftet, ihr Vieh an die Armee des Feindes geliefert, und ich fürchte, nachdem all ihre Ställe leer waren, wurde auch der ein oder andere Knecht als Nahrung verkauft.“
Kunar starrte die Alte an, ein harter Glanz trat in seine Augen. „Lasst sie sprechen.“, befahl er grimmig.
Sechsfinger löste den Knebel und Kara … lächelte. „Spar dir diesen Blick, Bewahrer! Ja, ich gestehe. Ich habe dieses Land verraten, ich habe dem Feind geholfen, ich habe euch vergiftetes Brot geliefert, ich habe meine Leute verkauft. Und, was wirst du jetzt tun?“
Kunar ballte die Fäuste. „Wie viel hast du für einen deiner Knechte bekommen? Wie viel Gold war dir deine Heimat wert?“
Kara lachte bitter. „Gold? Du Narr! Welchen Wert hat Gold für eine Frau, die jeden Winter der Husten dahinraffen kann? Sieh mich an. Ich spüre das Alter in jedem Knochen. Mein ganzes Leben habe ich Reichtum und Macht angesammelt, aber nichts davon konnte mich vor dem Zahn der Zeit beschützen. In wenigen Jahren hätten alle meine Erfolge jeden Sinn verloren. Der Ewige Rat gibt mehr als Gold. Er gibt mir Unsterblichkeit!“
Kunars Lippen kräuselten sich vor Abscheu. „Genug! Knebelt sie wieder. In spätestens zwei Stunden habt ihr sie aufgeknüpft.“ Er winkte Sadam zu sich und gemeinsam traten die beiden in den Thronsaal.
„Hahaha! Aufgeknüpft!“, rief Kara ihnen hämisch hinterher. „Ihr habt noch nicht verstanden, wie sinnlos eure Strafen geworden sind. Tötet mich, wenn ihr wollt! Und sobald der Ewige Rat gewonnen hat, werde ich wiederkehren. Wenn eure Knochen zu Staub zerfallen und sich niemand mehr an eure Namen erinnert, werde ich noch immer lebe … hrm … hmmmpf!“
Janis sah noch zu, wie Sechsfinger ihre Rufe mit seinem Knebel beendete. Dann machte er sich auf den Weg ins Siechenhaus.


Später Nachmittag, 24. Wintertag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

Bedauernd betrachtete Janis den nackten Zwerg vor sich im Bett. Von allen Spähern hatte nur Kommandant Mart die Stichflamme Nomions überlebt, weil er ein paar Schritte abseits gestanden hatte, und auch er hatte nicht mehr lange zu leben. Schwere Brandwunden überzogen seine komplette Vorderseite, sein Gesicht war entstellt, von dem schwarzen Bart nichts mehr übrig. Außerdem hatte er ein paar gebrochene Rippen vom Aufprall. Von jedem gequälten Atemzug erwartete Janis, dass es sein letzter wäre, doch bislang war Mart zu stur zum Sterben. Aufgewacht war er aber auch nicht.
Ihre Vorräte an Heilkräutern waren praktisch leer und jetzt im Winter hatten sie auch kaum Möglichkeiten, noch Nachschub zu sammeln, doch aus ein paar getrocknete Lindenblüten und etwas Öl vom Küstenlavendel hatte Janis eine behelfsmäßige Brandsalbe improvisiert, die er jetzt behutsam auf den Wunden verteilte.
Ein schmerzerfülltes Stöhnen schreckte ihn auf. Mart hatte die Augen aufgeschlagen, sein Blick irrte fiebrig umher, bis er an seinen Sachen hängenblieb, die auf einem Haufen neben dem Bett lagen.
„Aachch … Chcha … ärrr!“
„Pscht, beruhigt Euch, Kommandant.“ Mart riss die Augen auf und hob den Arm. „Nein, bewegt Euch nicht!“ Der Zwerg ignorierte ihn und deutete zitternd auf den Gürtel, den er getragen hatte. Die Bewegung musste ihm höllische Schmerzen bereiten. „Ngaaaaach Chaarrrärng!“, stöhnte er fordernd und ließ den Arm fallen.
„Schon gut!“ Janis eilte zum Gürtel und nahm eine schwere Ledertasche mit Eisenverkleidungen ab. Was auch immer darin war, schien äußerst wichtig zu sein, vermutlich war es Mart darum gegangen. „Hier habt Ihr …“ Janis stockte. Kommandant Mart lag still in seinem Bett, den leeren Blick noch immer auf den Ort gerichtet, an dem die Tasche gelegen hatte, und atmete nicht mehr.
Janis ließ sich neben das Bett sinken und sah nach, worauf Mart mit seinen letzten Worten hingewiesen hatte. Der Verschluss war beschädigt und die Tasche ließ sich problemlos öffnen.
Im Inneren lag ein goldener Reif, gewelltes Rietgras, das zu Metall erstarrt war. Dem Gewicht nach war er aus purem Gold. In der Tasche hatte er die Begegnung mit Nomion weitestgehend unbeschadet überstanden, nur eine der 24 spitzen Zacken war verbogen. Janis wusste, was er vor sich hatte. Die Rietgraskrone. Die Krone Andors. Wie war ein zwergischer Kommandant darangekommen? Spielt das wirklich eine Rolle?
Diese Krone war … wichtig. Nicht nur als Symbol. Der Ewige Rat suchte danach. Kommandant Mart trug sie bei sich. Weshalb? „Was wolltet Ihr mir sagen, Kommandant?“, flüsterte Janis. „Ngach Charärn? Soll das Nach Cavern heißen? Soll sie dorthin gebracht werden? Was wolltet Ihr hier damit?“
Er hat wohl irgendeine Wunderwaffe gegen diesen Schwarzen Herold dabei. Das konnte nicht sein, oder? Was sollte ein Stück Gold gegen einen Geist ausrichten können? Andererseits … warum sonst schleppte man eine fremde Krone auf ein Schlachtfeld?
„Es tut mir leid, Kommandant. Aber ich kann Euren letzten Wunsch nicht erfüllen. Nicht, wenn das meine Mutter gefährden könnte.“ Er verstaute die Krone wieder in der Tasche und vergrub diese in einem Eimer mit schmutzigen Verbände, den er mit sich nahm. Normalerweise waren die freiwilligen Helfer dafür zuständig, die Abfälle zu entsorgen, aber im allgemeinen Chaos heute würde er nicht auffallen. Mit dem Eimer in der Hand passierte er die Vorhänge um Marts Bett und legte ein schwarzes Band über die Stange, um den Helfern anzuzeigen, dass sie das Bett freiräumen konnten.
„Noch einer also.“ Readem schlurfte auf Janis zu und schüttelte bedächtig den Kopf. „Heute gehen viele Seelen zur Mutter.“
„Und noch mehr verlassen diese Burg aus freien Stücken.“, antwortete Janis. Jeder, der nicht bei der Verteidigung der Burg helfen konnte, wurde auf die umliegenden Höfe verteilt. Solange der Ewige Rat sich nur auf die Rietburg konzentrierte, waren sie dort sicherer. Noch heute Abend sollten sie verschwinden, bevor Nomion und seine Armee zurückkehrten. Denn sie würden zurückkehren, daran zweifelte niemand. Das Ewige Feuer vor der Rietburg brannte noch immer violett. „Darunter viele Verletzte. Sie werden einen Heiler brauchen. Ihr solltet mit ihnen gehen.“
Readem schüttelte nur den Kopf. „Damit du im Siechenhaus das Sagen hast?“, kicherte er. Dann wurde er ernst. „Nein, Sajin. Ich bin zu alt, um noch irgendwohin zu gehen. Ich bleibe hier bis zum Schluss. Du könntest gehen, du bist noch jung. Aber ich weiß, dass du das nicht tun wirst.“
Der alte Heiler lächelte mild. „Geh zum Anbau.“, sagte er schließlich. „Sadam erwartet dich dort.“
„Was will er?“
„Dich sprechen. Auf jetzt!“

Vor der Tür zum Anbau stand Sadam und sprach leise mit Sann. „… mir leid, Kleine.“, hörte Janis ihn sagen, als er näher kam. „Dein Papa hat mich nicht kontaktiert. Aber wenn er da draußen wirklich einen Geheimauftrag erledigt, dann ist das naheliegend, oder?“
„Ihr Vater …“, begann Janis. Sadam hob den Blick und nickte wissend, und Janis verstummte.
„Wie heißt du?“ Hinter Sadam trat ein Kind hervor; der Junge, der vorhin im Wagen des Aufsteigers gesessen hatte. Er hatte braunes Haar und eindringliche blaue Augen, in denen ein ungewöhnlicher Ernst lag.
„Lisanne. Aber alle nennen mich Sann.“, antwortete Sann schüchtern.
Der Junge sah sie lange an. „Und wie willst du genannt werden?“
Sann öffnete den Mund und schien auf halbem Weg zu vergessen, was sie sagen wollte.
„Dann werde ich dich Lisanne nennen.“, beschloss der Junge und streckte die Hand aus. „Hallo Lisanne. Ich bin Brandur.“
„Wie der König?“, quietschte Sann. Dann erinnerte sie sich an ihre Manieren – von denen Janis bisher nicht gewusst hatte, dass sie existierten – und schüttelte dem kleinen Brandur die Hand.
„Ja. Wie der König.“ Er lächelte schwach. „Lisanne, ich weiß nicht, wo dein Vater ist. Wahrscheinlich gibt es keinen Lebenden, der es weiß. Aber ich weiß, wie du ihn zu dir holen kannst.“
Brandur zog eine kleine Metalldose mit Goldverzierungen aus seiner Tasche und drehte an einer Kurbel. Eine dünne metallische Melodie erklang, voller Sehnsucht und Hoffnung. Kurz schienen alle anderen bedrückenden Geräusche im Siechenhaus in den Hintergrund zu treten.
„Das hier haben die Schildzwerge gebaut. Viele Zwerge kommen nicht aus den Arbeiten in ihren dunklen Schächten zurück. Die Zwerge spielen dieses Lied auf ihren Flöten, wenn sie auf die Verschwundenen warten. Es heißt, jedes Mal, wenn diese Melodie erklingt, findet irgendwo auf der Welt eine verlorene Seele ihren Weg. Auch ich habe einmal gewartet. Ich weiß nicht worauf. Aber dann hat er mir diese Melodie geschenkt.“ Brandur deutete auf Sadam. „Und jetzt warte ich nicht mehr.“
Er drückte Sann die Dose in die Hand. Was Sadam davon hielt, dass sein Geschenk so freimütig weggegeben wurde, konnte Janis ihm nicht ansehen. „Hier. Ich schenke sie dir. Schließ die Augen und spiel.“
Zögernd folgte Sann den Anweisungen. Erneut erklang die Melodie. „Und jetzt denk an deinen Vater.“, flüsterte Brandur. „Kannst du ihn vor dir sehen? Schau genau hin, Lisanne! Siehst du das Blitzen in seinen Augen, weil auch er sich freut, dich zu sehen? Kannst du aus den Tönen aus Metall auch den Klang seines Atems heraushören?“ Sann nickte langsam. Tränen liefen über ihre Wange. „Gut! Jetzt, in diesem Moment, ist dein Vater bei dir.“
Hinter Sadam trat lautlos eine Frau aus dem Anbau. Janis stockte der Atem. Es war Kheela. Sie lächelte ihn traurig an und hob ihre Hand, wie als Begrüßung und als Abschied zugleich. Dann verschwand sie zusammen mit dem Klang der Spieluhr. Sann hatte aufgehört, die Kurbel zu drehen.
„Ich will, dass du immer, wenn du wartest, immer, wenn du einsam bist, deine Augen schließt und diese Melodie spielst. Dann wird dein Vater bei dir sein. Und eines Tages, wenn du nicht mehr an der Kurbel zu drehen brauchst, um die Melodie zu hören, wenn dein Warten ein Ende gefunden hat, dann möchte ich, dass du diese Spieluhr einem anderen gibst. Einem, der noch wartet. Das ist sehr wichtig. Kannst du das für mich tun?“
Sann schlug die Augen auf und nickte entschlossen. Brandur lächelte. „Sehr gut! Und jetzt brauche ich deine Hilfe. Ich habe oft von der Rietburg gehört, aber ich bin zum ersten Mal hier. Ich will alles sehen! Ich will mit allen Leuten sprechen! Kannst du mich herumführen?“
„Ja!“, rief Sann aufgeregt, dann hielt sie inne und sah zu Janis auf. „Wenn ich nicht gebraucht werde?“
„Geh nur!“, meinte Janis. Er und Readem ließen Sann ohnehin vor allem mithelfen, um sie zu beschäftigen.
„Jaa!“ Sann lief sofort los, aber blieb stehen, als ihr auffiel, dass sie nicht begleitet wurde. „Kommst du, Brandur?“ Janis musste lächeln. Seit Darons Tod hatte sie niemanden mehr beim Namen genannt.
„Warte, Lisanne!“, meinte Brandur. Er richtete seinen ernsten Blick auf Janis. „Ich will mit allen sprechen. Auch mit ihm.“
Janis erwiderte den Blick dieser intensiven blauen Augen, bis er es nicht mehr ertrug und wegblicken musste. „Auch du hast etwas verloren.“, hörte er Brandur sagen. „Etwas, was ich dir nicht geben kann. Aber du weißt, wo du danach zu suchen hast.“ Brandur griff nach seiner Hand und drückte sie. „Du solltest aufpassen. Wenn man den Blick immer auf den Boden richtet, um das Verlorene zu finden, dann entgeht einem alles Schöne, das um einen her geschieht. Du hast viel verloren, doch du hast auch viel gewonnen. Vergiss das nicht.“ Ohne ein weiteres Wort zog Brandur mit Sann los und ließ Janis sprachlos zurück.
Eine Weile standen er und Sadam schweigend nebeneinander und blickten den beiden nach. „Wie alt ist er?“, fragte Janis schließlich.
„Zehn. Wobei er mich jetzt finster anschauen würde, um mich mit den Worten Fast elf! zu korrigieren. Auch wenn noch ein halbes Jahr fehlt.“
„Nur zwei Sommer älter als Sann. Man würde es nicht meinen.“, flüsterte Janis kopfschüttelnd, mehr zu sich selbst als zu Sadam.
„Er ist etwas Besonderes. In mehr als nur einer Hinsicht.“, bestätigte der Aufsteiger. „Aber genug davon. Lass uns weiterreden, wenn wir ungestört sind.“ Er ging in den Anbau, setzte sich auf Janis´ Bett und wartete, bis Janis die Tür geschlossen, den Eimer in eine Ecke gestellt und sich zu ihm gesetzt hatte.
„Ich nehme an, du ahnst schon, worüber ich mit dir sprechen will.“ Langsam zog Sadam ein eingerolltes Pergament hervor. „Deine Botschaft … Lass diesen Gesichtsausdruck! Diese Kommandantin Daroscha mag unterzeichnet haben, aber ich weiß, dass die Worte von dir stammen. Deine Botschaft hat mich ziemlich wütend gemacht. Wütend auf dich, weil du wirklich glaubst, mir drohen zu können. Zumal ich nichts Unrechtes geplant habe, sondern im Gegenteil sogar dem Recht zur Durchsetzung verholfen hätte. Aber vor allem wütend auf mich, weil ich so naiv war, anzunehmen, ich hätte alle Spuren beseitigt. Also, woher weißt du es?“
Janis erwiderte mit unbewegtem Gesicht Sadams Blick und versuchte, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Er hatte erwartet, dass Sadam ihn fragen würde, was Janis mit seinen Andeutungen gemeint hatte. Nicht damit, dass der Aufsteiger das bereits zu wissen glaubte.
„Ihr hättet Euch nicht derart mit dem Statthalter angelegt, wenn Ihr nicht noch einen Plan in der Hinterhand gehabt hättet.“, begann Janis vorsichtig, während er überlegte, wie er diese Situation nutzen konnte. „Aber seid unbesorgt, niemand sonst weiß etwas. Und ich bin sicher, Ihr könnt mir genug bieten, damit das so bleibt.“
Sadam kniff die Augen zusammen. „Oh nein. So nicht, Janis!“ Janis schnappte nach Luft. „Was? Erstaunt, dass ich deinen Namen kenne? Hast du wirklich geglaubt, für einen Mann mit meinen Möglichkeiten wäre deine Herkunft schwer herauszufinden?“ Sadam lächelte kalt. „Weshalb der neue Name?“
„Zu viele Erinnerungen.“
Sadam nickte nachdenklich. „Also, Janis: Du sagst mir, wie du es herausgefunden hast, dann vergesse ich deinen alten Namen und alles, was dazugehört. Einverstanden?“
Janis verschränkte die Arme. „Nein. Ihr müsst mehr für mich tun. Ich will, dass Ihr Menschen die Möglichkeit gebt, von hier zu verschwinden. Irgendwohin, wo sie sicher sind. Gebt Ihnen Essen, lasst Eure Söldner sie beschützen.“
„Über wie viele sprechen wir?“
Kurz ging Janis die Liste derjenigen durch, die beim Fall der Rietburg sterben würden. Es waren auch Rekruten darunter, oder andere, die hierbleiben mussten. So sehr Meister Kunar auch wollte, dass die Schutzsuchenden die Burg verließen – wer einen Beitrag zur Verteidigung leisten konnte, durfte nicht einfach so gehen. Wie viele würden die Möglichkeit nutzen, sich abzusetzen? Wie vielen konnte Sadam diese Möglichkeit überhaupt geben? „Etwa dreißig.“
Sadam prustete los. „Du überschätzt meine Möglichkeiten, Janis. Wofür hältst du mich? Meine großen Felder werden mir in wenigen Monden weggenommen. Alle meine Vorräte inklusive Vieh und Saatgut habe ich euch geschenkt, damit ihr euch vollfressen könnt. Mein gesamtes Vermögen ging für Sechsfinger drauf. Oh, und der verlässt mich heute Abend, denn seine Dienste reichten bis zum Ende der Belagerung, und die ist unzweifelhaft zu Ende, selbst wenn die Armee morgen zurückkommt. Ich bin praktisch mittellos. Was bleibt mir noch? Meine große Beliebtheit, aber Ruhm ist flüchtig. Eine Verlobung mit Prinzessin Chada, von der sie selbst noch nichts weiß. Und eine kleine Information, die mir nicht die Krone, aber doch die Macht sichern könnte. Wenn Chada freiwillig abdankt und ich meinen Einfluss ausbauen kann.“
Janis´ Gedanken rasten. Er ahnte jetzt, um welche Information es sich handelte. Der Aufsteiger musste einen Beweis haben, dass Chada doch nicht Brandurs Tochter war. Vielleicht hatte er ihren wahren Vater ermittelt. Damit wäre die Königsfamilie ohne Nachkommen ausgelöscht und die Thronfolge ungeklärt. Und dann schwang er sich zum großen Retter Andors auf, befreite mit seinen Söldnern die Rietburg und versorgte sie mit frischem Essen. Mit seiner aktuellen Beliebtheit wäre es ihm durchaus möglich, die Bestimmung des nächsten Königs entscheidend zu beeinflussen. Auch wenn Janis annahm, dass Chada trotzdem gute Chancen hätte.
„Ich kann mit Meister Kunar reden und ihn hoffentlich davon überzeugen, einen oder zwei gehen zu lassen. Wenn du dein Wissen geheim hältst und mir sagst, wie du es erlangt hast.“
Janis schlug ohne zu zögern ein. Er konnte zwei Leben retten – er musste sich noch überlegen, welche – und musste dafür nur eine Information zurückhalten, die er eigentlich gar nicht besaß, und sich eine überzeugende Quelle ausdenken. „Ich werde schweigen. Und mein Wissen ist eigentlich mehr ein naheliegender Verdacht. Die Thronfolge war für meinen Geschmack deutlich zu schnell geklärt.“
Sadam betrachtete ihn berechnend. „Naheliegend?“ Er schien nicht überzeugt. „Dann will ich hoffen, dass niemand anderes es so naheliegend findet. Zumindest solange die Möglichkeit besteht, dass ich die Krone durch Heirat erlange.“
Also würde er sein Wissen genau dann nutzen, wenn Chada ablehnte. Nun, so etwas war absehbar gewesen. „Ihr hättet Euren Sohn und Eure Geliebte nicht mitbringen sollen. So etwas macht sich nicht gut, wenn man eine andere heiraten will.“
Sadam starrte ihn dermaßen perplex an, dass Janis schon wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte, noch bevor er ausgeredet hatte. „Mein … Sohn?!“, fragte Sadam entgeistert. „Wovon redest du? Was denkst du, worüber wir gerade gesprochen haben?!“
Janis scheiterte bei dem Versuch, sich eine passable Ausrede einfallen zu lassen, und schwieg lieber.
„Du hast keine Ahnung, habe ich recht? Du … du weißt gar nichts! Du glaubst, Brandur sei mein Sohn, und seine Mutter meine Geliebte?“ Der Aufsteiger lachte bitter, sein madenähnlicher Bart zuckte. „Ich verstehe. Du hast einfach nur gut geraten, und jetzt versucht, mitzuspielen. Ich fürchte, unsere Abmachung ist damit hinfällig.“ Sadam stand auf und ging zur Tür.
„Wartet!“, rief Janis. Er begriff endlich, was sich abspielte. Wenn er recht hatte, dann besaß Sadam deutlich mehr als nur einen Weg, um Chadas Thronbesteigung zu verlangsamen. „Es stimmt. Bis gerade eben wusste ich es nicht. Doch jetzt habt Ihr mir zu viel verraten.“ Janis lächelte. „Ich dachte, es ginge darum, dass Chada nicht die Tochter König Brandurs ist, aber Ihr habt etwas Besseres. Ihr lasst den kleinen Brandur auf Eurem Wagen reiten und schenkt ihm teure Spieluhren. Ich dachte wirklich, Ihr würdet ihn lieben. Aber in Wahrheit ist er nur Euer Weg zur Macht.“
Sadam erstarrte. Ein Anflug von Zorn huschte über sein Gesicht, gefolgt von Bedauern. „Ich glaube nicht, dass es möglich ist, diesen Jungen nicht zu lieben.“, murmelte er. „Doch ich muss zugeben, dass das nicht der Grund ist.“
„Weiß er es?“, fragte Janis. „Weiß er, wer er ist?“
Sadam schüttelte den Kopf. „Nur ich und seine Mutter. Und du. Ich bin erst letztes Jahr auf ihn gestoßen.“ Er lächelte gequält. „Brandur, der Zweite. Sohn von König Thorald, rechtmäßiger Träger der Rietgraskrone.“
Kurz huschte Janis´ Blick zum Eimer in der Ecke. „Er ist nur ein unehelicher Sohn, nehme ich an?“
„Sicher. So wie Chada nur eine uneheliche Tochter ist. Und ich habe das gründlich überprüft, Brandur war anscheinend tatsächlich ihr Vater. Aber der Sohn des letzten Königs kommt in der Erbfolge nun mal vor dessen Halbschwester.“ Sadam zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht an Geburtsrecht, nicht daran, dass einige nur wegen ihrer Herkunft oder ihres Blutes besser sind. Aber solche Märchen halten die Räder unserer Welt am Laufen, und ich bin gerne bereit, sie zu nutzen. Auch wenn Brandur wie eine kleine Kopie Thoralds aussieht, er kommt nach seinem Namensgeber. Wenn Chada eine Heirat ablehnt, dann bin ich überzeugt davon, dass er tatsächlich ein großer König werden könnte.“
„Mit Euch als Berater an seiner Seite.“
„Ja. Ich bekomme, was ich will, so oder so. Vorausgesetzt Andor überlebt lange genug und Chada beginnt keinen Bürgerkrieg.“ Der Aufsteiger schüttelte den Kopf. „Es wäre mir lieber, wenn ich den einfachen Weg nehmen kann und Chada sich an das Versprechen hält, das ihr in ihrem Namen gegeben habt. Aber ich lasse mich nicht erpressen. Wenn du einen Bürgerkrieg riskieren willst … Wenn du ein Kind auf den Thron zwingen willst … Wenn du willst, dass es auf diese Art weitergeht … dann kann ich damit leben. Aber willst du es?“
Langsam schüttelte Janis den Kopf. „Gut!“, meinte Sadam. „Dann werden wir beide schweigen. Und beten, dass Andor überlebt.“
Er verließ den Anbau. Janis war sich unsicher, wofür er beten sollte. Kheela musste zurückkommen. Um jeden Preis.
Doch Brandurs Worte wollten ihm nicht aus dem Kopf: Du hast viel verloren, aber du hast auch viel gewonnen. Vergiss das nicht.
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O - Vertraust du mir?

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:23

O – Vertraust du mir?

Später Vormittag, 22. Wintertag 77 A.Z.
Bronzeküste auf Silberland, Hadrisches Meer

Eara stand breitbeinig an Bord der Aldebaran II. Glücklicherweise war das Schiff in ihrer Abwesenheit unbehelligt geblieben, nur ein Streifenmarder hatte unter Deck ihre Vorräte angeknabbert und funkelnde Dinge geklaut. Während die anderen damit beschäftigt waren, die Taue zu lösen und das Segel zu setzen, konzentrierte Eara sich ganz darauf, die kleine Steinschüssel in ihrer gesunden Hand ruhig zu halten.
„Also? Wohin müssen wir?“, fragte Ken Dorr. Der Dieb stellte sich zu ihr und der Rest folgte. Anscheinend waren sie bereit zum Auslaufen.
„Der Seegang stört unseren Kompass.“, erwiderte Eara und gab auf. Dunkler Nebel löste sich aus ihrem Schatten und hob die Schüssel sanft in die Luft. In ihrer linken Schulter kribbelte es unangenehm. Sie konnte mittlerweile spüren, wie die Dunkelheit sich durch ihren Körper fraß, wann immer sie Dunkle Magie verwendete. Sie versuchte, sich zurückzuhalten. Es war überraschend schwierig, auf die gewohnten Abkürzungen zu verzichten, doch wenn sie ihre jetzigen Verhaltensweisen beibehielt, würde die Dunkelheit weder ihr Herz noch ihren Kopf erreichen, bevor die Konfrontation mit dem Ewigen Rat überstanden wäre. Sie würde hier sein, solange sie benötigt wurde, alles andere war unwichtig.
„Ich sage das nur ungern, aber ist es klug, die Schwarze Kogge überhaupt zu verfolgen?“, fragte Leander vorsichtig. „Wir sollen in drei Tagen in Cavern sein. Wir haben keine Zeit mehr für Umwege. Und wir gewinnen nicht einmal neue Informationen. Diese Geheimwaffe ist eine Illusion Kenvilars, die unsere Verbündeten an einen Verrat glauben lässt.“
„Die Nebelinseln sind auf unsere Hilfe angewiesen!“, rief Chada empört. „Wir müssen sie warnen!“
„Mittlerweile dürfte das Schicksal Klippenwachts bekannt sein.“, erwiderte Eara. Sie ließ das Schälchen vor ihr Gesicht schweben und sah hinein. „Doch andererseits könnten wir den nächsten Opfern beweisen, dass die Helden von Andor auf ihrer Seite stehen und nicht auf der des Ewigen Rates. Und was auch immer wir verfolgen, es sind keine bloßen Illusionen, sondern Wesen aus Fleisch und Blut … oder zumindest Blut.“ Sie deutete andeutungsweise auf das Steinschälchen. „Vor allem jedoch besteht keine Notwendigkeit für einen Umweg. Der Weg führt nach Südosten.“
„Also Werftheim?“, fragte Thorn blass.
„Nein.“, flüsterte Leander. „Sie haben die Hälfte der Bewohner Klippenwachts entkommen lassen. Die Flüchtlinge werden von unserem scheinbaren Verrat berichten, damit gibt es keinen Grund mehr für einen Angriff auf Werftheim.“ Seine Stimme nahm einen erstickten Klang an. „Sie ziehen nach Sturmtal. Ich habe es euch gesagt. Wir hätten die Taren warnen müssen.“


Abenddämmerung, 23. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See nordöstlich der Klippe
Skralklaue, Hadrisches Meer
Eara blieb vor der Kajütentür stehen und hob ihren gesunden Arm. „Komm herein, Eara.“, rief eine Stimme, noch bevor sie anklopfen konnte. Leanders Gehör war einfach zu scharf. Über das Knarzen der Taue und die Melodie von Wind und Wellen hörte sie kaum ihre eigenen Schritte.
Er saß auf dem Bett, in seinem Schoß lag die Tafel des Themauras. Seine blauen Finger tasteten sorgfältig über die eingravierten Runen. „Misstraust du deiner Übersetzung?“
Leander hob den Kopf. „Nein. Alles passt zu gut. Es gibt ein Herz der Ewigkeit. Einen dritten Baum, der das Blut der Ewigkeit durch die Adern der Welt pumpt. Daran kann kein Zweifel bestehen. Interessant wäre höchstens, wo dieser Baum zu finden ist. Die Riesen hatten eine Quelle vom Blut der Ewigkeit im Grauen Gebirge, und laut Themauras beginnt das Herz dort, wo die anderen beiden enden, könnte also auch geografisch irgendwo im Norden des Grauen Gebirges zu verordnen sein. Aber es gibt keine Berichte über einen riesigen Baum, auch die Agren haben nichts dergleichen erzählt. Wo also befindet sich das dritte Herz?“ Leander seufzte. „Doch das ist es nicht, worüber ich nachdenke. Meine Übersetzung ist korrekt, aber unvollständig. Der letzte Satz fehlt noch.“
Eara schwieg. Wenn Leander ihr seine Erstübersetzung mitteilen wollte, dann würde er das tun. In der Tat dauerte es nicht lange, bis der Seher murmelte: „Der letzte Satz sagt: Dieser Kreislauf wird bewacht durch sovatissog turgedog der Zeit und arauthog der drei Herzen. Drei Vokabeln fehlen mir noch. sovatissog könnte entweder ruhend, schlafend oder still bedeuten, wenn es von sovyr, Ruhe, abgeleitet ist, oder aber wachsend oder alternd, wenn es von sovar, in etwa Wachstum, kommt. Bei arauthor vermute ich einen Zusammenhang mit urothor, was Wächter heißt. Und ich habe keine Ahnung, war ein turgedor ist.“
„Also bewacht etwas oder jemand, was mit der Zeit und den Herzen in Verbindung steht und entweder schläft oder wächst, den sogenannten Ewigen Kreislauf?“ Eara betrachtete die Runen auf der Tafel und gab es schnell auf, irgendeine Bedeutung in ihnen ausmachen zu wollen. „Wenn das eine Wort tatsächlich ruhend bedeutet, dann erscheint mir eine Verbindung zu Hrals Prophezeiung wahrscheinlich: Den reglosen Herrscher in ewiger Wacht, den Wächter, der aus Stehen Werden macht…
„Ja, auch ich hatte diese Assoziation.“, bestätigte Leander achselzuckend. „Doch was, wenn es alternd heißt? Locke ich uns dann alle auf eine falsche Fährte? Ich hoffe, dass ich noch eine Möglichkeit finde, die fehlenden Worte zu erschließen. Aber falls nicht … nun, du weißt jetzt, wie weit ich war.“ Er nahm seine Hände von der Tafel und legte sie über seine Knie. „Doch genug davon. Weshalb bist du heruntergekommen?“
„Wir haben die Skralklaue passiert. Segeln wir jetzt nach Südosten, dann könnten wir noch heute Nacht im Wachsamen Wald an Land gehen. Doch das werden wir nicht tun. Der Blutkompass zeigt geradewegs nach Osten, und die Spitze zittert stark. Die Schwarze Kogge zieht tatsächlich nach Sturmtal, und ihr Vorsprung ist fast dahin. Wir werden spätestens morgen früh in Sturmtal anlegen. Davon wollte ich dich in Kenntnis setzen.“
Verärgerung huschte über Leanders Gesicht. „Ihr fragt mich nicht einmal nach meiner Meinung?“
„Wir kennen deine Meinung. Du willst die Schwarze Kogge nicht verfolgen und keinen Umweg riskieren, um rechtzeitig übermorgen in Cavern anzukommen.“
„Das wird schon jetzt knapp!“ Leander war ungewöhnlich laut, und das bestärkte Earas Vermutung. Die Meinung des Sehers basierte auf Schwäche. Auf Gefühlen anstatt auf Vernunft.
„Wenn du keine neuen Informationen beizutragen hast, dann steht die Entscheidung. Alle anderen sind sich einig, selbst Drukil und Ken Dorr.“
Einige Falten bildeten sich um Leanders Mundwinkel, aber er schwieg. Eara stieß einen wohlkalkulierten resignierten Seufzer aus. „Ich weiß, dass du etwas verbirgst.“, sagte sie. „Dein Verhalten lässt sich anders kaum erklären. Schon damals, als du dich scheinbar grundlos verweigert hast, Bragor zur Genesung nach Sturmtal zu bringen. Vor vier Tagen, als du unbedingt zuerst nach Sturmtal wolltest, um die Taren zu warnen. Und jetzt der entgegengesetzte Versuch, auf keinen Fall dorthin zu segeln.“
„Ich fürchte, dass wir nur wieder zu spät kommen werden, das ist alles.“, versuchte Leander sich zu verteidigen. Vergeblich. Seine Schwäche malte ihm einen ertappten Gesichtsausdruck, den Eara mühelos identifizierte.
„Oh nein, Leander! Es ist ganz gewiss nicht alles. Ich ahne, dass du dein Urteil von Emotionen vernebeln lässt. Sag mir, was tatsächlich gegen diesen Umweg spricht, und vielleicht revidiere ich meine Einschätzung.“
Leander leckte sich über die Lippen. „Eara. Vertraust du mir?“
„Nein. Vertrauen ist Schwäche, Leander. Es bedeutet, an etwas zu glauben, ohne die nötigen Absicherungen zu haben. Vertrauen ist ein unnötiges Risiko. Ich vertraue niemandem. Nicht mir selbst. Nicht Chada, Thorn oder Kram. Und erst recht nicht dir.“
Leander lächelte nur und wirkte, als hätte er genau diese Antwort erwartet. Vielleicht hatte er das auch. Bei ihm konnte man sich nie ganz sicher sein. „Dann erkläre mir, wieso du meiner Übersetzung von Themauras´ Tafel glaubst, oder den Visionen, von denen ich dir erzähle, wenn du doch keine Möglichkeit hast, meine Worte zu überprüfen. Erkläre mir, wieso du so viel Zeit ausgerechnet mit mir verschwendest, um dich selbst davon zu überzeugen, dass deine Taten richtig und, wichtiger noch, vernünftig sind.“
„Diese Gespräche sind deiner Neugierde geschuldet.“
Leanders Lächeln vertiefte sich. „Und doch bist du es, die hierherkam.“
„Seit 17 Jahren kenne ich Chada und Thorn. Ich weiß, was sie antreibt, was sie wollen, wie sie denken. Ich kann einschätzen, welche Aufgaben ich ihnen überlassen kann und wo sie sich zu sehr von ihren Emotionen leiten lassen. Und doch vertraue ich ihnen nicht. Und du, Leander? Deine Vergangenheit ist ein einziger schwarzer Fleck. Deine Motive bleiben mir bis heute ein Rätsel. Dafür weiß ich, dass du Vieles vor uns verbirgst und dass du Dinge getan hast, die du als schrecklich bezeichnen würdest. Sag mir, welchen Grund hätte ich, dir zu vertrauen?“
„Oh, Eara!“, kicherte Leander. „Du beharrst darauf, dass du niemandem vertrauen könntest, den du nicht besser kennst als dich selbst. Von dem du nicht mit absoluter Gewissheit sagen kannst, dass er dich niemals hintergehen, niemals versagen, dich niemals enttäuschen wird. Nun, das ist dein gutes Recht. Doch sei ehrlich: Wenn du genau weißt, dass diese Person immer genau das tun wird, was du von ihr erhoffst … was hat das dann noch mit Vertrauen zu tun?“
Eara schwieg. Leander nickte mit wissender Miene. „Ich habe dich nicht gefragt, ob du weißt, dass ich immer funktionieren werde. Denn das werde ich nicht. Das wird keiner von uns. Wir alle werden dich in irgendeiner Form hintergehen und enttäuschen, auch du selbst. Aber ich habe dich gefragt, ob du mir vertraust. Das ist viel weniger. Und viel mehr. Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich dir vertraue, Eara.“
Kurz stockte ihr der Atem. Auch wenn Leanders Gesicht sich nicht veränderte, war Eara sich sicher, dass ihm die kleine Unregelmäßigkeit in ihrem Atemrhythmus nicht entging. Sie unterdrückte ihre Verärgerung und sagte schnell: „Das ist ein Fehler! Ich bin bereit …“
„Jaja, du opferst alles und jeden für ein höheres Wohl, schon verstanden.“, unterbrach Leander mit einer abwinkenden Geste. „Und deshalb soll ich dir nicht vertrauen. Dabei könnte es dir egal sein. Wenn ich entscheide, dir zu vertrauen, wird das deinen Zielen kaum schaden können. Es sei denn, du willst zugeben, dass es dir schwerer fällt, die zu opfern, die dir nahestehen.“
Eara wollte sagen, dass das nicht stimmte. Weshalb warnst du ihn dann vor dir? fragte die Stimme der Schwäche. Weil du es nicht ertragen könntest, sein Vertrauen zu enttäuschen? Oder einfach, weil du dich davor fürchtest, dass dir jemand zu nahe kommt?
„Eara, ich weiß, dass du, zumindest im Prinzip, bereit wärest, mich zu opfern. Und genau deshalb vertraue ich dir. Ich vertraue darauf, dass du mich retten würdest, wenn möglich, und mich opfern, wenn nötig. Ich vertraue darauf, dass du die Entscheidung treffen könntest, für die ich zu schwach wäre.“
„Jetzt hast du zugegeben, dass deine Gefühle Schwäche sind. Dass deine Angst dich zurückhalten würde.“, bemerkte Eara. Fast empfand sie etwas wie Genugtuung. Fast.
„Auch du hörst nur, was du hören willst.“, schmunzelte Leander. „Ich wäre nicht zu schwach, meinen Gefühlen zu trotzen. Ich wäre zu schwach, ihnen zu folgen. Meine Vernunft sagt mir immerzu, dass ich dumm bin, alles zu riskieren für euch. Dass ich alle meine Probleme los wäre, wenn ich euch verraten würde. Euch zu helfen, anstatt euch zu hintergehen, war das Irrationalste, was ich je getan habe. Ich bin nicht aus Einsicht hier, nicht aus Vernunft, sondern wegen der Gefühle, die ich euch entgegenbringe. Mitgefühl. Freundschaft. Vertrauen.“ Leander schüttelte langsam den Kopf. „Gefühle sind keine Schwäche. Sie sind Ursache und Zweck all unseres Strebens.“
„Das spielt keine Rolle. Sie sind in jedem Fall ein Hindernis, wenn es darum geht, unsere Ziele zu erreichen. Sie lähmen und behindern uns, rauben uns die Selbstkontrolle, machen uns dumm, parteiisch und beeinflussbar.“ Wie hatte es Leander eigentlich schon wieder geschafft, dass sie über Earas Gefühle sprachen anstatt über seine Geheimnisse?
„Ja. Sie können all das bewirken. Ich bin der Letzte, der behaupten würde, dass wir unseren Empfindungen blindlings folgen sollten. Doch das heißt nicht, dass alle Gefühle unter allen Umständen eine Schwäche sind. Niemals rennen wir schneller und länger als unter Todesangst. Niemals sind wir stärker als im Zorn. Niemals leisten wir mehr, als wenn es wirklich um etwas geht! Gefühle geben uns Kraft und Konzentration. Du unterdrückst mit deinen Emotionen auch alles, was deinen Zielen Bedeutung verleiht. Deinen wichtigsten Antrieb. Gefühle können dich schwächen. Aber sie können dich auch stärken.“
Die Stimme der Schwäche flüsterte auf sie ein. Sie erinnerte an die unzähligen Momente, in denen Eara mit der Kraft der Verzweiflung schier Unmögliches gelang. Alles, was du ohne deine Emotionen leisten kannst, ist stabiles Mittelmaß. Bist du sicher, dass das reicht?
„Du hast etwas weggeschlossen, was du gegen den Ewigen Rat brauchen wirst.“, sprach Leander fest. „Das weiß ich, nicht als Seher, sondern als dein Freund. Lass mich dir helfen. Gemeinsam können wir die Flammen deiner Gefühle schüren. Das Eis schmelzen, das dich umgibt.“
„Hör auf!“ Eara schloss kurz die Augen und versuchte, die Stimme der Schwäche zurückzudrängen. „Du hast Varkur nicht erlebt. Du weißt nicht, wozu ich werden würde, wenn ich meine Gefühle freilasse. Du weißt nicht, was ich getan habe!“
Leander senkte den Kopf. „Dann erzähle es mir! Sag mir, was du so Schreckliches getan hast. Beweise mir, dass deine Gefühle gefährlich sind.“
Eara öffnete die Augen und sah Leander lange an. „Warum sollte ich?“
„Du bist hierhergekommen, um nach meinen Geheimnissen zu fragen. Nun, ich schlage einen Tausch vor. Du verrätst mir, was du getan hast. Und zum Ausgleich darfst du eine Frage stellen. Ich werde dir sagen, was immer du wissen willst. Ich beginne sogar.“ Er streckte eine Hand aus. „Einverstanden?“
Eara zögerte. Dann legte sie ihre dunkle Hand in seine. Fast hoffte sie, dass er voll Abscheu zurückzucken würde. Doch auf seinem Gesicht spiegelte sich nur Erstaunen, gefolgt von einem aufrichtigen Lächeln. „Dann stell deine Frage, Eara. Was willst du wissen? Weshalb ich mich in Bezug auf Sturmtal so seltsam benehme? Was mein schlimmstes Verbrechen war?“
Eara sah den Seher lange an. Er war voller Geheimnisse, und trotzdem schien er nicht im geringsten beunruhigt. Als erwarte er, jede ihrer Fragen mit Leichtigkeit beantworten zu können. Sie zögerte. Wenn sie wirklich durchschauen wollte, was er verbarg, dann musste sie etwas fragen, das er nicht erwartete. Etwas, das tiefer bohrte. „Wer war er?“
Leander erstarrte. „Was meinst du?“, fragte er dünn.
„Du sagtest, du hättest deine Untaten aus Liebe begangen. Und als ich dich fragte, wer sie war, da hast du nur mit er geantwortet. Nun, ich stelle diese Frage erneut: Wer war er? Wem galt deine Liebe?“
Leander sog scharf Luft ein. „Du verstehst es, die richtigen Fragen zu stellen, das muss ich dir zugestehen.“, sagte er gepresst. „Er war … der einzige, der mir etwas bedeutete. Er hat immer zu mir gehalten, mich beschützt, mich gestärkt. Wir schworen einander ewige Treue. Wir zwei gegen den Rest der Welt.“
Leander schluckte und verschränkte die Arme. „Er war ein Seekrieger im Dienste Varatans. Beteiligt an der Jagd auf die Schwarze Kogge. Er kam nicht zurück. Jahrzehnte wusste ich nicht, was geschehen war. Ob er ein Opfer von Varatans Fluch geworden, oder ob er schon zuvor im Kampf gefallen war. Ich war verzweifelt. Ich habe alles gelesen, was ich auftreiben konnte. Ich habe mein Augenlicht geopfert, habe gelogen, gemordet, Steine aus dem Weg geräumt und andere bereitgelegt, immer mit dem einen Ziel: Varatans Fluch zu brechen. Letztlich wurde Varatans Blutlinie ausgelöscht, und es gelang Chada und Thorn, die Insel zu durchqueren und damit den Fluch zu brechen. Doch es stellte sich heraus, dass außer Callems Mannschaft nur eine Handvoll von Varatans Seekriegern übrig waren.“ Er ließ den Kopf hängen und sprach nicht mehr weiter.
„Ich verstehe.“, meinte Eara schließlich. „Die taktvolle Antwort wäre wohl: Es tut mir leid. Aber das tut es nicht. Du wärest nicht hier, wenn er überlebt hätte.“ Leander zeigte keine Reaktion. „Wie war sein Name?“
„Oh nein, Eara!“, sagte Leander leise, aber bestimmt. „Du hattest deine Frage. Jetzt bin ich am Zug.“
Eara war versucht, zu protestieren. Der Name war durchaus ein Teil der Antwort, die ihr zustand. Sicher, dass du nicht einfach deinen Teil der Abmachung aufschieben willst? Eara drängte die Stimme der Schwäche beiseite. „Na gut.“
„Du weißt, was ich hören will.“, flüsterte Leander. „Fang an!“


Später Vormittag, 83. Wintertag 76 A.Z.
Feste von Borghorn, Krahd
Eara keuchte schwer. Die Luft in Krahd war verpestet mit Schwarzer Hexerei und dem Rauch ferner Feuer, der in ihrem Hals kratze. Sie eilte zwischen engen Zellen mit verrosteten Gittern hindurch. Sklavenlöcher wurden sie genannt, doch die einzigen Sklaven, die Eara fand, lagen ermordet in ihrem eigenen Blut. Wer hatte das getan? Zorn brannte in ihr, die Dunkle Magie stieg in dunklen Schwaden um sie auf.
Plötzlich hörte sie heisere Schreie. Sie warf einen schnellen Blick zum Himmel. Bei Sonnenhoch wollten sie am Fuße Borghorns zusammenkommen, um das Fundament der Feste zu schwächen und sie im Lavameer zu versenken. Doch die triste graue Wolkendecke war so dick, dass die Position der Sonne unmöglich zu bestimmen war. Erneut erklangen Schreie. Eara zögerte nicht länger. Sie beschleunigte ihre Schritte mit Dunkler Magie.
Der Weg öffnete sich. Vor ihr ausgebreitet lag das Meer aus Lava in all seiner Pracht. Ein Ozean aus Feuer, unter einem Himmel ohne Sterne oder Sonne. Welch ein trostloser Anblick. Gegen das rote Licht zeichnete sich der Umriss einer Riesin ab, die achtlos einen toten Ambacu über den Rand der Festung fallen ließ. In ihrer Hand lag ein beinerner Dolch, von dem Blut tropfte. Die Krahderin drehte sich um und erstarrte, als sie Eara bemerkte. Kurz huschte Furcht über ihr Gesicht, dann jedoch lächelte sie bösartig. „Sieh an!“, höhnte sie. „Einer dieser Helden, nehme ich an? Hier, um die nichtsnutzigen Bauern zu befreien? Ich fürchte, du kommst zu spät!“
Sie deutete beiläufig auf ein Sklavenloch. Im Inneren lag ein halbes Dutzend Andori, ihr Blut rann dunkel über den gezackten Stein. Vorne am Gitter hing ein abgemagerter Junge, seine bleiche Hand umklammerte selbst im Tod das verrostete Gitter, seine Augen starrten blicklos ins Leere.
Eine Erinnerung stieg in Eara auf. Sie war in den Flusslanden unterwegs gewesen und hatte an einem Bauernhof gerastet. Ein Junge von vielleicht sechs Sommern war zu ihr gekommen und hatte mit seinen kleinen Händen ein Stück Brot zerbrochen und ihr eine Hälfte hingehalten. „Meine Mama sagt immer, geteiltes Brot schmeckt besser.“, hatte er gesagt. Zusammen hatten sie gegessen und Eara hatte von ihren Abenteuern berichtet. „Ich will auch das Meer sehen! Es soll wunderschön sein. Und soooo groß.“, hatte er gekräht und seine kurzen Arme ausgestreckt. Eara hatte sich vorgebeugt, dem Jungen tief in die Augen geblickt und ihm eine Erinnerung geschickt an das Hadrische Meer vor der Küste Sidra. „Und eines Tages wirst du es in echt sehen.“, hatte sie hinzugefügt, und der Junge hatte sie mit dem breitesten Lächeln angestrahlt, das sie je bekommen hatte.
Mittlerweile waren sechs Jahre vergangen. Eara hatte sich verändert, ebenso wie der kleine Junge von damals. Jetzt verzerrte Angst seine erstarrten Züge und seine einst runden Backen waren eingefallen. Und doch konnte sie dieses strahlende Lächeln noch immer vor sich sehen. Übelkeit stieg in ihr auf. Das letzte Meer, das er gesehen hatte, war eines aus Lava.
Hass durchflutete sie, Hass auf die Sklavenschinder. Mit weiten Augen sah sie die Riesin mit ihrem beinernen Messer an, die Dunkelheit verdichtete sich hinter ihr. „Warum?“, fragte sie tonlos. „Warum tötest du deine eigenen Sklaven?“
„Ich bin Ennevahr, Tochter von König Gonhar, dem Starken. Senke den Blick, wenn du mit mir sprichst!“, zischte die Krahderin zornig. „Ich weiß, weshalb ihr hier seid! Nicht aus Rache, sondern um ihretwillen.“ Ennevahr grinste, in ihren gelben Augen lag tiefe Grausamkeit. „Aber wie auch immer das alles ausgeht: Ihr werdet nicht gewinnen. Dafür habe ich gesorgt!“
Eara deutete zitternd auf die Krahderin. „Du hättest dich fragen sollen, ob wir wirklich keine Rache wollen.“, flüsterte sie. Die Dunkle Magie hatte nur auf ihren Befehl gewartet, wie ein gieriges Tier stürzte sie sich auf Ennevahr. Schatten schoben sich über die graue Haut und hoben sie wie eine Puppe in die Luft. Die Grausamkeit in den gelben Augen wich der Furcht. Eara hob ihren Stab und ergab sich dem Hass. Sie ließ die Flammen, die sie von innen verzehrten, auf Ennevahr los, ließ puren Schmerz durch ihre Adern rasen. Kein Feuer brannte heißer als Dunkle Magie. Weit hallten die Schreie über das Meer aus Flammen. Wann immer sie nachließen und Schluchzern oder verzweifeltem Flehen wichen, peitschte Eara die Dunkelheit erneut auf. Und die Dunkle Magie verrichtete ihr Werk, brannte sich durch Ennevahrs Körper und Verstand, ließ nichts zurück als eine ausgebrannte Hülle aus Schmerz. Eine Ruine.
Earas Sicht verdunkelte sich. Später wusste sie nicht, wie lange sie so dastand und beobachtete, wie Ennevahr sich in Qualen wand. Schließlich reichte selbst das ihr nicht mehr. Sie drang in den Geist der Krahderin ein, um ihn zu zerschmettern. Sie sah sich selbst, Finsternis war in ihre Augen getreten, Hass und Verachtung verzerrten ihre Züge. Ein anderes Bild drängte sich ihr entgegen. Eine Gestalt in dunklem Nebel, ein echsenartiges Gesicht mit schwarzem Bart.
Eara keuchte und wankte zurück. Die Dunkle Magie löste sich auf und ließ Ennevahrs geschundenen Körper fallen, der fast lautlos im Lavameer verschwand. Sie sank auf die Knie. Was war aus ihr geworden? Sie war … genau wie Varkur! Entsetzt starrte sie auf ihre zitternden Hände und stellte fest, dass die Haut leicht geschuppt wirkte. Sie wandte den Blick ab und betrachtete das Gesicht des toten Jungen. Noch immer spürte sie die Dunkelheit und den Hass in sich brodeln. Doch jetzt, als sie die ermordeten Ambacus vor sich sah, hatte sie eine Erleuchtung. So lange hatte sie versucht, die Dunkle Magie zurückzuhalten. So lange hatte ein Teil von ihr an das geglaubt, was ihr in ihrer Ausbildung einbläut worden war:
Dunkle Magie führt immer zu Qual und Tod. Doch jetzt begriff sie, dass es nicht die Dunkle Magie allein war. Es war ihre eigene Unbeherrschtheit. Ihr Wunsch nach Rache, ihr Hass, ihr Zorn. Geboren aus ihrer Sorge um die verschleppten Andori. Aus ihrem Mitgefühl. Die Dunkle Magie allein war keine Gefahr. Erst ihre Gefühle machten sie dazu.
Langsam stand Eara auf und richtete einen letzten Blick auf die toten Sklaven. Sie würde die verschleppten Andori retten! Koste es, was es wolle! Mit Zauberei oder mit Dunkler Magie! Zu lange hatte sie gefürchtet, auf dem falschen Weg zu sein. Doch kein Weg war von sich aus falsch. Wenn es nur noch das eine Ziel gab, war der Weg dahin bedeutungslos.
Sie öffnete sich der Dunklen Magie, ließ sie in sich hineinströmen und ausfüllen. Sie würde die Andori retten. Sie würde tun, was nötig war. Und sie würde nicht zu Varkur werden!
Nie wieder! Sie spürte in sich hinein, fand ihre Emotionen. Ihren Hass. Ihre Liebe. Ihren Zorn. Ihre Güte. Ihr Vertrauen. Manchmal ist es nötig, Opfer zu bringen. Sie spürte ihre Gefühle brennen wie ein wärmendes Feuer, und sie beschwor die Dunkelheit darauf herab, bis alle Flammen erstickt waren. Sie sperrte die Glut in einen Kerker aus Eis. Etwas flüsterte zu ihr, wie eine leise Stimme. Doch sie erkannte darin nur ihre eigene Schwäche und hörte nicht darauf. Sie reinigte sich von ihrer Schwäche. Von allem, was ihr die Kontrolle rauben konnte. Von allem, was ihr schaden konnte. Von allem, was sie am Leben hielt.
Ihr Herzschlag beruhigte sich. Die Leichen der Andori lagen vor ihr in ihrem Blut. Totes Fleisch. Zeitverschwendung, sich auch nur einen Moment länger mit ihnen zu befassen. Ruhig warf sie einen Blick zum immergrauen Himmel. Geduldig wartete sie, bis sie einen Schimmer durch die Wolkendecke ausmachen konnte. Nicht mehr lange bis Sonnenhoch. Ohne sich noch einmal umzusehen, machte sie sich auf den Weg.


Abenddämmerung, 23. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See nordöstlich der Klippe
Skralklaue, Hadrisches Meer
„Das ist alles?“, fragte Leander stirnrunzelnd. „Du hast eine Krahderin getötet, weil sie Andori ermordet hat? Die meisten würden sagen, sie hat verdient, was sie bekommen hat.“
„Ich habe sie nicht getötet! Ich habe sie gefoltert! Ich brauchte keine Informationen von ihr, sie war kein abschreckendes Beispiel – ich habe es getan, einfach weil ich zornig war. Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun! Strafe, nur um der Strafe willen, ist bloße Rache. Ich war genau wie Varkur!“ Sie schloss die Augen und unterdrückte die widersprüchlichen Gefühle, die in ihr aufsteigen wollten. „Und wie viel Zeit habe ich verschwendet? Wenn ich sie einfach rasch getötet hätte, dann hätte ich die Sklavenlöcher weiter durchsuchen können. Ich hätte vielleicht weitere Andori befreit, die mit Borghorn ins Lavameer gestürzt sind.“
„Oh, Eara!“, seufzte Leander kopfschüttelnd. „Willst du dein ganzes Leben von einem Vielleicht bestimmen lassen? Ich merke, wie sehr die Erinnerung an diese Tat dich quält.“ Eara wollte widersprechen, doch der Seher ließ sie nicht zu Wort kommen. „Aber ich kann dir versichern, was du getan hast war so … klein. So unwichtig. Wenn du wüsstest, welche Verbrechen ich begangen habe! Sie sind tausendmal schlimmer!“ Seine Stimme würde zu einem dünnen Flüstern. „Ich schäme mich für meine Untaten. Ich schäme mich dafür, dass ich euch helfe. Und ich schäme mich dafür, dass ich mich schäme.“ Er hob den Kopf. „Doch ich bin hier. Ich mache meine Fehler wieder gut. Ich lasse mich nicht von ihnen bestimmen.“
Er hob seine blaue und damit auch Earas dunkle Hand an, die er noch immer hielt. „Ich vertraue dir, Eara. Ich vertraue darauf, dass du imstande wärest, die Dunkle Magie und deine Gefühle zugleich zuzulassen. Für eine Welt, die der Ewige Rat bedroht. Für uns, deine Freunde. Und für dich selbst.“
Eara versuchte, ihm ihre Hand aus Schatten zu entreißen, doch er hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest. „Nein, Eara! Du bist lange genug davongelaufen. Du hast Angst davor, was du tun wirst, wenn du deine Gefühle zulässt. Auch du lässt dich von deiner Angst leiten. Doch du brauchst keine Angst zu haben. Du könntest niemals sein wie Varkur.“
„Das weißt du nicht!“
„Eara. Vertraust du mir?“, fragte er ernst.
Sprachlos sah sie auf den Seher herunter. Sie holte tief Luft, doch er hob warnend die andere Hand. „Du hast bereits geantwortet. Deine Worte sagten nein, und deine Taten ja. Einer von beiden lügt.“ Er schüttelte kaum merklich den Kopf. „Dies ist keine Frage, die du mit Vernunft allein beantworten kannst. Horche in dich hinein. Sag mir nicht, ob es richtig wäre, mir dein Vertrauen zu schenken, oder vernünftig. Sag mir, ob du es tust!“
Eara starrte auf ihre Hand aus Schatten, die in seiner blauen lag. Sie wollte loslassen und gehen, doch etwas hielt sie zurück. Auch du lässt dich von deiner Angst leiten. Das war nicht wahr! Es konnte nicht… durfte nicht… Ach nein? Weshalb zögerst du dann?
Eara sah sich in der Kajüte stehen, starr wie die Statue aus Eis, die sie war. Doch zugleich sah sie andere Bilder. Kimbu, die sich in die Nebel der Himmelssäule stürzte. Koraph, der mit geschlossenen Augen im Schnee lag, gefrorenes Blut auf seiner Stirn. Torven, der sie ein letztes Mal ansah. Ist es das, was du bist? Was du sein willst? Die Stimme der Schwäche flüsterte voll von aufrichtigem Bedauern.
Nein. Das ist, was ich sein muss! Doch sie konnte Leanders Worte nicht vertreiben. Du unterdrückst mit deinen Emotionen auch alles, was deinen Zielen Bedeutung verleiht. Deinen wichtigsten Antrieb. Die Statue aus Eis begann zu tauen, und sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Oder ob sie das überhaupt wollte.
„Eara. Vertraust du mir?“, fragte Leander ein drittes Mal. Ein letztes Mal. Eara bewegte ihre Lippen, ohne eine Antwort herauszubringen. Schließlich hauchte sie nur, so leise, dass sie es selbst nicht hörte. So leise, dass sie hoffte, dass es auch Leander entgehen möge, obwohl sie wusste, dass sein Gehör zu scharf dafür war.
„Ja…“


Früher Vormittag, 24. Wintertag 77 A.Z.
Sturmtal, Hadrisches Meer

Das Lied des Windes verstummte, kaum dass Eara zwischen den Felsen hervortrat. Mochten jenseits der Küste auch aufgepeitschte Wellen übereinander herfallen und sich vereinzelte Eisschollen zuwerfen, mochten auch eisige Winde zornig zwischen den schneebedeckten Spitzen der grauen Felszacken heulen – hier in Sturmtal, der Heimat der Taren, bettete sich jeder Sturm zur Ruhe. Die tosende Brandung verklang, und nur das Meckern der Ziegen und das sanfte Klingen der Windspiele aus Muscheln und hohlen Stöcken hätte zu hören sein sollen. Doch die Ziegen lagen zerfetzt auf ihren mageren Weiden und von den Langhäusern, die noch standen, waren alle Windspiele heruntergerissen worden. Stattdessen erfüllten die Rufe von Kreaturen, der Rauch brennender Hütten und Kampfgeräusche die Luft.
Schweigend betrachtete Eara die Verwüstung. Eingerissene Häuser, Rauchsäulen, aufgewühlte Weiden, totes Vieh, in der Ferne ein paar ermordete Taren. Und Scharen von Meereskreaturen.
„Es sind so viele! Was sollen wir hier nur ausrichten?“, fragte Thorn heiser.
„Selbst wenn wir Sturmtal nicht befreien können, können wir trotzdem kämpfen!“, zischte Chada. „Wenn wir auch nur einen Taren retten, waren wir nicht vergebens hier!“
„Vergesst nicht, was wir noch suchen.“, ergänzte Eara. Sie zog die kleine Steinschüssel aus ihrer Tasche und öffnete die schützende Hülle, die ihre Schatten darum gewoben hatten, für einen kurzen Blick auf den Holzspan. Er zitterte unregelmäßig hin und her, machte sogar eine Umdrehung, doch zeigte noch immer deutlich erkennbar nach Osten. Sie schloss die Dunkelheit wieder und steckte ihren Kompass weg. „Wir sind hier, um uns selbst zu finden!“
Plötzlich erscholl ein ohrenbetäubendes Donnern. Ein urtümlicher Laut wie das Bersten von Felsen, begleitet von einem dunklen Echo, das rhythmisch an- und abschwoll. Schon lange hatte Eara diesen Laut nicht mehr vernommen, doch wer einmal das Brüllen eines Arrogs gehört hatte, der vergaß es nicht mehr. Sie brauchten sich nicht abzusprechen. Ohne ein weiteres Wort liefen sie los.

Eine Schar Taren drängte sich zwischen zwei Langhäuser, knapp über ein Dutzend vielleicht. Mit ihren Speeren hielten sie erfolgreich einige Nerax und einen Meerestroll auf Abstand, doch der Arrog blickte aus seinen gelb glühenden Augen auf die Taren herab und wälzte sich langsam, aber unaufhaltsam näher. Die Speere reichten ihm nur bis zum Bauch und prallten an seinem steinernen Panzer einfach ab, und ein Hieb seiner massigen Klauen, dem die Taren zum Glück ausweichen konnten, verarbeitete nebenbei einen kahlen Baum zu Kleinholz. Sie wichen immer weiter zurück, doch eine mannshohe Wand aus grünen Flammen loderte von einer Hütte zur anderen und versperrte ihnen den Fluchtweg. Während Eara noch überlegte, ob sie zuerst etwas gegen das merkwürdige grüne Feuer oder doch gegen den Arrog unternehmen sollte, öffnete dieser auf einmal sein Maul. Gelbe Zähne waren zu sehen und einer der vordersten Taren schrie auf und wurde in die Luft gerissen, als hätte eine unsichtbare Hand ihn am Knöchel gepackt und zöge ihn in den Schlund des Monstrums.
Ein Pfeil schoss durch die Luft und bohrte sich genau ins Auge des Arrogs. Erneut ertönte das fürchterliche Brüllen. Der Tarus fiel einfach zu Boden und blieb mit unnatürlich verdrehten Gliedmaßen liegen. Der Arrog schlug in blinder Raserei um sich, ein Schlag traf den Meerestroll.
Aus dem Schatten des brüllenden Kolosses trat eine kleine Gestalt in grauem Mantel und brachte schnell etwas Abstand zwischen sich und die steinernen Klauen. Seltsam gleichmütig hob sie das Gesicht und betrachtete Chada, die soeben einen zweiten Pfeil aus ihrem Köcher zog. Eara erkannte den Mann nicht sofort. Sein Gesicht war verhärmter, als sie es in Erinnerung hatte, und er hatte sich einen Bart wachsen lassen, der zum Zopf geflochten von seinem Kinn hing. Doch er hatte noch immer die gleichen dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen wie vor elf Jahren. Meres, der Hexer. Vor Chada war auch er ein Schüler der alten Reka gewesen, doch er hatte mehr von ihr gelernt als nur die Heilkunst. Als Eara ihn zuletzt gesehen hatte, war er ein Gefährte gewesen, vielleicht sogar ein Freund. Doch dann, nachdem er ihnen das Leben gerettet hatte, war er spurlos verschwunden, und erst auf Narkon hatten Chada und Thorn ihn erneut getroffen. Als Mitglied der Schwarzen Kogge.
„Was soll das?“, fragte Meres, nachdem das Gebrüll des Arrogs zurückgegangen war. Sein Tonfall zeigte keinerlei Regung, während er zu ihnen eilte. „Widersetzt du dich den Befehlen deiner Mutter? Ich …“ Er blieb stocksteif stehen. Seine dunklen Augen weiteten sich. Stumm erwiderte Eara seinen Blick.
„Eara?“, meinte Meres leise. „Bist du es wirklich? Du siehst so … anders aus.“
„Wir beide haben uns verändert.“, erwiderte Eara. „Ich hörte, du kämpfst inzwischen an der Seite von Piraten.“ Sie hob ihren Stab in der dunklen Hand und sammelte ihre Schatten hinter sich. Die Stimme der Schwäche wollte sie zurückhalten, doch Eara schob sie beiseite.
„Ich … ich wollte das nicht.“, stammelte Meres. Aus dem Augenwinkel sah Eara die grünen Flammen erlöschen.
Sie brach ihren Angriff ab. Vielleicht konnte hier mit Worten mehr erreicht werden. „Noch ist es nicht zu spät.“ Sie streckte ihre gesunde Hand aus und verlieh ihrer Stimme einen weicheren Klang. „Komm zu uns zurück, Meres. Besinne dich. Auch du hast einst versucht, Gutes zu tun.“
„Ja! Versucht!“, lachte Meres bitter. Er schüttelte zitternd den Kopf. „Was hat es gebracht? Alle meine Taten haben sich ins Gegenteil verkehrt. Alle meine Zauber hatten unvorhergesehene Folgen. Alle Hilfe, die ich leistete, hat nur Leid hervorgebracht. Ihr wart besser dran ohne mich.“
Die erzürnten Schreie von Nerax ertönten, als ihnen die Beute davonlief. Nerax bewegten sich mir ihrem Fischschwanz auch an Land erstaunlich schnell fort, aber mit einem rennenden Tarus konnten sie es an Geschwindigkeit nicht aufnehmen. Doch falls Meres die Schreie hörte, dann kümmerten sie ihn nicht.
„Das stimmt nicht.“, sagte Eara fest. „Du hast deine Fehler wiedergutgemacht. Du hast uns das Leben gerettet. Du warst uns keine Last.“
Meres blinzelte. Er streckte langsam die Hand aus, eine Bewegung voller Sehnsucht. Plötzlich lief ein roter Schimmer durch seine dunklen Augen. Seine ausgestreckte Hand ballte sich zur Faust, Zorn flackerte über seine Züge. „Vielleicht hättet ihr mir das sagen sollen, anstatt mich mit Kälte und Misstrauen zu strafen! Vielleicht hättet ihr mich nicht unter Steinen begraben liegen lassen sollen, nachdem ich euch gerettet habe! Vielleicht hättet ihr nach mir suchen sollen!“
Er schüttelte sich verächtlich. „Euch lag nie etwas an mir! Niemandem lag je etwas an mir! Ich wurde immer nur gefürchtet und verstoßen für meine Macht! Alle meine Versuche, zu helfen, wurden mit nichts als Undank vergolten! Ich habe niemals irgendwo dazugehört!“
„Und tust du es jetzt? Denkst du wirklich, der Ewige Rat oder die Schwarze Kogge würden dich akzeptieren, wenn ihnen deine Fähigkeiten nicht nützen würden? Ihnen liegt nichts an dir, nur an deiner Macht! Und wir haben nach dir gesucht, Meres, ob du es glaubst oder nicht.“
Meres öffnete den Mund. Sein Blick huschte unsicher weiter, zu Chada, zu Thorn, zu Ken Dorr, Leander und Drukil. „Ich … Ihr…“, stammelte er leise. Dann erstarrte er und kniff die Augen zusammen. „Du!“, schrie er hasserfüllt. „Du bist es!“ Eine grüne Flamme erschien lautlos über seiner Hand, zitternd stapfte er auf sie zu. „Du wagst es, mir unter die Augen zu treten, Blinder?“ Eara fuhr herum. Leander klammerte sich an seinen Stab und gab seine Versuche auf, das Gesicht im Schatten seiner Kapuze zu halten. Sie atmete tief ein und unterdrückte ihre Neugierde. Für Fragen würde später Zeit sein.
Sie blickte gerade noch rechtzeitig zurück zu Meres, um die zuckende Bewegung zu sehen, mit der er im Laufen in einen Beutel an seinem Gürtel griff und ihnen etwas entgegenwarf. Sanft glitzernder Staub erfüllte die Luft wie winzige Sterne und plötzlich konnte Eara nicht mehr atmen. Unwillkürlich fasste sie sich an den Hals. Ihr Versuch, Luft zu holen, endete nur in einem schmerzhaften trockenen Husten. Sie presste sich die gesunde Hand auf den Mund. Als der Husten endlich erstarb, klebte Blut auf der Haut. Ihre Beine knickten ein und sie sank in die Knie.
Vorsichtig tastete Eara nach dem Geist des Hexers. Sie wollte ihn besänftigen, mit ihm reden. Doch sie wurde abgestoßen. Etwas durchzog seinen Geist wie blutrote Adern, die Zorn und Schuld und Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit in ihm ausspien. Ein Fremdkörper, der Meres aussaugte wie ein Parasit und ihre Kontaktaufnahme verhinderte. Hilflos zog sie sich zurück.
„Du wirst deine Lügen bereuen! Du wirst es bereuen, mich zu dem hier gemacht zu haben!“, rief Meres. Verschwommen konnte Eara sehen, wie er durch den glitzernden Staub schritt als wären es bloße Schneeflöckchen, an ihren zusammengekrümmten Gefährten vorbei. Vor dem hustenden und keuchenden Leander blieb er stehen und entließ die grüne Flamme aus seiner Hand. Das Feuer sprang augenblicklich auf den Staub über, breitete sich brüllende in alle Richtungen aus. Eara bewegte stumm die Lippen und ignorierte das schmerzhafte Kribbeln in ihrer linken Schulter. Eine eisige Böe durchzuckte die ewige Ruhe Sturmtals, wehte den glitzernden Staub und das grüne Feuer einfach beiseite. Luft strömte kühl in ihre Lungen. Langsam konnte sie wieder klar sehen.
Meres sah zornig auf sie herab, wieder lag ein roter Schimmer in seinen Augen. „Du hilfst ihm, Eara? Du?! Ich hätte dir niemals zuhö…“ Sein gesamter Oberkörper wurde mit Wucht nach vorne geworfen. Ungläubig betrachtete der Hexer die langsam zerfasernde Lanze aus Schatten, die seinen Brustkorb durchstoßen hatte. Dann kippte er zur Seite.
Eara stand auf, wankte zu Meres und ging neben ihm in die Hocke. Ihre Blicke trafen sich. In seinem lag nichts als Hass. „Verzeih mir!“, bat sie leise. „Du warst noch nicht so weit. Deine Last war noch zu groß. Ich hoffe, sie wiegt leichter, wenn wir uns wiedersehen.“
Der Lebensfunke in seinen Augen erlosch. Eara erhob sich und schluckte den Geschmack des Blutes in ihrem Mund herunter. Neben der Leiche des Hexers wartete sie, bis die anderen sich gesammelt hatten, und beobachtete dabei aufmerksam vier Nerax, die langsam näherkamen.
Es war Chada, die die Frage stellte, die ihnen allen auf der Zunge lag: „Leander, woher kannte Meres dich?“
„Kennen!“, stieß Leander verächtlich hervor. „Wir hatten nur eine einzige Begegnung.“
„Scheint nicht sehr glücklich verlaufen zu sein.“, grinste Ken Dorr. Leander schwieg und war offensichtlich nicht willens, noch mehr zu sagen.
„Wir sprechen noch darüber.“, versprach Eara. „Aber nicht jetzt. Wir haben Gesellschaft.“
Die Nerax hatten sie erreicht und umkreisten sie vorsichtig. Sie fauchten und ihre gelben Augen glühten auf.
„Nervige Biester.“, hörte sie Thorn murmeln. Eara hob ihren Stab.


Später Vormittag, 24. Wintertag 77 A.Z.
Sturmtal, Hadrisches Meer

Schwer atmend trat Eara zwischen zwei Hütten hervor auf einen weitläufigen, von kahlen Bäumen gesäumten Platz. Auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich ein großes Langhaus, das von einer Schar Taren gegen die anstürmenden Kreaturen verteidigt wurde. Auf dem ganzen Platz wurden Kämpfe ausgefochten, und die anderen griffen sofort ein. Chada schoss einem Nerax in den Rücken, Thorn und Drukil eilten zwei von einem Meerestroll bedrängten Taren zu Hilfe, und Ken Dorr unterstützte Leander, der sich gegen einen Nerax verteidigen musste. Eara schritt langsam durch die Kämpfe, die um sie tobten, ohne sich zu beteiligen. Einen Nerax, der den Fehler machte, sie anzugreifen, verbrannte sie zu Asche, dem Kribbeln in ihrer Schulter zum Trotz. Ihr Ziel war das Portal des Langhauses, wo fünf Taren mit gewundenen Stäben standen und die Naturgeister um Stärke anflehten. Kreaturen waren nicht bis zu ihnen vorgedrungen, nur ein Tarus mit weißem Bart und knorrigem Stab, auf dessen Spitze ein klares grünes Licht leuchtete, stand ihnen gegenüber.
„Die Geister werden euch nicht helfen!“, spottete er. „Sie sind schwach, genau wie ihr!“ Er hob seinen Stab und kurz sah Eara durchscheinende Schemen mit gequälten Gesichtern um ihn sausen. Die Taren vor dem Tor wurden zu Boden gepresst. Selbst Eara, die noch über zwanzig Schritt entfernt war, spürte ein Gewicht, das sie nach unten zog und sie musste ihre Schritte verlangsamen.
„Ich traf zahllose Geister in meinen Jahren der Wanderschaft, und ich machte sie mir untertan! Für euch sind sie nichts als Ausreden, um eure Macht und eure elenden Traditionen zu erhalten!“
„Du warst einer von uns, Thogger!“, keuchte einer der am Boden liegenden Taren. „Unser Oberster! Was ist aus dir geworden?“
Thogger schüttelte verächtlich den gehörnten Kopf. „Ja. Früher war ich genau wie ihr. Auch ich habe nicht erkannt, wie sehr diese Traditionen unser Volk einzwängen. Ihr lasst unsere Kinder ihre Leben in Dummheit verbringen, verweigert ihnen den Zugang zum Lesen und Rechnen, weil ihr Buchstaben und Zahlen selbst nicht versteht! Ihr bestimmt Aufgaben und Pflichten nicht nach Fähigkeiten, sondern nach Abstammung! Ihr lasst unser Volk sterben, weil ihr zu feige seid, nach einem fremden Heilmittel zu suchen! Doch jetzt bin ich zurückgekehrt! Ich bin das Heilmittel!“
Eara musste sich mit beiden Händen an ihrem Stab festhalten, um nicht zu Boden gedrückt zu werden. Der Druck wurde mit jedem Schritt größer. Sie sammelte ihre Schatten und bereitete sich auf einen Angriff vor. Es war fast zu einfach. Thogger hatte sie noch nicht einmal bemerkt, so versunken war er in seinen Monolog. Voll Hass blickte er auf die Taren hinab, doch Eara bemerkte einen roten Schimmer in seinen Augen und eine einzelne Träne, die über seine Wange rann.
„Einst habe ich versucht, jeden einzelnen Taren zu beschützen. Ich schloss mich Piraten an, damit sie Sturmtal in Ruhe ließen, ich gab meine Ämter und meine Heimat auf, um ein Heilkraut zu suchen. Vierzig lange Jahre habe ich gesucht, und als ich es euch brachte, hat mein Sohn es vernichtet, weil es unseren Traditionen widersprach. Mir wurden die Augen geöffnet! Ich werde unsere verfaulten Traditionen ausbrennen! Ich werde das Alte beseitigen, um Platz für das Neue zu schaffen! Kein Fortschritt ohne Opfer! Wir haben den Auftrag, jeden zweiten Taren umzubringen, und ich werde dafür sorgen, dass es die richtige Hälfte trifft! Wo ist der Hohe Schamane? Mit ihm werde ich anfangen!“
Das Portal zum Langhaus öffnete sich langsam. Dahinter stand eine schlanke junge Tare mit braunem Haar, in der Hand einen Speer voller zeremonieller Schnitzereien, an dem Muscheln und Federn hingen und der offensichtlich nicht für einen Kampf gedacht war. Doch als sie einmal mit dem Ende aufstampfte, erlosch der Druck, der alles zu Boden zwang, und auf dem ganzen Platz verstummte der Kampflärm. „Ich bin Rhega, die Hohe Schamanin Sturmtals. Und ich werde mich heute von niemandem umbringen lassen.“
Thoggers Lippen zuckten. Mit aufgerissenen Augen starrte er Rhega an. „Nein, unmöglich!“, hauchte er. „Diese Schafsköpfe wären niemals bereit, sich einer Frau zu beugen!“
Rhega trat aus dem Haus. „Zeiten ändern sich. Traditionen ändern sich. Wir ändern uns! Nicht wahr, Großvater?“ Thogger sank in die Knie und starrte seine Enkelin mit offenem Mund an.
„Du irrst, wenn du glaubst, Fortschritt komme nur durch Gewalt. Sieh dich doch um! Siehst du das runde Gebäude dort vorne, das gerade von einem Arrog eingerissen wird? Es war ein Haus, in dem Gesandte aus Werftheim lebten und in dem wir unser Wissen austauschten. Und siehst du die ermordete Tare, da hinter dir? Sie war die einzige weitere Schamanin in ganz Sturmtal. Jetzt haben deine Kreaturen sie ermordet. Du willst uns den Fortschritt bringen, Opa? Du reißt ihn nur nieder!“
Thogger ließ kraftlos seinen Stab fallen. „Nein… Nein, ich… Das… Das ist… Ich…“ Er krümmte sich zusammen und fasste sich stöhnend an die Stirn. Ein rotes Glühen drang aus seinen Augen.
„Eine Dunkelheit lastet auf deinem Verstand.“, sagte Rhega und ging langsam auf ihren Großvater zu. „Die Geister flüstern es mir zu. Einst warst du ihnen ein Freund. Doch dann hat etwas dich verändert. Sie wollten dir helfen, und du zwangst sie unter deinen Willen. Oder was davon übrig ist.“ Sie blieb vor Thogger stehen und legte ihm eine Hand auf den Schädel. „Lass mich dich befreien.“, sagte Rhega. Thogger zuckte unter ihrer Berührung.
Ein Pfeil mit grünem Schaft schoss knapp an Eara vorbei und bohrte sich zielsicher in Rhegas Hals. Die Hohe Schamanin röchelte erstaunt und brach zusammen. Eara drehte sich um. Und da war sie.
Chada stand stolz auf dem Dach einer nahen Hütte. In einer einzigen fließenden Bewegung zog sie einen weiteren Pfeil und jagte ihn einem benachbarten Tarus in die Brust. Seelenruhig griff sie erneut in ihren Köcher.
Und Eara begriff. Das war nicht Chada. Sondern die Kopie, die sogar die Silberzwerge hatte täuschen können. Jetzt verstand sie, wieso. Die Frau auf dem Dach trug nicht nur Chadas Kleidung und Gesicht. Sie trug dieselbe Entschlossenheit im Gesicht. Stand in derselben majestätischen Haltung. Legte mit derselben routinierten Bewegung einen Pfeil auf die Sehne. Auch diese Chada schüttelte sich zum Zielen das Haar aus dem Gesicht und kniff unmittelbar vor dem Schuss kurz die grünen Augen zusammen. Ein weiterer Tarus sank getroffen zu Boden.
Ein Pfeil zischte knapp an der Schützin auf dem Dach vorbei. Die echte Chada blickte zu ihrem Ebenbild empor und zog einen neuen Pfeil, doch die Hand, die den Bogen hielt, zitterte. Die falsche Chada blickte herunter. Mit unheimlicher Synchronität öffneten beide einen kleinen Spalt den Mund, als ihre Blicke sich trafen. Beide standen in exakt derselben Haltung, mit einem Pfeil auf der Sehne und unfähig zu schießen.
Eara beendete den Moment des Zögerns. Ihre Schatten stießen auf die Chada auf dem Dach nieder und umhüllten sie. Schwarzer Nebel fesselte ihre Glieder und bog sie gewaltsam zurück. In ihrem Gesicht zeigte sich Unbeugsamkeit und Trotz, doch Eara kannte Chada lange genug, um zu sehen, wie sie unter der Oberfläche mit dem Schmerz kämpfte.
Nein! Das ist nicht Chada!
Eara bezwang das Zittern, das sich von ihrer gesunden Hand bemächtigen wollte, und tauchte die falsche Chada vollkommen in Dunkelheit. Sie spürte den Körper im schwarzen Nebel und brach ihm das Genick, dann beschwor sie den dunklen Nebel zu sich zurück. Die Leiche auf dem Dach beachtete sie nicht weiter. In ihrer Schulter brannte es.
Die echte Chada blickte noch immer erschüttert nach oben und fasste sich abwesend an den Nacken. Thorn trat zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Eara wandte sich ab, um sich Thogger zu widmen.
Der Tarendruide war jedoch für den Moment offensichtlich keine Bedrohung. Er hockte zusammengekauert über seiner toten Enkelin und wiegte sich hin und her, Tränen flossen über sein Gesicht. Als Eara langsam zu ihm ging, sah er zornig auf. In seinen Augen flackerte wieder der rote Schimmer und er griff nach seinem Stab. Eara bereitete sich auf einen Kampf vor, doch Thogger schrie ein verzerrtes Wort und wurde von einem gewaltigen Wind emporgerissen. Gegen den grauen Himmel war er bald nicht mehr auszumachen.
Nachdenklich musterte Eara die tote Rhega, bevor sie sich wieder den Kreaturen widmete.


Sonnenhoch, 24. Wintertag 77 A.Z.
Sturmtal, Hadrisches Meer

„Er ist irgendwo in dieser Richtung.“, sagte Eara und deutete mit dem Ende ihres Stabes an einer eingerissenen Hütte vorbei Richtung Osten. Der Weg führte aus der verwüsteten Siedlung heraus zu einer kleinen Baumgruppe im Schatten des Möwenbergs. „Und er ist sehr nahe.“, ergänzte sie nach einem weiteren Blick auf den Blutkompass.
„Gut. Gehen wir.“, antwortete Chada sofort. Sie rückte ihren Köcher zurecht und ging mit weiten Schritten los, der Rest folgte mit Verspätung.
„Warte!“, rief Eara. Da Chada der Anweisung nicht nachkam, beeilte sie sich, zu ihr aufzuschließen. „Was genau erhoffst du dir davon?“, flüsterte sie.
„Was soll die Frage?“, zischte Chada aufgebracht, ohne langsamer zu werden. „Die Taren brauchen uns.“
„Nicht nur die Taren.“, erwiderte Eara. Sie warf einen letzten Blick auf die Steinschale und verstaute den Kompass wieder. „Alle Völker. Sollen Kram und ein paar Schildzwerge den Ewigen Rat alleine zerschlagen?“
Chada trat zwischen die ersten kahlen Linden und biss die Zähne zusammen. „Wir sind hier! Um uns herum kämpfen und sterben Taren! Und du willst sie im Stich lassen?“
„Nein. Aber ich will wissen, was du hier erreichen willst.“
„Ich werde retten, was zu retten ist! Ich werde ein zweites Klippenwacht verhindern!“ Drukil stieß einen Warnruf aus, als ein Nerax hinter einem Stamm hervor auf den Weg glitt. Chada erschoss ihn, ohne langsamer zu werden.
„Chada, was schätzt du, wie viele Taren haben wir bisher gerettet?“
„Vielleicht dreißig.“
Eara schüttelte den Kopf. „Keinen einzigen!“ Sie sah Chada die Stirn runzeln, doch Eara ließ sie nicht zu Wort kommen. „Du hast recht, überall um uns herum sterben Taren. Der Ewige Rat will jeden Zweiten umbringen, damit die andere Hälfte von unserem scheinbaren Verrat berichten kann. Jeden Zweiten, verstehst du? Unsere Erfolge sind bedeutungslos. Wenn wir einen Taren retten, stirbt stattdessen einfach ein anderer. Wir können nicht mehr als der Hälfte zur Flucht verhelfen.“
„Dann verhelfen wir ihnen nicht zur Flucht, sondern zum Sieg!“
„Sieg? Um uns kämpfen Scharen von Meereskreraturen, unsere Doppelgänger und die Schwarze Kogge gegen die wenigen verbliebenen Taren, die noch Widerstand leisten. Wie willst du diesen Kampf gewinnen?“ Eara musste lauter werden, denn der Lärm von Kämpfen und tosendem Wasser verschluckte fast ihre Stimme.
Chada warf einen kurzen Blick über ihre Schulter. „Wir schlagen der schwarzen Schlange ihren Kopf ab.“
Die Bäume lichteten sich. Vor ihnen erhob sich eine graue Felswand, von der ein Wasserfall in einen kleinen See donnerte. Ein vereister Bach schlängelte sich zwischen den Kämpfenden hindurch. Auf dem Sand des Ufers und dem Blätterteppich zwischen den Bäumen, überall waren Taren in Kämpfe verwickelt. Doch kaum Krieger. Es waren Taren mit zerfurchten Gesichtern und grauen Haaren, die ihren Speer als Gehstock benutzen mussten. Frauen, die sich vor Kinder mit ersten Hornansätzen stellten. Eara fasste ihren Stab fester. Hier waren die Alten, die Versehrten, die Kinder, die nicht im Kampf geschulten Frauen. Sie mussten sich zum Schutz vor den Kämpfen hierher zurückgezogen haben, begleitet nur von einer Handvoll Wächter, doch sie waren von den Schlimmsten aufgespürt worden.
Ein Mann mit langen silbernen Haaren und Bart spielte auf einer beinernen Flöte, die Taren in Hörweite standen reglos mit leerem Blick und ließen sich widerstandslos von einem gebeugten alten Mann mit grauer Haut umbringen. Eine junge Frau in den groben braunen Gewändern einer Schülerin aus Yra schwang einen hell glühenden Zauberstab. Eine Gestalt, die Thorn bis aufs Haar glich, hielt blutige Ernte zwischen verzweifelten Taren. Und am Ufer des Sees, durchnässt vom Sprühnebel des Wasserfalls, fochten zwei hochgewachsene Krieger. An seinen abgesägten Hörnern konnte Eara sofort Bragor erkennen. Der Tarus schien seine Kraft, die ihn in der Winterburg verlassen hatte, jetzt, in der Stunde der Not, wiedergefunden zu haben. Ihm gegenüber stand ein Mann mit tiefblauer Haut. Er trug die leichte Rüstung eines Seekriegers, auf seinem Schild prangte die pechschwarze Schlange, das Symbol der Schwarzen Kogge. Seinen Schädel bedeckte ein kunstvoller dunkler Helm mit Augen aus gelb glühendem Glas, dessen summende Macht Eara bis hier spüren konnte. Varatans Helm der Macht, ausgerechnet im Besitz des düsteren Kapitäns Callem. Sie unterdrückte ihren Zorn.
Irgendwo im Schatten der Bäume wurde ein Horn geblasen. Die Kreaturen in ihrer Nähe sahen auf und erblickten die Neuankömmlinge. Ein Meerestroll brüllte blutdurstig und kam mit schnappenden Scheren zu ihnen getrottet, zwei Artgenossen und eine Handvoll Nerax folgten ihm.
„Wir teilen uns auf.“, rief Chada. „Unser erstes Ziel ist Callem, danach der Rest der Schwarzen Kogge und die falschen Helden. Leander, du kommst mit mir!“
Sie zerstreuten sich. Ein Meerestroll versuchte Eara zu stellen, sie umrundete ihn in einem größeren Bogen. Einem Nerax, der zwei jugendliche Taren in ihre Richtung trieb, wich sie bis ans Ufer des Sees aus. Sie sah, dass Thorn sich in einen Kampf mit einem Meerestroll verstrickte, und Chada und Leander wurden von den Kopien Thorns und Drukils angegriffen. Eara jedoch blieb unbehelligt. Sie sprang über den zugefrorenen Bach und rannte unbeirrt auf Callem und Bragor zu.
Plötzlich spürte sie das Aufblitzen Dunkler Magie in unmittelbarer Nähe. Sie fuhr herum. Ein gedrungener Mann mit einem hässlichen Lächeln stand über einer Tare mit zerschmettertem Brustkorb. Seine rechte Hand endete in einem silbernen Haken, in der Linken trug er einen massiven Hammer. Fahles grünes Licht umspielte den Hammerkopf.
„Sieh an!“, rief er gegen das Rauschen des Wasserfalls. „Eine echte Heldin, an der ich meine neue Kraft ausprobieren kann.“ Er kam langsam auf sie zu. Eara sah flüchtig zu Callem hinüber. Er wehrte mit seinem Schild mühelos einen Stoß von Bragors Speer ab und versetzte ihm einen tiefen Schnitt am Oberarm. Bragor brüllte etwas und stolperte zurück, um den nächsten Treffer von Callems Schwert zu verhindern. Trotzdem wurde er oberflächlich getroffen. Callem schien jede Bewegung Bragors voraussehen zu können. Die Augen des Helms glühten hell.
Eara konzentrierte sich wieder auf den Seeräuber, der ihr gegenüberstand. Sie würde sich bemühen, ihm den Hammer der Stärke schnellstmöglich abzunehmen. „Wirst du auch kontrolliert, oder kann ich auf Rücksichtnahme verzichten?“
„Ich bin Pero, Callems erster Maat! Niemand kontrolliert mich.“ Der Schlag erfolgte schneller, als es mit einer so schweren Waffe möglich sein sollte. Das grüne Licht umzüngelte Peros ganzen Arm. Eara konnte nur knapp ausweichen. „Ich war meinem Kapitän immer treu! Auch ohne faulen Zauber!“
Sie wich vor weiteren Schlägen zurück, bis sie einen alten Baum zwischen sich und Pero bringen konnte. „In gewisser Hinsicht ähneln wir uns, Magierin! So wie du für deine Freunde kämpfst, so kämpfe ich für ihn.“
„Ich kämpfe nicht für meine Freunde, sondern für alle fühlenden Wesen. Wir haben nichts gemeinsam.“, erwiderte Eara keuchend.
Pero kicherte hämisch. „Sieh uns nur an: Zwei Einhändige, die hier stehen, bereit den anderen umzubringen. Beide benutzen Dunkle Magie, um stärker zu werden.“ Er rammte den Hammer gegen den Stamm. Die Wurzeln wurden zur Hälfte aus dem Erdreich gerissen und Eara konnte sich nur durch einen buchstäblichen Sprung ins kalte Wasser vor hundert Zentnern Baum retten, die in ihre Richtung kippen. Sie musste scharf Luft holen, als das Eiswasser ihre Stiefel durchnässte und ihr Bein hochspritzte. Die Kälte, die ihre Füße durchdrang, konnte sie rasch nicht mehr spüren.
„Du kannst diesen Hammer seit höchstens sechs Tagen haben! Hast du ihn seitdem einmal losgelassen? Weißt du, was er mit dir macht?“
Pero grinste. „Sicher. Er macht mich stärker!“ Er ließ den Hammer zweimal spielerisch kreisen, als wöge er nicht mehr als ein dünner Zweig.
„Nein. Er verdirbt dich.“, sagte Eara. „Wenn du nicht aufpasst, könntest du mir bald wirklich ähneln. Doch meine Macht über die Dunkle Magie ist größer, als deine jemals sein wird.“
Sie beschwor ihre Dunkle Magie auf Pero herab. Dunkle Schlieren hüllten ihn vollkommen ein, nur ein Schmerzensschrei drang aus der Dunkelheit. Sie spürte den Körper und verdichtete die Schatten um Peros Hals. Der Schrei erstarb. „Was nützt dir jetzt deine Kraft?“, rief sie. „Nichts! Der Hammer der Stärke war nie für dich bestimmt.“
Sie konnte spüren, wie Pero im Inneren der Dunkelheit kraftlos mit den Beinen zuckte. Sie ignorierte das Kribbeln in ihrer Schulter und wartete, bis erst die Regungen seiner Gliedmaßen, dann des Herzens erstarben. Dann erst zog sie ihre Schatten zu sich zurück. Peros Leichnam klappte zu Boden. Selbst im Tod hatte er Orweyns Hammer noch umfasst.
Eara trat zu Pero, doch der schrille Schrei eines Vogels ließ sie aufblicken. Rooaaaaa! Ein großer Raubvogel mit rötlichem Gefieder stieß auf Bragor nieder, krallte sich zwischen den beiden Hornstümpfen in seine schwarzen Haare und hackte nach seinem Gesicht. Callem nutzte diesen Moment der Ablenkung, um Bragor sein Schwert mit aller Kraft in die nackte Brust zu stoßen. Die Klinge trat am Rücken wieder aus. Eara starrte den durchbohrten Tarus fassungslos an. Bragor, ihr alter Gefährte und Freund, ermordet während sie kaum mehr als zehn Schritte entfernt war. Sie spürte die Dunkelheit in sich brodeln und konnte ihren Hass nur mit Mühe beiseite schieben. Callem trat zurück, riss sein Schwert aus Bragors Brust und sah zu, wie der Tarus zu Boden sackte. Mit schnellen Schritten eilte sie zu ihm, der Hammer war vergessen.
Doch jemand anders war vor ihr da. Leander stolperte auf Callem zu, ausgerechnet der Blinde hatte es als Erstes zum Kapitän geschafft. Er war von unzähligen harmlosen Wunden übersät. „Tu es nicht! Lass den Tarus ohne Hörner leben!“, rief er verzweifelt, ohne wahrnehmen zu können, dass das Unglück bereits geschehen war.
Eara hätte erwartet, dass Callem höhnisch lachte, oder den Seher einfach ebenfalls aufspießte, doch stattdessen blickte er ihn nur ratlos an. Varatans Helm verbarg den Großteil seines Gesichts, um seinen Mund bildeten sich tiefe Falten. „Was soll das, Leander?“, stieß er schließlich hervor. „Was hat das zu bedeuten? Weshalb scherst du dich um irgendeinen Tarus?“
Leander blieb zitternd stehen. „Es … es tut mir leid!“, flüsterte er schließlich. Und jetzt erst begriff Eara. Er war ein Seekrieger im Dienste Varatans. Beteiligt an der Jagd auf die Schwarze Kogge.
Callem stand reglos wie eingefroren, während Leander mit gesenktem Kopf an seinem Stab nach unten rutschte, bis er zusammengekauert dahockte. Er war … der einzige, der mir etwas bedeutete. Er hat immer zu mir gehalten, mich beschützt, mich gestärkt. Wir schworen einander ewige Treue.
Leander flüsterte etwas, wieder und wieder. Nur mühsam konnte Eara die Worte verstehen: „Ich habe den Schwur gebrochen.“
Hitze durchfuhr sie. Gefühle von Zorn und Verrat, die sie kaum beiseite schieben konnte. Leander hatte sie alle belogen. Die ganze Zeit. Vertraust du mir? Ihre dunkle Hand ballte sich zur Faust.
Callem zitterte am ganzen Leib und ließ sein blutiges Schwert fallen. Seine ganze Haltung strahlte fassungsloses Entsetzen aus. Dann erstrahlte er in fahlem, blauen Licht. Der silberhaarige Flötenspieler, die junge Zauberin, die Leiche Peros mitsamt Orweyns Hammer, allerorts zwischen den Bäumen glühten die Mitglieder der Schwarzen Kogge auf und zerfielen zu Staub. Ken Dorr traf das gleiche Schicksal. Nur die Gestalt Callems leuchtete noch nach, ehe das blaue Licht endgültig erlosch. Dunkler Staub rieselte sanft zu Boden, legte sich auf Leanders Mantel und malte verschlungene Muster in Bragors Blut.
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Zwischenspiel XVI - Wer Wind sät...

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:24

Zwischenspiel XVI – Wer Wind sät…

Später Vormittag, 24. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

Blaues Licht. Kalter Stein. Ein Gefühl von Asche im Mund. Ken Dorr blinzelte und orientierte sich neu. Eben noch hatte er einer hadrischen Zauberin in den Diensten der Schwarzen Kogge gegenübergestanden. Ihr Name war Ean Quella und trotz ihres jungen Aussehens galt sie in Yra seit über hundertfünfzig Jahren als tot, mehr hatte Ken nicht über sie herausfinden können. Jetzt saß sie, sichtlich desorientiert, am anderen Ende des halbkreisförmigen Saales. Kurz trafen sich ihre Blicke und sie starrte ihn ausdruckslos an. Ken nickte ihr freundlich zu und beachtete sie nicht weiter.
„Was soll das? Wir waren mitten im Angriff!“, schmollte eine grünhäutige Frau hinter Ean Quella. „Ich hatte mir schon eine junge Tare ausgesucht, jetzt wird sie davonlaufen. Kann ich wenigstens den alten Mann da haben?“ Sie zeigte in eine dunkle Ecke. Fast verborgen vom Zwielicht lagen, in eiserne Ketten gehüllt und geknebelt, ein schwarzer Wolf mit grünen Augen und ein breitschultriger Mann mit grauen Haaren, den Ken als Statthalter Orfen identifizierte.
„Still!“, donnerte der Schwarze Herold. „Ihr seid hier, weil ihr versagt habt! Ihr alle habt versagt! Warum nur kam ich auf die Idee, den Ewigen Rat aus einer Bande von Verlierern zu gründen?!“ Die tiefe Stimme des Geistes bebte vor Zorn. Er schwebte oberhalb des zusammengerollten Tarok am unteren Ende der halbkreisförmigen Sitzreihen, dicht vor dem riesigen schwarzen Spiegel aus sich kräuselndem Quecksilber. Der versammelte Ewige Rat sah zu ihm auf. Manche ängstlich, manche zornig, alle angespannt. Ken lächelte. Die Zeit war reif.
„Callem!“, rief der Schwarze Herold. „Die Helden von Andor waren zeitgleich mit euch in Sturmtal! Sie haben ihre Ebenbilder getroffen und den Taren gezeigt, auf welcher Seite sie stehen. Wie konnte das geschehen?“
Der Kapitän reagierte nicht. Er hatte das Gesicht in den zitternden Händen vergraben und zeigte nicht, ob er überhaupt etwas gehört hatte. Der Helm der Macht lag mit erloschenen Augen neben ihm.
Schließlich zischte der Schwarze Herold wütend und wandte seine gezackte Maske, seine nadelspitzen weißen Augen fixierten Ken. „Und du, Dieb? Warum hast du die Helden nicht aufgehalten? Sie haben das junge Herz der Geburt vor den Mächten des Meeres aufgespürt, und sie haben die Schwarze Kogge eingeholt!“
„Ich habe sie auf die weitesten Umwege gesandt, die möglich waren.“, behauptete Ken. „Alles Weitere lag nicht in meiner Verantwortung. Sondern in der eines Kapitäns, dessen Loyalität zwischen dem Ewigen Rat und seinem Bruder gespalten ist.“
Erst die Erwähnung Leanders riss Callem aus seiner Versenkung. Der Kapitän fuhr hoch und bedachte ihn mit dem Blick eines tollwütigen Fuchses, der soeben ein Huhn erspähte, doch Ken fuhr fort: „Und in der der Mächte des Meeres, die selbst von solcher Macht sind, dass fraglich ist, ob sie es als Vorteil erachten, wenn Ihr ein zweites Herz unter Eure Kontrolle bringt.“ Vorwürfe. Verdächtigungen. Es gab nichts besseres, um die Stimmung noch weiter aufzuheizen.
Sofort durchzuckte ein stechender Schmerz seine Stirn. Noch ein Wort und du wirst es bereuen! Er presste eine Hand auf den Edelstein in seiner Stirn, suchte Kenvilars Blick und nickte gequält. Der Schmerz und die Stimme verklangen. Er ließ die Hand von seiner Stirn sinken.
Der Schwarze Herold schenkte ihm keine Beachtung mehr, er hatte sich längst den Mächten des Meeres zugewandt, die er nur stumm musterte.
„Wir haben alles daran gesetzt, das Herz der Geburt aufzuspüren und es dem Ewigen Rat zu bringen.“, sagte Kenvilar. Sie klang gekränkt, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. An ihr zu zweifeln schien unmöglich. Widerstrebend zollte Ken ihr Respekt.
„Und doch wart ihr zu langsam!“, entgegnete der Schwarze Herold, ehe er von ihnen abließ. „Und du, Nomion! Deine Armee hat gegen einen Haufen Bauern verloren! Alle Erfolge der Belagerung sind dahin!“
„Sie hatten Söldner aus dem Osten! Und Schildzwerge!“, verteidigte sich Nomion heiser. Er stützte seinen hageren Körper schwer auf seinen Stab und im Halbdunkel meinte Ken zu erkennen, dass seine Beine dick bandagiert waren. „Und ich habe hier das Blut aller Kreaturen. Wir können sie einfach zurückholen.“
Der Schwarze Herold senkte seine gezackte Maske, bis sein Blick auf dem beinernen Kelch zu Nomions Füßen ruhte. „Das ist der einzige Grund, aus dem du noch lebst. Der Preis für Versagen ist der Tod. Ihr alle habt Glück, dass ich alleine hier wäre, wenn ich euch diesen Preis ausgezahlt hätte.“
Er fuhr herum. „Varkur! Lass mich raten: Du hast nichts herausgefunden?“ Der dunkle Nebel zuckte unbehaglich. „Natürlich nicht!“, schrie der Schwarze Herold. „Was habe ich auch erwartet, von jemandem, der schon so oft bewiesen hat, wie gut er verlieren kann. Und du, Tarok?“
Der Drache machte keinen guten Eindruck. Er war unleugbar zusammengeschrumpft und wurde inzwischen von Nomion überragt. Seine farblosen grauen Schuppen hatten jeden Glanz verloren. Er sah eher aus wie eine steinerne Statue denn wie ein lebendes Wesen. Verstärkt wurde dieser Eindruck dadurch, dass Tarok sich bislang nicht einmal bewegt hatte.
„Du speist mich mit dummen Ausreden und Verzögerungen ab! Du wirst von Tag zu Tag schwächer, ich musste dich schon neunmal zurückholen! Doch du machst keinerlei sichtbare Fortschritte!“
Ken lachte innerlich. Der Schwarze Herold begriff gar nicht, was er anrichtete. Der Ewige Rat war eine bunte Mischung aus alten Feinden und neuen Rivalen, die es allesamt nicht gewohnt waren, zu gehorchen. Weder der gemeinsame Hass auf die Helden von Andor noch die Versprechen und Drohungen des Herolds konnten sie für immer zusammenhalten. All die Anschuldigungen brachten den Ewigen Rat nur noch weiter auf. Und Ken hatte seinen Teil dazu beigetragen. Seine Macht war das Wort. Lügen, Angebote, Forderungen. Ideen und Gedanken, einmal ausgesprochen, die sich festsetzten und Unfrieden schürten. Eigentlich war es kaum mehr als warme Luft aus seinem Mund. Ein schwacher Wind, den er während der letzten Ratssitzung ausgesät hatte. Jetzt war es Zeit, Sturm zu ernten.
„Fortschritte wobei?“, fragte Ken Dorr laut. „Was ist Taroks Aufgabe? Hat es etwas zu tun mit … dem dritten Herzen?“ Augenblicklich hatte er die gesamte Aufmerksamkeit. Sogar Tarok öffnete eines seiner Augen einen winzigen Spalt weit.
„Sei still!“, rief der Schwarze Herold, doch der Schaden war bereits angerichtet.
„Das dritte Herz?“, keuchte Nomion, sichtbar um seine Fassung bemüht. „Es gibt ein drittes Herz? Ihr … Ihr wusstet davon! Tarok wusste davon! Warum wurden wir nicht eingeweiht?!“
Auch aus Richtung der Schwarzen Kogge hörte Ken murrende Stimmen, bis ein eisiger Wind auf Callem niederfuhr. Ken meinte, Worte daraus zu vernehmen. Der Kapitän verzerrte zornig das Gesicht und versuchte, seine Mannschaft zu besänftigen. Doch nicht nur Ken hatte Arkterons Eingreifen bemerkt.
Sieh an!“, kreischte Varkurs entsetzliche Stimme. „Der Herr der Stürme will die Schwarze Kogge ruhigstellen. Scheint so, als interessiere das dritte Herz die Mächte des Meeres nicht sonderlich. Äußerst verdächtig…
Der Schwarze Herold, der bis eben noch Nomion gedroht hatte, fuhr herum und fixierte die Mächte des Meeres. Kenvilar setzte zu einer Verteidigungsrede an, wurde jedoch immer wieder von der lärmenden Schwarzen Kogge unterbrochen. Callem schien es mittlerweile aufgegeben zu haben, seine protestierende Mannschaft zu beruhigen. Auch Varkur ließ ab und an einen höhnischen Kommentar fallen. Ich bin einverstanden, Dieb. Gemeinsam verleiten wir sie zum Angriff. Der Dunkle Magier schlug sich besser als erwartet. Schmähungen schossen durch den Saal wie Geschosse, wenn auch mit ungleich größerer Wirkung.
„Nomion!“, rief Ken über den Lärm. Der Krahder sah kurz auf und Ken nickte ihm langsam zu. Mehr brauchte er nicht. Ich werde sein Geheimnis dereinst ans Licht zerren, das schwöre ich. Und wenn es so weit ist, wird der gesamte Ewige Rat es erfahren.
Nomion erwiderte das Nicken und rief Tarok zu: „Welches Wissen hast du über das dritte Herz, Drache? Offenbare es, oder ich werde es aus dir herauszerren.“
Ken wurde von einem schrillen, gequälten Kreischen abgelenkt. Einer von Oktohans aufgebracht peitschenden Tentakeln war mit der Spitze in Varkurs schwarzen Nebel eingedrungen. Die Dunkle Magie verdampfte zischend und zuckte unkontrolliert. Ein unartikulierter Schrei drang aus der Finsternis, dann schlug Varkur zurück. Der dunkle Nebel formte sich zu dicken Tauen, die auf Oktohan zuschossen. Bei jeder Berührung zerstoben sie wirkungslos, also suchten sie sich andere Opfer und schlangen sich stattdessen um die Mitglieder der Schwarzen Kogge. Damit brach endgültig das Chaos aus.
Ken zog den Kopf ein und verbarg seine Zufriedenheit. Eine Weile ließ er dem Geschehen seinen Lauf und amüsierte sich über den Schwarzen Herold, der in ohnmächtigem Zorn den Ewigen Rat anbrüllte, endlich ruhig zu sein, und damit nur zum allgemeinen Aufruhr beitrug. Nomion und Tarok starrten sich gegenseitig an und fochten ein stummes Duell aus, von dem Ken nur Nomions sich unablässig bewegende Lippen mitbekam. Varkur setzte sich gegen die Schwarze Kogge zur Wehr und Kenvilar betrachtete aus zusammengekniffenen Augen das Chaos, sie schien zu überlegen, ob sie es verstärken oder eindämmen sollte. Über allem hing ein dumpfes, keuchendes Lachen, das aus der Ecke drang, in der der gefesselte Orfen lag.
Schließlich erhob Ken sich von seinem Sitz und eilte am Rand des Saales entlang zum Schwarzen Herold. „Beendet es!“, rief er, sobald er in Hörweite war.
Der Herold wandte ihm seine gezackte Maske zu und hob eine Faust. Blaues Glühen drang zwischen seinen Fingern hindurch. „Du hast schon genug Unheil angerichtet, Dieb!“, zischte er.
„Wie hätte ich ahnen sollen, dass eine einzige Frage all das auslöst?“, erwiderte Ken beleidigt. Dann schüttelte er sich. „Der Ewige Rat steht kurz vor der Kippe. Ihr alleine habt die Macht, das hier zu beenden!“
Der Herold zuckte zusammen und blickte unschlüssig auf seine Faust.
„Seht Euch doch um!“, schrie Ken. „Sie schwächen sich nur gegenseitig.“
Eine Flammenzunge zuckte fauchend durch den Saal. Der geschwächte Tarok hatte wohl versucht, sich mit physischen Mitteln gegen Nomion zu behaupten, doch da er sein Maul nicht vollständig geöffnet hatte, verfehlte das Feuer ihn deutlich und traf stattdessen den gefesselten schwarzen Wolf. Er jaulte und seine grünen Augen verengten sich, seine komplette Flanke wurde mitsamt seinen Ketten aufgesprengt. Er hechtete trotz der entsetzlichen Wunde erstaunlich flink durch die Halle und stieß den beinernen Kelch zu Füßen des zitternden Nomion um, ehe der Schwarze Herold ihn zu Staub zerfallen ließ. Das Blut einer ganzen Armee versickerte zwischen den Rissen im Stein, und niemand machte sich die Mühe, es aufzufangen.
„Beendet es!“, wiederholte Ken nachdrücklich. Und der Schwarze Herold hob zitternd die Faust.
Plötzlich spürte Ken einen sengenden Blick auf sich. Der Kristall in seiner Stirn sandte heiße Wellen durch seinen Körper. Du wagst es nicht! Obwohl alles nur noch Schmerz war, verzerrten Kens Lippen sich zu einem Lächeln. „Zu spät.“, flüsterte er. „Ihr habt gut gespielt, Kenvilar. Doch nicht gut genug.“
Dann erfüllte gleißendes blaues Licht den halbkreisförmigen Saal, und der Lärm verstummte. Der Schmerz verklang. Sie waren allein. Ken keuchte und rieb sich die Stirn. „Endlich!“, stieß er hervor. „Der Fluch ist gebrochen.“
Der Schwarze Herold ließ die Faust sinken und musterte ihn. „Wovon sprichst du?“
„Kenvilar, die Tückische! Sie hat uns hintergangen.“ Er atmete tief ein und erwiderte den stechenden Blick des Geistes. Eine Lüge, glaubwürdiger als die Wahrheit. „Habt Ihr Euch nicht gefragt, woher der Stein in meiner Stirn stammt? Kenvilar pflanzte ihn, um mich zu kontrollieren. Erst jetzt kann ich wieder frei sprechen.“
„Sprechen?“
„Habt Ihr tatsächlich geglaubt, es wäre den Mächten des Meeres nicht gelungen, innerhalb von fast drei Monden eine tote Frucht aufzuspüren?“ Ken lächelte bitter. „Kenvilar persönlich gab den Helden das junge Herz der Geburt.“
„Was?!“ Der Schwarze Herold neigte ungläubig seine Maske. „Aber … weshalb?“
„Weder Sterblicher noch Gott kann die volle Macht eines einzelnen Herzens nutzen. In den Händen der Helden konnte die Frucht ihr nicht schaden, in Euren dagegen durchaus. Holt Kenvilar zurück, wenn Ihr mir nicht glaubt. Fragt sie, woher sie vom dritten Herzen wusste, und warum sie den Helden davon erzählte. Fragt sie, weshalb die zeitlosen Mächte des Meeres, die schon immer über das Hadrische Meer wachten, am Erfolg des Ewigen Rates interessiert sind. Fragt die Tückische, die Meisterin der Intrige, wie sie es sich erklärt, dass der Ewige Rat an einer kleinen Frage fast zerbricht. Doch bedenkt, dass von diesem Moment an jedes Wort, das ich spreche, ein Wort von ihr sein wird.“
Der Schwarze Herold schwieg lange. Als seine tiefe Stimme erneut erklang, waren alle Zweifel daraus verschwunden. „Wussten Arkteron und Oktohan von ihrem Verrat?“
„Ich gehe davon aus, doch ich weiß es nicht.“, meinte Ken achselzuckend. „Ich empfehle, alle drei nicht mehr zurückzuholen. Und nicht nur sie.“
„Was meinst du, Dieb?“
„Der Ewige Rat konnte niemals Erfolg haben. Nicht dieser Ewige Rat, zumindest. Die Mächte des Meeres in einem Raum mit Varkur, dem Erben des Seekönigs Varatan, der einst gegen sie in die Schlacht zog? Nomion, der erste Krahder, der sein Volk in den Krieg gegen die Drachen führte, und Tarok, der ihn ermordete?“ Ken schüttelte entschieden den Kopf. „Das Ziel des Ewigen Rates lautet Rache, entsprechend rachsüchtig sind seine Mitglieder. Bedauerlicherweise haben sie nicht nur mit den Helden von Andor eine Rechnung offen.“
„Du hast recht, Ken Dorr.“, sagte der Herold leise. „Nomion hat an der Rietburg jämmerlich versagt. Er kann oder möchte kein weiteres Wissen über das Herz des Todes mit mir teilen. Und er wird seine Feindschaft gegenüber Tarok nie begraben können. Der Ewige Rat hat keine Verwendung mehr für ihn. Und die Mächte des Meeres verdienen für ihren Verrat Schlimmeres als den Tod. Gibt es noch mehr alte Feindschaften, von denen ich wissen sollte?“
Ken schüttelte den Kopf. Für seine weiteren Pläne brauchte er den Ewigen Rat so stark wie möglich. „Doch Ihr solltet aufpassen, dass keine neuen entstehen. Die heutigen Ereignisse waren nur möglich, weil der Rat nichts vom dritten Herzen wusste. Ihr solltet keine solchen Geheimnisse haben, wenn Ihr nicht sicher seid, dass sie niemals ans Licht kommen.“
Kurz fürchtete Ken, er sei zu weit gegangen. Doch der Herold nickte nur widerstrebend. Blaues Licht erfüllte den halbkreisförmigen Saal und formte sich zwischen den Sitzreihen zu Umrissen. Als der Ewige Rat erneut zusammengerufen worden war, saß Ken bereits auf seinem Platz.
Für einen Moment herrschte Verwirrung, und der Schwarze Herold nutzte die Gelegenheit, bevor erneute Unruhe ausbrechen konnte. „Der Ewige Rat wurde soeben verkleinert. Als Strafe für ihr Versagen und ihre Unbeherrschtheit werden Nomion und die Mächte des Meeres uns künftig nicht mehr behindern. Doch ich muss euch warnen: Wenn sich der heutige Vorfall wiederholen sollte, werde ich euch allesamt auslöschen und den Ewigen Rat von Grund auf neu errichten. Hademar. Shron. Shan. Die Helden von Andor haben noch genug alte Feinde, auf die ich zurückgreifen kann.“
„Aber wir sind …“, rief ein Mann aus der Schwarzen Kogge. Er trug in seiner verbliebenen Hand den Hammer der Stärke, und er klappte seinen Mund augenblicklich wieder zu, als er von fahlem blauen Licht eingehüllt wurde. Ansonsten schenkte der Schwarze Herold ihm keine Beachtung. Er betrachtete den zusammengeschrumpften Rat und sagte langsam: „Von heute an arbeitet ihr zusammen! Keine Feindschaft mehr. Keine Vorwürfe. Keine Geheimnisse. Ja, auch ich habe euch nicht alles gesagt, was ich über die Herzen wusste. Doch damit ist jetzt Schluss. Ihr alle sollt vom dritten Herzen erfahren.“
Eine angespannte Stille trat ein. Der Schwarze Herold senkte die Maske und schien auf etwas zu lauschen. „Nein, Tarok.“, sagte er plötzlich. „Keine Geheimnisse mehr. Berichte ihnen davon.“
Der Drache richtete sein zu einem Spalt geöffnetes Auge auf den Ewigen Rat, die geschlitzte Pupille wanderte langsam hin und her. Und Ken hörte eine Stimme in seinen Gedanken, wie ein fernes Flüstern.
Das dritte Herz. Wir Drachen nannten es den Baum des Blutes und wir verdanken ihm unser Leben und unseren Untergang.
Vor etlichen Jahrtausenden, in einer Zeit, die ich nur aus den Erinnerungen meiner Artgenossen kenne, herrschten die Drachen frei über die Himmel der Welt. Unser vereintes Bewusstsein verhinderte jeden Konflikt, half uns bei der Jagd und ließ unsere Erinnerungen unsere kurzlebigen Körper überdauern. In unserer Neugierde erkundeten wir alle Winkel dieser Welt. Wo immer ein Wesen fühlte, dachte und sah, konnten wir mit ihm sehen. Unser Geist durchstreifte die ewige Dunkelheit des Meeres, die einsamen Weiten des Nordens, die Steppen und Wälder und die tiefen Höhlen unter den Bergen. Und dort unten fanden wir etwas. Wir fanden eine Welt, weit unter dieser hier, voller einzigartiger Wunder und fremder Wesen, genährt von einer Quelle unvergleichlicher Macht: Dem Baum des Blutes. Wir wollten das näher untersuchen. Unser Geist vereinte die Wesen, die sich zuvor gegenseitig bekriegt hatten, und gab ihnen eine neue Aufgabe. Sie formten die Welt der Tiefe nach unseren Wünschen. Sie schufen unserem Geist einen Weg zum Baum des Blutes, auf dass geschwächte oder kranke Drachen seine Energie anzapfen konnten. Sie schufen einen Ort, an dem unser Bewusstsein ruhen konnte. Sie schufen Krahal.

Äußerlich blieb Ken gelassen, doch in seinem Inneren tobte er. Krahal! Das dritte Herz war in Krahal! Das machte alles zunichte!
Wenn die anderen beiden Bäume Geburt und Tod sind, Ende und Anbeginn, so ist dieser die Ewigkeit selbst. Im Baum des Blutes liegt die Macht, dem Zahn der Zeit zu trotzen. Für immer sollten die Kraft in unseren Flügeln, die Wärme der Sonne und die Stärke unserer Herzen erhalten bleiben. Weder Sterblicher noch Gott kann die volle Macht eines einzelnen Herzens nutzen. Doch wir empfingen die Energien, auf die wir zugreifen konnten. Die tiefe Welt hatte sich verändert. Die Kreaturen dort unten hatten sich verändert. Und schließlich veränderten sich auch die Drachen. Wir zapften die Energien Krahals an, sobald wir aus dem Ei schlüpften. Mit jeder Generation wurden wir größer, stärker … und langlebiger. Je mehr wir uns veränderten, desto besser konnten wir die Kraft Krahals aufnehmen. Bis wir zuletzt aufhörten, zu altern und zu sterben. Wir waren keine Götter, doch auch keine Sterblichen mehr. Der Baum des Blutes gehörte uns. Wir erhielten so viel von ihm, und wir ketteten uns daran. Wir konnten nicht mehr leben ohne ihn. Unsere Körper durchstreiften die Lüfte, doch unser Geist weilte in Krahal. Unserer neuen Heimat. Wir schlossen ein Bündnis mit den Zwergen, die uns Schächte und Gänge gruben, damit wir Krahal näher sein konnten.
Doch dann wurden wir verraten. Was wir den Zwergen geschenkt hatten, verwendeten sie gegen uns. Der Unterirdische Krieg entbrannte, und er kannte nur einen Sieger: den Tod. Doch mit der Macht Krahals waren wir den Zwergen überlegen, und auch unseren anderen Feinden, den Trollen und Riesen. Bis zu jenem schicksalhaften Tag vor fast eintausend Jahren. Erst vor kurzem erfuhr ich, was die Katastrophe damals auslöste. Nomion, der Hexer, hatte den Schwarzen Baum gefunden und einen Samen in Krahd eingepflanzt. Um das Herz des Todes besser kontrollieren zu können, zerstörten seine Nachfolger den alten Baum und lösten damit ein Beben aus, das die ganze Welt ins Wanken brachte … und nicht nur diese. Krahal, Heimat und Zuflucht aller Drachen, wurde tief erschüttert. Eine Verbindung zwischen den Welten hatte sich aufgetan, hier in diesen Hallen, durch die unsere Kreaturen in die Oberwelt gelangen und unsere Kriege für uns fortführen konnten. Doch der Baum des Blutes war zerstört worden, seine Überreste begraben. Die Jahrhunderte, die wir dank der Macht der Ewigkeit gewonnen hatten, wurden uns nun in wenigen Monden geraubt. Die Drachen alterten wieder. Unser Geist durchsuchte die Tiefen von Krahal nach einem Weg, den Prozess aufzuhalten oder umzukehren. Doch als endlich ein Samenkorn zwischen den Trümmern gefunden und eingepflanzt wurde, waren die Drachen längst gestorben oder versteinert. Mit einer Ausnahme. Ein Drache, jung an Jahren, dem die Erschütterung Krahals wenig anhaben konnte, blieb zurück. Ich blieb zurück.
Diese Einsamkeit! Ihr könnt sie nicht ermessen. Ihr wart schon immer eingesperrt mit euren Gedanken. Ich dagegen trug die Erinnerungen aller Drachen in mir fort und war doch allein. Unser geeintes Bewusstsein war nur noch mein eigenes. Ich zog mich zurück, ließ meine Kreaturen für mich kämpfen und stärkte mich an der Energie Krahals. Ich allein nahm die gesamte Macht des Baumes des Blutes in mich auf. Ich wurde größer und mächtiger als je ein Drache vor mir, bis die Helden von Andor mich töteten und das Bewusstsein der Drachen erlosch.
Als ich erneut erwachte, in diesem Raum, spürte ich sofort, dass es erneut geschehen war. Der Schwarze Baum war erneut vernichtet worden, und erneut hatte die Erschütterung auch den Baum des Blutes zerstört. Seit meiner Rückkehr versenke ich meinen Geist nach Krahal, während mein Körper verfällt. Ich lenke die Kreaturen, und ich gab ihnen zwei Aufgaben: Erstens sollen sie die alte Verbindung zwischen Krahal und diesen Hallen erneuern. Dort unten stehen Armeen bereit aus Kreaturen, die kein Auge, das das Licht der Sonne kennt, je erblickt hat. Und zweitens sollten sie das neue Samenkorn aufspüren.

Tarok beobachtete den Ewigen Rat ausgiebig. Dann offenbarte er mit einem Flüstern voller Genugtuung: Diese zweite Aufgabe haben meine Kreaturen vor wenigen Stunden abgeschlossen. Das Herz der Ewigkeit ist in unserem Besitz. Wenn sie es einpflanzen würden, würde ich meine Kraft schon in wenigen Stunden zurückerlangen. Doch wir werden diesen Fehler nicht erneut begehen. Wir werden es nach der nächsten Erschütterung nicht schon wieder verlieren. Stattdessen werden sie es nach hier oben bringen, sobald die Passage geöffnet wurde. Ich werde tun, was kein Drache zuvor getan hat: Ich werde den Baum des Blutes nicht nur mit meinem Geist, sondern mit meinem Körper in Empfang nehmen. Ich werde meine Ewigkeit zurückerlangen und damit eine Macht erringen, die der des Schwarzen Herolds ebenbürtig ist.
Erstaunt betrachtete Ken den Geist. Er war tatsächlich bereit, sich diese Macht zu teilen? Vertraute er Tarok so sehr? „Und jetzt, wo das Herz der Ewigkeit in Sicherheit ist, können wir auch den Baum der Lieder zerstören.“, ergänzte der Schwarze Herold. Er schien zufrieden. „Wenn wir dann noch dessen Samen in unseren Besitz bringen, kontrolliert der Ewige Rat alle drei Herzen! Dann werden wir endgültig unaufhaltsam sein! Ken Dorr, dies ist deine neue Aufgabe: Nimm den Helden die Frucht ab. Zeig, wie gut du als Dieb wirklich bist.“
Ken ließ eine Hand in seine Tasche sinken und strich über das Drachenauge, das darin lag. Er war gut. Gut genug, um zu wissen, wie der nächste Schritt aussah. Er würde Unterstützung brauchen. „Die tote Frucht wird von Drukil, dem Hautwandler, verwahrt. Er misstraut mir von allen am meisten und wird mich nicht in ihre Nähe lassen.“, protestierte Ken daher. „Doch ich habe bereits eine Idee. Die Schwarze Kogge wird mir helfen müssen.“
„Sie wird es tun!“, bestimmte der Schwarze Herold. „Und wo wir schon von ihr reden: Callem, werden die falschen Helden uns auch jetzt noch unterstützen? Obwohl die Mächte des Meeres, ihre Schöpfer, nicht mehr unter uns sind?“
Der Kapitän war schon wieder in seine eigenen Gedanken versunken, die Grünhäutige von vorhin antwortete an seiner Stelle: „Das werden sie. So oder so.“ Ihr Grinsen war Ken etwas unheimlich.
„Ich gebe euch einen Tag, um eure Kräfte zu sammeln. Morgen Abend legt ihr an der Küste des Wachsamen Waldes an und marschiert zum Baum der Lieder. Das Herz der Geburt muss zerstört sein, ehe die Sonne zweimal aufgeht. Und Ken Dorr: Wenn die Helden schon wieder dort auftauchen, dann trifft dich dasselbe Schicksal wie Nomion!“
Ken nickte nur, und der Schwarze Herold fuhr fort: „Varkur, du sammelst die Überreste von Nomions Armee und schickst sie zur Rietburg. Die Eroberung werden wir beide übernehmen. In zwei Tagen soll auch die Rietburg brennen!“
Ken öffnete den Mund, doch der Herold brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. „Keine Sorge, Ken Dorr, ich werde mich dort nicht zeigen. Was auch immer das für eine Falle sein soll, sie wird mich nicht treffen.“
Ken nickte langsam. Der Herold wurde ungeduldig. Das ließe sich bestimmt nutzen.
„Damit sollte alles geklärt sein!“, rief der Geist. „Ich schicke euch nun zu euren Aufgaben.“
Er hob den Arm, blaue Lichtstrahlen schossen aus seiner Faust. Ken betrachtete die leeren Plätze, die einst Nomion und den Mächten des Meeres gehört hatten. Jede deiner Lügen wird einem Feind helfen, dessen Geschick und Macht du nicht gewachsen bist. Ken lächelte. Er ließ sich sein Schicksal nicht vorschreiben! Der Ewige Rat würde sterben und wiederauferstehen, wie schon so oft inzwischen, doch diese Plätze würden nie wieder besetzt werden. Kenvilar würde tot bleiben. Diese Runde ging an ihn. Er würde auch sein dreifaches Spiel gewinnen!
Mit diesem Gedanken schwoll das blaue Licht an, bis es ihn vollkommen verschluckt hatte. Und dann war nichts mehr.


Und an der tiefsten Stelle in Hadrias Unterwelt platzte ein feiner Riss ganz auf, und zwischen dem Stöhnen des gequälten Steins erscholl eine leise Stille, geboren aus Tönen, die nie erklingen konnten.
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P - Der Klang der Entscheidung

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:24

P – Der Klang der Entscheidung

Sonnenhoch, 24. Wintertag 77 A.Z.
Sturmtal, Hadrisches Meer

Leander klammerte sich an seinen knorrigen Stab. Das trockene Holz war das einzige, was er spürte, alles andere fühlte sich taub an. „Ich habe den Schwur gebrochen.“, flüsterte er immer wieder und wartete auf eine Antwort. Es dauerte lange, bis er begriff, dass keine kommen würde. Sein Bruder war fort. Leander zuckte und der Stab entglitt seinen Händen. Seiner letzten Stütze beraubt sackte sein Oberkörper in den Schneematsch. Er roch Blut. Er spürte, dass seine Augenbinde verrutscht war. Er hasste es, wenn andere seine blinden Augen sahen, doch er konnte sich nicht regen und blieb einfach liegen. Seine Gedanken lähmten ihn. Die Furcht vor dem, was geschehen war, und vor dem, was daraus folgen mochte.
Leander hatte seine Gabe eingesetzt, um seinen Bruder aufzuspüren, und ausnahmsweise blieb er vor der Dunkelheit verschont. Sie zeigte ihm nur, was er sehen wollte, und wovor er sich zugleich fürchtete: Callem, im Kampf mit Bragor. Er hatte gewusst, wie dieser Kampf enden musste, und doch hatte er die naive Hoffnung gehegt, dieses Ende verhindern, oder zumindest verschieben zu können. Am liebsten hätte er Bragor vor Callem gerettet, und Callem vor den Helden, und die vor den Kreaturen, und deshalb hatte er gar nichts erreicht.
Was war er doch für ein Narr! Er hatte sich nicht rechtzeitig entschieden, also hatte er alle verloren. Bragor, der zweifelsohne tot war. Callem, der jetzt endlich wusste, dass ihr Schwur gebrochen war. Die Helden, die begriffen, dass er nicht war, wer er zu sein vorgab. Er hatte keine Seite verraten wollen, war vor der drohenden Konfrontation davongelaufen, anstatt sich auf sie vorzubereiten.
Um Leander tobte noch immer der Kampf, und er erwartete, dass irgendjemand zu ihm treten und ihn töten würde. Wer auch immer. Eine Kreatur vielleicht. Ein Tare. Ein Gefolgsmann Callems. Oder einer seiner sogenannten Freunde. Er hätte nicht die Kraft, sich zu wehren. Nicht einmal den Wunsch dazu. Doch sie alle ignorierten ihn. Vielleicht, weil niemand wusste, auf welcher Seite er eigentlich stand. Nicht einmal er selbst.
Irgendwann trat der Kampflärm für ihn immer weiter in den Hintergrund. Erst lauschte er dem Rauschen eines nahen Wasserfalls, dann verschwand auch das und zurück blieb die Stille, die ihm heute keine Ruhe schenkte. Er war noch immer wach, doch er nahm für eine lange Zeit nichts anderes war als den Schmerz des Versagens. Er war schutzlos und allein, und er hatte es verdient.
Erst, als er von einer Fußspitze angestupst wurde, löste sich seine Starre. Mit einem Mal spürte er seine verkrampften Muskeln, in denen die Kälte brannte, und auch die Wunden, die er heute eingesteckt hatte. Harmlos, aber schmerzhaft. Dann kehrten auch die Geräusche zurück. Der Wasserfall rauschte unbeeindruckt, doch der Kampflärm war nur noch aus weiter Ferne zu hören, in unmittelbarer Umgebung war er dem Wehklagen der Taren gewichen, die an ihren Verletzungen litten.
„Steh auf, Leander!“, sagte Eara über ihm. Dass ihre Stimme kalt wie Eis war, war er gewohnt, doch diesmal lag noch etwas anderes darin. Das gedämpfte Echo von etwas so tief Vergrabenem, dass es unmöglich war zu sagen, was dahinterstehen mochte. Und es machte Leander Angst.
Er stöhnte und tastete mit steifen Fingern nach seinem verlorenen Stab. Schließlich wurde er seiner habhaft und versuchte, sich aufzurappeln. Seine Beine kribbelten unangenehm und er knickte immer wieder ein. Schließlich wurde er wie von einer großen Faust gepackt und hochgehoben. Selbst als er wieder abgesetzt worden war, spürte er die Dunkle Magie weiterhin drohend um sich.
„Ich wollte es euch sagen.“, flüsterte er rau und schob seine Augenbinde zurecht.
„Nein. Wolltest du nicht.“
Er musste sich eingestehen, dass Eara recht hatte. Seine Hoffnung, die anderen könnten es nicht mitbekommen haben, war damit jedenfalls dahin.
„Eara! Leander!“, rief Chada. Die Erschöpfung war ihr anzuhören, doch die Entschlossenheit überwog. „Worauf wartet ihr? Es wird noch gekämpft, wir müssen helfen.“
„Die Schwarze Kogge ist verschwunden, die Kreaturen haben ihre Koordination verloren und die falschen Helden sind geflohen.“, entgegnete Eara. „Die Taren werden diesen Kampf gewinnen, und wir haben Wichtigeres zu besprechen!“
Kurz lag eine ungewohnte Schärfe in ihrer Stimme, die wohl auch Chada aufhorchen ließ. „Ich hole die anderen.“
Schritte entfernten sich. Leander schwieg unbehaglich und stapfte gegen die Kälte auf der Stelle. Seine Gedanken rasten, ohne dass er ihre Richtung lenken konnte. Mal dachte er an Callem, was er jetzt wohl dachte, wie er sich fühlte, dann wieder spürte er die Furcht in sich aufsteigen.
Schritte näherten sich, Leander erkannte mühelos Chada, Thorn und Drukil. Ken Dorr fehlte; da auch die Schwarze Kogge verschwunden war, war das nicht weiter verwunderlich.
„Er hat das nicht verdient.“, sagte Chada fest, und kurz fragte sich Leander, wovon sie sprach. „Nach allem, was er für Andor getan hat. Nach allem, was er durchlitten hat. Er war solch ein sanfter Geist. Er hätte hier seinen Frieden finden sollen.“
„Jetzt hat er seinen Frieden gefunden.“, antwortete Thorn leise.
„Es hätte anders enden können.“ Earas Stimme hatte zur gewohnten kalten Ruhe zurückgefunden. „Wenn du uns erzählt hättest, was du gesehen hast. Nicht wahr, Leander?“
„Wovon sprichst du, Eara?“, knurrte Drukil.
„Lasst sie.“, keuchte Leander. „Sie hat recht. Ich habe … Bragors Tod gesehen.“
„Was? Warum hast du geschwiegen?“ Noch lag in Thorns Stimme nur Verblüffung. Ein Hauch von Verständnis. Kein Vorwurf. Leanders Brust schmerzte beim Gedanken daran, wie schnell sich das ändern würde, wenn er die Wahrheit sagte. Also blieb er still.
„Es gibt so einiges, was er uns verschwiegen hat.“, setzte Eara unbarmherzig nach. „Wir haben dir vertraut, und …“ Sie holte Luft. „Es war ein Fehler, nur in Ken Dorr nach einem Verräter zu suchen.“
„Ich habe meinen Namen gehört?“, erscholl eine hohe, kalte Stimme. Schleichende Schritte näherten sich. „Ich habe eine gute Nachricht. Soll ich damit warten?“
„Sprich!“, befahl Eara.
„Meine Bemühungen haben Früchte getragen. Der Schwarze Herold hat soeben den Ewigen Rat zusammengerufen, und die Mitglieder sind sich an die Gurgel gegangen. Der Herold musste einige aus unseren Reihen ausschließen. Nomion und die Mächte des Meeres sind nicht mehr.“
Selbst jetzt noch spürte Leander die Erleichterung, dass sein Bruder nicht darunter war.
„Ist das wirklich eine gute Nachricht? Die Mächte des Meeres hätten uns noch eine große Hilfe sein können.“, antwortete Thorn verhalten.
„Was geschehen ist, ist geschehen. Widmen wir uns wieder Leander.“, forderte Eara. „Du hast uns verraten und belogen. Du hast uns Visionen verschwiegen und uns in die falsche Richtung gelenkt. Du hast uns verschwiegen, dass du Meres kanntest – und nicht nur ihn. Und wofür? Für die Liebe!“
„Eara?“, fragte Chada mit zitternder Stimme. „Was meinst du?“
„Er und Callem. Sie sind Geliebte.“
Schweigen senkte sich über sie. In der Ferne weinten Taren unter dem Rauschen des Wasserfalls.
„Sag, dass das nicht stimmt.“, presste Thorn schließlich hervor.
„Es stimmt tatsächlich nicht.“, widersprach Ken Dorr an seiner statt. „Sie sind keine Geliebten. Sondern Brüder.“
„Du wusstest es?“, empörte sich Drukil. Leander konnte den fassungslosen Zorn hören. Er wusste nur nicht, auf wen er sich richtete.
„Schon seit wir aus dem Gebirge kamen. Ich konnte ihn verstehen. Er schwieg, weil die Wahrheit oftmals schwerer wiegt als die Lüge. Nicht um zu schaden, nur um zu entkommen. Vor eurem Misstrauen. Euren Fragen. Oder so dachte ich zumindest. Ich dachte, er stünde auf unserer Seite. Doch scheinbar habe ich mich geirrt.“
„Nein!“, würgte Leander hervor. „Ich stehe auf eurer Seite. Ich hasse den Ewigen Rat.“
„Und deinen Bruder?“, fragte Eara.
Leander schüttelte den Kopf. „Ich … ich wollte nicht, dass das geschieht. Ihr seid meine Freunde, und er mein Bruder, und … ich kann keine Entscheidung treffen.“
„Freunde?“, fragte Ken Dorr langsam. „Die du belügst? Deren Vertrauen du missbrauchst? Die du von Anfang an nur begleitet hast, um sie zu verraten?“
„Ich habe sie nicht verraten! Am Anfang … Callem kam zu mir, nachdem die Schwarze Kogge versenkt war. Er wollte Rache. Ich begleitete euch, um euch zu verraten. Aber … in Krahd! Ich konnte es nicht! Ich habe wirklich angefangen, euch zu mögen! Euch als Freunde zu sehen!“
Er spürte, dass er am ganzen Leib zitterte. „Bitte! Ich …“
„Warum ich?“, wurde er unterbrochen. Es war Drukil, und sein Flüstern war wie ein Schrei. „Du wolltest uns verraten. Warum hast du mich geheilt? Zusätzliche Verstärkung mitgebracht?“
Leander senkte den Kopf. Er fürchtete sich vor dem, was er sagen musste, doch er war zu lange vor der Wahrheit davongelaufen. „Es war Callems Plan. Er brachte dich zu mir. Du warst meine Waffe. In der Stunde der Not sollte ich dir den entscheidenden Schubs geben. Alle Kiesel bereitlegen, damit du die Beherrschung verlieren und alles zerstören würdest.“
„Du…“ Drukil keuchte schwer. „Du hast gesagt, du vertraust mir! Du hast gesagt, du glaubst daran, dass ich stärker bin als der Bär! Du hast gesagt, ich könnte euch nicht schaden.“ Seine Stimme nahm einen erstickten Klang an. „Du hast gelogen! Du wolltest mich benutzen. Weil ich ein Monstrum bin!“
Leander hob langsam die Hand und tastete nach Drukil, bis er struppigen Bart unter seinen Fingern spüren konnte. Doch die Hand wurde abgeschüttelt.
„Ich dachte … du wärst Familie!“, zischte Drukil, dann drängte er sich an Leander vorbei und warf ihn zurück in den Schnee. Seine schweren Schritte entfernten sich und verstummten, dann erscholl aus der Ferne ein zorniger Schrei, der noch lange in der Windstille Sturmtals hing.
Leander lag zitternd im Schnee. Er hatte nicht mehr die Kraft, aufzustehen. „Bitte.“, wimmerte er. „Ich habe euch nicht verraten.“ Ruckartig hob er den Kopf. „Ihr müsst mir noch eine Chance geben. Ihr alle wäret tot ohne mich! Chada, du wärest keinen Tag alt geworden ohne meine Hilfe!“
Er hörte sie nach Luft schnappen. Sie schaffte es nicht einmal, die Frage zu formulieren.
„Ich brauchte euch! Ich brauchte dich! Ihr musstet Varkur töten und Narkon durchqueren. Ihr musstet Varatans Fluch brechen! Doch du wärest gestorben, bevor du all das tun konntest. Es war ein harter Winter, in dem du geboren wurdest, nicht wahr? Viele sind gestorben. Doch das Neugeborene hat überlebt! Es hieß, du seist gesegnet. Dieser Segen war ich! Das Amulett, die silberne Raute, das ist mein Werk! Ich habe zwei Falken ausgesandt, nach Silberhall und Yra, zu einem Runenmeister und einer Zauberin. Ich tat so, als wäre ich der jeweils andere und würde um ein Forschungsprojekt bitten. All ihre Kommunikation lief über meine kleine Hütte. Ich habe ihre Briefe abgefangen und umgeschrieben, wenn es nötig wurde. Keiner von beiden hat je Verdacht geschöpft. Und als sie endlich fertig waren, habe ich das Amulett abgefangen und es Mhare zukommen lassen. Du verdankst mir dein Leben, Chada.“
„Du…“, keuchte sie. Ein spitzes Wort voller Härte. Er wusste sofort, dass er einen Fehler begangen hatte. „Du hast einer hochschwangeren Frau, inmitten eines langen und harten Winters, ein Amulett geschickt, das ihr die Lebenskraft entzieht?“
„Du … du wärest gestorben.“, flüsterte er schwach.
„Hätte sie überlebt? Hätte Mhare überlebt?! Sag es mir!“
„Ich weiß es nicht… Vielleicht.“
Chada stieß einen Laut aus, der ein Lachen oder ein Schluchzen sein konnte. „Jetzt verstehe ich! Die Drei Schwestern haben gesagt, dass meine Mutter ohne mich noch am Leben wäre. Sie hat mich geliebt. Und diese Liebe war ihr Tod. Du hast meine Mutter umgebracht! Und du erwartest, dass ich dir dankbar bin?!“
Chada stampfte aufgebracht davon. Nach ein paar Herzschlägen folgten ihr Thorns schwere Schritte. Nur noch Ken Dorr und Eara waren übrig.
„Könnt wenigstens ihr mir verzeihen?“, wisperte Leander erschöpft.
„Du hast mich mit Verachtung und Misstrauen gestraft, dabei warst du nicht besser.“, sagte Ken Dorr. „Doch das alles spielt keine Rolle mehr. Du hast dich zu spät entschieden. Du hast gespielt, und du hast verloren. Deine Zeit unter uns ist vorüber, ob ich das ändern will oder nicht.“
Sein Tonfall war eindeutig. Er wollte nicht. Auch er ging und ließ ihn allein mit Eara zurück.
„Und du, Eara? Wirst auch du mich zurücklassen?“
„Das kommt darauf an. Du hast uns angelogen, und du warst nicht imstande, gegen deinen Bruder vorzugehen. Doch anscheinend hast du uns auch nicht direkt verraten, und deine Fähigkeiten können uns noch immer nützlich sein. Das allein zählt.“
Erleichtert ließ sich Leander zurücksinken. „Danke.“
„Nicht so schnell. Wenn du wirklich bei uns bleiben willst, musst du auf unserer Seite stehen. Und zwar nur auf unserer. Es herrscht Krieg, Leander, und Callem ist unser Feind. Ich verlange eine Entscheidung. Jetzt.“
Leander holte Luft und brachte kein Wort heraus. Sie hatte recht. Was sollte es bringen, die Helden weiter zu begleiten, wenn er dem Kampf mit Callem weiterhin auswich. Wenn er nicht wusste, wen er zuerst beschützen sollte. Er hatte so lange gehofft, diesen Moment verhindern zu können. Er hatte ihn immer weiter hinausgeschoben und hatte sich geweigert, eine Entscheidung zu treffen. Doch es hatte nichts gebracht. Er musste eine Seite wählen. Und er konnte es hören, genau wie damals. Das helle Klingen einer Münze auf hartem Stein. Der Klang der Entscheidung.
Plötzlich wurde er in einen Strudel aus Licht und Farben gerissen. Erst dachte er, es sei seine Erinnerung, doch dann begriff er, dass es die Gabe war. Sie hatte die ganze Zeit unter der Oberfläche gelauert, und er hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren.

… Dunkelheit…

… ein blauhätiger Mann, auf seinen Stab gestützt in der Dunkelheit zwischen hohen Felsen wandelnd…

… Dunkelheit…

… eine Möwe, auf der Spitze eines hohen Berges kauernd…

… Dunkelheit…

… drei Funken, aufgereiht wie Perlen, über einer Höhle, die das Meer verschlingt…

… Dunkelheit…

… ein Mann mit blauer Haut an Bord eines schwarzen Schiffes, in seinen gelben Augen Furcht, Schmerz und Verzweiflung…

… Dunkelheit…


„Callem!“, keuchte Leander. „Er ist in Gefahr!“
„Ich verstehe.“, sagte Eara stockend. Erst langsam wurde Leander sich wieder bewusst, wo er war. Weshalb er auf Knien im Schnee kauerte. Was die letzte Frage gewesen war.
„Nein! Nein, Eara, so ist es nicht!“, brachte er hastig hervor. „Ich … ich…“
„Du sorgst dich um ihn. Man sieht sie dir so deutlich an. Deine Gefühle!“
Leander zuckte zusammen vor Schreck. In ihrer Stimme lag noch etwas außer glattem Eis. Er hatte so viel Erfahrung im Lesen von Stimmen, und er kannte Eara gut, dennoch brauchte er lange, um zu begreifen, was er hörte: Verachtung.
„Bitte!“, flüsterte Leander. „Ich bin euer Freund. Trotz all der Lügen. Du ahnst nicht, wie sehr ich den Ewigen Rat aufhalten will.“
„So sehr, dass du gegen deinen Bruder kämpfen wirst? So sehr, dass du jetzt bei uns bleibst, und die Gefahr ignorierst, in der Callem angeblich steckt?“
„Ich …“ Leander öffnete den Mund und versuchte, Worte hervorzuwürgen, irgendwelche, um Eara zu erklären, was sie von allen am wenigsten verstehen konnte. Weshalb sein Bruder einen ebenso großen Platz in Leanders Leben einnahm wie er selbst. Was es war, das ihn all die Untaten verzeihen ließ, die sie füreinander begangen hatten. Was dieses eine Gefühl war, das er für seinen Bruder empfand, was auch immer Callem tun und zu was auch immer er werden würde. Was Liebe war.
Diesmal konnte er den Klang der Entscheidung nicht hören. Denn er entschied nichts. Er folgte nur sich selbst.
„Ich muss … muss zu ihm.“, stotterte Leander. „Ich muss ihn warnen … vor was auch immer. Ich … kann ihn nicht schon wieder verraten.“
Eara schwieg. Leander wartete darauf, dass sie irgendwie versuchte, ihn umzustimmen, doch schließlich hörte er auch ihre Schritte, die sich gleichmäßig entfernten.
„Eara! Warte!“, rief er.
„Ich denke nicht, dass es noch etwas zu besprechen gibt.“ Sie sprach, ohne langsamer zu werden. „Du hast deine Seite gewählt. Ich bin mir sicher, du wirst dem Ewigen Rat nützlich sein.“
„Ich werde zu meinem Bruder gehen. Ich werde ihn warnen. Und dann werde ich tun, was ich schon an eurer Seite getan habe. Ich werde versuchen, den Ewigen Rat aufzuhalten. Ich werde versuchen, meine Fehler wiedergutzumachen!“
Jetzt stockten ihre Schritte doch. Er hörte, dass sie sich auf der Stelle umdrehte, und er spürte die Schatten, die sich wie ein sanfter Schleier um ihn legten.
„Was meinst du?“
Leander zitterte. „Die Zeit der Geheimnisse und Lügen ist vorbei. Ich habe dir gesagt, dass ich Schreckliches getan habe, doch du hast nie wirklich daran geglaubt. Nie begriffen, welches Ausmaß meine Taten hatten.“ Je weiter er sprach, desto sicherer wurde seine Stimme. Jetzt, wo er sich einmal entschieden hatte, gab es nichts mehr, was er tun konnte. Er war nur ein Sklave seiner Vergangenheit.
Vor sich sah er wieder das Abbild seiner kleinen Hütte im Wachsamen Wald. In jedem der vielen kleinen Fächer in den aufgeräumten Schränken verbarg sich eine Erinnerung. Seine Vergangenheit kroch aus jeder Spalte, hing an jedem Nagel, tropfte durch das rietgedeckte Dach. Auf dem Tisch lag noch immer offen die Schatulle aus Ebenholz, darin die sieben Perlen. Er streckte die Hand aus und betrachtete lange die sechste, die vorletzte in der Reihe. Ihre Form war unscheinbar rund und sie war die zweitkleinste, doch sie war ebenso einzigartig wie die anderen. Sie schillerte wie ein Regenbogen, in ihrem schimmernden Perlmutt ließ sich jede der Farben wiederfinden, die seine Augen nicht mehr sehen konnten. Sie enthielt die Vielfalt ungezählter Möglichkeiten, und einen Moment der Entscheidung. Sie enthielt die Erinnerung an seine Gleichgültigkeit. An seine unbegleichbare Schuld.
„Das alles hier ist meine Schuld.“, sagte Leander leise, während er seine Hand über die Perle legte. „Klippenwacht, Sturmtal, der Ewige Rat. Ich habe all das verursacht.“ Sacht berührte er die Perle, und während die ersten Bilder an jene Zeit vor über fünfunddreißig Jahren seinen Geist fluteten, flüsterte er noch: „Der … der Schwarze Herold. Ich habe ihn erschaffen.“


Später Nachmittag, Tag des dunklen Ausgleichs 42 A.Z.
Rietland westlich des Krähenstamms, Andor
Ein Klopfen ließ Leander hochschrecken. War Seb schon zurück? Leander hatte ihn losgeschickt, um ihn frische Vorräte holen zu lassen. In Wahrheit diente das nur als Vorwand, um ihn eine Weile beschäftigt zu halten, Leander hatte noch genug zu Essen in seinem Versteck unter der losen Bodendiele. Sebans Anwesenheit zehrte an Leanders Nerven. Er war ein ungebildeter Bauer, der ihm bei jeder Gelegenheit die Ohren über seine Frau und seinen Sohn volljammerte. Am schlimmsten war, dass Leander ihm immer verständnisvoll zuhören musste. Er musste Sebans Trauer und seinen Zorn aufrechterhalten, sonst hätte er seinen Nutzen erfüllt. Leander freute sich schon auf den Zeitpunkt, wenn diese ganze Geschichte vorüber war und er sich wieder in seine einsame Hütte zurückziehen konnte.
Er schüttelte den Kopf, riss sich aus seinen Gedanken und ging gemessenen Schrittes zur schiefen Tür der verfallenen Hütte.
„Und da ist der Mann, der uns alle reich machen wird!“, rief eine raue Stimme, kaum dass er sie geöffnet hatte. Als Antwort ertönte lautes Grölen.
„Sei still, Brotus!“, zischte Leander und trat beiseite, um die Männer eintreten zu lassen. „Man hört euch bis zur Burg.“
„Und wenn schon!“, lachte Brotus. „Wir ziehen seit zwanzig Tagen offen durch die Gegend und überfallen irgendwelche Gehöfte, und der König hat noch immer keine Krieger geschickt. Er braucht sie alle gegen die Trolle.“
Und hatte wahrscheinlich Angst, dass seine Soldaten sich Brotus´ Bande einfach anschließen würden, wenn sie erst einmal bemerkte, dass es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Deserteur besser leben ließ denn als Krieger, der jederzeit in den Kampf gegen die Kriegshorden der Trolle geschickt werden konnte.
Brotus´ Männer murrten enttäuscht, als sie das Innere der Hütte sahen. Soweit Leander ertastet hatte, bestand sie vor allem aus morschem Holz und verfallenem Stroh. Von jemandem, der ihnen große Reichtümer versprochen hatte, hätten sie mehr erwartet.
„Ich nehme an, ihr hattet Erfolg?“, fragte Leander.
„Das würdest du sehen, wenn du diese bescheuerte Kapuze abnehmen würdest.“, schnaubte Brotus, und ein paar seiner Männer kicherten hämisch. „Er war ziemlich schwer zu finden. Und als wir ihn hatten, hat er sich ganz schön gewehrt. Hat den armen Nall abgestochen.“
Leander konzentrierte sich, bis er das Bild eines jungen Gesichtes vor seinen Augen sah. Einige Striemen und blaue Flecken, die nicht wie das Ergebnis eines Kampfes aussahen, anscheinend hatten sich die Männer für den Tod ihres Kameraden gerächt. Oder besser, sie hatten einen weiteren Grund gefunden, einen Wehrlosen zu verprügeln und sich dabei unheimlich mächtig zu fühlen. Zufrieden nickte Leander. „Legt ihn und sein Schwert hinter die Kochstelle.“
Kurz herrschte Verwirrung. Leander unterdrückte ein Stöhnen und deutete in die passende Richtung. Was glaubten die Volltrottel, welchen Zweck die Steineinfassung im Boden sonst gehabt hatte?
Zwei paar Stiefel trampelten an ihm vorbei und schleiften etwas mit sich. „Kommen wir zu unserer Entlohnung.“, forderte Brotus ungeduldig.
„Gemach! Hatte er Geld bei sich? Einen Brief?“
„Etwas, was ein Brief sein könnte. Geld nicht.“

Natürlich nicht. Leander nahm das Pergament entgegen und steckte es ein. Dann ging er zu dem stinkenden Strohhaufen, in dem er in Ermangelung besserer Alternativen übernachtete, und schaufelte feuchtes Stroh beiseite, bis er unter seinen Handschuhen glattes Holz fühlen konnte. Er zog die Ebenholzschatulle aus dem Stroh und strich wehmütig darüber. Sie war ein Geschenk seines Bruders. Ein Erinnerungsstück an Callems ersten Beutezug. Leander hatte alles andere verkauft – seine Pläne verschlangen mehr Geld, als ihm lieb war – und nur sie übrig behalten. Doch er hatte ein perfektes Abbild dieses Kastens in seiner Hütte der Erinnerung, und wenn er nicht einem Dutzend wütender Marodeure gegenüberstehen wollte, dann musste er sein Versprechen wohl halten. Es war in gewisser Hinsicht auch ein würdiges Ende, Callems Geschenk wegzugeben, um ihn selbst von seinem Fluch zu befreien.
Leander drehte sich um und öffnete den Kasten. „Jede dieser Perlen ist so viel Wert wie die Belohnung, die ich euch versprochen habe. Wählt eine aus.“
Natürlich wählten sie nicht eine, sondern alle. Aber sie waren glücklich über ihren plötzlichen Reichtum und Leander setzte sich nicht gegen die Überzahl ausgebildete Krieger zur Wehr, also ließen sie ihn - von ein paar spielerischen Knüffen abgesehen - weitestgehend in Ruhe, nachdem sie den Strohhaufen gründlich nach weiteren Schätzen durchsucht hatten. Auf die Idee, die Bodendielen abzuklopfen, kamen sie nicht, und sie ließen ihm sogar das Schwert des Gefangenen.
„Nimm´s dir nicht zu Herzen.“, lachte Brotus, der als letzter die Hütte verließ. „Du hast den Jungen, wir haben ein Vermögen, alle sind am Leben. Bis auf Nall, aber auf den wird heut´ noch öfter angestoßen werden, als der Feigling verdient hat. Hier, zum Dank für deine Zusammenarbeit.“
Leander hörte ein Schnipsen, etwas prallte leicht gegen seine Brust und fiel klingelnd zu Boden. Leander tat beleidigt, fast als hätte er erwartet, sechs der Perlen behalten zu können, und schwieg. Die Männer zogen grölend nach Süden, wahrscheinlich auf direktem Weg zur Taverne, und waren bald nicht mehr zu hören. Leander fragte sich, wann ihnen auffallen würde, dass sich sieben Perlen nur schlecht auf zwölf Krieger aufteilen ließen.
Er schloss die schiefe Tür und widmete sich dem Gefangenen. Nachdenklich lauschte er den Atemgeräuschen, die gedämpft durch den Sack über dem Kopf des Entführten drangen. Dann kontrollierte er die Fesseln um die Handgelenke. Er hatte erwartet, dass Seb hier sein würde, wenn es so weit war, doch plötzlich hatte er noch Zeit und eine Möglichkeit tat sich auf, die er nicht hatte kommen sehen. Die Rolle war vorgesehen, doch nicht, wie sie zu spielen war. Lange ging er seine Visionen durch, bis er einsah, dass sie nicht eindeutig waren. Das Schicksal stellte ihn tatsächlich vor eine Entscheidung.
Was sollte er aus seiner Rolle machen? Den folgsamen Hund, leicht zu kontrollieren und einzuschätzen, von dem jedoch nicht sicher war, ob er seine Mission erfüllen konnte? Oder den Wolf, den gnadenlosen Jäger, der nicht rasten und ruhen würde, wenn es Leander nur gelang, ihn auf die richtige Fährte zu lenken? So sehr er auch überlegte, in beiden Fällen waren die Erfolgschancen annähernd gleich hoch. Wonach sollte er entscheiden?
Der Wolf würde mehr Opfer kosten. Unschuldige würden sterben. Leander ballte die Hände zu Fäusten. Wenn alles andere gleich war, war dies nicht ein Grund, den Hund zu wählen?
Ich schwöre feierlich… Leander holte tief Luft und schob den Gedanken beiseite. Er durfte darauf keine Rücksicht nehmen! Kurz spürte er einen Stich, doch das Gefühl verschwand schnell, als Leander seine Gedanken beruhigte. Nur Gleichgültigkeit blieb zurück.
„Das Schicksal stellt mir diese Entscheidung. Soll es sie doch selbst treffen.“, flüsterte er. Er zog seinen linken Handschuh aus und tastete über den Boden der Hütte, bis er die Münze gefunden hatte, die Brotus ihm dagelassen hatte. Sein letztes Geld. Auf der einen Seite ertastete Leander die Sternblume, das Zeichen für Freiheit und Hoffnung. Eindeutig der Hund. Damit bleib die eingravierte Eins für den Wolf.
Er kehrte zur Kochstelle zurück, wog das kühle Metall in der Hand und warf die Münze.
Kurz herrschte Stille. Dann schlug sie in der Feuerstelle ein. Das helle Klingen einer Münze auf hartem Stein. Der Klang der Entscheidung. Zitternd tastete Leander nach der Münze, fuhr mit den Fingerspitzen über die Oberfläche. Lange verharrte er so, hoffte, dass seine Wahrnehmung sich ändern würde, doch die Eins blieb. Seufzend steckte Leander die Münze ein.
Dann sei es so.

Seban kam nur den vierten Teil einer Stunde später, kaum dass Leanders Vorbereitungen abgeschlossen waren. „Ich habe gute Nachrichten für Euch, Auserwählter. Unsere Suche hatte Erfolg.“
„Schwarzer Priester? Warum liegt ein Gefesselter in der Ecke?“, fragte Sebans tiefe Stimme unsicher.
„Die Zeit ist reif!“, rief Leander getragen und schloss die Tür hinter Seb. „Ich habe Euch versprochen, dass wir denjenigen aufspüren würden, der Eure Familie an Brandur verraten hat. Hier ist er.“
Von dem Gefangenen erklang ein gedämpftes Stöhnen, doch falls durch den Knebel noch irgendwelche Worte zu verstehen gewesen wären, so verschluckte sie der grobe Sack.
Seb hingegen schwieg. Als er erneut sprach, lag purer Hass in seiner Stimme: „Endlich! Endlich Gerechtigkeit!“
„Es gibt keine Gerechtigkeit. Nur Rache.“, predigte Leander. „Und die sollt Ihr bekommen. Nehmt das Schwert.“
Ein kratzendes Geräusch erklang, als die Klinge aufgehoben wurde. „Puuh, ist das schwer!“
Oh, bei der Vorsehung! Was ein Nichtsnutz!
„Genug!“, unterbrach er Sebans Quengeln. „Wollt Ihr den Moment Eurer Rache wirklich wegen solcher Nichtigkeiten verzögern?“
Der Mann holte tief Luft. „Nein. Ich habe zu lange gewartet.“
Leander unterdrückte ein verächtliches Schnauben. Er schmiedete seit über einhundert Jahren seine Pläne, rückte Kiesel zurecht und bereitete sich auf einen Moment vor, der noch weit in der Zukunft liegen mochte. Und dieser Narr hielt einen Mond für lange?
„Wer ist es, Schwarzer Priester? Ist es Geren? Es ist Geren, oder?“
Leander schwieg und wartete darauf, dass Seb endlich den Sack vom Gesicht zog.
Ein lautes Klirren erklang, als das Schwert zu Boden fiel. Gefolgt von Sebans zitternder Stimme: „Wel? Wel, mein Sohn, du lebst? Oh, beim Flammenbringer, du lebst! Ein Wunder! Es ist ein Wunder!“
„Das einzige Wunder hier ist Eure Dummheit, Auserwählter! Ihr habt geglaubt, Euer Sohn sei tot, nur weil Ihr zu feige wart, dazubleiben und nachzusehen!“
Leander war sich nicht sicher, ob Seb ihn gehört hatte. „Bei Taroks Feuer! Was hat man dir bloß angetan? Oh, Wel! Beweg dich nicht, ich nehme dir den Knebel ab, und deine Fesseln…“
Leander legte Seb eine Hand auf die Schulter. „Wartet, Auserwählter! Habt Ihr schon vergessen, weshalb er diese Fesseln trägt? Weshalb er hier ist?“
Seban erstarrte. Seine Schulter bebte vor Anspannung. „Ich habe Euch versprochen, das Feuer zu den Brandstiftern zurückzutragen. Ich habe Euch versprochen, den Verräter zu finden, der Eure Familie an den Lügenkönig verkaufte. Und ich habe ihn gefunden. Er liegt vor Euch.“
Wel brummte zornig etwas durch seinen Knebel.
„Nein! Ihr lügt, Schwarzer Priester!“, keuchte Seb.
„Wer außer Eurer Familie wusste von dem Gift? Weshalb hat der Schwertmeister, der Eure Frau ermordete, ohne mit der Wimper zu zucken, Euren Sohn einfach laufen lassen?“ Leander verlieh seiner Stimme etwas Tröstliches. „Es schmerzt mich, dass Ihr dies erfahren müsst, Auserwählter. Doch verschließt Eure Augen nicht vor dem Licht der Wahrheit.“
Leander zog das Pergament hervor, das Brotus ihm gegeben hatte. „Dies trug Wel bei sich. Wenn Ihr meinen Worten nicht glauben wollt, dann doch gewiss denen Eures Sohnes.“
Er spürte, wie das Pergament vorsichtig unter seinen Handschuhen hervorgezogen wurde. Seban war zu unfähig, einen Text zu lesen, ohne dabei leise mitzusprechen, und so konnte Leander manche Wortfetzen verstehen. „
… meine Pflicht als Krieger Andors… einen Fanatiker, der sich Schwarzer Priester nennen lässt … mein Vater Se… Seban in Steinbronn … auch dessen Frau Asilie …
Sebans Stimme brach, als er diesen Namen aussprach. Lange sagte er nichts mehr, und zuletzt war es nur noch ein Wort, das er aussprach: „
Hochverrat.
„Euer Sohn ist schwach! Er ist dem Lügenkönig treuer als seinem einzig wahren Gott! Treuer als seiner Familie!“
Seban schluchzte auf. Leander verstärkte den Druck auf seine Schulter. „Nehmt Euch die Rache, die Euch gebührt, Auserwählter!“
„Ich … kann das nicht.“, wimmerte Seb.
„Ihr seid ein zahmer, alter Hund. Doch ER braucht einen gnadenlosen Wolf in seinen Diensten. Alles, was Ihr je in SEINEM Namen getan habt, war ab und zu zu bellen. Heute sollt Ihr endlich lernen, zuzubeißen!“
Leander beugte sich näher. „Könnt Ihr es auch hören, Auserwählter? Das helle Klingen einer Münze auf hartem Stein? Dies ist der Klang der Entscheidung. Entscheidet Euch. Befreit Wel, lasst den Mord an Eurer Frau ungesühnt, verratet IHN, wie auch Ihr von Eurem Sohn verraten wurdet. Oder nehmt endlich Rache, werdet, wozu Ihr werden müsst, und stellt Euch wahrhaftig in SEINE Dienste!“
Für viele Herzschläge erklang nur Sebans abgehackter Atem. Dann kratzte es erneut, als Wels Schwert vom Boden aufgehoben wurde. Wel stieß einen Laut aus, der entfernt wie „Vater!“ klang. Doch Seban schüttelte sich nur. „Du bist nicht mehr mein Sohn!“, stieß er mit tränenerstickter Stimme hervor.
„Gut! Sehr gut, Auserwählter!“ Leander brauchte den Triumph in seiner Stimme nicht zu spielen. „Doch etwas fehlt noch.“ Er ging in die Mitte des Raumes und schob die lose Bodendiele beiseite. Darunter zog er die Blutkrone hervor, die er der Schmiedin abgenommen hatte.
„Waah! Was … Was ist das für eine unheimliche Maske?“
„Eure, Auserwählter! Setzt sie auf.“
Seb wartete so lange, dass Leander schon fürchtete, er würde sich doch noch widersetzen, doch schließlich wurde die Krone aus seiner Hand genommen.
„Da waren … Stacheln im Nacken!“ Sebans verzerrte Stimme hallte hohl und blechern durch die Hütte. Nicht im Geringsten furchteinflößend.
„Die Maske trinkt Euer Blut.“, erklärte Leander. „Darin getränkt ist sie Euch ein Schutz gegen SEINE Kreaturen. Sie werden Euch meiden und sich von Euch vorantreiben lassen.“
Leander zog sich zur Tür zurück. „Ihr seid der Auserwählte, von einem Schwarzen Priester geleitet, mit der Macht des Blutes gekrönt. Und Ihr werdet opfern Euer eigen Fleisch und Blut, den Segen des Flammenbringers zu erlangen. Nehmt Euch die Zeit, die Ihr dafür braucht. Und wenn Ihr Eure Frau gerächt habt, dann zieht nach Osten, ins Graue Gebirge, und sucht SEINEN Hort. ER wird Euch ausbilden. Euch zu dem machen, was Ihr werden müsst! Werdet der Vorbote des Feuers! Der Antreiber der Kreaturen! Der Schwarze Herold! Euch ist es bestimmt, SEINE Ankunft zu bereiten, SEINE Kreaturen zu leiten, wenn sie dereinst die Rietburg einnehmen und den Lügenkönig töten. Es mag noch lange Jahre dauern, doch es wird geschehen. Alles zu seiner Zeit.“
Leander wandte sich um und öffnete die Tür.
„Schwarzer Priester?“, rief Seban. Seine blecherne Stimme zitterte noch immer, doch Leander zweifelte nicht daran, dass sich alles so entwickeln würde, wie er es vorbereitet hatte.
„Was ist noch, Auserwählter?“
„Werden wir uns wiedersehen?“
Unter seiner Kapuze lächelte Leander. „Nicht in diesem Leben.“


Früher Nachmittag, 24. Wintertag 77 A.Z.
Sturmtal, Hadrisches Meer

„Du…“, keuchte Eara. „Du bist Schuld an alledem!“
Leander erschauderte. „Ja. Ich wusste, dass er Schreckliches tun würde. Ich hätte meine Ziele auch anders erreichen können, doch es war mir egal. Ich … ich habe eine Münze geworfen. Ich hätte sie alle retten können, und ich überließ meine Entscheidung einem Stück Metall.“
„All die Zeit an unserer Seite. Alles, was du für uns getan hast. Alles war eine Lüge! Du wusstest, wer der Schwarze Herold ist, und du hast nichts gesagt.“
„Ich habe es jetzt gesagt.“, raunte Leander.
„Zu spät!“ Etwas stürzte sich von allen Seiten auf Leander und zwang ihn nieder. „Du bist der Feind. Du warst es schon immer! Im Krieg ist kein Platz für Milde.“
Plötzlich jagte Schmerz durch Leanders Adern. Er schrie auf. „Eara! Hör auf!“, keuchte er.
„Ich habe dir geglaubt, weißt du? Ich habe dir tatsächlich vertraut, gegen jede Vernunft! Es ist dir gelungen, meine Gefühle ans Licht zu locken. Doch alles in dieser Welt hat seinen Preis. Liebe kann nicht bestehen ohne Hass.“ Ihre Stimme nahm einen schrillen Klang an. „Ich fühle! Ich fühle tatsächlich! Doch nichts als Verrat und Zorn! Du wolltest mich auf den Weg des Feuers führen, nun werde Zeuge deines Erfolgs. Du hast meine Flammen entfacht. Jetzt verbrenne an ihnen.“
Der Schmerz schwoll an. Leander musste erneut aufschreien, doch innerlich musste er kichern. Das Schicksal hatte einen besonderen Sinn für Humor. Die Flammen, die du schürst, werden dich verbrennen. Die, die du für Freunde hältst, werden dich verstoßen und verbannen. Die Dunkelheit, die dich verfolgt, wirst du nicht mehr erleben. Einsam wirst du sterben, verraten von einem falschen Freund, dem du vertraut hast.
Es hatte so enden müssen. Die ganze Zeit. Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich dir vertraue, Eara. Dies also war das Ende. So plötzlich. Nach so vielen Jahren.
Verzeih mir, Callem! Ich wollte dich warnen.
Plötzlich ließ der Schmerz nach. Keuchend und hustend lag Leander im Schnee, seinen Stab hatte er verloren.
„Ich bin nicht Varkur.“, sagte Eara langsam, ihre gewohnte Ruhe war zurückgekehrt. „Noch nicht. Du hast Glück, Seher. Geh jetzt. Eile zu dem Bruder, den du so liebst. Geh, und komme nicht zurück. Wenn ich dich noch einmal sehen muss, werde ich keine Gnade mehr walten lassen.“
Ihre Schritte entfernten sich und bald konnte Leander nur noch das Rauschen des Wasserfalls hören, in der Ferne noch immer das Wehklagen der Taren und die letzten Kämpfe. Er wusste nicht, wie lange er so lag und sich fragte, was er darüber fühlte, noch am Leben zu sein. Schließlich rappelte er sich auf und versuchte, seinen Stab zu finden. Seine Finger spürten gar nichts mehr vor Kälte, und Leander wusste, dass sie entsetzlich schmerzen würden, wenn die Wärme in sie zurückkehrte. Falls.
Leander überlegte, was er jetzt tun sollte. Die Vision, in der er seinen Bruder gesehen hatte, hatte auch ihn selbst gezeigt, bei Nacht zwischen den Felsen Sturmtals wandernd. Und drei Funken in einer Reihe. Fornurs Flamme würde erst in sechs Nächten vollständig am Firmament erstrahlen. Bis gestern hatten sich nur zwei der fünf Sterne voreinandergeschoben, und morgen Nacht würden es bereits vier sein. Nur heute Nacht standen genau drei von Fornurs Funken in einer Reihe.
Er hatte einen Berg gesehen, auf dem eine Möwe saß. Der Möwenberg! Und eine Höhle am Meer. Ein Zeitpunkt und eine Wegbeschreibung. So deutlich waren seine Visionen selten. Eine Höhle direkt am Wasser, irgendwo am Fuße des Möwenberges. Noch heute Nacht. Zielstrebig eilte Leander gen Norden. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich.


Mondhoch, 24. Wintertag 77 A.Z.
Sturmtal, Hadrisches Meer

Leander hörte die Welle zu spät, zu laut toste das Meer. Eiswasser umspülte seine Beine, rann in seine Stiefel und floss nur langsam wieder ab. Leander versuchte, die Kälte zu ignorieren, und setzte seine Schritte weiter über den unwegsamen Untergrund. Hier gab es keinen Weg, und das Gestein war schlüpfrig von der langsam gefrierenden Feuchte der Gischt. Er zitterte. Unter seiner rechten Hand fühlte er den schroffen Fels des Möwenbergs, dessen Flanke er schon seit über einer Stunde folgte. Er war übermüdet und unterkühlt, doch er musste diese Höhle finden, ehe die Nacht vorüber war. Seine Gabe anzuwenden wagte er nicht.
Plötzlich tastete sein linker Fuß ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht, sein rechter Fuß klappte schmerzhaft um, der Fels unter seinen Fingerkuppen verschwand. Im nächsten Moment traf ihn das Meer von allen Seiten. Die Kälte raubte ihm augenblicklich jede Kraft. Er schmeckte nur Salz und faulige Algen. Seine ohnehin schon geschundene Haut wurde an scharfkantigen Felsen aufgeschürft. Hilflos musste er sich von den Wellen gegen die Klippen spülen lassen. Wenn das Wasser tiefer gewesen wäre, wäre er unwiederbringlich ins offene Meer gespült worden, so aber lag er nur da, spitze Steine bohrten sich in seinen Rücken und ein Schwall Salzwasser nach dem anderen spülte über sein Gesicht und in seinen Mund, wo er es keuchend herunterwürgte. Die Kälte war so groß, dass er sie nicht mehr spürte. Sein Widerstand wurde schwächer, an den Rändern seiner Gedanken lockte die ewige Stille.
Nein! Das kann nicht das Ende sein. Er rief sich das Gesicht seines Bruders vor Augen. Ich bin nicht ohne Grund hier! Seinen Stab hatte er die ganze Zeit umklammert, mit seiner Hilfe kämpfte er sich auf die Beine. Steif humpelte er zurück zur Felswand, stützte sich ab und erbrach eine halbe Gallone Meerwasser, gefolgt von etwas Galle. Gegessen hatte er seit dem Morgen nichts mehr. Er gestattete sich nur eine kurze Pause, dann tastete er sich weiter, bevor er es nicht mehr konnte. Sein umgeknickter Fuß schmerzte bei jedem Schritt, ansonsten schien er bei seinem Sturz keine nennenswerten Verletzungen davongetragen zu haben. Zumindest soweit er das anhand der wenigen Stellen seines Körpers, die die Kälte noch nicht betäubt hatte, beurteilen konnte. Doch diese Kälte … sie würden ihn gewiss umbringen, wenn er nicht bald an einen geschützten Ort kam, an dem er sich aufwärmen konnte. Er musste diese Höhle finden!
Ich werde hier und heute nicht sterben. Das ist nicht das Schicksal, das die Schwestern mir zugedacht haben! Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als die Felswand zu seiner Rechten verschwand. Bitte sei die Höhle!
Er hatte Glück, das merkte er sofort. Plötzlich warfen seine Schritte ein schwaches Echo, wenn auch fast komplett überdeckt von der Brandung. Vorsichtig stakste er weiter, bei jedem Schritt platschte die Pfütze zu seinen Füßen. Oder eher der kleine See. Das Wasser musste sich hier drinnen angesammelt haben, als der Meeresspiegel noch höher stand, vielleicht noch während der letzten Sturmflut.
Als er eine zischende Stimme hörte, blieb er stehen, zitternd und tropfend wie er war. Erst konnte er keine Worte erkennen, bis er die Sprache schließlich zuordnen konnte. „Ssstchax, kerrrch! Nejiis-atal sarsschass Xist.“
Dies also ist mein Weg zu Callem! Sein Nerax war eingerostet, und viele Wörter dieser Sprache waren außerhalb des unterseeischen Reiches nicht bekannt, doch hierfür musste es reichen.
„Nerax!“, rief er. Eigentlich hatte seine Stimme ruhig und kräftig klingen sollen, doch nur ein heiseres Krächzen kam heraus. Leander verzog das Gesicht und ertrug, was nicht zu ändern war. „Sirxal. Vasa axxas! Vasa Callem!“
Ein leises Zischen ertönte, dann glitt etwas durch den See auf ihn zu. Aus mehreren Richtungen, wie er feststellte. Wenn er sich nicht täuschte, dann waren es insgesamt drei.
„Xchch!“, flüsterte etwas irgendwo vor ihm. „Beinling ssprechen Nerax? Fssii-xasar! Du ssprechen sschlechter als Jass-Mrxa Beinling ssprechen!“
Leander senkte den Kopf. „Dann danke ich Jass-Mrxa, dass er die Gemeine Sprache verwendet.“
„Ssschii srrxlchr iisarx, Jass-Mrxa!“, zischte ein anderer Nerax. „Sssall fi zserrana.“ Leander verstand kaum ein Wort, doch die Stimme klang nicht freundlich. Eine gezackte Klinge legte sich auf seinen Nacken.
„Ksss!“, fauchte Jass-Mrxa. „Massschisza ssilx arae!“
Das Gewicht der Klinge verschwand und Jass-Mrxa fuhr fort:
„Wir keine Ssklaven, Beinling! Callem nicht König. Verbündete! Warum Weg zzeigen?“
„Ich bin wertvoll für eure Verbündeten. Sie würden euch ihren Dank schulden.“
„Sschlechte Verbündete. Versschwinden in Kampf, Nerax ssterben. Du einss von ihnen?“
Leander kicherte, woraus schnell ein trockener Husten wurde. „Wenn ich das nur wüsste…“
Die Nerax zischelten etwas Unverständliches. „Gut!“, sage Jass-Mrxa schließlich. „Du wollen Callem. Wir bringen hin. Tot oder lebend.“
Er wurde ohne Vorwarnung von starken Armen an beiden Schultern gepackt und unsanft hochgehoben, sein verletzter Fuß schmerzte wegen der plötzlichen Bewegung. Etwas entriss ihm seinen Stab, sein Protest wurden ignoriert. Er spürte, dass sie sich in Bewegung setzten und die Höhle verließen.
Leander wagte nicht einzuwenden, dass er sich erst aufwärmen musste. Die Nerax hätten dafür wahrscheinlich kein Verständnis, sie konnten ihre Körpertemperatur der Umgebung anpassen.
Dann wurden er plötzlich ins Eiswasser geschleift. Die Kälte schnürte Leander die Luft ab. Er verkrampfte sich und konnte nicht einmal aufschreien. Die Nerax hatten allen Ernstes vor, ihn einfach durchs eisige Wasser zu ziehen? „Bitte! Das ist zu kalt! So werde ich sterben.“, brachte er zitternd hervor.
„Tot oder lebend.“, zischte eine kalte Stimme zu seiner Linken. Danach brauste nur noch das Meer.
Leander spürte, wie die Wärme ihn verließ, wie sie aus ihm herausfloss und sich im Ozean verteilte. Er versuchte, seine Gedanken wach zu halten, doch auch das gelang ihm nicht. Er war sogar zu schwach, um zu zittern. Sein Gefühl der Zeit verschwand, es gab nur noch Momente, in denen die Kälte ihn wachriss und andere, in denen sie ihn betäubte. Er wurde Eins mit dem Meer. Eins mit der Kälte. Eins mit der Stille.
Im Nachhinein hätte Leander unmöglich sagen können, wie lange die Reise dauerte, doch da er sie überlebte, konnte es nicht allzu lange gewesen sein. Erst als er unter seinem Bauch schwere Holzplanken fühlen konnte, kehrte sein Geist langsam zurück. Zusammen mit der Kälte, die er jedoch kaum spürte, zu tief hatte sie sich bereits in ihm eingenistet.
Im Hintergrund verhandelte eine knorrige Stimme mit den Nerax, doch er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Sie schwappte in Wellen in sein Bewusstsein und verschwand wieder daraus.
„Na so was!“, raunte eine andere Stimme, rau und hämisch. „Der verlorene Bruder ist zurückgekehrt. Meinst du, der Kapitän wird dich töten, bevor oder nachdem er dich kielholen lässt?“
Etwas bohrte sich in seine Seite und die Welt drehte sich. Da er die Planken anschließend unter seinem Rücken fühlen konnte, war er wohl umgedreht worden, sein Sinn für oben und unten war ihm abhandengekommen.
„War… nen!“, flüsterte Leander. „Muss Callem … warnen!“
„Krumm!“, rief die Stimme. „Gib den verdammten Nerax, was sie wollen. Orril, hol den Kapitän! Thogger, halt ihn solange am Leben.“
Eine grauenhafte Wärme durchströmte ihn. Seinen eingefrorenen Glieder tauten auf und mit ihnen kam auch der Schmerz zurück. Er stöhnte schwach.
Forsche Schritte ließen ihn vollends aufschrecken. Dieses Muster hätte er immer erkannt. Zielstrebig und fest, um über jede Unsicherheit hinwegzuspielen, doch zugleich leicht unregelmäßig. Wenn Callem Angst hatte, dann setzte er seine Füße immer etwas schräg auf, um sich schnell wegdrehen zu können, ein Reflex, den das Leben auf der Straße ihm antrainiert hatte und den er seither nicht mehr losgeworden war.
Die Schritte hielten an, Leander hörte, wie Callem sich zu ihm herunterbeugte. „Er sagt, er will Euch warnen, Kapitän!“, sagte die Stimme von vorhin. Callem antwortete nicht. Als er schließlich etwas sagte, da war es nur ein Wort, so voller Schmerz und Bitterkeit, dass es Leander das Herz brach. „Bruder.“
Was konnte Leander nicht alles heraushören. Die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit der Vertrautheit, an ihr gemeinsames Leid, ihren Weg und ihren Schwur. Den zitternden Schmerz des Verrats. Die leise Einsamkeit. Den abgehackten Schreck, Leander hier zitternd liegen zu sehen, dem Tode nahe, und die tiefe Angst, dass er bereits zu nahe war, um noch umzukehren. Den hellen Klang der Hoffnung, dass sich alles noch aufklären und zum Guten wenden werde, und zugleich die darunter schlummernde Gewissheit, dass es dafür längst zu spät war. Die Verzweiflung darüber, dass etwas zerbrochen war, was für immer hätte halten sollen.
Leander sah Callems Gesicht in jeder Einzelheit vor sich, auch ohne sein Augenlicht. Die feinen Falten auf der sonst glatten Stirn. Die Muskeln am Kiefer, die fest aufeinandergepressten Zähne hinter den leicht geöffneten Lippen. Die Augen, etwas weiter geöffnet als normal, mit fast unmerklich zitternden Lidern. Und den Ausdruck, der im leuchtenden Gelb verborgen lag: Furcht, Schmerz und Verzweiflung.
Rasselnd holte Leander Luft, als ihn die Erkenntnis packte, dass er getäuscht worden war. Getäuscht von seiner Gabe. Getäuscht von sich selbst. Callem war stark. Er hatte stets alles ertragen und erduldet, ohne einmal zu murren, wenn es um seinen kleinen Bruder ging. Er war Callems einzige Schwäche. Die einzige Gefahr, vor der er ihn je hätte warnen müssen. Das Bild, das seine Gabe ihm gezeigt hatte, war genau dieser Moment.
„Wovor willst du mich warnen?“, flüsterte Callem schließlich. „Was soll mir noch angetan werden, was du mir nicht bereits angetan hättest?“
„Vor einer Lüge. Vor … mir selbst.“
Callem stieß zischend Luft aus. „Diese Warnung kommt zu spät!“
Ruckartig erhob sich der Kapitän. „Sperrt ihn in die Brigg! Und sorgt dafür, dass er die Nacht überlebt!“, rief er. Für jeden anderen musste seine Stimme fest und befehlsgewohnt klingen, doch in Leanders Ohren war sie aufgewühlt wie die stürmische See. Das war sein letzter Gedanke, ehe die Erschöpfung ihn packte und er ganz wegdämmerte.


Später Nachmittag, 25. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See westlich von Sturmtal, Hadrisches Meer

Mehrfach schreckte Leander aus seinem unruhigen Schlaf. Er sah Bilder im Traum, doch er konnte nicht erkennen, welche ihm seine Gabe schickte und welche er schlicht träumte. Er hörte Stimmen aus weiter Ferne, vor allem die seines Bruders, die etwas flüsterte, doch als er sich darauf konzentrierte stellte er fest, dass es nur das Säuseln des Windes war. Er sah einen roten Hahn und ein Mädchen mit goldenen Augen, und irgendwie verschmolzen die beiden in seiner Fantasie zu einem hässlichen Ungeheuer, das ihn laut krähend verfolgte. Dann wieder sah er nur Dunkelheit, ohne zu wissen, ob er gerade aufgewacht war oder ob seine Gabe ihn heimsuchte.
Einmal konnte er etwas klarer denken und er bemerkte, dass er in trockenen Kleidern unter einer kratzigen Decke lag. Unter seinem Rücken spürte er unbequemes Holz und die Welt schwankte. Er erkannte Callems Atem, doch aus mehreren Schritt Entfernung. Deutlich stand ihm vor Augen, wie Callem unschlüssig dastand und sich seinem Bruder weder nähern noch sich von ihm abwenden konnte. Leander spürte ein Schluchzen in sich aufsteigen, das sich jedoch in ein trockenes Husten verwandelte, noch bevor es in die Freiheit entkam. Von draußen hörte Leander das Meer tosen, doch er konnte nicht erkennen, ob es Tag oder Nacht war. Irgendwann hörte er die Schreie von Möwen. Tag also! Doch die Schreie wurden immer lauter und aufdringlicher, und als er von allen Seiten von kräftigen Möwenflügeln geschlagen wurde, den Gestank von Blut und Tod roch und sich langsam das Bild des zerstörten Klippenwacht formte, erkannte er, dass er schon wieder eingeschlafen war. In der Ferne krähte ein Hahn.
Irgendwann schreckte er hoch, weil das Meer so unruhig geworden war, dass seine Seekrankheit sich lautstark zu Wort meldete. Er musste würgen, doch sein Magen war leer, also verschluckte er sich nur an etwas Galle. Bevor er ebenso plötzlich wieder in seinen fiebrigen Schlaf zurücksank, hörte er noch das unverwechselbare Muster von Callems Schritten, die unruhig im Kreis liefen.
Als Leander endlich vollends erwachte, war er allein. Die See hatte sich beruhigt und kein Atem war zu hören außer seinem eigenen. Mühsam setzte Leander sich auf. Ein Anflug von Schwindel kam und verging. Ihm war eiskalt, obwohl seit seiner Reise mit den drei Nerax bestimmt mindestens ein halber Tag vergangen war. Die Kälte hatte sich tief in ihm festgesetzt. Leander tastete um sich und erkannte eine harte Pritsche, auf der eine raue Decke lag. Eine glatte Metallkette hing harmlos an einer Seite herab, zumindest war er nicht angekettet worden. Vorsichtig stand er auf und tastete sich vorwärts, bis er auf dicke Metallstäbe stieß. Seine Arme hätte er mit etwas Mühe hindurchzwängen können. Sorgfältig untersuchte er das Gitter, bis er die Scharniere und das Schloss gefunden hatte. Leider gehörte das Knacken von Schlössern nicht zu seinen Talenten, schon gar nicht ohne Werkzeuge. Leander schritt sein Gefängnis ab und stellte fest, dass es eine Kammer von knapp drei mal drei Schritt war. Die eine Wand wurde vom Gitter eingenommen, die drei anderen bestanden aus Holz. Die Rückwand war leicht gewölbt und aufmerksames Dagegenklopfen verriet ihm, dass sie deutlich dicker war als die beiden Seitenwände. Dahinter wartete zweifellos das offene Meer.
Plötzlich trat er in ein unerwartetes Hindernis auf dem Boden. Seine Stiefel hatte er nicht mehr an, daher verdrehte er sich schon wieder seinen ohnehin schon schmerzenden rechten Fuß und er knallte unsanft gegen die Wand. Leise fluchend untersuchte er das Hindernis, doch sein Ärger verschwand augenblicklich, als er einen Laib Brot erkannte. Sofort riss er Stücke ab und stopfte sie sich in den Mund. Das Brot war steinhart und schmeckte verschimmelt, dennoch schlang Leander es bis auf den letzten Krümel hinunter und konnte nur mit großer Selbstbeherrschung einen letzten Rest Würde bewahren und sich davon abhalten, den Boden nach verbliebenen Krumen abzutasten. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Selbst für diese einfache Frage benötigte sein Verstand quälend lange. Es war der Morgen vor dem Kampf um Sturmtal gewesen. Wie viel Zeit war seither vergangen?
Nach dem trockenen Brot bekam Leander Durst, doch nachdem er den Boden seiner Kammer systematisch abgetastet hatte, musste er sich eingestehen, dass nirgendwo ein Krug Wasser versteckt war. Fast noch mehr störte ihn allerdings, dass auch sein Stab verschwunden war. Zumindest hatte er, von den Stiefeln abgesehen, noch seine eigene Kleidung an, sogar trocken, und eine kurze Untersuchung seiner Taschen ergab, dass ihr Inhalt unangetastet war. Toll! Durchweichte Verbände, ein paar Heilkräuter und der Lavastein, den mir der Hüter des Wissens geschenkt hat. Grandiose Ausbeute. Nicht einmal ein Messer. Was er sonst noch mitgehabt hatte, war an Bord der Aldebaran II geblieben.
Seufzend ließ sich Leander auf seine Pritsche fallen und steckte die nackten Füße unter die Decke. Schon diese kurze Inspektion seiner Zelle hatte ihn entkräftet. Er stieß einen tiefen, trockenen Husten aus, und sank zurück. Oh, bitte nicht. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine Lungenentzündung.
Er musste wieder eingedöst sein, denn als eine Klappe aufgestoßen wurde, erschrak er so sehr, dass er fast von der Pritsche gerollt wäre. Eine Person näherte sich. Es war nicht Callem, dennoch kam das Muster der Schritte Leander merkwürdig vertraut vor.
Vor seiner Zelle hielten die Schritte an. „Hallo.“, sagte eine Stimme. Eine seltsame Mischung aus Unsicherheit und Entschlossenheit lag darin. Und Leander erkannte sie sofort.
„Chada?“, keuchte er rasselnd.
„Ja. So nennen sie es.“, sprach sie langsam und betont.
Leander brauchte beschämend lange, um zu begreifen, wen er vor sich hatte.
„Du bist die falsche Chada. Die Kopie.“, sagte er leise.
Ihr Atem wurde kurz etwas lauter. Genau wie bei der echten Chada, wenn sie verunsichert war. Erstaunlich. „Vielleicht.“, flüsterte sie. „Es weiß es nicht.“
Leander setzte sich aufrecht hin und stöhnte, als seine Prellungen an der Wand schabten.
„Oh, du bist verletzt.“, rief Chada erschrocken. Sie holte zitternd Luft. „Kann Chada dir … helfen?“
Leander schwieg. Diese Frau war so gar nicht das blutrünstige Monster, das er erwartet hatte. Sie hat Dutzende Taren kaltblütig ermordet! Doch jetzt wirkte sie vollkommen anders, als seine Freunde es ihm beschrieben hatten. Ein Stich durchzuckte ihn. Freunde? Nur in einer Hinsicht hatten sie Recht behalten: Die Ähnlichkeit zur echten Chada war beängstigend. Über ihr Aussehen konnte er sich kein Urteil bilden, doch die Art, wie sie sprach, ihre Tonhöhe, selbst ihr Atem und ihre Schritte – wenn ihre Worte nicht so fremd gewesen wären, hätte Leander keinen Unterschied feststellen können.
„Das … das Blut wird versiegen und der Schmerz ist vergessen.“, sagte Chada tapfer, nachdem er nicht geantwortet hatte. „Ihm wurde gestern erst der Hals umgedreht! Chada ist eingeschlafen, aber als es aufgewacht ist, war alles wieder weg.“
Also war der Kampf um Sturmtal erst gestern gewesen. Endlich eine gute Nachricht. Leander lächelte. „Du magst kein Blut, oder?“ Sie erschauderte hörbar und antwortete nicht. „Was willst du hier?“, fragte er schließlich.
„Es … weiß nicht. Vielleicht dich sehen. Du hast mit den anderen gekämpft, die wie seine Geschwister aussehen. Und wie es selbst. Es … es will mehr über sie erfahren. Warum bekämpfen sie es?“
„Weil die Taren unsere Verbündeten sind. Die Taren, und die Silberzwerge, und die Menschen Klippenwachts. Wir wollten sie nur vor euch beschützen. Ihr habt sie angegriffen.“
„Mutter hat es befohlen.“, flüsterte Chada.
„Mutter? Du meinst Kenvilar?“
Keine Antwort ertönte. Doch wenn Leander genau hinhörte, konnte er eine leise Bewegung ausmachen… Sie ist nicht wirklich dabei, einem Blinden als Antwort zuzunicken, oder?
„Ihre Stimme war in Chadas Kopf. Sie hat ihm gesagt, was es tun soll.“, verriet Chada schließlich unsicher.
„Verstehe.“, murmelte Leander. „Und du hast nicht versucht, dich zu widersetzen?“
„Widersetzen?“, wiederholte Chada entsetzt. „Mutter hat immer recht! Warum hätte es sich widersetzen sollen?“ Sie holte zittern Luft. „Aber jetzt ist die Stimme weg. Es ist … ganz allein in seinem Kopf. Und es weiß nicht, was es tun soll.“
„Gibt es denn etwas, was du gerne tust?“, unterbrach er.
Lange schwieg Chada. „Es … es schaut gerne zu den Sternen hoch. Sie funkeln so wunderhübsch vor dem nächtlichen Himmel. Ein ganzer Kosmos, weiß auf blau. Das ist schön. Es hat gehört, die Sterne sind schon ganz lange da. Sie sind klein und ganz weit weg, und sie strahlen immer weiter, egal was passiert. Die Sterne … kümmern sich nicht um Leid und Blut. Wenn es zu ihnen aufsieht, dann kann es vergessen, was es tun muss.“
Leander senkte den Kopf. „Du musst nichts davon tun, Chada. Deine Mutter ist tot, du wirst ihre Stimme nicht mehr hören. Du kannst tun, was immer du für richtig hältst.“
„Aber Chada weiß nicht, was es für richtig hält! Alle auf diesem Schiff vergießen Blut, aber das tut ihr auch! Chada mag Peros Hammer nicht, oder Kentars roten Stein, aber es mag auch die dunkle Frau nicht, die für euch kämpft. Sie malt alles schwarz, was bunt sein soll.“ Ihre Stimme nahm eine schrillen Klang an. „Mutter hat gesagt, es darf seine Macht missbrauchen so viel es will, es darf nur nie vergessen darf, dass es seine Macht nicht ohne Grund erhalten hat. Aber … Chada will seine Macht gar nicht missbrauchen! Es will das alles nicht! Es will kein Blut mehr sehen! Es darf nur Mutter nicht enttäuschen.“ Sie wurde so leise, dass selbst Leander sie kaum noch verstand. „Die andere, die wie es aussieht, kämpft, um zu schützen. Es dagegen kämpft, um zu zerstören. Die andere weiß, weshalb sie ihre Macht erhalten hat. Chada … Chada weiß es nicht.“
Leander stand auf und trat ans Gitter. „Irgendwann wirst du dich entscheiden müssen zwischen den Wünschen deiner Mutter und deinen eigenen.“, prophezeite er. Ehe er mehr sagen konnte, hörte er eine Klappe, die aufgeschlagen wurde, und vertraute Schritte näherten sich.
„Chada! Gib dich nicht mit ihm ab!“, rief sein Bruder rau. „Seine Worte sind Gift. Komm her.“
Ihre Stimme schwankte vor Unsicherheit, als sie leise „Ja, Kapitän Callem“ sagte. Vorsichtig entfernte sie sich.
„Das helle Klingen einer Münze auf hartem Stein: Dies ist der Klang der Entscheidung.“, rief Leander ihr hinterher. „Auch du wirst ihn eines Tages hören.“
Ihre Schritte beschleunigten sich und waren schnell verschwunden. Mit verschränkten Armen wartete Leander auf seinen Bruder. Callem ließ sich Zeit, setzte einen Schritt nach dem anderen, und es gelang ihm, die Angst als die Sicherheit des Stärkeren zu tarnen, der sich getrost Zeit lassen kann. Jeden anderen hätte er getäuscht.
„Bruder.“, sagte Callem. Hatten in dem Wort gestern eine Vielzahl widersprüchlichster Emotionen mitgeklungen, so hörte Leander jetzt nur eine müde, schicksalsergebene Verzweiflung.
„Bruder.“, antwortete er.
Callem seufzte tief. „Was mache ich jetzt nur mit dir? Pero ist der Meinung, ich sollte dich ins Meer werfen – an einen schweren Stein gefesselt.“
„Es wäre dein gutes Recht.“, sagte Leander leise. „Ich habe alles verraten, was uns teuer war. Ich habe unseren Schwur gebrochen und in den Helden von Andor Freunde gefunden.“
„Warum?“, flüsterte Callem heiser. „Wie konntest du mir das antun? Nach allem, was wir füreinander getan haben, nach all den Jahrzehnten, verrätst du mich ausgerechnet für die, die mein Schiff versenkt und meine halbe Mannschaft auf dem Gewissen haben?“
„Ich habe es nicht kommen sehen. Ich plante deine Rache, bis ich es nicht länger konnte. Bis ich begann, die Helden wahrhaft zu mögen. Ich war schwach, Bruder, schwächer als du es je warst. Du hättest dich nicht in ihren Bann ziehen lassen, das weiß ich.“
Eine große Welle klatschte lautstark gegen die Bordwand und brachte die Schwarze Kogge ins Wanken. Leander griff nach dem Gitter und klammerte sich an den kalten Metallstäben fest.
„Du hast dich ausgerechnet auf die Seite meiner größten Feinde gestellt!“, zischte Callem wutentbrannt. „Gegen mich!“
„Niemals! Der Ewige Rat ist mein Feind, doch du könntest es nicht sein. Ich hatte eine Vision. Ich dachte, du wärest in Gefahr. Ich habe die Helden verlassen und wurde verstoßen, um dich zu warnen.“
„Und wirst du von jetzt an auf unserer Seite gegen die Helden stehen?“, fragte Callem harsch.
Leander senkte den Kopf und antwortete nicht.
„Natürlich nicht!“, stieß Callem hervor.
Leander schluckte schwer. „Was würde geschehen, wenn ich dich bitten würde, deinen Kampf zu beenden?“
„Du weißt genau, dass ich das nicht kann, Leander! Das bin ich nicht!“ Callem holte tief Luft. „Wir werden noch heute Nacht die Bewahrer angreifen und den Baum der Lieder zerstören. Egal was du sagst.“
Leander lächelte schwach, auch wenn ihm nicht danach zumute war. „Das werdet ihr nicht. Ich habe gesehen, wie der Baum der Lieder zerstört wird, und es war kein Angriff.“
Lange herrschte eine beklommene Stille. „Was ist nur aus uns beiden geworden,“, seufzte Callem schließlich, „dass ich deinem Wort kein Vertrauen mehr schenken kann?“
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Q - Verloren in Bernstein

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:27

Q – Verloren in Bernstein

Sonnenhoch, 24. Wintertag 77 A.Z.
Sturmtal, Hadrisches Meer

Keuchend rannte Drukil weiter, nur fort, fort von seinen eigenen quälenden Gedanken! Ein Monster! Ich bin ein Monster! Neben dem Teich am Wasserfall sank er in die Knie. Der Bär regte sich unruhig in dem Kerker, den Drukil ihm gebaut hatte. Der Bär spürte seinen Zorn, seine Aufgebrachtheit, seine Verzweiflung, und bot leise an, diese Gefühle zu vergessen. Für den Bären war es sinnlos, zornig zu sein, wenn er auf nichts einschlagen konnte.
Drukil drängte den Bären beiseite und nahm seine Umgebung erst langsam wieder wahr. Nur wenige Schritt von ihm entfernt sah er den Leichnam Bragors, in seinem eigenen Blut liegend. Das Gesicht zwischen den abgesägten Hornstümpfen war im Schmerz erstarrt. Noch ein Opfer Leanders. Zitternd sah Drukil auf zu den Felszacken, die wie ein steinerner Wald vor ihm aufragten.
Ich dachte, er ist Familie. Doch Leander hatte schon Familie, und ich war nur ein Werkzeug für ihn. Ein Ungeheuer, das er im richtigen Moment von der Kette lassen wollte. Er hat gelogen und ich wollte ihm glauben. Ich bin eine Gefahr. Er wusste es von Anfang an!
Er schrie aus Leibeskräften den Zorn und den Verrat von sich und sackte schluchzend in sich zusammen. Sein Schrei hing noch lange in der Windstille Sturmtals.
Er hatte genug! Genug von den viel zu grellen Farben und den abgestumpften Gerüchen. Genug von den Namen, die die Welt ordneten. Genug von den Lügen und der Arglist. Genug von Plänen und Sorgen. Genug davon, ein Mensch zu sein …
Du wirst sie verlassen haben, und doch wird keiner von ihnen dich vermissen.
Nach langer Zeit, in der er sich zumindest ein wenig beruhigte, legte sich unsanft eine breite Hand auf seine Schulter. Blinzelnd hob Drukil den Kopf und sah in das Gesicht eines älteren Tarus mit dunkelgrauem Bart und prächtigen gedrehten Hörnern. „Auch Bragor also.“, murmelte er mit tiefer Stimme. Die Hand auf Drukils Schulter zitterte. „Er hätte Konda geheiratet, wenn es damals nicht abgehauen wäre, weißt du? Meine Konda…“
Seine dunklen Augen glänzten. „Steht auf und verfolgt die Mistkerle! Macht sie fertig! Sie sollen büßen!“
Drukil schüttelte zitternd den Kopf. „Lass mich!“, begann er krächzend und räusperte sich. „Lass mich in Ruhe! Ich bin ein Monster… Ich bleibe hier sitzen. Hier kann ich niemandem was tun.“
Die Hand grub sich schmerzhaft fest in seine Schulter. „Nein! Die wahren Monster sind da draußen!“
Drukil wehrte sich nicht, als der Tarus ihn auf die Beine zog, seine Hand packte und ihn hinter sich her zerrte.
„Wie heißt du?“, fragte er schwach.
„Holk.“ Der Tarus stieß seinen Namen aus wie den eines verhassten Feindes. „Und jetzt sei still und komm mit!“
„Wohin?“
„Zu deinen Freunden! Sie sollen etwas tun!“, bellte Holk.
Drukil ließ sich widerstandslos weiterzerren, auch wenn ein Teil von ihm laut protestierte. Nicht! Ich kann nicht! Ich kann Leander jetzt nicht sehen… Doch ein anderer Teil von Drukil wollte zurück zu seinen Freunden, zu seiner Familie. Dieser Teil von Drukil wusste, dass er sich zurückziehen und sie in Frieden lassen sollte, doch brachte es nicht über sich. Zu wertvoll waren sie ihm.
Holk zog ihn auf einem großen Platz, auf dem sich tote Taren und Meereskreaturen häuften. Hier war vorhin die falsche Chada aufgetaucht, doch ein Blick auf das Dach verriet Drukil, dass ihre Leiche verschwunden war.
Die anderen standen neben einer toten Tare, die einen Pfeil im Hals hatte. Chada sprach leise mit einem dicken Tarus, der bedauernd auf die Ermordete herabblickte, Thorn und Ken Dorr standen schweigend daneben. Leander und Eara waren nirgends zu sehen.
Holk ließ ihn los und knurrte: „Da! Geh zu ihnen! Verfolgt die Piraten! Wir sind die Ermordeten! Rächt uns!“
Leander war nicht dabei, also nickte Drukil widerstrebend. „Du bist kein Ermordeter. Du lebst noch.“, schob Drukil nach.
Holk starrte ihn mit steinerner Miene an. „Nein. Auch ich bin tot. Ich habe heute an einem Tag meine Frau, meine Tochter und meine zwei kleinen Enkel verloren. Ich gehe zum Steilberg und stürze mich in die Sturmbucht. Für mich gibt es hier nichts mehr.“
Ohne ein weiteres Wort drehte Holk sich um und marschierte nach Süden. Drukil schluckte und suchte nach Worten, um den Tarus umzustimmen, aber als ihm endlich welche einfielen, war Holk schon verschwunden.
„Die letzten Kreaturen sind vertrieben. Wir werden aufbauen, was wir wiederaufbauen können.“, sagte der dicke Tarus gerade, als Drukil zu seinen Freunden stieß. „Doch wir haben heute fast unser gesamtes Vieh, die meisten unserer Behausungen und vor allem die Leben von über hundert Taren verloren, und die Zählungen sind noch längst nicht abgeschlossen. Die Hohe Schamanin ist gestorben, nur zwei Winter nach ihrem Vater, und es ist unklar, wer ihr Amt fortführen wird.“
Der Tarus schüttelte den breiten Kopf. Trotz der Situation wirkte er gefasst, ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Artgenossen, die blutend und wehklagend durch Sturmtal rannten und nach ihren Familien suchten. „Doch wir können zäh sein. So die Geister wollen, werden wir es überstehen. Wenn Ihr Sturmtal helfen wollt, dann sorgt dafür, dass das Unglück sich nicht wiederholt. Die Geister haben uns nicht vor diesem Angriff gewarnt, die Schwarze Kogge könnte jederzeit zurückkehren und ihr Werk vollenden.“
„Wir werden das verhindern.“, versprach Thorn.
Der Tarus schien nicht sonderlich überzeugt, doch er nickte ein wenig verzweifelt und überließ sie sich selbst.
„Wie fühlst du dich, Drukil?“, fragte Thorn vorsichtig. „Du und Leander, ihr…“
„Es geht mir gut!“, knurrte Drukil unwirsch. So weit würde es noch kommen, dass er in Ken Dorrs Gegenwart über seine Gefühle sprach.
Er spürte Chadas bohrenden Blick auf sich und sah sie missmutig an. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie wahrscheinlich protestiert, doch auch sie sah mitgenommen aus. Thorn hielt ihre Hand, wie um ihr Kraft zu spenden.
Natürlich. Einer ihrer Freunde hat sie verraten und ein anderer könnte jederzeit über sie herfallen – wie schon einmal.
Plötzlich brüllte der Bär auf und kratzte an den Wänden seiner Höhle ohne Ausgang. Drukil hatte gelernt auf die Empfindungen des Bären zu achten, daher wusste er, nach wem er zu suchen hatte. Und tatsächlich, Eara trat langsam zu ihnen. Sie war allein.
„Wo ist …?“ Drukil brachte es nicht über sich, den Namen auszusprechen. Sie alle verstanden ihn auch so.
„Leander hat eine Entscheidung getroffen. Er wird nicht mehr kommen.“
Drukil ballte seine Fäuste. Er wusste nicht, was er empfinden sollte. Zorn, Trauer, Verrat, Angst? Er fühlte alles und nichts davon.
Den weiteren Verlauf des Gespräches bekam er kaum mit. Ken Dorr berichtete irgendwelche Details von der letzten Zusammenkunft des Ewigen Rates, die anderen hakten nach. Drukil hörte nicht zu, zu sehr war er mit sich selbst beschäftigt. Mit sich und dem Bären, der unruhig in seiner Höhle ohne Ausgang umherschlich.
„Es gibt eine Möglichkeit. Wir vernichten den Baum der Lieder.“
Drukil schreckte aus seiner Starre, als er Ken Dorrs Worte hörte. „Was? Weshalb sollten wir?“, rief er und übertönte damit Chadas Protest.
Ken Dorr blickte ihn spöttisch an. „Drukil, habt Ihr etwa nicht zugehört? Der Schwarze Herold kann jederzeit Varkur, die Schwarze Kogge und Eure Doppelgänger zu Hilfe holen, und der zugegebenermaßen geschwächte Tarok liegt sowieso immer in der Halle. Sobald Ihr zu ihm stoßt, seht Ihr Euch Euren größten Feinden gegenüber. Ihr wollt das Herz des Todes selbst in Besitz nehmen, sobald die Krone zerstört wurde, also werdet Ihr Euch zumindest durch sie hindurchkämpfen müssen. Selbst wenn Eara es wirklich mit Varkur aufnehmen kann, selbst wenn der Rest von euch mit der Schwarzen Kogge fertig wird, und selbst wenn der Schwarze Herold euch nicht einfach einäschert – ihr selbst steht euch im Weg. Oder zumindest Wesen, die Euch gleichen und die allein euch ebenbürtig sein dürften. Ich braucht eine Waffe, um Euch dem Ewigen Rat entgegenzustellen. Ihr braucht eine Macht, ebenso groß wie die des Schwarzen Herolds. Ihr braucht das Herz der Geburt.“
Drukil ballte die steifen Finger zu Fäusten. Die Macht der Bäume zu missbrauchen war falsch!
„Wir haben darüber gesprochen, Ken Dorr!“, sagte Chada eisig. „Unser Beschluss bleibt bestehen. Niemand rührt den Baum der Lieder an!“
Ken Dorr erwiderte ruhig ihren Blick. „Der Schwarze Herold hat mir einen neuen Auftrag gegeben. Eine einzige klare Anweisung: Ich soll um jeden Preis verhindern, dass Ihr den Baum der Lieder zerstört und die Macht des Neubeginns in Eure kleine Frucht zwängt. Es ist das einzige, was er fürchtet.“
„Weil er von unseren Plänen mit der Krone nichts weiß!“, herrschte Chada ihn an. „Wir werden gewinnen, auch so. Wir brauchen diese Macht nicht!“
Ken Dorr verschränkte die Arme. „Vielleicht. Doch ein vielleicht genügt mir nicht. Auch mein Kopf wird rollen, solltet ihr versagen. Meiner und der von tausend anderen.“
„Du triffst diese Entscheidung nicht!“, rief Drukil.
Eara hob mahnend ihre dunkle Hand. „Und auch du nicht, Drukil. Ich stimme Ken Dorr zu, mit der Macht des Anbeginns würden sich unsere Chancen deutlich erhöhen. Und vergesst nicht, dass Leander selbst gesehen hat, dass die Bewahrer den Baum der Lieder aus freien Stücken aufgeben würden. Ich denke nicht, dass er hierin gelogen hat. Doch am Ende können wir den Baum der Lieder nicht gegen den Willen der Bewahrer zerstören. Nicht wir entscheiden dies, sondern sie.“
„Und damit hat sich die Frage geklärt.“, ergänzte Thorn. „Die Bewahrer werden ihre Heimat nicht aufgeben, und wir sollten bereits morgen in Cavern sein, wir haben gar nicht die Zeit für einen Umweg. Wir werden mit dem losziehen müssen, was wir haben. Es sei denn, wir erfahren unerwartet etwas über dieses dritte Herz.“ Bei den letzten Worten sah er Ken Dorr prüfend an, doch der schüttelte nur bedauernd den Kopf.
„Dann könnten wir den Bewahrern höchstens einen Falken senden.“, schloss Thorn. „Aber ich glaube nicht, dass sie ihren kostbaren Baum eines Vogels wegen opfern werden.“
„Eines Vogels wegen nicht.“, gab sogar Ken Dorr zu. „Es gäbe jedoch noch einen anderen Weg. Einer von uns geht selbst zu ihnen und schildert die Situation. Wir überlassen die Entscheidung ihnen, doch wir geben ihnen die notwendigen Informationen. Wer auch immer zu den Bewahrern geht, reist anschließend auf dem schnellsten Weg nach Cavern. Vielleicht kommt er rechtzeitig vor Eurem Aufbruch an, ansonsten habt Ihr nur einen Kämpfer verloren, doch vielleicht eine unerreichbare Macht gewonnen.“
„Das kommt nicht infrage!“, zischte Chada.
Ken Dorr hob nur die Arme und lächelte unschuldig. „Und was, wenn ich gehe? Ihr braucht mein Schwert nicht gegen den Ewigen Rat. Wenn ich zurückbleibe, wäre der Verlust kein großer. Der Gewinn dagegen…“ Er zuckte die Schultern. „Der Oberste Priester muss zumindest erfahren, was auf dem Spiel steht. Wenn Ihr Euch weigert, so gehe ich.“ Kälte trat in seine grauen Augen. „Es sei denn, Ihr wollt mich mit Gewalt daran hindern?“
Chada funkelte Ken Dorr an, ihr ganzer Körper bebte vor Zorn, und Drukil fühlte sich genau so. Doch schließlich senkte sie den Blick. „Diese Welt hat schon genug Gewalt gesehen. Wir werden dich nicht aufhalten. Du wirst die Bewahrer weder überzeugen noch zwingen können, wozu also? Tu, was du nicht lassen kannst.“
Drukil stieß einen Protestlaut aus, doch Earas berechnender Blick traf ihn und ließ ihn frösteln, als würde ihre Kälte auf ihn übergreifen. „Beginne keinen Streit, den du verlieren wirst.“, sagte sie nur, und Drukil biss die Zähne zusammen.
„Dann wäre das geklärt.“, verkündete Ken Dorr sichtlich zufrieden. „Wir fahren nach Süden, legen irgendwo an der Nördlichen Küste an, und dann trennen sich unsere Wege vorläufig.“
Der Dieb drehte sich um und marschierte in Richtung ihres Schiffes, all das Leid um sich herum missachtend. Drukil spürte ein wütendes Zittern in seinem Brustkorb. Ken Dorr war nicht zu trauen, das mussten die anderen doch wissen. Wer wusste schon, welche Lügen er den Bewahrern auftischen würde? Wer wusste schon, welche Tricks er noch bereithielt? Wenn Ken Dorr unbeaufsichtigt zum Lebensbaum gelangte, dann würde er brennen, dessen war Drukil sich gewiss. Und plötzlich wusste er, was er zu tun hatte. Plötzlich wusste er, welche Aufgabe er erfüllen musste. Plötzlich wusste er, wie alles ineinandergriff. Du wirst sie verlassen haben, und doch wird keiner von ihnen dich vermissen.
„Ich komme mit.“, verkündete Drukil fest. Er spürte die erstaunten Blicke seiner Freunde auf sich. Er erahnte ihre Gedanken: Drukil geht freiwillig in den Wald? Kommt er auch wieder? Doch er beachtete sie nicht. Seine Augen waren fest auf Ken Dorr gerichtet, der nach seiner Ankündigung zunächst kurz ins Stolpern geriet und anschließend einen langen Blick über die Schulter warf. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er Drukil. Er schien nicht erfreut. Gut so! Drukil lächelte grimmig.
„Dann werdet Ihr bezeugen können, dass ich den Bewahrern nur die Wahrheit sagte.“, meinte Ken Dorr schließlich. Er erwiderte das Lächeln, und es sah fast nicht gezwungen aus.


Sonnenhoch, 25. Wintertag 77 A.Z.
Nördliche Küste, Wachsamer Wald

Am Ende verließen sie Sturmtal doch noch nicht. Es galt, Taren zu suchen, Vieh in Sicherheit zu treiben, zu retten, was noch zu retten war, vor allem jedoch: sich auszuruhen. Selbst wenn sie Cavern dadurch später erreichten als verabredet, bis zu diesem Sternbild hatten sie noch mehr als genug Zeit. Sagten zumindest Chada und Eara, nachdem sie sich irgendwann in der Nacht darauf geeinigt hatten, welche Sterne die richtigen waren. Leanders Fehlen machte sich deutlich bemerkbar.
Früh am nächsten Morgen dann legten sie endlich ab und ließen sich vom Westwind weit nach Osten tragen. Als sie schließlich vor der Küste des Wachsamen Waldes ankerten, konnte Drukil im Süden schon die nördlichsten Ausläufer des Grauen Gebirges aufragen sehen. Chada, Thorn und Eara hatten es damit nicht mehr weit bis zum nächsten Mineneingang. Für Drukil und Ken Dorr bedeutete es jedoch, dass sie ein gutes Stück zurück nach Westen reisen mussten, um zum Baum der Lieder zu gelangen.
„Pass auf dich auf, Drukil.“, sagte Thorn zum Abschied und umarmte ihn fest.
„Und auf Ken Dorr.“, ergänzte Chada. Sie warf einen schnellen Blick zum Dieb, der eben mit vollem Rucksack von Bord der Aldebaran II kletterte. Hier gab es keinen Anleger, daher hatten sie das Schiff einfach verankert und an ein paar krummen Bäumen vertäut. Mit etwas Glück würde die Konstruktion halten, bis jemand es holen kam.
„Dafür bin ich hier.“, antwortete Drukil rau.
Auch Chada umarmte ihn. „Bis bald.“, sagte sie leise. Drukil schluckte. Du wirst sie verlassen haben, und doch wird keiner von ihnen dich vermissen.
Auch Eara trat zu ihm. Drukil wusste nicht, wie er reagiert hätte, wenn sie versucht hätte, ihn ebenfalls zu umarmen, doch natürlich tat sie nichts dergleichen. Sie streckte nur die gesunde Hand aus und sagte nachdrücklich: „Die Frucht.“
Langsam löste Drukil den Beutel von seinem Gürtel und überreichte ihn Eara, auch wenn er dabei ein leichtes Unbehagen verspürte. Bisher war es seine Aufgabe gewesen, auf die tote Frucht aufzupassen, doch falls der Lebensbaum zerstört wurde, sollte die Frucht bei denen sein, die nach Krahalzar aufbrachen, nicht bei ihm, der sie vielleicht nicht einholen würde. Aber der Lebensbaum wird nicht zerstört!
Ken Dorr wurde weit weniger herzlich verabschiedet, anschließend trennten sie sich. Chada, Thorn und Eara zogen nach Süden, Drukil und Ken Dorr nach Westen, immer an der Küste entlang, bis sie auf einen ausgetretenen Pfad stießen, der ebenso gut ein Wildwechsel hätte sein können. Der Bär hätte es gewusst, doch er scherte sich nicht darum. Der Bär war wieder in einem Wald. Die Bäume umstanden ihn und schützten ihn vor Blicken und Kälte. Er roch den Duft des Lebens unter dem Schnee selbst durch Drukils verstopfte Menschennase. Der Bär war zu Hause. Und er war stark.
Es war Neumond, der Mensch hätte dominieren sollen. Doch diese Zeiten waren endgültig vorbei. Der Bär tobte in seiner Höhle ohne Ausgang. Er kratzte an den Wänden, brüllte in die Stille und drehte sich immer im Kreis. Der Bär wollte frei sein. Er wollte die Namen abstreifen, alle Sorgen hinter sich lassen und sich einen Unterschlupf für den Langen Schlaf suchen. Bald. Drukil konnte ihn nur mit Mühe zurückhalten. Den ganzen Weg hatte er seine rechte Hand auf den linken Arm gelegt, wo der silberne Reif auf der Haut lag. Alles andere bekam er kaum mit. Er ließ sich sogar von Ken Dorr durch den Wald führen.
„Das reicht für heute.“, meinte der Dieb irgendwann. Blinzelnd sah Drukil sich um. Sie standen auf einer kleinen Lichtung, ein Bach gurgelte in der Nähe. Am Himmel standen bereits die ersten Sterne. Wie hatte es so schnell dunkel werden können?
„Was soll das?“, fragte Drukil mühsam. Selbst Sprechen fühlte sich seltsam an.
Ken Dorr runzelte die Stirn. „Wir sind den halben Tag gelaufen, wir kommen heute nicht mehr am Baum der Lieder an, und ich gehe ganz gewiss nicht im Stockdunkeln querfeldein durch den Wald. Soll ich ein Feuer machen?“
„Keine Rote Katze!“, knurrte Drukil ungehalten. Und dann: „Ich darf nicht schlafen. Das weißt du.“
Ken lächelte nur. „Perfekt! Dann kannst du Wache halten!“ Er stellte seinen Rucksack ab, kramte zwei in Rinde eingepackte Fische hervor, die die Taren ihnen mitgegeben hatten. Sie waren geräuchert worden, in kalt jedoch nicht allzu schmackhaft. Drukil schlang seinen Fisch trotzdem herunter – oder vielmehr, Ken Dorrs Fisch, nachdem er dem Dieb stattdessen seinen eigenen überlassen hatte. Ein bisschen Vorsicht konnte nicht schaden.
Nach dem stummen Mahl zog sich Ken Dorr unter einen Baum mit ausladenden Ästen am Rande der Lichtung zurück, rollte sich in seine Decke und überließ es Drukil, in der Kälte zu stehen und in die Dunkelheit zu starren. Er wusste, er sollte eigentlich Wache halten, doch er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Der Bär verlangte seine gesamte Aufmerksamkeit. Endlich vergessen. Bald.


Mondhoch, 25. Wintertag 77 A.Z.
Nördliche Küste, Wachsamer Wald

Den Blick zum Himmel gerichtet stand Drukil in der Mitte der Lichtung. Irgendwo da oben standen jetzt vier Sterne in einer Reihe und leuchteten auf ihn herab. Kurz und vergeblich suchte er danach.
Drukil seufzte. Er hatte sich lange genug abgelenkt. Von Ken Dorr hatte er seit mindestens einer Stunde keinen Laut mehr gehört. Die Zeit war reif.
Fast lautlos zog Drukil sein Schwert.
Im Schatten des Baumes konnte Drukil nur ungefähr einen dunklen Fleck ausmachen, wo sich Ken Dorr zum Schlafen gelegt hatte. Er hielt sich nahe am Baumstamm und ging mit gezogenem Schwert weiter. So lange hatte er nichts als Hass und Verachtung für Ken Dorr empfunden, doch jetzt spürte er nur Bedauern. Endlich konnte er mehr erkennen. Erst Kens sperrigen Rucksack, gefolgt von den Decken, in die er sich vorhin gewickelt hatte. Nur von ihm selbst fehlte jede Spur…
Plötzlich traf ihn ein Gewicht. Er wusste kaum, wie ihm geschah. Im einen Moment stand er noch über Ken Dorrs leerem Lager, im nächsten lag er mit ausgebreiteten Armen im Schnee, ein Gewicht auf seinem Rücken. Das Schwert musste er verloren haben.
„Ganz langsam jetzt.“, flüsterte eine kalte Stimme. Etwas Spitzes drang mühelos durch seine Kleidung und bohrte sich in seine Seite, genau dort, wo sich noch immer die Narbe vom Bleichen König befand. Er spürte die Kälte mehr als den Schmerz.
„Und jetzt schön langsam den Arm heben und deinen Reif absetzen. Wir wollen doch beide nicht, dass du etwas Dummes tust.“, flüsterte Ken Dorr.
Drukil bewegte den linken Arm und tastete unauffällig umher, in der Hoffnung, das Schwert wiederzufinden, doch als er keine Anstalten machte, den Armreif abzuziehen, bohrte sich das kalte Stechen noch etwas tiefer in seine Seite und Drukil gehorchte.
Kurz erwartete er, dass der Bär hervorbrechen würde, kaum dass der Reif über sein Handgelenk glitt, doch für den Moment verhielt er sich ruhig. Wortlos reichte Drukil den Reif nach oben, knapp außer Reichweite Ken Dorrs. Das Gewicht auf seinem Rücken verschob sich.
Jetzt oder nie! Sobald er spürte, dass eine andere Hand nach seinem kostbaren Armreif griff, zog er mit aller Kraft daran. Gleichzeitig rutschte er zur Seite.
Ken Dorr landete fluchend im Schnee und fuchtelte blind mit seinem Dolch herum. Als die Klinge seinem Arm zu nahe kam, ließ Drukil seinen Reif notgedrungen los und brachte etwas Entfernung zwischen sich und Ken Dorr.
Gleichzeitig sprangen sie auf, beide keuchend. Jetzt endlich sah Drukil sein Schwert. Es lag genau hinter Ken Dorr vergessen im Schnee.
„Ich erkenne einen Mordversuch, wenn ich einen sehe.“, sagte Ken Dorr langsam. „Warum, Drukil?“
Drukil zischte, als der Schmerz in seiner Seite sich endlich bemerkbar machte. Blut lief warm über seine Haut. „Nicht aus Hass. Nicht aus Boswillen. Du wärest doch sowieso wiedergekommen.“, stammelte Drukil. Wachsam begann er, einen weiten Halbkreis um Ken Dorr zu laufen. Schritt für Schritt näher an sein Schwert.
„Ich glaube dir tatsächlich. Du denkst, der Lebensbaum muss brennen, nur so haben wir eine Chance. Aber das macht es nicht besser! Es ist falsch, die Macht der Herzen zu missbrauchen. Einfach falsch! Du kannst das nicht spüren.“
Ken Dorr sah ihn mit starrem Blick an. Drukil hatte keine Ahnung, was in dem Dieb vorging. „Du führst deine Worte zielsicherer als dein Schwert. Und ich? Ich spreche überhaupt erst seit drei Jahren. Leander hat gesehen, was geschehen wäre. Der Baum wäre verbrannt, und die Bewahrer hätten ihn aus freien Stücken verlassen. Du hättest sie überzeugt. Ich … ich musste das verhindern. Dich aufhalten. Auch mit Gewalt. Es hatte nichts mit dir zu tun, Ken Dorr. Ich wollte nur einen schrecklichen Fehler verhindern. Ich weiß, es ist gegen den Willen meiner Freunde. Aber so musste es kommen. Ich werde sie verlassen haben, und doch wird keiner von ihnen mich vermissen. Warum auch? Ich hintergehe sie.“
Ken Dorr zuckte. Erst als er gemütlich auf Drukil zukam und den Schatten der Äste verließ, erst als er Ken Dorrs Grinsen sah und das Blitzen seiner grauen Augen, erkannte Drukil ein unterdrückte Lachen.
„Du hast…“, kicherte Ken Dorr. Dann lachte er schallend. „Oh, Drukil!“ Kopfschüttelnd blieb Ken stehen und betrachtete den silbernen Armreif und den Schlangendolch in seinen Händen. „Dir ist etwas gelungen, was nur wirklich wenige vollbracht haben. Du hast mich wahrhaft überrascht.“
Grinsend sah der Dieb auf. „Ich dachte, ich wüsste, wie du funktionierst. Deine direkte Art, deine Abscheu gegenüber allen Lügen und Intrigen… Niemals hätte ich erwartet, dass ausgerechnet du mich täuschen könntest.“ Er lachte wieder auf. „Es stellt sich heraus, dass ich dich ganz umsonst am Leben gelassen habe. Ich dachte, du hättest etwas mitbekommen. Du hättest meine Taschen durchwühlt, und die falsche Frucht gefunden, oder das Drachenauge. Ich dachte, du könntest mir sagen, wer noch davon weiß, wen ich noch loswerden muss. Aber in Wahrheit wolltest du mir nicht ans Leder, weil du mich verdächtigt hast, sondern weil du endlich begonnen hast, mir zu glauben.“
Drukil öffnete den Mund. „Ich habe es gewusst!“, grollte er. Alles in ihm war Zorn. „Ich habe gewusst, dass wir dir nicht trauen dürfen!“
„Nein, Drukil! Zum Schluss, als es darauf ankam, hast du es nicht gewusst. Ich habe deine Motive falsch eingeschätzt, und doch: Du bist genau da, wo ich dich haben wollte!“ Ein selbstzufriedenes Lächeln legte sich auf Ken Dorrs Lippen. „Es könnte mich nicht weniger kümmern, ob die Bewahrer ihren Baum aus freien Stücken niederbrennen. Die Schwarze Kogge landet in diesem Augenblick an der Nördlichen Küste an. Der Baum der Lieder wird diese Nacht nicht überstehen, so oder so.“
Drukil keuchte. „Aber … der Schwarze Herold …“
„Selbst du hast also aufgehört, an meinem Wort zu zweifeln. Ich muss noch besser sein als gedacht. Nein, der Baum der Lieder kümmert mich nicht. Sein Schicksal ist besiegelt. Der Streit um unser weiteres Vorgehen, dieser Umweg, das alles diente nur einem Zweck:“ Er verzog höhnisch das Gesicht. „Dir!“
Vorsichtig umrundete Drukil ihn weiter. Setzte Schritt für Schritt, ohne zu seinem Schwert zu blicken.
„Ich wusste, dass du mir folgen würdest. Du konntest mich einfach nicht alleine zum Baum der Lieder ziehen lassen. Und jetzt sind wir hier, unbeobachtet, allein in einem großen Wald, weit weniger wachsam, als ihm nachgesagt wird. Es sind schon so viele hereingegangen und nicht mehr herausgekommen. Nur die Bäume sind schweigsame Zeugen dessen, was hier geschehen wird. Eigentlich dachte ich, ich warte in der Baumkrone, bis du zum Aufwecken am Morgen in meine Nähe kommst, aber dein plumper Versuch, mich aufzuhalten, tut es auch.“ Er kicherte stumm vor sich hin. „Ach Drukil, du bist und bleibst, trotz allem, ein einfacher Geist.“
„Du bist dumm.“, knurrte Drukil. „Glaubst du etwa, meine Freunde werden dir noch vertrauen, wenn du ohne mich zurückkommst?“
Ken Dorr zuckte die Achseln. „Glaubst du es denn? Wir alle wissen doch, wie stark der Bär in dir geworden ist. Eine Nacht im Wald war leider zu viel für deinen menschlichen Geist. Du warst nun mal, von Anfang an, ein Monster. Nur dazu da, sie zu vernichten. Werden sie dich wirklich vermissen?“
Drukil holte zitternd Luft. Seine Brust schmerzte. Auch der Bär wurde unruhig. Er spürte den Zorn zu sich hereinschwappen, und er suchte ungeduldig nach einem Ausgang aus seinem Kerker.
„Vielleicht würden sie es glauben.“, meinte Ken Dorr nach kurzer Pause. „Doch das müssen sie gar nicht. Denn ich werde nicht ohne dich zurückkehren, Drukil. Ich will dich nicht loswerden, das hätte ich einfacher haben können. Ich will dich ersetzen. Und dankenswerterweise existiert bereits eine perfekte Kopie von dir.“
Drukil blieb stocksteif stehen. Seine Glieder fühlten sich taub an. „Darauf werden sie nicht hereinfallen…“
Ken Dorr lachte kalt. „Du wirst sie verlassen haben, und doch wird keiner von ihnen dich vermissen. Von dir im Stich gelassen werden sie dir keine Träne nachweinen. Denn sie werden gar nicht bemerken, dass du fehlst!“, flüsterte er triumphierend. „Der wortkarge, mürrische Drukil, der von der Welt der Menschen keine Ahnung hat. Sie werden keinen Unterschied feststellen. Sie sind blind, Drukil. Sie alle sind blind. Wenn du einen Mann durch sein Fenster bestehlen möchtest, dann klopfe an seine Tür. Das ist meine wahre Macht. Das Hilfsmittel eines jedes Taschenspielers und Jahrmarktzauberers: Aufmerksamkeit. Auf die falschen Zeiten und Orte konzentriert. Sie sehen, was ich sie sehen lasse, und für alles andere werden sie blind.“
Drukil trat in den Schatten des Baumes. Sein Schwert lag jetzt fast in seiner Reichweite. Nur noch ein bisschen! Sollte Ken Dorr doch quatschen und sich clever fühlen!
„Was denkst du, wie ich es geschafft habe, das Drachenauge zu stehlen? Das wertvollste Juwel der bekannten Welt, der kostbarste Schatz der Silberzwerge! Es war klar, dass sie sein Verschwinden bemerken würden. Und wie es dann weiterginge. Ein Dieb und fünf Helden. Aufmerksamkeit an den falschen Orten. Warum hätten sie Thorn durchsuchen sollen, wenn ich doch ein so naheliegenderer Dieb war?“
„Thorn hätte dir nicht geholfen!“, keuchte Drukil. Sein Atem ging schwer.
„Oh doch. Ich musste ihn nur niederschlagen, das Drachenauge in dem Beutel an seinem Gürtel verstecken und ihn einmal kurz anrempeln, nachdem man mich durchsucht hatte. So einfach trickst man selbst die misstrauischsten Zwerge aus.“
„Und wozu?“, keuchte Drukil. „Was hast du vom Drachenauge? Was hast du davon, dem Ewigen Rat zu gehorchen?“
Ken Dorr lachte schallend, und Drukil nutzte die Gelegenheit, um die letzten Schritte zu seinem Schwert zurückzulegen. „Der Ewige Rat? Ein Haufen von größenwahnsinnigen Versagern? Ich habe besseres zu tun, als ihnen zu gehorchen. Ich spiele mein eigenes Spiel, Drukil. Mein kleines dreifaches Spiel.“
„Und jetzt wirst du es verlieren!“, stieß Drukil hervor. Blitzschnell bückte er sich nach seinem Schwert. Er spürte die kalten Lederbänder des Griffs unter seinen Fingern, doch zugleich überkam ihn ungeheurer Schwindel. Er richtete sich auf und taumelte sofort in den Baumstamm. Keuchend holte er Luft.
„Irrtum, Drukil. Schon wieder.“, lächelte Ken Dorr. „Hast du wirklich gedacht, ich würde grundlos all meine Lügen vor dir ausbreiten? Einfach um mich schlau zu fühlen? Ohne etwas dadurch zu gewinnen? So dumm bin ich nicht. Ich habe etwas gewonnen, und du hast es verloren: Zeit. Lass mich raten: Jeder Atemzug ist mühsamer als der letzte. Du spürst deinen Körper kaum noch. Dein Herz schlägt nur noch schwach. Ein dunkler Schleier legt sich auf seine Sicht. Und langsam wirst du so … unendlich müde.“
Ken Dorr senkte den Blick auf den Schlangendolch in seiner Hand und drückte die goldene Schwanzspitze, bis ein einsamer Tropfen von der Spitze rann.
„Nein!“, keuchte Drukil. Er stolperte auf Ken Dorr zu, der in aller Seelenruhe seinen Dolch wegsteckte. Auf halbem Weg versagten ihm die Beine. Alles drehte sich. Er fiel längs in den Schnee.
„Du wirst vergehen, Drukil. Alles, was dich ausmacht, wird ausgelöscht. Und ein anderer wird an deine Stelle treten. Einer, der für meine Zwecke besser geeignet ist. Deine Freunde werden kämpfen und verlieren. Und du kannst nichts dagegen tun.“
Alles wurde dunkel. Ken Dorrs Stimme trat immer mehr in den Hintergrund. Nur er und der Bär blieben zurück. Und plötzlich hörte er Ken Dorrs Stimme wieder, klar und deutlich, als wiederhole er seine Worte von vor so langer Zeit: Eine Herde Ochsen! Mindestens!
Kurz sah Drukil die kleine Höhle im Gebirge vor sich, und die Bärenmutter im Halbdunkeln. Dann verschwand das Bild und er war wieder allein mit dem Bären, der voller Angst in seiner Höhle ohne Ausgang herumstrich.
Mit letzter Kraft öffnete er seine Augen, und auch wenn er von Ken Dorr nicht mehr ausmachen konnte als einen unscharfen Umriss vor den blinkenden Sternen, so presste er doch hervor: „Auch du … bist blind, Ken Dorr. Aufmerksamkeit an den falschen Orten. Du hast es vergessen … dein Gift … es wirkt nicht gegen … Bären …“
Und mit aller Kraft riss er ein Loch in die Höhlenwand. Er stieß die Türen des Kerkers auf, in den er sich selbst gesperrt hatte, und der Kerker zerbrach. Farben verschwanden aus seiner Sicht, und hunderte Düfte kamen hinzu, vom Schnee fast verborgen. Augenblicklich durchströmte ihn frische Kraft. In ihm tobte ungebändigte Harmonie.
der bär verlässt die höhle, in die er so lange eingesperrt war. er tritt hinaus in den wald, hinaus in die welt. er lässt alles zurück. die engen wände, die dunkelheit, die dumpfen sorgen des pelzlosen. die zerbrochene höhle. er wird sich nie wieder einsperren lassen. er ist frei.
er ist wieder im schmächtigen körper des pelzlosen, doch endlich wollen sie beide das gleiche. sie wollen die schwachen ärmchen, die dünne haut, das zaghaft klopfende herz zurücklassen und den körper des bären spüren. sie wollen die haut abstreifen und das fell anlegen. der bär spürt den zorn des pelzlosen. und seine schwäche. der plezlose ist so schwach. er braucht hilfe. ja. der bär wird ihm helfen.

„Was nützt es dir, Drukil? Du bist machtlos. Ich habe deinen Reif.“, meinte Ken Dorr grinsend.
Drukil setzte sich ruckartig auf. Er spürte seine Knochen knacken und seinen Leib anschwellen. Langsam schoben sich Haare durch seine Haut.
„Und schon wieder bist du blind.“, keuchte er. Das Sprechen fiel ihm immer schwerer. „Habe ich es nicht wieder und wieder gesagt? Der Bär wird immer stärker, gerade im Wald! Ich brauche meinen Armreif nicht, um er zu werden!“
Ken Dorr wich eilig mehrere Schritt zurück. Drukil stand ganz auf und brüllte allen Zorn von sich. Und der Bär stimmte triumphierend in sein Brüllen mit ein.
Doch auf Ken Dorrs Lippen lag noch immer das selbstzufriedene Lächeln, und das machte Drukil mehr Angst als alles andere.
„Aber ich habe zugehört, Drukil.“, meinte Ken Dorr sanft. „Dir, und den Drei Schwestern. Du solltest nicht sterben. Die Drei Schwestern haben dir ein so viel besseres Schicksal prophezeiht. Ich helfe dir, es zu erreichen.“
Seine fragilen Hände formten sich langsam zu Tatzen, aus den scharfe Krallen ragten. Er fiel zurück auf alle Viere, während seine Ohren sich an seinem Kopf nach oben schoben und die Zähne in seinem Mund sich zuspitzten. Die Verwandlung war purer Schmerz. Es fiel ihm leicht, die Haut im Schlaf zu wechseln, doch im Wachen brachte es ihn jedes Mal fast um.
Ruhig fuhr Ken Dorr fort: „Du hast es so oft gesagt: Der Bär wird stärker und stärker. So stark, dass deine nächste Verwandlung zugleich deine letzte wird. So stark, dass einzig dein Armreif den Menschen noch in dir hält. Was für ein dummer Zufall, dass du ihn nicht mehr hast.“ Leise kicherte er. „Ich weiß, dass du deinen Armreif nicht brauchst, um ein Bär zu werden. Aber du bräuchtest ihn, um wieder ein Mensch zu sein.“
Grauen erfüllte Drukil. Nein! Nein! Stopp!
Doch die Verwandlung war bereits in vollem Gange. Seine Nase formte sich zu einer breiten Schnauze, seine Kleidung wurde einfach aufgesprengt, als sein Körper immer weiter wuchs, und das helle Braun seiner Augen wich dem Bernstein des Bären, in dem er sich verlor.
Eine Seele, in zwei Körper gespalten. Der Bär wird dich überwinden und den Menschen auslöschen. Zufrieden wirst du durch den Wald streifen, während deine Freunde kämpfen und verlieren. Du wirst sie verlassen haben, und doch wird keiner von ihnen dich vermissen. Von dir im Stich gelassen werden sie dir keine Träne nachweinen. Wenn dein Tod kommt, wirst du weit von ihnen entfernt sterben, und sie lange schon vergessen haben.“, sang Ken Dorr.
der bär spürt noch immer den geist des pelzlosen. was will er noch? er hat losgelassen. er hat die höhle geöffnet. auch er will den frieden. auch er will fort. er klammert sich so verzweifelt an diese welt und die namen, in die er sie gehüllt hat. der bär braucht die namen nicht. die worte, die grenzen, die erfindungen der pelzlosen. aus weiter ferne klingt die piepsende stimme des anderen pelzlosen.
„Leb wohl, Drukil. Sei der Bär, der du immer sein wolltest.“ die stimme wird ganz kalt. „Und nichts sonst!“
der bär mag den pelzlosen mit den grauen augen nicht. doch er ist keine bedrohung. er macht keine beute streitig, beansprucht kein revier. leben und leben lassen.
Nein! Drukil zitterte. Es war so schwer, seinen Geist auch nur wenige Herzschläge wach zu halten, jetzt, wo der Armreif nicht mehr um sein Bein lag. Er richtete seinen massigen Kopf auf Ken Dorr. Vielleicht würde er nicht mehr zu seinen Freunden zurückkommen. Aber zumindest den Dieb musste er noch aufhalten. Nur noch diese eine gemeinsame Tat! Bitte! Danach werde ich gehen. Danach können wir im Wald des Überflusses leben und alle Sorgen vergessen. Bald! Drukil spannte die Beine an, machte sich bereit zum Sprung und…
der bär schließt die augen und schüttelt den pelzlosen ab. er will nicht mehr. der pelzlose merkt es gar nicht. ein bald folgt dem nächsten. er wird immer ein neues danach finden und nie das jetzt sehen. er kann seine familie nicht zurücklassen. nicht aus eigener kraft. der pelzlose ist so schwach. er braucht hilfe. ja. der bär wird ihm helfen.
Drukil drängte den Bären zurück. Er wandte sich wieder Ken Dorr zu und …
der bär schnaubt. der pelzlose ist so dumm. er sieht nicht, was er will. der bär versteht es besser. er wird alle sorgen zurücklassen. alle masken ablegen. alle ängste vergessen und frieden finden. der pelzlose weiß nicht, wer er ist. der bär dagegen braucht es nicht zu wissen. er ist sich selbst genug.
langsam geht der bär rückwärts, die bernsteinfarbenen augen immer auf den bösen pelzlosen gerichtet. er hat eine giftige silberklaue, die der bär nicht mag. doch noch mehr fürchtet er sich vor dem silbernen glänzen. es allein könnte dem pelzlosen die kraft geben, den bären wieder einzusperren. der bär will frei sein! er brüllt. der pelzlose mit den grauen augen zuckt, doch der bär achtet nicht mehr darauf. er dreht sich um und rennt. fort von allem, was noch an den pelzlosen erinnert. in die freiheit.

Zurück! Er musste Ken Dorr aufhalten. Er musste…
der bär schüttelt sich. der pelzlose muss gar nichts. er kann frei sein. keuchend bleibt der bär stehen. er starrt lange auf seine tatzen, wo früher das silberne glänzen war.
Nein! Drukil musste es auch ohne den Armreif schaffen. Er würde sich nicht in den Kerker verbannen lassen, den er für den Bären erbaut hatte.
der bär schnaubt. er ist nicht wie der pelzlose. der pelzlose hat den bären in eine höhle ohne ausgang gesperrt. und damit zugleich auch sich selbst. die höhle ist zerbrochen, und der bär hat sie verlassen, doch der pelzlose ist noch immer dort. er sitzt in der höhle und begreift nicht, dass auch er in die freiheit könnte. ein letztes mal muss der bär ihm helfen.
Drukil wollte diese Hilfe nicht! Der Bär verstand nicht.
der pelzlose versteht nicht! sie beide sind eins! eine seele, in zwei körper gespalten. sie können nur zusammen frei sein. leise schnauft er. sie wollen beide dasselbe. alles hinter sich lassen und nur noch bär sein. der bär weiß, dass er den pelzlosen nicht zwingen kann. und dass er es gar nicht muss. sie sind eins. seine wünsche sind auch die des pelzlosen. langsam führt er den pelzlosen in die freiheit. und ihre wünsche, ihre gefühle, ihr ganzes selbst vereinigt sich. die sorgen lösen sich auf. die zukunft verliert jede bedeutung, nur das jetzt zählt.
Nein! Nein! Ich werde nicht vergessen, wer ich bin! Ich bin … Ich … Mein Name ist …
es ist genug. vergessen sind die namen, die die welt in muster zwängen. vergessen sind die grauen riesen und die rote katze. vergessen ist die falsche dunkelheit. vergessen sind die sorgen. vergessen ist das silberne glänzen. vergessen ist der pelzlose. alles verliert sich in bernstein. nur der bär bleibt. alles ist eins.
der bär hebt den kopf. bäume recken ihre äste über seinen himmel. auf dem boden liegt schnee. die große kälte ist da. der bär sieht sich um. er braucht einen unterschlupf für den langen schlaf.
er reckt die nase in die luft und schnuppert. ein stachelball in seiner laubhöhle. der kot eines rehs. knospen tief in der erde. überall um ihn her ist leben unter dem schnee. er ist angekommen.
der bär ist nicht glücklich, denn glück ist ein konzept, das er nicht benötigt. der bär ist zufrieden. das genügt.
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Zwischenspiel XVII - Der brennende Baum

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:27

Zwischenspiel XVII – Der brennende Baum

Späte Nacht, 25. Wintertag 77 A.Z.
Nördlich des Baumes der Lieder, Wachsamer Wald

Es lehnte an einem Baum und sah hinauf in den Himmel, zwischen den kahlen Zweigen hindurch. Abertausende von kleinen Sternen funkelten gleichgültig zu ihm herunter. Schön und unnahbar. Kein Blut könnte sie jemals rot färben. Scheinbar wahllos waren die kleinen Punkte auf dem tiefblauen Nachthimmel ausgebreitet. Ein ganzer Kosmos, weiß auf blau.
Ein Tumult brachte es dazu, den Blick zu senken. Zwei Fischmenschen zerrten einen schlanken Mann mit sich. Es hatte ihn schon gesehen, im Dorf der Hörnermenschen! An der Seite der Frau, die wie es aussah.
„Callem! Sag ihnen, sie sollen mich loslassen!“, rief der Mann mit hoher, kalter Stimme.
Der Kapitän hatte auf einem Baumstumpf am Feuer gesessen, jetzt stand er mühsam auf. „Sie haben ihren eigenen Kopf, Ken Dorr. Genau wie ich.“
Der Fremde hob gelangweilt den Blick. In seinen grauen Augen lag etwas Lauerndes, das Chada gar nicht mochte. Er schwieg und wartete, bis Callem einen Wink gab und die Fischmenschen ihn zischelnd losließen. „Was willst du hier, Ken Dorr? Sind die Helden in der Nähe?“
„Nein, keine Sorge. Ich bin allein. Und ich will die Unterstützung, die der Schwarze Herold mir zugesichert hat. Ich will… ihn!“ Langsam deutete der Fremde auf Chadas Bruder. Kaum jemand kannte noch die Bezeichnung Nummer Drei, die Mutter ihm gegeben hatte, er wurde nur von allen Drukil genannt. Gedankenversunken stand er am Rand des Lichtkreises und starrte mit einem Gesicht voller Sehnsucht irgendwo zwischen die Bäume.
Kapitän Callem runzelte die Stirn. „Schön. Du sollst ihn haben. Doch erst nach dem Angriff. Die Bewahrer sollen seinen Verrat beobachten.“
„Sollte dieser Angriff nicht längst stattgefunden haben?“, meinte der Fremde lächelnd.
Callem schnaubte. „Wie weit bist du, Krumm?“
Der Hexenmeister sah mit zusammengekniffenen Äuglein auf. „Bin schon fertig, bin schon fertig!“, murmelte er. Er ließ einige scharf riechende Blätter in den blubbernden Kessel über dem Feuer fallen und humpelte grinsend zurück. Dichter weißer Nebel brodelte aus dem Kessel und breitete sich in kürzester Zeit zwischen den schwarzen Bäumen aus.
„Endlich!“, knurrte Kapitän Callem gedämpft. Laut rief er: „Kein Bewahrer wird uns sehen können! Keine Wache vor uns warnen! Wir brechen auf!“
Ein Hornstoß erklang. Die Fischmenschen zischten aufgeregt und setzten sich in Bewegung. Chada schloss die Augen. Es wollte das alles nicht! Es wollte kein Blut vergießen! Es wollte wissen, warum es seine Macht erhalten hatte! Es lauschte lange, doch es hörte nur die gedämpften Geräusche der Kreaturen, das Meeresrauschen und den Wind in den ächzenden Bäumen. Keine Münze auf hartem Stein. Keinen Klang der Entscheidung.
„Komm schon, Chada.“, sagte eine Stimme. Es öffnete die Augen und sah sich dem ersten Maat gegenüber. Er schwang seinen unheimlichen Hammer und musterte es prüfend. „Worauf wartest du noch?“
Chada erschauderte. „Es kommt schon.“
Sie liefen lange durch den verschleierten Wald. Niron mit seinem Silberhorn führte sie in Schlangenlinien durchs Unterholz. Krumm humpelte hinter ihm und ließ seinen nebelblubbernden Kessel von einem unglücklich dreinschauenden Fischmenschen tragen. Die Bäume faszinierten Chada. Je länger sie gingen, desto breiter wurden sie, ihre Größe war im Nebel bald nicht mehr auszumachen. Es hüpfte aufgeregt durch das kalte Weiß und blieb an jedem Stamm stehen. Pero musste es mehrfach anschnauzen, das Blatt oder den Ast liegenzulassen und mitzukommen. Es vergaß sogar seine kalte Angst vor dem, was es gleich tun musste.
Irgendwann hielt ihre Schar an und Krumm kippte seinen Kessel aus. Zischend ergoss sich die blubbernde Suppe ins kalte Weiß und versickerte zwischen den Wurzeln. Der Nebel verzog sich.
Callem winkte Chada und seine Geschwister zu sich. „Eure Mutter ist nicht mehr da, um euch zu leiten.“, sagte er leise. „Doch ihr habt das inzwischen oft genug gemacht. Ihr wisst, was ihr zu tun habt. Ihr geht vorne! Alle sollen euch sehen.“ Kalt fügte er hinzu: „Und falls ihr den Wünschen eurer Mutter trotzt, sind wir genau hinter euch.“
Es nickte zitternd und griff sein Zupfding fester. Niron blies in sein Silberhorn und sie setzten sich wieder in Bewegung. Chada und seine Geschwister liefen vorne. Es nahm den Wald kaum noch wahr, bis es irgendwann zwischen zwei hohen Bäumen hindurchlief und auf eine Lichtung trat. Mit erhobenem Blick blieb es stehen. Ihm stockte der Atem.
Über ihm erstreckten sich die mächtigen Äste eines riesigen Baumes, Fässer hingen an dicken Tauen. Die Rinde glänzte fast golden, unzählige Balustraden und Fenster sahen stumm auf es herab. Ehrfurcht ergriff es. Und dann hörte es den Wind, der sacht zwischen den Ästen hindurchstrich. Gerüche stiegen ihm in die Nase, die es noch nie gerochen hatte. Dieser Baum war wunderschön! Und er strahlte einen ungeheuren Frieden aus, der es von innen wärmte. Obwohl es noch nie hier gewesen war, war es, als käme es nach Hause.
Nummer Vier stupste es an und schenkte ihm einen besorgten Blick. Stolpernd setzte es sich wieder in Bewegung. Zwischen zwei Hütten hindurch konnte Chada ein großes Feuer lodern sehen. Gestalten standen darum, die genau die gleiche Kleidung trugen wie es selbst!
Vor dem Feuer stand mit ausgebreiteten Armen ein Mann in weißer Robe. Sein Gesicht war unscheinbar, doch er sah traurig aus, als er in die Flammen sah. Chada fragte sich, ob es ihn trösten konnte, doch noch bevor es bemerkt wurde, kam ein kleiner Mensch angelaufen, die Arme voller Schriftrollen, und sagte lächelnd etwas, das Chada nicht verstand. Der unscheinbare Mann zog ihn hastig vom Feuer weg und setzte zu einer Antwort an, doch dabei hob er den Blick und erblickte es. Er rief irgendetwas und auch die anderen Gestalten sahen jetzt in seine Richtung. In ihren Augen sah es ein Gefühl, das es nicht erkannte. Doch dann bemerkten die Menschen auch die Kreaturen und wichen hastig zurück. Warnrufe erschollen. Oben dröhnte eine tiefe Glocke.
„Chada? Was ist hier los?“, rief der unscheinbare Mann mit weißer Robe. Es hob sein Zupfding und zielte mit einem Stachel, nein, Pfeil, auf ihn. Jede Bewegung tat weh. Es schloss die Augen.
Das Blut wird versiegen und der Schmerz ist vergessen. Ohne die Augen zu öffnen, ließ es den Pfeil fliegen. Das erstaunte Röcheln verkündete Chada, dass es getroffen hatte. Wie immer. Es traf viel zu oft.
Es schlug die Augen auf. In den Blicken der Menschen ums Feuer sah es Respekt, der langsam der Furcht wich. Chada kannte die Furcht. Es hatte sie schon oft gesehen. Sie kroch hervor, wann immer es seine Pfeile abschoss. Wann immer es zwischen den Sterbenden hindurchschritt und Leben erntete. Wann immer es Blut vergoss. Das Blut versiegte nicht, und der Schmerz war nicht vergessen.
Doch heute war etwas anders. Die Menschen hier betrachteten es mit solchem Unglauben, solcher Verwirrung. Sie verstanden nicht, was sie sahen. Sie betrachteten es noch immer mit diesem seltsamen Blick, und jetzt erst erkannte es das, was darin lag: Liebe. Niemand hatte es je so angesehen, auch nicht Mutter. Doch nein, ermahnte Chada sich, sie liebten nicht es, sondern die Frau, die sein Gesicht trug. Und diese Liebe würde es zerstören müssen. Es tat Chada weh, so etwas Kostbares zu vernichten, mehr noch als die Furcht, mehr noch als Blut und Leid, die jetzt um sich griffen. Mehr noch als ihm die Gestalten in der so vertrauten Kleidung leidtaten, welche von den Kreaturen angegriffen und dutzendfach ermordet wurden. Es sah enttäuschtes Vertrauen und Furcht. Schon wieder Furcht.
Langsam hob es das Zupfding. Sonst war es immer Mutter gewesen, die seine Bewegungen gesteuert hatte. Es hatte nichts anderes tun können, als nur zuzusehen, und es hatte sich schrecklich gefühlt. Doch es hatte nicht gewusst, wie schlimm es sein würde, die Pfeile selbst fliegen lassen zu müssen.
Schützen eilten von allen Seiten auf die Lichtung, traktierten die Kreaturen mit Pfeilen. Chada wünschte sich, ebenfalls getroffen zu werden. Wieder einzuschlafen, wie es schon im Dorf der Hörnermenschen geschehen war, als die dunkle Frau es angegriffen hatte. Doch es blieb verschont und musste weiter morden. Es erschoss einen der vertrauten Fremden nach dem anderen und blendete alle Schreie und alle Furcht und alles Blut aus. Irgendwann versiegte der Strom.
Chada ließ das Zupfding fallen und kauerte sich zusammen, um alles zu vergessen. Der Gestank vom Blut lag über dem ganzen Wald und vertrieb die seltsam vertrauten Gerüche. Der sachte Wind war nicht mehr zu hören über das Wimmern der Menschen. Der Frieden unter dem wunderschönen Baum war gebrochen.
Irgendwann hörte es Schritte, die neben ihm anhielten. Langsam hob es den Kopf und sah den Fremden mit den grauen Augen. Er betrachtete teilnahmslos die Leichen auf dem Platz. „So eine Verschwendung. Unschön, was?“
Chada wimmerte. Das war nicht unschön. Es war grauenhaft!
„Ich habe etwas für dich, Chada.“ Er zog einen silbernen Reif aus einer Tasche und hielt ihn auffordernd hin. Nummer Drei, Drukil, hatte einen, der genau so aussah. Und doch war dieser Reif irgendwie anders. Im schimmernden Silber lag eine tiefe Harmonie.
„Ich möchte, dass du ihn nimmst und versenkst, wo das Meer am tiefsten ist. Wir wollen doch nicht, dass er in die falschen Tatzen fällt. Kannst du das für mich tun?“
Chada nickte zögernd und nahm den Reif.
„Braves Mädchen.“, flüsterte der Fremde. Danach waren sie beide still.
Die Kreaturen trieben die Menschen aus den letzten Hütten auf die blutbesudelte Lichtung im Schatten des großen Baumes und zwangen sie am Rande des blutgelöschten Feuers in die Knie. Vor den verkohlten Scheiten hatte sich Callems Mannschaft versammelt.
„Ein paar von ihnen haben sich im Baum verbarrikadiert.“, hörte es Peros hämische Stimme. „Soll ich raufgehen und ihnen zeigen, dass ein paar Bretter mich nicht aufhalten?“
„Nein.“, erwiderte Callem. Er trug wieder seinen bösen Helm. „Wenn sie da oben bleiben wollen, dann ist das ihr Fehler. Die Bühne gehört dir, Thogger.“
Der Angesprochene zuckte zusammen. Er stand etwas abseits und schüttelte zitternd den gehörnten Kopf. „Das bin nicht ich.“, sagte er heiser.
Die unheimliche Kentar tauchte neben ihm aus den Schatten auf. Ihre grüne Haut schimmerte im Sternenlicht, ihre dunklen Augen saugten gierig alles Leid auf. Chada erschauderte. Leise redete sie auf ihn ein, ihre Finger spielten unablässig mit der silbernen Kette um ihren Hals und dem rot glühenden Stein daran.
Irgendwann ging Thogger gebeugt vor und stellte sich vor dem Baum auf. Müde sah er daran hoch, dann hob er seinen Stab. Plötzlich wurde es kälter um Chada. Ein eisiger Wind umspielte es. Die Sterne und das erste Licht der Dämmerung wurden von schwarzen Wolken verschluckt. Thogger brüllte etwas und die Wolken türmten sich über dem Baum empor. Dann, mit einem gewaltigen Knall, der Chada zusammenfahren ließ, riss der Himmel auf. Nur ganz kurz konnte es einen gleißenden, gezackten Sprung im schwarzen Himmel sehen. Er war sofort wieder verschwunden, doch wo er den Baum getroffen hatte, loderten gelbe Flammen auf, die sich langsam den Stamm hinunterfraßen. Die Fässer hingen nutzlos an ihren Ästen. Die zusammengepferchten Menschen schrien auf.
„Seht gut hin!“, schrie Callem aus vollem Hals. „Niemand wird eure Heimat retten. Keine Göttin! Keine falschen Visionen! Und keine Helden von Andor!“
Die Fischmenschen fauchten und trieben die Menschen in einer langen Reihe in den Wald. „Flieht, und sagt es allen weiter!“, rief Callem ihnen hinterher. „So wie euch ergeht es allen, die sich dem Ewigen Rat entgegenstellen! Und eure einstigen Helden stehen nun auf der Seite der Sieger.“
Und leise, fast nachdenklich, hörte es den grauäugigen Mann flüstern: „
Und all die, die dir Vertrauen schenken, werden bei ihrem Tode eine Verräterin in dir sehen.“ Dann übertönte das Prasseln des Brandes jedes andere Geräusch.
Chada spürte, wie sein Herz sich zusammenzog. Dieser Baum, dieser wunderschöne Baum! Es hatte sich noch nirgendwo so zu Hause gefühlt wie hier. Es konnte die Hitze des Feuers bis zu sich spüren. Seine Sicht verschwamm. Was war das? Es fühlte Wasser aus seinen Augen über die Wangen laufen. Seine Augen liefen aus! Erblindete es? Dann musste es das Leid um sich wenigstens nicht mehr sehen. Es schloss die Augen, doch das Fauchen der Flammen blieb.

Später erinnerte es sich kaum daran, wie es zum schwarzen Schiff zurückkam. Im ersten Licht der Dämmerung stand es an Deck und konnte den Blick nicht abwenden von der Rauchsäule und dem flackernden orangenen Licht, das es noch immer zu sehen meinte.
„Geh schlafen.“, schlug Nummer Vier, Thorn, leise vor. Chada schüttelte den Kopf. Es hatte Angst vor dem, was es im Schlaf sehen mochte.
„Lass es. Solange die Sterne es sehen können, bleibt es hier.“
Thorns Schritte entfernten sich. Chada hob den Blick zu den silbern blinkenden Sternen am dunklen Himmel. Ein ganzer Kosmos, blau auf weiß. Und er konnte ihm keinen Frieden mehr schenken. Nicht, nachdem es den Frieden des großen Baumes gefunden und wieder verloren hatte.
Ohne den Blick vom Himmel zu wenden, zog es den silbernen Reif aus seiner Tasche. Es wusste nicht, wo das Meer am tiefsten war. Hier war ebensogut wie überall anders. Es warf ihn über Bord und traute sich erst dann, hinterherzusehen. Kurz sah es ihn, silbern glänzend zwischen den schaumbedeckten Wellend versinkend. Doch das silberne Funkeln verschwand wie ein erlöschender Stern, und bald war das Wasser nur noch stumm und schwarz.
Dann spürte es, wie alles erbebte.



Vier Sterne in einer Reihe funkelten gleichgültig auf eine Prozession grün gekleideter Menschen herunter, die durch einen verschneiten Wald zog. Als das Beben sie erreichte, hatte kaum einer noch die Kraft, ein letztes Mal zu seiner brennenden Heimat zurückzublicken. Der Baum der Lieder, Hort unzähliger Lieder und Chroniken, stürzte ächzend in sich zusammen. Das Gedächtnis eines ganzen Volkes wurde als Asche in den Himmel getragen und war vom Lied des Windes bald in alle Richtungen verweht.


Und an der tiefsten Stelle in Hadrias Unterwelt platzten Dutzende Risse auf, und Fäden aus Stille vereinigten sich zu einer lautlosen Kakophonie des Unmöglichen.
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R - Der rote Hahn

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:28

R – Der rote Hahn

Späte Nacht, 25. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

Janis schlug keuchend die Augen auf. Ihm war speiübel, sein Mund war vollkommen ausgetrocknet und er fror, doch das alles vergaß er schnell, als er verblüfft seine Umgebung bestaunte.
Er kauerte in einer gigantischen Halle, deren Wände sich im Halbdunkel verloren. Halbkreisförmige steinerne Sitzreihen fielen zu einer Bühne ab, auf der zusammengerollt ein riesiger geschuppter Körper lag. Er war grau und so reglos, dass Janis zu dem Schluss kam, dass es sich wahrscheinlich nur um eine Statue handelte. An der Wand dahinter hing etwas wie ein glatter Vorhang aus purer Dunkelheit oder ein sich langsam kräuselnder schwarzer Spiegel. Und davor, von fahlem blauen Licht umspielt, schwebte eine dunkle Gestalt mit gezackter Maske, die mit nadelspitzen weißen Augen auf Janis herabblickte.
Janis ließ sich in einen der steinernen Sitze sinken. „Ist das ein Traum?“, fragte er langsam. Er sammelte Spucke im Mund, um den scheußlichen trockenen Geschmack loszuwerden.
„Dies ist kein Traum. Oder zumindest nicht mehr, als diese ganze Welt einer ist.“, antwortete der Schwarze Herold mit tiefer Stimme. „Du bist tatsächlich hier, Janis. An einem Ort, der von deiner Welt getrennt wurde, und der schon bald das Tor zu einer anderen sein wird. Das vergessene Herz eines untergegangenen Reiches. Die Versammlungshalle des Ewigen Rates.“
„Ihr hattet noch mein Haar. Ihr habt mich hierherbeschworen.“, stellte Janis fest. „Was, wenn jemand mich gesehen hätte? Meine Tarnung wäre dahin!“
Hat dich jemand gesehen?“
„Ziemlich sicher nicht.“, murmelte Janis kopfschüttelnd.
„Gut. Ich habe meinen erfolgreichen Spion nur ungern in Gefahr gebracht, doch nur so konnte ich mit dir Kontakt aufnehmen.“, fuhr der Schwarze Herold fort. Etwas löste sich aus seinem durchscheinenden Körper und verharrte vor Janis´ Nase in der Luft. Eine kleine tiefschwarze Dose. „Nimm dies. Nomion braucht es nicht mehr, und so können wir miteinander sprechen, ohne dass ich dich töten muss.“
Vorsichtig streckte Janis die Hand aus und umschloss die Dose mit der Faust. Sie war eiskalt. „Was ist mit Nomion?“, fragte er, auch wenn er sich die Antwort denken konnte.
Die Augen des Schwarzen Herolds blitzten auf. „Nomion hat jämmerlich versagt und trägt jetzt die Konsequenzen.“
Er musste die Besorgnis auf Janis´ Gesicht gesehen haben, denn er fügte hinzu: „Keine Angst, Janis, du wirst nicht für das Scheitern eines anderen bestraft. Du sollst bekommen, was du so sehr begehrst.“ Er öffnete die Hand und ein kleiner Knochen schwebte darüber.
„Nomion mag vergangen sein, doch du sollst die Belohnung für deine treuen Dienste erhalten. Sobald die Rietburg zerstört wurde, gebe ich dir deine Mutter zurück.“
Janis atmete aus. Anscheinend hatte Nomion nicht offenbart, wessen Sohn er war.
„Und du wirst dich nicht mehr lange gedulden müssen. Ab jetzt kümmere ich mich persönlich um die Rietburg, und ich halte nichts von noch einer elenden Belagerung. Auch ich will mich nicht mehr gedulden müssen. Noch heute Abend soll die Rietburg fallen.“
Janis erstarrte. „Heute Abend? Das geht nicht! Es sind so viele aus der Rietburg verschwunden, ich muss eine komplett neue Liste der Lebenden aufstellen und …“
„Das wird nicht nötig sein.“, entgegnete der Schwarze Herold knapp. Janis sah ihn nur mit offenem Mund an. „Es sind bereits mehr Menschen entkommen als geplant. Sie werden den Verrat ihres Statthalters in alle Welt tragen. Die Zeit der Gnade ist vorüber. Es wird keine Überlebenden geben.“
Janis starrte mit leerem Blick auf die geschuppte Statue. Sara! Rodur! Was hatte er getan?
„Kann ich … kann ich wenigstens zwei Freunde in Sicherheit bringen?“, fragte er stockend.
Der Schwarze Herold schwieg beängstigend lange. „Sicher.“, dröhnte er schließlich. „Was kümmert es mich? Ich sage den Kreaturen, sie sollen hinter dem kleinen Ausfalltor eine Passage für dich, deine Mutter und die beiden … Freunde offen lassen.“
Janis nickte. Kurz spürte er nur Erleichterung, doch er wollte das nicht. Er verdiente das nicht. Er dachte an Kunar, Readem und alle anderen, die er opfern würde, und ertränkte alle Freude in Schuld.
Plötzlich ging ein Donnern durch den Saal. Janis spürte den Sitz unter sich erbeben, und wenn er es sich nicht einbildete, dann rieselte Staub auf ihn nieder. Unwillkürlich zog er den Kopf ein.
Irgendwann verklang das Donnern, auch wenn er es in den Tiefes des Steins noch immer grollen hören konnte. „Was war das?“, fragte er heiser.
Der Schwarze Herold schwebte andächtig vor ihm. Er drehte sich um sich selbst, betrachtete erstaunt den Saal. Und dann lachte er. Es war ein triumphierendes Lachen, tief und schadenfroh. Das Echo wanderte durch die halbkreisförmigen Sitzreihen und strömte von allen Seiten zu Janis zurück.
„Das, Janis, war der Puls der Mutter! Der Todesschrei eines Baumes, der nach Jahrtausenden des Wachstums in wenigen Stunden vergeht. Das verzweifelte Stöhnen eines Volkes, das sein Gedächtnis verliert. Endlich! Wie lange habe ich warten müssen? Der Baum der Lieder ist nicht mehr!“
Janis erschauderte und überließ den Herold seinem Triumph. Doch der Geist widmete sich bald wieder seinem Diener.
„Janis. Ich möchte, dass du heute Abend ganz oben, am höchsten Ort der Rietburg, ein Feuer vorbereitest, groß genug, um den Turm in Brand zu setzen. Dieses Feuer wird meinen Kreaturen als Signal zum Angriff dienen.“
Janis nickte langsam. Nomions heisere Stimme hallte in seinen Gedanken wieder. Der rote Hahn ist die Feuersbrunst, die alles verschlingt. Pure Zerstörungskraft, grausam, hungrig und willenlos. Ein Feuer am höchsten Punkt der Rietburg. Hatte es jemals anders enden können?
„Gut.“, flüsterte der Schwarze Herold. „Bereite alles vor, doch entzünde es noch nicht. Wir treffen uns dort. Ich werde die Rietburg bekommen – und du deine Mutter.“
Er hob die dunkle Faust, ein blaues Glühen breitete sich aus und umgab Janis. Dann erlosch alles.


Später Vormittag, 26. Wintertag 77 A.Z.
Aussichtsplattform auf Brandurs Turm in der Rietburg, Andor

Der Himmel war strahlend blau und die Luft war klar. Die Sonne stand hoch über dem Grauen Gebirge und ließ das verschneite Rietland blendend weiß erstrahlen. Meister Kunar stützte seine Ellenbogen auf die Zinnen von Brandurs Turm und sah gedankenverloren in die Ferne. Vorsichtig gesellte Janis sich zu ihm und ließ den Blick schweifen. Keine Kreaturen weit und breit. So friedlich hatte Andor lange nicht ausgesehen. Nur weit im Osten, jenseits der Narne, irgendwo aus den Tiefen des Wachsamen Waldes, erhob sich eine dunkle Wolke weit über den klaren Himmel und trug vergessene Lieder mit sich in die Ferne. Und vor dem zerstörten Burgtor, das nun von ein paar Balken notdürftig verrammelt wurde, brannte das Ewige Feuer in tiefem Violett.
Plötzlich hörte Janis von hoch oben ein gackerndes Keifen. Zwei Fluggors stritten sich um einen unvorsichtigen Vogel. Sie waren am Morgen zurückgekehrt und hatten auch den letzten Hoffnungsvollen klargemacht, dass der Ewige Rat noch immer irgendwo da draußen war, und dass der Kampf um die Rietburg noch längst nicht gewonnen war.
Janis räusperte sich. Erst jetzt schien Kunar ihn zu bemerken, langsam wandte er den Kopf. Wolken verschleierten seinen Blick. „Was ist, Sajin?“, fragte er abwesend.
„Fluggors.“
„Ja, die sind mir aufgefallen.“
„Ich habe eine Idee, um sie loszuwerden.“
Kunar blinzelte, seine grünen Augen klarten auf. Auffordernd nickte er Janis zu.
„Ich brauche gutes, flexibles Holz, eine Hand voll Nägel, einen Hammer, etwas Holzöl, Rietgras, ein langes, starkes Seil und viel Leinentuch. Und ich werde bis heute Abend auf der Spitze des Kronenturms zugange sein und will nicht gestört werden.“
Kunar setzte sein übliches hochmütiges Stirnrunzeln auf. „Willst du dir Flügel bauen und die Fluggors selbst vom Himmel holen?“
Janis lächelte. „Nicht ganz. Lasst Euch überraschen.“
Kunar kniff die Augen zusammen, dann wandte er sich ab. „Meinetwegen. Holz und Tuch haben wir genug. Hol dir von den Zwergen, was du brauchst. Du hast Zeit bis heute Abend, danach will ich Ergebnisse sehen.“
„Keine Sorge.“, erwiderte Janis mit einem schalen Geschmack im Mund. „Wenn alles funktioniert wie geplant, dann wird das Ergebnis unübersehbar sein.“


Sonnenhoch, 26. Wintertag 77 A.Z.
Dachgeschoss im Kronenturm der Rietburg, Andor

Janis ließ keuchend das Holz fallen und setzte sich. Er hätte sich von irgendjemandem helfen lassen sollen. Es war eine Qual gewesen, die ganzen Materialien hier hoch zu schleppen.
Er holte tief Luft und begann, alles herzurichten. Das Rietgras breitete er locker auf dem Boden aus, in der Mitte ein ölgetränktes Leinentuch, darüber begann er, das Holz zu einem hohlen Turm mit möglichst vielen Luftlöchern zu stapeln. Die Klappe nach unten ließ er frei. Mit Öl und Tüchern legte er eine Verbindung zu den Balken. Wider Erwarten fand er sogar eine sinnvolle Verwendung für den Hammer und die Nägel, indem er Tücher an die Balken nagelte und so einen direkten Weg zum trockenen Rietdach schuf.
Irgendwann beschloss er, eine Pause zu machen. Er warf den Hammer schwungvoll zum nutzlosen Seil in der Ecke und fragte sich, was Kunar wohl glaubte, was er hier oben trieb. Eine Ballista bauen? Oder eher einen großen Flugdrachen?
Sollte er doch denken, was er wollte. Indem Janis nach Seil und Nägeln gefragt hatte, ließ er der Fantasie des Bewahrers viele Möglichkeiten offen. Kunar würde niemals in Betracht ziehen, dass es ihm eigentlich nur darum ging, den Turm in Brand zu stecken.
Er aß das Brot, das er mitgenommen hatte, und genoss es, dass die Speicher der Rietburg endlich wieder gut gefüllt waren. Er blinzelte in die Sonne und konnte seinen Verrat fast vergessen. Nur ganz leise flüsterte irgendwo in seinem Hinterkopf die Stimme des jungen Brandur: Du hast viel verloren, aber du hast auch viel gewonnen. Vergiss das nicht.


Später Nachmittag, 26. Wintertag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

„Sapian-Knollen für Rodur.“, murmelte Janis und wickelte ein paar davon in eine der Decken, die er in seinen Rucksack steckte. Darauf platzierte er das eiskalte schwarze Döschen, über das er mit dem Schwarzen Herold Kontakt aufnehmen konnte, und, nach kurzem Überlegen, die Rietgraskrone, die er aus dem Eimer mit Verbänden ausgrub. Dann widmete er sich wieder dem Kräuterschrank. Zögernd betrachtete er das letzte Gallenkraut hinten in der Ecke. Außer Rodur, Sara und ihm würde niemand diesen Tag überleben, dennoch brachte er es nicht über sich, es mitzunehmen. Er öffnete das nächste Fach und steckte zwei Büschel Küstenlavendel für alle Fälle ein.
Er war so vertieft, dass er gar nicht hörte, wie die Tür zum Anbau sich öffnete. Erst Readems Stimme schreckte ihn hoch. „Sajin, wie viel Krallenflechte …“
Die Stimme des alten Heilers brach. Janis drehte sich um und musterte Meister Readem traurig, dessen wässrige blaue Augen über die drei bereitliegenden Rucksäcke huschten, über die Decken, die Vorräte, die Trinkschläuche und Heilkräuter. Alles fein säuberlich zusammengelegt und bereit zum Mitnehmen.
Er verlangte keine Erklärung. Er sah Janis nur lange an, nickte verstehend und sagte mehr zu sich selbst: „Es scheint, ich habe dich falsch eingeschätzt.“
Janis schluckte. „Ihr ahnt gar nicht, wie recht Ihr habt.“
Readem seufzte. Janis hatte Zorn erwartet, doch in der Miene des alten Heilers zeichnete sich eine Enttäuschung ab, die tausendmal schlimmer war.
„Es ist vorbei.“, meinte Janis leise. „Ich habe es gesehen. Der rote Hahn. Er wird kommen und die Rietburg verschlingen, und sein schwarzer Schrei wird ganz Andor verdüstern.“ Er zögerte kurz. „Auch Ihr solltet fliehen.“
Readem verzog den Mund. „Du redest im Wahn. Und ich habe dir schon einmal gesagt: Ich bleibe hier bis zum Schluss.“
Langsam drehte er sich um und schlurfte zur Tür. „Geh, Sajin. Ich werde dich nicht aufhalten. Das ist alles, was ich für dich tun kann.“
Janis lächelte traurig. „Ich habe nicht mehr erwartet. Readem, wenn es so weit ist, wenn der rote Hahn seine goldenen Schwingen über der Rietburg ausbreitet und alles zu verschlingen droht und wenn dann einige sich zu Flucht entscheiden, dann sagt ihnen, dass sie nicht das zerborstene Haupttor wählen sollen. Sagt ihnen, sie sollen durch das geheime Ausfalltor flüchten, und vielleicht wird man sie ziehen lassen.“
Kurz drehte der alte Heiler sich noch einmal um. Er schenkte ihm nur einen resignierten Blick und antwortete nicht, dann öffnete er die Tür.
„Meister Readem.“, sagte Janis noch, und der Angesprochene hielt inne. „Danke. Für alles, was Ihr tut. Für mich, und für alle, die einen Heiler brauchen.“
Janis meinte zu sehen, wie die Mundwinkel des Heilers sich nach oben zogen, doch da er kaum etwas von Readems Gesicht sah, hätte er sich auch irren können.
„Bitte notiere, was du mitnimmst, Sajin. Es soll doch alles seine Ordnung haben.“, meinte er schließlich, ehe er die Tür hinter sich schloss.


Abenddämmerung, 26. Wintertag 77 A.Z.
Dachgeschoss im Kronenturm der Rietburg, Andor

Die Bodenluke öffnete sich und Rodur und Sara kletterten heraus. Staunend sahen sie sich die Holzpyramide an, die sich in der Mitte des Turmes erstreckte. Das Nest, das er dem roten Hahn gebaut hatte.
„Also, die Gerüchte, was du hier oben machst, brodeln ja ziemlich, aber das habe ich nicht erwartet.“, meinte Rodur stirnrunzelnd. Er schnüffelte und verzog das Gesicht. Der durchdringende Ölgeruch war allgegenwärtig. „Was soll das werden, Sajin?“
„Keine Zeit für Erklärungen.“ Janis winkte seine beiden Freunde zu sich und überreichte ihnen je einen Rucksack. „Geht damit nach unten und wartet am Ausfalltor auf mich. Ich komme gleich nach.“
Sara betrachtete ihn mit unbewegtem Gesicht, die Schwärze in ihren Augen versetzte Janis einen Stich. Schließlich nahm sie den Rucksack und setzte ihn auf.
Rodur nahm ihm ebenfalls den Rucksack ab und wog ihn prüfend. „Was ist da drin?“ Ehe Janis ihn aufhalten konnte, hatte Rodur die Schnüre geöffnet und einen Blick auf den Inhalt geworfen. Er zog einen Laib Brot und eine warme Decke heraus. „Was soll das?“, fragte er sichtlich verwirrt. „Was sollen wir damit?“
Janis antwortete nicht, also sah sein Freund sich zu Sara um. Da Rodur ihr nicht gefolgt war, hatte sie sich neben der Klappe auf den Boden gesetzt, den Rücken mitsamt Rucksack an die Mauer gelehnt. Aus schwarzen Augen blickte sie sie beide reglos an. Nur ihre Hände antworteten: Was. Wohl. Als-Frage-Gemeint.
Rodur blinzelte heftig, ihm beim Denken zuzusehen war fast lustig. „Geht einfach.“, bat Janis. „Ich werde alles erklären, nur nicht jetzt.“
Rodur blinzelte erneut. „Decken. Kleidung. Vorräte.“, stammelte er. „Willst du fliehen?“
Janis senkte den Blick. „Diese Burg ist dem Untergang geweiht, und ich rette, was zu retten ist.“, murmelte er leise. „Bitte. Geht jetzt.“
„Dem Untergang geweiht?“, wiederholte Rodur fassungslos. „Unsere Chancen sind besser als je zuvor! Die Speicher sind wieder voll! Die Armee des Feindes ist vertrieben und nur ein paar Fluggors sind noch hier. Der verräterische Statthalter ist enttarnt!“ Hilfesuchend sah er sich zu Sara um, die nach wie vor keine Regung zeigte.
Janis schloss kurz die Augen. Er hatte gehofft, damit warten zu können, bis sie alle in Sicherheit waren. Doch eigentlich hatte er geahnt, dass es nicht gutgehen konnte. Rodur war zu stur und Sara zu klug. „Nein, Rodur. Der Statthalter hat uns nicht verraten. Und die Rietburg wird noch heute Abend fallen.“
„Aber … Orfen … wir … Wieso?“
Janis holte tief Luft und versuchte es ein letztes Mal. „Rodur. Bitte, geh zum kleinen Ausfalltor und warte dort auf mich. Ich werde euch alles erklären, doch jetzt ist nicht die Zeit dazu.“
Trotzig stellte Rodur den Rucksack ab. „Nein, Sajin!“ Sein Gesicht wurde ganz weich. „Janis. Wir verdienen die Wahrheit.“
„Die Wahrheit.“, flüsterte Janis. Eine kalte Brise wehte durch den Kronenturm und ließ ihn schaudern. Um sich herum spürte er Varas tröstende Präsenz, doch in diesem Moment konnte sie ihm nicht helfen. „Ja, ihr verdient sie. Ihr hättet sie von Anfang an verdient. Ich habe sie euch viel zu lange vorenthalten.“ Er spürte ein Schluchzen in sich aufsteigen und unterdrückte es. „Orfen hat uns nicht verraten. Der Verräter ist noch immer hier. Er wird den roten Hahn entfesseln und die Rietburg dem Untergang preisgeben.“
Er musterte seine Freunde. In Rodurs Blick mischten sich Grauen und Verwirrung. Er verstand es noch immer nicht. Sara dagegen blickte ihn an, ohne zu blinzeln. Er hatte gehofft, dass irgendeine Farbe in ihren Blick zurückkehren würde. Das tiefe, traurige Blau. Das eisige Grau des Zorns, den er tausendfach verdiente. Doch es geschah nichts. Sie sah ihn an, mit nichts als Schwärze, und zeigte nichts. Keine Neugierde. Keine Überraschung. Keine Furcht.
Janis lächelte traurig. „Du hast es längst verstanden, oder, Sara?“
Wortlos zog sie einen eng eingerolltes Pergament aus ihrem Wams und öffnete es. Janis sah nur krakelige, schiefe Schrift und weggestrichene Sätze. Die Worte konnte er auf diese Entfernung in der Dämmerung nicht mehr lesen, doch das musste er auch gar nicht. Er wusste, was dort stand. Ich weiß nicht, ob du diese Zeilen jemals lesen wirst. Und ich weiß nicht, ob ich noch am Leben bin, wenn du es doch tust.
„Also hat der Statthalter seinen Brief doch nicht abgeschickt.“, murmelte Janis. „Und du hast ihn gefunden, am Morgen nach unserer Intrige. Du hast ihn gelesen und verstanden, dass ein Statthalter, der unter dem Bann eines Hexers steht, oder der um jeden Preis seine verlorene Liebe zurückholen will, einen solchen Brief nicht schreiben würde.“ Er seufzte. „Du warst schon immer zu gut in Rätseln.“ Er dachte zurück an jenen Morgen, an den Blick aus purer Schwärze, die jede andere Farbe verschluckte. Und Janis begriff. An jenem Morgen war ein Teil von ihr zerbrochen, eine Gewissheit, die sie lange gehegt hatte. Ein tiefes Vertrauen. Doch nicht in Orfen, wie er geglaubt hatte. Sondern in ihn.
„Was? Was weiß sie?“, rief Rodur aufgebracht. Er drehte sich zu Sara um. „Was ist es?“
Sie bedachte Janis mit einem langen, undeutbaren Blick. Und dann gebärdete sie stockend: Nein. Wolf-Krieger. Sein. Verräter. - Sondern. Kind-Von-Fluss.
Rodur lachte bitter. „Ach komm, das ist …“ Seine Stimme begann zu zittern. „… lächerlich…“
Janis konnte all die Ausreden hören, die er vor ihnen ausbreiten wollte. Doch er schluckte sie herunter. Er hatte schon zu lange gelogen. Irgendwo in seinem Inneren brach ein Damm, und eine rauschende Flut spülte sein Mosaik der Lügen mit sich fort. Janis senkte den Blick. „Nein, Rodur. Es stimmt.“ Er schüttelte schwach den Kopf. „Nomion hat mich angeworben, noch in der Nacht nachdem ich euch getroffen habe. Ich habe dafür gesorgt, dass der Statthalter die Sapian-Knollen in unseren Brunnen warf. Ich habe Nomion gesagt, wann er das Gold für Sechsfinger verschwinden lassen soll. Ich habe ihm ein Haar vom Statthalter verschafft. Ich habe veranlasst, dass Orfen vor allen Augen zu Staub zerfiel. Und ich habe hier oben ein Feuer vorbereitet, das dem Ewigen Rat als Signal zum Angriff dienen soll.“
Rodur starrte ihn mit offenem Mund an. Tränen glänzten in seinen dunklen Augen. „Nein. Du lügst!“, hauchte er flehend.
„Ach, Rodur. Ich habe euch so lange belogen. Ich habe euer Vertrauen missbraucht. Doch jetzt, wo ich ein einziges Mal die Wahrheit sage, glaubst du mir nicht mehr?“
Rodur holte zitternd Luft. „Du … du hast uns … alle …“ Sein verletzter Blick brannte sich in Janis. „Warum?“, fragte er schwach.
„Was glaubst du denn warum?“, würgte Janis hervor. Er bekam kaum Luft, so sehr sträubte sich etwas in ihm gegen die Wahrheit. „Der Ewige Rat gebietet über den Tod selbst. Er schenkt mir, was ich für immer verloren habe. Er kann meine Mutter zurückholen. Kheela zurückholen!“ Janis fühlte seine Trauer aus sich hervorbrechen wie einen klaren Strom. Tränen rannen ihm über die Wangen, doch es störte ihn nicht. „Könnt ihr von euch sagen, dass ihr anders seid? Dass ihr nicht getan hättet, was ich tat? Sara, sag mir, hättest du abgelehnt, wenn man dir versprochen hätte, deine Eltern zu retten?“ Sie starrte ihn nur unbewegt aus ihren schwarzen Augen an und reagierte nicht. „Rodur! Wenn du einen Weg wüsstest, den Tod deines Vaters ungeschehen zu machen, könntest du dann wirklich einen anderen beschreiten?“
Langsam verhärtete sich Rodurs Miene. In seinem Blick brannte ein unheimliches Feuer. „Ja. Ja, das könnte ich!“
Janis schluckte schwer. „Dann bist du stärker als ich.“ Er holte zitternd Luft. „Hasst mich, wenn ihr wollt. Doch ich bitte euch, nutzt die Gelegenheit zur Flucht. Ich will nicht auch noch das Blut meiner Freunde an meinen Händen kleben haben!“
Er sah, dass Rodurs Hände sich zu Fäusten ballten. „Freunde? Wir waren nie deine Freunde! Du hast uns belogen und benutzt! Du hast …“ Rodur schluchzte kurz. „Ich konnte keine Freundschaft zu einem Ambacu schließen, weißt du? Ich habe gesehen, wozu wir fähig sind. Kein Ambacu ist jemals frei. Die Schrecken Krahds lasten auf uns. Die Angst verpestet jeden Gedanken. Aber du warst anders. Keiner von uns. Unbelastet. Frei. Ich dachte wirklich, ich könnte dir vertrauen. Ich dachte wirklich, du wärest anders. Ich dachte wirklich, du wärest … ein Freund.“
Janis verkrampfte sich. Ein unkontrolliertes Zittern bemächtigte sich seines ganzen Körpers, nur seine Zunge gehorchte ihm noch. „Keiner von uns ist frei, Rodur. Wir alle haben etwas verloren. Wir alle sind gezeichnet. Unsere Last bleibt an uns gekettet bis zum Tod.“
„Sei still, Sajin!“, brüllte Rodur. „Sei einfach still! Du willst, dass wir gehen? Dass wir das Unglück geschehen lassen? Nein.“ Langsam schüttelte Rodur den Kopf. Sein glattes schwarzes Haar glänzte im Abendlicht. „Nein, Sajin. Wenn dieses Feuer dem Feind als Signal dient, dann werde ich dafür sorgen, dass es nicht entflammt. Ich werde verhindern, dass Krahd sich wiederholt! Ich werde mich nicht wieder unterjochen lassen. Lieber sterbe ich!“ Er zog in einer fließenden Bewegung sein Schwert. Warum nur hatte er es immer dabei? Janis wich einen unsicheren Schritt zurück.
„Sara.“, sagte Rodur knapp. Er drehte sich so, dass er sie sehen konnte, ohne Janis dabei aus den Augen zu lassen. „Komm. Wir … beenden es.“
Sie schloss die Augen und schüttelte knapp den Kopf. Unendliche Erleichterung durchflutete Janis. Wenn sie sich auch noch gegen ihn gestellt hätte, er hätte es nicht ertragen. Er hätte sich selbst nicht ertragen.
„Warum?“, schrie Rodur zornig. Seine Stimme kippte in Verzweiflung um. „Du weißt von seinem Verrat, Sara! Warum tust du nichts? Warum hast du nicht längst etwas gesagt?“
Sara zitterte und senkte den Kopf. Ohne die Augen zu öffnen hob sie die Hände. Vor ihrer Brust formte sie ein einfaches Zeichen, das sie ihnen schon lange beigebracht und das sie doch noch nie zuvor benutzt hatte. Ein aus zwei Händen gebildetes Herz. Liebe.
Kälte lähmte Janis´ Glieder, doch zugleich wurde er von einer seltsamen Wärme durchströmt, und von einem Schwindel, fast stärker als seine Verwirrung. Er kam nicht dazu, genauer darüber nachzudenken. Rodur stieß zischend Luft aus. „Dann eben alleine.“, flüsterte er und starrte Janis finster an. Langsam trat er näher. Janis wich vorsichtig immer weiter zurück und überlegte, was er noch sagen oder tun konnte, um das alles zu verhindern. Wenn es ihm gelang, Rodur zu entwaffnen und zu fesseln, und wenn sie ihn dann mitnahmen und …
Er stolperte über seinen eigenen Rucksack, der noch immer etwas abseits bereitgelegen hatte, und fiel der Länge nach hin. Sein Hinterkopf schlug hart auf dem Boden auf, vor seinen Augen tanzten flackernde Kerzen. Ein Schatten fiel auf ihn. Unscharf erkannte er Rodur, der hoch aufgerichtet über ihm stand und mit zitternder Hand sein Schwert auf ihn richtete. Er sah Janis an, mit einer Mischung aus Trauer und Zorn, und voller schrecklicher Zerrissenheit. Er zögerte. Er zögerte noch immer! Er sah Janis an, voller Trauer, voller Verzweiflung. Dann stieß er zu.
Janis spürte einen Schrecken, der nicht sein eigener war. Wasser schäumte um Rodur herum auf, trieb den Schlag zur Seite und umschloss ihn von allen Seiten. Rodur wankte hin und her, ließ sein Schwert fallen und schlug mit den Armen um sich, seine Augen waren weit aufgerissen.
Mühsam stand Janis auf und fasste sich an den Hinterkopf. Er spürte Blut. „Genug, Vara!“, befahl er. „Lass ihn in Ruhe.“ Er ließ sich von seiner Trauer durchströmen und kämpfte gegen Varas Beschützerinstinkt an, bis sie zu einer unscheinbaren Pfütze auf dem Boden zerfloss.
Rodur sackte hustend und keuchend in die Knie, seine Haare klebten ihm am Kopf. Doch als er aufsah, lag purer Hass in seinem Blick.
„Bitte.“, flüsterte Janis. „Tu mir das nicht an.“
Rodur sprang auf und stürzte sich auf ihn. Janis wollte ihn nicht verletzen. Er wich Rodurs Schlag aus, nur um vom zweiten getroffen zu werden. Er taumelte zurück und spürte plötzlich die steinerne Brüstung des Kronenturms unten in seinem Rücken, und darüber die Kälte des Abgrunds. Schnell schlug Janis einen Hieb zur Seite, der auf seinen Kopf gezielt war, doch sofort bekam er ein Knie in den Bauch und krümmte sich nach vorne.
Er hat bei Kommandantin Daroscha gelernt. Die Zeiten, in denen meine Stunden bei Kheela mir einen Vorsprung verschafften, sind vorbei. Seine Fähigkeiten sind meinen mindestens ebenbürtig.
Ein weiterer Schlag traf ihn in die Rippen. Janis keuchte. Sein eigener Atem rauschte in seinen Ohren.
Denk nach, Janis. Du musst nicht stärker oder größer oder schneller als dein Gegner sein, um ihn zu besiegen. Es reicht, wenn du schlauer bist.
In Rodurs Blick lag ungezügelter Zorn. Eine Unbeherrschtheit, die Janis ausnutzen konnte. Als er einen weiteren Schlag auf sich zukommen sah, ließ er sich fallen. Rodur heulte auf, als seine Faust mit aller Kraft gegen den Stein schmetterte. Janis hörte Knochen brechen. Er rollte sich zur Seite, bis er hinter Rodur stand, und stand schwankend auf.
„Bitte, Rodur!“ Janis streckte eine Hand aus, die andere hielt er als Deckung neben seinem Kopf. „Lass es nicht so enden.“
Rodur zögerte keinen Herzschlag. Er griff nach Janis´ Hand und verdrehte sie. Glühender Schmerz raste durch Janis´ Adern. Eine Erinnerung streifte sein Bewusstsein, an einen Tag unter der sengenden Herbstsonne, und an Kommandantin Daroscha, die ihn zu sich auf einen flachen Felsen rief. Der Griff heißt Bazurôm, Donnernder Stein, weil man sich aus ihm so schlecht befreien kann, als wäre ein Steinbrocken auf die eigene Hand gedonnert.
Mein beweglicher Daumen ist die Stärke dieses Griffs. Aber er kann auch zu einer Schwäche werden.

Janis hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten gegen die Stimmen, doch seine Hände hatten plötzlich ihren eigenen Willen und folgten den Reflexen, die Kheela ihm geduldig antrainiert hatte. Der ganze Kampf schien vor ihm ausgebreitet. Jeder Schritt, jeder Schlag, folgte dem einfachen Muster der Gewohnheit. So schnell, dass Janis das Ende kommen sah und es doch nicht mehr verhindern konnte.
Du benutzt die Daumenklammer, also muss ich loslassen.
Seine freie Hand stieß zu, fand Rodurs Daumen und drückte zu, bis er die andere Hand befreien konnte.
Ich muss einen Schritt nach vorne machen, auf dich zu.
Rodur hatte sich Daroschas Anweisungen zu gut eingeprägt. Er tat, was er immer getan hatte, um sich aus der Daumenklammer zu lösen.
Während des Schrittes stehe ich nur auf einem Bein, mit genug Kraft kannst du mich jetzt umwerfen.
Er bemerkte Janis´ Hand, die sich seiner Hüfte näherte, und reagierte, wie er es gelernt hatte.
Aber ein guter Krieger bemerkt diesen Konterangriff und macht anstatt eines Schrittes nach vorne jetzt schnell einen Schritt zurück.
Rodurs Augen weiteten sich, als er die Mauer in seinem Rücken spürte. Er starrte Janis an, mit einem Ausdruck, den er viel zu gut kannte. Genau wie Daroscha, ehe sie von ihrem flachen Stein gefallen war. Genau wie Darbo, ehe Janis ihn vom Kronenturm stieß. Ein Gesicht voll Fassungslosigkeit und Zorn. Dann kippte er über die Brüstung.
Janis konnte den Pfad der Gewohnheit endlich verlassen. Er hielt noch immer Rodurs Hand, also verstärkte er seinen Griff und ließ nicht los. Rodurs Gewicht zerrte ihn ruckartig gegen die Mauer, sein Oberkörper hing zwischen zwei Zinnen, sein Kopf bereits im Nichts. In schwindelnder Tiefe glänzte der Schneematsch im Licht der ersten Sterne.
Rodur hängte sich in seinen Griff, die gebrochene Hand hing nutzlos an seiner Seite. Er strampelte, bis seine Beine Halt an der Kante des Turms fanden.
„Langsam jetzt! Ich habe dich! Ich lasse dich nicht los.“, rief Janis ihm herunter. Er zog vorsichtig, er sah, wie sich Rodurs Beine anspannten – und sich plötzlich in die festgefügten Steine stemmten. Der Ruck ging durch Janis´ ganzen Arm. Er wurde nach unten gezogen, bis er fast zur Hälfte im Leeren hing. Seine Beine berührten den Boden nicht mehr. Mit aller Kraft presste er sich gegen die Brüstung und hoffte inständig, sie würde das Gewicht aushalten.
„Nicht so!“, rief Janis schwer atmend. „So werden wir beide in den Tod stürzen.“
Plötzlich fühlte er wieder einen Ruck. Er rutschte noch ein kleines Stück weiter. Fassungslos suchte er Rodurs Blick, und er fand ihn. Nichts als Hass starrte ihm entgegen.
Eine weitere Stimme mischte sich in den Lärm seiner Gedanken. Ich werde mich nicht wieder unterjochen lassen. Lieber sterbe ich!
Verzweifelt schüttelte Janis den Kopf. Er spürte seine Tränen im beißenden Wind gefrieren. Rodur wollte nicht gerettet werden. Er wollte verhindern, dass Janis den roten Hahn entfesselte. Er wollte alle retten. Alle, bis auf sie beide. Und bis auf Kheela.
Erinnerungen suchten Janis heim, bis er von der Gegenwart fast nichts mehr wahrnahm.
Rodur, der ihm vor der Tür zur Schmiede seine Hand entgegenstreckte.
Rodur, der ihn als seinen Freund vorstellte.
Rodur, der ihm das Nimm-Spiel beibrachte.
Rodur, der sich bemühte, eine komplizierte Gebärde von Sara nachzuahmen.
Rodur, der staunend zu Vara aufblickte.
Rodur, der sich über Daroscha beschwerte.
Rodur, der sich gierig ein Stück Brot in den Mund stopfte.
Rodur, der wie tot auf seiner Bahre lag, während Vara durch seinen Körper spülte.
Rodur, der zitternd von Krahd erzählte.
Rodur, der befreite Ambacu, der seine Ketten nicht zurücklassen konnte.
Rodur, der hilfsbereite, sanfte, manchmal etwas unbeholfene, stets zu einem Lächeln aufgelegte junge Mann.
Rodur, der Freund.
Und Janis hörte seine Stimme, Echos seiner Erinnerungen, hundertfach von den Wänden seines Schädels widerhallend.
Sie ist wunderschön…
Ich kann kämpfen. Ich kann arbeiten. Ich bin keine Belastung…
In Krahd konnte man fast nie die Sonne sehen, nur diese stickigen grauen Wolken. Das hier… das ist toll…
Die Sklavenschinder dort draußen mögen vergangen sein, aber die Sklavenschinder hier drinnen werden erst zusammen mit mir sterben…
Spinnst du? Ich helfe euch natürlich…
Der Himmel ohne Sterne … verfolgt mich … bedrückt mich … raubt mir den Atem…
Uns jetzt wieder den Fängen der Krahder zu überlassen, nachdem wir endlich den Geschmack der Freiheit kosten durften, ist nur grausam…
Janis. Wir verdienen die Wahrheit…
Kein Ambacu ist jemals frei…

Und plötzlich hing Janis wieder über der Mauer, in seiner Hand Rodurs ganzes Gewicht, und er wusste, dass es vorbei war. Er konnte Rodur nicht retten, wenn er nicht gerettet werden sollte.
„Rodur…“, hauchte Janis. Fest erwiderte er den Blick dieser dunklen Augen, in denen purer Hass lag, und darunter Trauer, und Wut, und Zerrissenheit. Er sah alle Ketten, die Rodur noch immer umschlangen, und die er nie würde sprengen können. „Sei frei!“
Und er ließ los. Eine kleine Handbewegung, die über Leben und Tod entschied. Rodur fiel, schweigend, und er löste seinen Blick von Janis. Nichts mehr spiegelte sich in seinen Augen als der Himmel voller Sterne, der ihn umgab. Fast lächelte er. Und sein starkes Herz pochte und pochte, bis es im Licht zersprang.
Janis kniff zu spät die Augen zusammen und ließ sich in den Kronentrum zurücksinken. Kälte durchströmte ihn. Der Fluss in seinem Inneren gefror. Fast lautlos flüsterte er: „Möge seine Knechtschaft mit dem Tod beendet sein.“ Dann blieb er einfach kraftlos sitzen.
Irgendwann spürte er, wie zwei Arme ihn umschlossen. Er öffnete die Augen und sah sich Sara gegenüber. Ihr Gesicht war unbewegt, doch in ihren Augen leuchtete tiefes, samtenes Schwarz. Janis vergrub das Gesicht in ihrer Schulter, atmete ihren Duft nach Rietgrasblüte und Bittermandel ein und versuchte, alles andere zu vergessen.
„Rührend.“, sagte plötzlich genüsslich eine tiefe Stimme. „Geradezu herzerwärmend.“
Sara zuckte zusammen und sprang fast von ihm weg. Janis sah sich einer schwarzen, gezackten Maske gegenüber.
„Ich nehme an, damit ist es nur noch ein Freund, den meine Kreaturen ziehen lassen müssen?“, fragte der Schwarze Herold tonlos.
Hasserfüllt erwiderte Janis den Blick der stechenden weißen Augen. „Du kannst ihn zurückholen.“, sagte er rau.
Der Herold lachte finster. „Sicher. Ich kann. Doch sei vorsichtig, was du dir wünschst, Janis. Willst du wirklich in der Schuld des Ewigen Rates stehen?“
Janis schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Er konnte das nicht noch einmal tun. Er konnte unmöglich noch mehr Unschuldige opfern, um einen Freund zurückzuholen, der ihn hasste. Und der nichts davon gewollt hätte.
Und ich? Denkst du, ich hätte das gewollt?
Ich bin diesen Weg zu weit gegangen, um noch umzukehren, Mutter.

Er schlug die Augen auf. „Ich bin bereit.“
Der Schwarze Herold nickte mit der Maske. „Du hast es wieder einmal geschafft, meine Erwartungen zu übertreffen. Ich habe erwartet, eine kümmerliche Feuerschale vorgesetzt zu bekommen, doch das hier … ist ein Scheiterhaufen! Andors Scheiterhaufen.“
Sara zog sich zur Bodenluke zurück und sah den Schwarzen Herold aus großen Augen an. Sie schnappte sich ihren Rucksack und presste ihn sich vor die Brust.
Janis hob die Hände. Warten. Unten. Sara nickte dankbar und floh. Janis war allein mit dem wahrscheinlich mächtigsten Wesen der Welt.
„Wo ist die angekündigte Armee?“
Der Schwarze Herold lachte leise. „Wo immer ich bin. Ich würde ja nur zu gerne da draußen sein und den finalen Sturm selbst befehlen, doch leider gibt es ja diese geheimnisvolle Falle, aufgrund der ich mich hier nicht sehen lassen soll.“ Er hob eine dunkle Faust, und ein blaues Glühen spielte darum.
„Doch der Ewige Rat hat genug fähige Mitglieder. Es ist Zeit, dass sie sich beweisen.“
Das fahle Glühen schwoll an. Um die Rietburg formte sich ein lockerer Ring aus blauem Licht, das zu Kreaturen wurde. Doch es waren wenige, vielleicht der vierte Teil von Nomions Armee. Alarmrufe erschollen.
„Was ist mit dem Rest?“, fragte Janis erschrocken.
„Frag nicht!“, zischte der Schwarze Herold erbost. „Das hier wird reichen, dafür habe ich gesorgt. Sieh genau hin. Vor dem Burgtor.“
Janis runzelte die Stirn. Ein dunkler Fleck breitete sich vor dem ausgebrannten Tor aus, jenseits der provisorischen eingesetzten Balken, kaum zu sehen in der Dämmerung. Wenn er nicht darauf hingewiesen worden wäre, hätte Janis es für den Schatten einer Wolke gehalten. Doch der Himmel war klar und die brodelnde Finsternis breitete sich immer weiter aus. Wie schwarzer Nebel schob sie sich direkt an die Mauern der Rietburg und verschluckte das flackernde, violette Licht des Ewigen Feuers.
„Varkur hat keine guten Erfahrungen mit dieser Burg gemacht. Sein Hass wird uns dienlich sein.“ Der Schwarze Herold drehte sich zu Janis um. „Und das ist nicht meine einzige Überraschung.“
In der Mitte des Kronenturms leuchtete blaues Licht auf und spuckte einen Skral aus. Er trug in einer Hand einen großen Sack und in der anderen eine brennende Fackel.
„Dorthin.“ Der Schwarze Herold deutete in Richtung des aufgeschichteten Holzes und der Skral leerte seinen Sack darüber aus. Grüner Staub rieselte herunter und bedeckte den Scheiterhaufen.
Zufrieden summte der Geist: „Cantharis aus Hadria, mit einem kleinen Zusatz. Giftiger Rauch wird sich über die Burg senken, in jeden Keller und jede Ritze dringen und jedes Leben ersticken, das sich nicht nach draußen wagt, in die Arme meiner Kreaturen. Hran, gib unserem jungen Freund deine Fackel.“
Janis nahm die Fackel vorsichtig entgegen. Die Finger des Skrals waren hart und überraschend warm. Kaum, dass Janis die Fackel hielt, löste der Skral sich in blaues Licht und grauen Staub auf.
Janis starrte das grüne Pulver auf dem aufgeschichteten Holz an. „Meine Mutter.“, forderte er tonlos. Ein kleiner Knochen löste sich vom Schwarzen Herold, ein Fingergelenk, und schwebte zu Janis, bis er ihn mit der Faust umschloss.
„Du erhältst, was dir versprochen wurde, sobald dieses Feuer brennt.“ Der Schwarze Herold musterte Janis. Was in ihm vorging ließ sich aufgrund der finsteren Maske unmöglich sagen. „Willst du dem Ewigen Rat auch danach noch folgen, Janis? Wir können dir vieles geben. Macht. Sicherheit. Ewiges Leben.“
„Nein!“, sagte Janis ohne zu zögern.
Der Schwarze Herold schüttelte die Maske. „So eine Schande.“, murmelte er bedauernd. „Dabei verlief unsere Zusammenarbeit so erfolgreich.“ Aus der Gestalt des Gespenstes flog ein schwarzes Haar und stürzte sich selbst in die Brennende Fackel. „Dann bist du hiermit aus unseren Diensten entlassen. Du entzündest das Feuer, ich schenke dir das Leben deiner Mutter, und wir ziehen getrennter Wege.“
Janis nickte und warf die Fackel in den Scheiterhaufen. Kurz sah Janis nur das flackernde, runde Feuer der Fackel unter dem Holz, wie ein glühendes Ei in seinem Nest. Dann entflammte das Öl, rasch sprang das Feuer auf das Rietgras und die Tücher über. Der rote Hahn war geschlüpft.
Der Schwarze Herold lachte dunkel. Und Janis spürte einen unerklärlichen Kummer in sich. Erst, als es fast zu spät war, konnte er ihn zuordnen.
Nein, Vara! Zurück! Sie schwebte über dem Feuer, zu einem leichten Dunst geformt, aus dem nur ihr wehmütiges Gesicht blickte, bereit, sich hinabzustürzen und die Flammen zu löschen. Nur Janis hielt sie zurück. Ihre flüssige Gestalt wogte unruhig. Sie kämpfte gegen ihn an und näherte sich immer weiter den zarten Flämmchen.
Janis schloss die Augen und versenkte sich in seinen eisigen Fluss. Auf den Grund ruhte noch immer das unsichtbare Seil, und er zog daran mit aller Kraft. Er beschwor die Trauer herauf, die ihn immer umgab. Die Trauer um Kheela. Um Orfen. Um die Unschuldigen. Um Andor. Um Rodur. Das unsichtbare Seil spannte sich, und dann, endlich, zerrte er Vara zurück.
„Was ist das?“, fragte die Stimme des Schwarzen Herolds. Sein Lachen war verstummt.
Keuchend schlug Janis sie Augen auf. Der Herold blickte hinauf in den Dachstuhl und betrachtete Varas unscheinbare Gestalt neugierig. „Ich habe so etwas schon gesehen. Doch es ist … lange her.“
Er neigte seine Maske und betrachtete Janis mit neuem Interesse. „Eine Frau. Eine Heldin. Sie beherrschte einen Wassergeist wie diesen.“
Janis sah aus großen Augen zum Schwarzen Herold auf. Entsetzen erfüllte ihn, so stark, dass Vara sich ohne weiteren Widerstand auflöste. Er konnte geradezu sehen, wie alle seine Erfolge einfach davongespült wurden. Wie alles, was er sich erarbeitet hatte, gleich feinem Flusssand zwischen seinen Fingern zerrann.
Der Schwarze Herold legte seine Maske schief. „Du sagtest, dein Name lautet … Janis.“
Janis streckte die Faust aus, in der noch immer Kheelas Knochen ruhte. „Holt meine Mutter zurück.“, forderte er.
„Ja-nis…“, flüsterte der Schwarze Herold betont. „Wie hieß sie? Wie hieß deine Mutter?“
„Holt sie zurück. Jetzt!“ Der Schwarze Herold betrachtete ihn nur lauernd. „Wir hatten eine Abmachung! Holt sie zurück!“
Langsam schwebte der Schwarze Herold näher. „Du bist Kheelas Sohn?“, lachte er. „Welch Ironie! Weißt du, ich war dabei, als sie starb. Zusammen mit Nomion sahen wir zu, wie sie unter den knöchernen Händen des Bleichen Königs ihr Leben aushauchte. Sie hat sich wirklich lange gewehrt. Hat erst geschrien, als es zu Ende ging. Und weißt du, was das Letzte war, was sie über die Lippen brachte? Es war dein Name: Janis. Ich wusste nicht, dass sie einen Sohn hatte. Doch ich hätte früher darauf kommen können.“ Seine tiefe Stimme wurde eiskalt. „Gib mir den Knochen!“
Janis ballte die Faust fester und starrte in die Flammen. Wo sie auf das grüne Pulver stießen, färbten sie sich geisterhaft grün, und dunkler Qualm waberte unnatürlich dicht am Boden vom Feuer weg.
„Janis!“, zischte der Schwarze Herold. „Gib mir den Knochen! Das ist mein letzter Befehl! Halte dich daran, wenn zumindest du überleben willst.“
Janis riss den Kopf hoch. „Ihr habt es versprochen!“, hauchte er verzweifelt. Das grüne Feuer knackte laut.
Der Schwarze Herold schüttelte bedauernd seine Maske. „Also schön. Dann eben mit Gewalt!“
Janis stolperte zurück, doch ein Haar hatte sich bereits von seinem Kopf gerissen. Ein fahles, blaues Glühen erstrahlte langsam um seinen Körper.
Er sprang zu seinem Rucksack und warf ihn um. Decken rutschten heraus, ein Messer, ein Trinkschlauch, zwei Brote … und eine goldene Krone, in deren gewellten Zacken sich das brausende Feuer spiegelte.
Schlagartig erlosch das blaue Glühen. Der Schwarze Herold wich zurück, in seinen kleinen weißen Augen lag Entsetzen. „Woher … Woher hast du diese Krone?“
Janis griff danach, sprang auf und hielt sie weit über die Brüstung des Kronenturms. „Wenn Ihr mich tötet, fällt die Krone den ganzen Weg herunter.“
„Eine Falle an der Rietburg… Ich verstehe!“, knurrte der Herold.
Janis verstand nicht, doch es war ihm egal. Welche Macht auch immer diese Krone über den Schwarzen Herold hatte, er war bereit, sie zu nutzen.
„Als erstes werft Ihr mein Haar ins Feuer.“, verlangte er. „Und dann holt Ihr Kheela zurück.“
Der Schwarze Herold sah unruhig zur Krone, die hoch über dem Abgrund nur in seiner Hand hing, und ließ ohne weitere Umstände Janis´ Haar im Feuer verschwinden.
„Und jetzt meine Mutter!“
„Janis, ich glaube ich habe einen falschen Eindruck erweckt.“, sagte der Schwarze Herold sanft. „Du hast gute Dienste geleistet. Natürlich hätte ich Kheela zurückgeholt. Ich wollte den Knochen doch nur haben, um deinen Wunsch erfüllen zu können.“
Janis verzog verächtlich das Gesicht. „Tut, was ich sage! Holt sie zurück!“
Der Schwarze Herold lachte leise. „Dann, mein lieber Janis, musst du mir den Knochen schon geben.“
Janis sah den Schwarzen Herold lange an. Zwischen ihnen breitete der rote Hahn seine Schwingen aus und flog, dem goldenen Himmel entgegen. Der Dachstuhl fing fauchend Feuer. Schwarzer Qualm wälzte sich wie giftige Schlangen den Kronenturm herunter. Er glaubte dem Schwarzen Herold kein Wort. Und doch musste er es tun. Es war seine einzige Hoffnung, Kheela jemals zurückzubringen.
Eine Warnung Varas ließ ihn zur Seite springen. Ein roter Schatten stieß auf die Stelle herab, wo er eben noch die Krone gehalten hatte. Kurz erhaschte Janis einen Blick auf das verkniffene Gesicht des Fluggors mit seinen gelb funkelnden Augen, dann war die Kreatur vorbei und er hörte nur noch das wilde Flattern ledriger Flügel.
Direkt neben sich sah Janis plötzlich eine kräftige Gestalt aus blauem Licht aufragen, die sich in den Skral von eben verwandelte.
„Schnapp ihn dir!“, brüllte der Schwarze Herold, und Janis´ letzte Hoffnung starb. „Lass den Jungen nicht entkommen!“
Der Skral blinzelte verwirrt, dann zog er ein langes Schwert von seinem Rücken. Janis deutete mit seiner Hand auf den Skral und eine Fontäne aus Wasser traf die Kreatur auf die Brust. Vara trieb den Skral vor sich her und Janis wartete nicht, bis er sich wieder gesammelt hatte. Er schnappte sich seinen halb leeren Rucksack. Im Laufen legte er die Krone und Kheelas Knochen hinein und warf ihn sich über die Schulter.
Das Feuer ragte vor ihm auf, grün und golden. Mittlerweile hatte es längst auf den hölzernen Boden des Dachgeschosses übergegriffen und breitete sich immer weiter aus. Er hielt die Luft an und befahl Vara zu sich. Sie ließ vom Skral ab, umhüllte ihn wie einen schützenden Mandel und gemeinsam sprangen sie durch das Feuer.
Ihr Körper heizte sich so schnell auf, dass Janis sich fast verbrühte. Doch vielleicht war es auch nur Varas stummer Schmerzensschrei, der in seinem ganzen Körper widerhallte. Er konnte kaum noch zwischen ihren und seinen Sinnen unterscheiden.
Dann waren sie durch. Sofort formte Vara ihren Körper zu Dampf, so war die Hitze für sie erträglicher. Auf der anderen Seite des Feuers brüllte der Skral wütend. Und Janis sah sich dem Schwarzen Herold gegenüber, der ihn zornig anstarrte. Blaues Licht formte zu beiden Seiten die Umrisse zweier Gors, doch Janis wartete nicht, bis sie endgültig erwacht waren. Er sandte Vara einen zornigen Befehl und sie umgab den Schwarzen Herold, ihr feiner Nebel schwirrte unruhig vor seiner Maske und blendete ihn. Manchmal erglühte sie kurz in einem fahlen blauen Licht, doch immer wogten ihre feinen Tröpfchen zur Seite, entschwebten mühelos dem Griff des Schwarzen Herolds, ehe sie getötet werden konnte.
Janis riss die Luke auf und sprang die Leiter mehr hinunter, als dass er kletterte. Rauch kratzte in seinem Mund, jeder Atemzug fiel ihm schwer.
„Du bist ein Narr, Janis!“, brüllte der Schwarze Herold ihm hinterher. „Denkst du wirklich, ich hätte deine Mutter nicht zurück geholt? So gnädig bin ich nicht! Ich hätte deinen Wunsch erfüllt! Der Tod ist die letzte Zuflucht der Lebenden. Der letzte Ort, an dem sie ungestört sind von allem Leid der Welt. An dem alle ihre Verfehlungen vergessen sind und alle ihre Sorgen zur Ruhe kommen. Und ich werde Kheela selbst diese Zuflucht rauben!“
Janis holte Vara zu sich, als er der Meinung war, dass er einen ausreichenden Abstand zwischen sich und den Herold gebracht hatte. Er musste es nicht riskieren, dass sie irgendwann doch noch zu Staub zerfiel. Falls das bei einem Wesen ganz aus Wasser und Magie überhaupt möglich war.
„Ich weiß, welche Schrecken es bedeutet, niemals sterben zu können!“, brüllte der Schwarze Herold. Anscheinend hatte er es aufgegeben, sie selbst zu verfolgen. Von oben hörte Janis nur die Schritte der Gors. „Es gibt Schicksale, schlimmer als der Tod. Ich selbst ertrage ein solches Schicksal jeden Tag. Und ich werde es auch den Helden von Andor bereiten. Allen Helden! Auch deiner Mutter!“
Der Boden schien zu schwanken. Janis holte tief Luft und atmete nur noch mehr Rauch ein. Er hustete keuchend. Giftiger Rauch wird sich über die Burg senken, in jeden Keller und jede Ritze dringen und jedes Leben ersticken. Benommen rannte er weiter den Turm hinunter. Aus weiter Ferne hörte er noch die Stimme des Schwarzen Herolds: „Die Qualen der Winterburg sind nichts gegen das, was Kheela bevorsteht! Die Flusslande werden brennen, und sie wird das Leid aller Fischer und Bauern selbst mitansehen müssen. Vor allem jedoch wird sie dein Leid sehen müssen. Sie wird mitansehen müssen, wie der Mensch, der ihr am wichtigsten ist, all die Qualen erleidet, die auch sie erlitten hat, und meine Rache wird vollkommen sein!“
Janis erreichte das untere Ende der Wendeltreppe. Zu seiner Rechten war die Tür, die in die Königsgemächer führte, doch Janis ignorierte sie und rannte weiter, bis er endlich unter freien Himmel trat. Sofort konnte er wieder freier atmen.
Sara sah ihn erschrocken an, als er keuchend und rußverschmiert aus der Tür stolperte. „Wir müssen los!“, rief er. Sie verstand sofort, dass etwas schiefgegangen war. Rasch folgte sie ihm zwischen den engen Häusern hindurch. Janis versuchte, eine direkte Sichtlinie zur Spitze des Kronenturms zu vermeiden, damit der Schwarze Herold ihnen keine Trolle in den Weg beschwören konnte. Da allenorts Rekruten auf die Mauern rannten, fielen sie weder den Andori noch dem Schwarzen Herold auf.
Über ein paar Umwege erreichten sie das kleine Ausfalltor. Es lag unauffällig hinter einer niedrigen Hütte, weder von innen noch von außen leicht zu entdecken. Und es war abgeschlossen.
Verzweifelt starrte Janis auf den dicken Riegel. Er ließ seinen Rucksack zu Boden sinken, um das Messer herauszuholen, bis ihm einfiel, dass es zusammen mit dem halben Rucksackinhalt noch immer in der brennenden Turmspitze lag. Blinzelnd trat Janis neben den Riegel und betastete mutlos das schwere Schloss, das an einer Eisenkette daran hing. Seine Finger zitterten. Es war vorbei. Irgendwann würde der Schwarze Herold kommen, er wusste von ihrem Fluchtweg. Oder die Andori würden sie finden und ihre Schlüsse aus dem brennenden Turm ziehen. Und selbst wenn niemand sie entdeckte, so würden doch der giftige Rauch oder die Kreaturen vor der Burg sie erwischen.
„Sara, kannst du Schlösser knacken?“, fragte Janis mutlos. Es hätte ihn nicht einmal allzu sehr verwundert. Doch sie schüttelte nur schwach den Kopf. „Dann lerne es schnell.“
Du. Können. - Mit. Wasser-Seele. Du. Können. Herzen. Reparieren. Und. Atem. Heilen. - Dann. Auch. Öffnen. Schloss.
Natürlich! Vara! Janis befahl sie zu sich und durch die kleine Öffnung, die eigentlich einem Schlüssel vorbehalten war. Es ging ihr nicht gut, doch sie spürte die Dringlichkeit und gehorchte bereitwillig.
Das Schloss mit seinen feinen Hebeln und Bolzen lag vor Janis ausgebreitet in der Dunkelheit, und kostbare Herzschläge verstrichen, bis er den Mechanismus verstanden hatte und das Schloss mit einem leisen Klicken aufsprang. Sofort stieß Janis den Riegel zur Seite und öffnete die Tür.
Er hatte erwartet, auf der anderen Seite sofort von Kreaturen umringt zu werden, doch nur ein paar Skrale blickten aus einiger Entfernung neugierig in ihre Richtung. Sara schloss die Tür und im Schutz der Dunkelheit zogen sie los.
Erst nach einigen Schritte begriff Janis, weshalb die Kreaturen sie einfach ignorierten. Dunkler Nebel zog sich vor ihnen zusammen und umschloss jeden Fluchtweg. Varkur!
Dünne Finger aus Dunkelheit krochen an ihm hoch und betasteten ihn. Besonders sein Rucksack schien interessant zu sein, Sara hingegen wurde komplett ignoriert. Janis´ Haut schmerzte, wo sie von der Finsternis berührt wurde. Die Dunkelheit war nicht scharf oder hart, nicht brennend vor Hitze oder Kälte. Sie schmerzte nicht auf eine bestimmte Art. Sie war Schmerz.
Irgendwann zog sie sich zurück und ein Weg öffnete sich vor ihnen. Ohne zu zögern liefen sie los, durch den Schnee und die klare Nacht, bis sie den schwarzen Nebel, die Kreaturen und die Rietburg hinter sich gelassen hatten.
Erst auf dem nächsten Hügel hielten sie keuchend inne und blickten zurück. Auf dem Dach des Kronenturms saß in aller Pracht der rote Hahn. Flammen tanzten auf dem Dach wie ein Hahnenkamm und brennendes Rietgras fiel zu allen Seiten in die Tiefe, wo es weitere Dächer entzündete.
Der rote Hahn ist die Feuersbrunst, die alles verschlingt. Pure Zerstörungskraft, grausam, hungrig und willenlos.
Schwarzer Qualm trieb über der Burg, bedeckte alle Mauern und floss wie Wasser daran herab. Und dunkler Rauch stieg als dunstiger Schleier auf und verschluckte den Himmel. Der schwarze Schrei des roten Hahns hing weit über Andor und malte dem Land der Freiheit einen Himmel ohne Sterne.


Morgendämmerung, 27. Wintertag 77 A.Z.
Ufer der Narne östlich der Rietburg, Andor

Sie liefen die ganze Nacht hindurch. Hinter ihnen brach das Feuer aus den Mauern der Rietburg aus und fraß sich durchs Rietland, doch dank des Schnees wurde es aufgehalten und blieb weit hinter ihnen zurück. Als der Morgen dämmerte, konnte Janis keine Flammen mehr sehen. Nur noch graue Asche schneite aus dem rauchverhangenen Himmel, den die Sonne kaum durchdrang.
Janis fühlte sich ganz taub. Er war stundenlang durch den Schnee gewandert, doch schlimmer als die Kälte draußen war die in seinem Inneren. Er fühlte sich grauenhaft, wann immer seine Gedanken Rodur streiften, doch noch schlimmer war der Gedanke an Kheela. Sie folgten dem Flusslauf nach Osten, daher entkam er kaum den Gedanken an seine Mutter. Jeder Blick nach links erinnerte ihn an sie. Ich habe versagt.
Der Schwarze Herold würde sie nicht zurückholen. Er hatte einen Helden geopfert, ein ganzes Land, einen Freund und seinen Frieden, und alles war umsonst.
Ich sagte doch, du kannst ihm nicht vertrauen.
Zitternd setzte Janis einen Fuß vor den anderen.
Es ist meine Schuld! Wenn ich Nomion nicht hintergangen hätte, dann hätte er die Burg schon vor drei Tagen erobert. Alles wäre anders gekommen! Rodur wäre am Leben. Du wärest am Leben!
Und du wärest tot, genau wie die Schutzsuchenden, die dank dir entkommen konnten.
Na und?! Ich bin ein Risiko eingegangen! Ich habe mich verführen lassen von der Idee, wenigstens einen Teil retten zu können! Damit habe ich alle meine Bemühungen und Opfer verraten! Damit habe ich dich verraten!

Er blieb stehen, als er hörte, dass Saras Schritte verstummten. Fragend sah er sich zu ihr um. Sie stand im Schnee, mit bleichem Gesicht und blauen Lippen, weiße Asche legte sich auf ihr goldenes Haar und sie sah ihn an aus schrecklichen schwarzen Augen.
Wohin. Wir. Gehen. Als-Frage-Gemeint. gebärdete sie.
Janis blinzelte. „Wir? Ich habe dich in Sicherheit gebracht, mehr wollte ich nicht. Du musst mir nicht folgen. Geh, wohin immer du willst.“
Dann. Ich. Gehen. Mit. Kind-Von-Fluss.
Janis schüttelte kraftlos den Kopf. „Warum?“
Ohne zu blinzeln hob sie die Hände. Alle Unsicherheit war verschwunden. Du. Wissen. Warum.
Janis schloss die Augen, bevor sie die Euphorie darin bemerken konnte. Er fühlte sich merkwürdig glücklich, doch schwerer als alles Glück wog die dumpfe Schuld. „Sara, ich …“ Er räusperte sich. „Ich verdiene das nicht. Ich verdiene dich nicht. Nach allem, was ich getan habe, sollte ich mich einfach hier in den Schnee legen und sterben.“
Er hörte sie zu sich treten, bis er ihre Körperwärme spüren konnten. Sanft umarmte sie ihn. Als Janis die Augen aufschlug, war ihr Gesicht kaum eine Handbreit von seinem entfernt. Lange standen sie so da, und schließlich ließ Sara ihre Arme sinken und trat zurück. Janis versuchte, nicht enttäuscht zu sein.
„Sara.“
Ja.
„Ich bin so froh, dass du bei mir bist.“
Sie lächelte, doch ihr Blick blieb farblos.
„Aber … es ist noch nicht vorbei. Ich habe alles gegeben, um Kheela zurückzuholen. Alles bis auf dich. Ich kann sie nicht aufgeben. Wenn es jemals dazu kommt, dass ich mich entscheiden muss zwischen meiner Mutter und dir … dann werde ich mich nicht für dich entscheiden.“
Ich. Wissen. Sie nickte traurig. Wohin. Wir. Gehen. Als-Frage-Gemeint.
Janis atmete tief durch und straffte sich. „Ich muss dir etwas zeigen.“
Er kniff die Augen zusammen und sah sich um. Kein Fluggor war am Himmel zu sehen, keine lebende Seele weit und breit. Und doch… Er wollte kein Risiko eingehen. Sein Blick streifte eine halb zerfallene Hütte am Ufer der Narne. „In der Hütte. Lass uns dort Schutz suchen.“ Er betrachtete Saras blaue Lippen und ihre zittrigen Beine. Mit schlechtem Gewissen fiel ihm auf, dass der Rucksack, den sie die ganze Nacht hindurch geschleppt hatte, im Gegensatz zu seinem noch bis oben gefüllt war. Doch das schlechte Gewissen war ein alter Freund von ihm und hatte schon in deutlich wichtigeren Fragen aufgegeben. „Und eine Rast einlegen.“
Wortlos marschierte Sara los.

Die Hütte war in einem noch schlechteren Zustand als Janis angenommen hatte. Die Tür fehlte, Schnee lag im Eingangsbereich, dahinter morsches Holz und muffiges Stroh. Es war ein Wunder, dass das Dach noch nicht zusammengebrochen war.
Zerborstene Möbel, zerrissene Fischernetze und eine mottenzerfressene Jacke lagen hinter der Tür, das andere Ende der Hütte verschwand im Halbdunkel und Janis verspürte keinerlei Bedürfnis, tiefer hineinzugehen. Er räumte einen kleinen Flecken Boden für sich und Sara frei und sie ließen erschöpft ihre Rucksäcke fallen und setzten sich darauf.
„Wie geht es dir, Sara?“
Schlecht.
Janis hielt die Luft an. Eine so direkte Antwort hatte er nicht erwartet. „Wir ruhen uns aus, so lange es nötig ist.“
Nein. Wegen. Erschöpfung. Schlecht. - Du. Wissen. Genug.
„Ja. Du hast recht. Mir geht es auch schlecht. Es ist einfach alles zu viel.“ Sara schloss die Augen und ließ sich zurücksinken, bis ihr Gesicht im Schatten lag. Doch sie war noch immer angespannt, und Janis wusste, dass sie ihm weiter zuhörte.
Er stand kurz auf und kramte die Rietraskrone aus dem Rucksack. Er betrachtete versonnen die 24 gewellten Zacken. Selbst der verbogene Zacken konnte nicht verhindern, dass sie wunderschön war. „Kommandant Mart hat sie mir gezeigt, ehe er starb. Die Rietgraskrone. Wenn ich seine letzten Worte richtig verstanden habe, dann soll sie … nach Cavern. Wir müssen die Krone dorthinbringen. Sie ist eine Falle für den Schwarzen Herold. Eine Waffe gegen den Ewigen Rat. Die Schildzwerge müssen sie bekommen. Die Helden von Andor müssen sie bekommen.“ Und wenn sie den Ewigen Rat zerschlagen haben, vielleicht geht dann die Macht des Schwarzen Herolds auf sie über. Vielleicht beherrschen sie dann den Tod. Vielleicht holen sie dich zurück, Mutter.
Sara setzte sich auf und starrte ihn ungläubig an. Janis nickte langsam. „Wir bekämpfen den Ewigen Rat auf unsere Weise. Wir gehen nach Cavern! Wir machen alles wieder gut, Sara!“
Sie erwiderte sein Nicken. Und in ihren Augen, hinter dem tiefen, leeren, farblosen Schwarz, erschien zum ersten Mal seit langer Zeit ein schillernder, violetter Schimmer.
Plötzlich ertönte ein keuchendes, rasselndes Husten. Sie beide fuhren herum und starrten in die dunkle Hütte, wo sich jetzt langsam etwas bewegte. Janis griff die Krone fester. Eine hochgewachsene Gestalt trat langsam aus den Schatten. „Das Schicksal“, sagte sie mit heiserer Stimme, „beweist wieder einmal einen seltsamen Sinn für Humor.“
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S - Die Bande, die halten

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:28

S – Die Bande, die halten

Morgendämmrung, 26. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See westlich der Klippe
Hirschhuf, Hadrisches Meer
Leander hob den Kopf, als er die unverkennbaren Schritte seines Bruders hörte. Er war erschöpft, Fieber und Schüttelfrost hatten ihn in der vergangenen Nacht wachgehalten, dennoch setzte er sich auf und straffte sich.
„Hallo, Bruder.“, begrüßte Callem ihn ruhiger, als Leander ihn in den letzten Tagen je erlebt hatte.
„Du bist hier, um zuzugeben, dass ich recht hatte?“, vermutete Leander.
„Nein. Wir haben den Baum der Lieder zerstört und die Hälfte der Bewahrer ermordet.“
Leander stockte sein ohnehin flacher Atem. Dass der Baum der Lieder zerstört war, war eine Katastrophe, doch noch mehr beschäftigte ihn etwas anderes. Ein keuchender Hustenanfall verschluckte im ersten Moment jede Erwiderung. „Das ist … unmöglich!“, keuchte er schließlich. „Ich habe es gesehen! Bewahrer, friedlich und lächelnd neben den Flammen des Baumes! Ich sah sie langsam davonziehen, in einer geordneten Reihe, nicht in wilder Flucht! Du …“ Leander schüttelte schwach den Kopf. „Ich kenne dich zu gut. Du sprichst die Wahrheit, oder was du dafür hältst.“
„Und du ebenfalls.“, erwiderte Callem leise. „Scheint, als hätte deine Vision sich geirrt.“
Leander schüttelte den Kopf. „Sie irren sich nie. Alle meine Visionen treten ein. Die guten wie die schlechten. Der Fluss der Zeit verlässt niemals sein Bett.“
Leander versuchte verzweifelt, eine Erklärung zu finden. Was genau hatte er gesehen? Den Obersten Bewahrer, melancholisch in die Flammen schauend. Einen kleinen Jungen, der im Licht des Feuers Schriftrollen trug. Und der brennende Baum, von dem eine Prozession Bewahrer sich entfernten. Eindeutig, so hatte er gedacht. Doch war es das wirklich?
„Ihr habt die überlebenden Bewahrer laufen lassen. Ich nehme an, sie wussten das? Sie mussten nicht in Panik fliehen?“ Er holte rasselnd Luft, so tief er konnte. „Brannte ein Feuer, bevor ihr kamt?“
„Ein großes Lagerfeuer auf der Lichtung. Ihr Hohepriester stand dort und fiel als erstes.“
Leander senkte den Kopf. „Ich verstehe. Nicht die Bilder waren falsch, sondern meine Schlüsse. Wieder einmal.“ Doch nichts war wie schon einmal. Er hatte sich schon oft geirrt, schon oft falsch gedeutet, was er gesehen hatte, doch dies war anders. Die Visionen hatten nicht auf das hingedeutet, was geschehen war, sondern im Gegenteil das klare Bild eines friedlichen Endes gezeichnet. So, wie er sie gesehen hatte, am Anfang der brennende Baum und dann erst die Bewahrer im Flammenschein, wäre jede andere Deutung Wahnsinn gewesen. Fast, als hätte seine Vision es darauf angelegt, ihn zu täuschen. Die Fragmente mochten gestimmt haben, doch das Gesamtbild war eine Lüge.
Callem lachte bitter. „Vielleicht solltest du aufhören, deinen Visionen zu vertrauen.“
„Vielleicht sollte ich aufhören, mir selbst zu vertrauen.“, erwiderte Leander niedergeschlagen. Und die alten Runen auf der Tafel des Themauras kamen ihm in den Sinn, die er schon vor zwei Monden im Grauen Gebirge gelesen hatte und die er doch erst jetzt verstand: Meine Traumbilder waren Lügen, die die Wahrheit zeigten.
„Ich muss gestehen, ich bin erstaunt.“, sagte Leander leise. „Die Helden von Andor haben jetzt das Herz der Geburt mit all seiner Macht. Hat der Schwarze Herold keine Angst, dass sie es gegen ihn verwenden könnten?“
„Du weißt es nicht? Ken Dorr hat es euch nicht verraten?“, fragte Callem spöttisch. „Es ist eine Weisheit, die der Schwarze Herold uns von Anfang an eingebläut hat, ehe wir auch nur anfangen konnten, nach der Macht der Herzen zu gieren: Weder Sterblicher noch Gott kann die volle Macht eines einzelnen Herzens nutzen.“
Leander senkte den Kopf. Ken Dorr hatte schon von Anfang an vorgeschlagen, das Herz der Geburt gegen den Schwarzen Herold einzusetzen. Er hatte darauf gedrängt, die tote Frucht vor den Mächten des Meeres zu finden. Er hatte sie die ganze Zeit belogen. Zu welchem Zweck, erschloss sich Leander nicht.
Weshalb war er enttäuscht? War ihnen allen nicht von Anfang an klar gewesen, dass sie Ken Dorr nicht trauen konnten? Warum also hatten sie es am Ende doch getan?
Vielleicht hatte Eara doch recht. Vielleicht war Vertrauen Schwäche.


Später Vormittag, 26. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See südlich der Klippe
Skralklaue, Hadrisches Meer
Trampelnde Schritte weckten Leander aus einem unruhigen Schlummer. Er meinte sich an verschwommene Bilder zu erinnern, doch sie verschwanden, sobald er versuchte, zu ihnen zurückzudenken.
Es waren drei, er erkannte die Schritte von keinem von ihnen. Schweigend hielten sie vor seiner Zelle an, in ihrem unruhigen Atem konnte Leander unterdrückten Zorn heraushören.
„Leander. Wir sind gekommen, um eine Rechnung zu begleichen.“, sagte eine seltsam tonlose Stimme.
Leander lächelte, obgleich ihm nicht danach zumute war. „Hallo, Meres. Ich nehme an, wir sind dann noch Niron und Orril?“
„Ganz recht, du hinterhältiger Mistkerl!“, erwiderte Niron aufgebracht. „Wir werden dich für deine Lügen büßen lassen!“
Plötzlich war Leander sehr dankbar für die dicken Gitterstäbe. „Weiß mein Bruder, was ihr vorhabt?“ Er rutschte auf seiner harten Pritsche so weit zurück, wie die Zelle es erlaubte.
„Blind bist du in vielerlei Hinsicht, Zukunftswisser.“, flüsterte Orrils melodische Stimme. „Es gibt Wunden, die kein Auge sieht. Es gibt Schreie, die kein Ohr vernimmt. Vieles, was unversehrt ist, ist zugleich zerbrochen. Deines Bruders Widerwillen wird vergolten mit Heimlichkeiten. So bleibt sein Unwissen gewahrt.“
Der hohe, scharfe Triller einer Flöte erscholl. Kälte und Verzweiflung durchfluteten Leander.
„Und deines Käfigs Schutz ist wirkungslos gegen reißenden Schall und grüne Flammen. Die Strafe ereilt einen jeden von uns.“
„Du könntest dir natürlich die Ohren ausstechen.“, ergänzte Niron hämisch. „Das würde dich zumindest vor Orrils Flöte schützen.“
„Fürwahr.“, raunte Orril getragen. „Ein Leben in ewiger Stille und Dunkelheit. Vergessen wären alle Farben und Klänge. Vergessen wären die Eindrücke der Außenwelt. Ein Leben, das ein Tod sein könnte. Welch würdiger Ausgleich.“
„Warum, Leander?“, fragte Meres´ unbewegte Stimme. „Warum hast du uns nach Narkon gelockt, in die Fänge von Varatans Fluch?“
Leander senkte den Kopf. „Für meinen Bruder. Ich wollte ihn befreien. Varatans Fluch brechen. Zweierlei musste dafür geschehen: Varatans Blutlinie musste ausgerottet werden. Diese Aufgabe hatte ich für die Helden von Andor vorgesehen. Doch das allein war nicht genug. Jemand musste Narkon durchqueren. Jemand musste sich dem Fluch stellen und ihm trotzen. Das allein konnte ihn brechen. Ich dachte wirklich, ihr hättet eine Chance.“
Er musste husten und presste sich seinen Mantel gegen den Mund. Er fühlte Feuchte auf dem groben Stoff. Hoffentlich kein Blut. Heiser fuhr er fort: „Niron, der unfehlbare Späher, dessen Auge jede Finsternis durchdringt, dessen Ohr selbst die Stille hört und der die Magie dieser Welt so selbstverständlich wahrnimmt wie andere ihre Farben. Du bist der einzige, der sich jemals in die Nebelsümpfe im fernen Osten wagte und dort weder das Leben noch den Verstand verlor.
Orril, der Schwarze Barde, dessen dunkle Lieder Wahn und Verzweiflung säen. Dein Flötenspiel verleiht dir Macht über Mensch und Getier und selbst Kreaturen tanzen nach deinen Melodien.
Und Meres, der Hexer aus Andor, das Licht des Morgens. Du hast das ewige Eis des Kuolema durchschritten. Du kennst die Kräuter zweier Länder und bist bewandert in nie dagewesener Hexenkunst.
Ich wusste, dass es so enden konnte, doch ich habe auf etwas anderes gehofft.“
„Du hast uns in die Verdammnis geschickt.“, sagte Meres leise, und endlich lag so etwas wie ein Gefühl in seiner Stimme, auch wenn Leander es nicht zuordnen konnte. „Du hast Varatans Fluch auf uns gezogen – und Schlimmeres. Du hast das hier aus mir gemacht. Einen Mörder. Ein Monster. Du warst es. Deine Pläne. Deine Lügen.“
Leander spürte ein Kichern in sich aufsteigen, das schnell zu einem trockenen Husten wurde. „Meine Lügen?“, keuchte er. „Niron, habe ich dir nicht ein Land versprochen, das kaum ein Mensch je zu sehen hat? Eine Insel, die niemand je verlassen hat? Versprach ich dir nicht eine Herausforderung, noch größer als die Nebelsümpfe? Habe ich dich nicht sogar gewarnt, dass es gefährlich wird?“
„Du hast nichts von einem Fluch gesagt!“, zischte Niron. Den Geräuschen nach zu urteilen rüttelte er am Gitter. „Nichts von Callem oder Kentar mit ihrem roten Stein! Nichts davon, wie es ist, sich erst ans Vergessen und dann an den Schmerz zu verlieren! Ich war bereit, mein Leben zu riskieren, nicht jedoch mein Selbst, und das wusstest du!“
Leander ignorierte ihn. „Und du, Orril? Du wurdest aus deiner Zunft ausgestoßen für die Kraft deiner Lieder und deine Versuche, sie für dich zu nutzen. Weder König Brandur noch die Kreaturen, die ihn mordeten, konntest du unter deinem Bann halten. Ich habe dich vor deinen Häschern verborgen und dir einen Weg aufgezeigt an einen Ort, an dem sie dir nicht folgen würden. Sagte ich nicht, du würdest den Herrn einer großen Insel kennenlernen, und auch er würde dich in seine Dienste nehmen? Sagte ich nicht, du würdest endlich jemanden treffen, der deine Kräfte wahrhaft zu würdigen weiß?“
Orril schwieg, also wandte Leander sich an Meres: „Und du, Meres? Ich habe dich gesund gepflegt, als du am Ende deiner Kräfte aus der Mine kamst. Ich habe dich gerettet, als alle anderen dich im Stich ließen. Sagte ich nicht, du würdest einen Ort finden, wo du lernen kannst, deine Kräfte zu verstehen? Einen Ort, wo du willkommen wärst, anstatt für deine Macht gefürchtet zu werden? Einen Ort, der dich verändern würde?“
„Genug.“, antwortete Meres leise. „Wir sind nicht hier für Worte.“
Ein dünner, schriller Flötenton erklang, der Leander das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Darauf habe ich schon lange gewartet.“, spie Niron verächtlich.
Aus dem Ton wurde eine kurze Melodie. Immer wieder die gleichen schiefen Töne, die in Leander einen wortlosen Befehl verbreiteten. Er stand langsam auf, ohne seinen Beinen den Befehl dazu gegeben zu haben. Er wankte einen Schritt zum Gitter. Vergeblich bemühte er sich, seine Arme an die Ohren zu legen und den schrecklichen Ton auszusperren. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr, nur sein Geist raste. Seine Hände legten sich um rostige Metallstäbe. Dann hörte er Meres ein paar Worte flüstern und der Klang von loderndem Feuer ertönte unter den Flötentönen. Langsam stieg Hitze durch das Metall und versengte seine Finger. Seine Hand verkrampfte sich, seine Reflexe kämpften gegen die düstere Melodie.
„Ach, Kinder.“, sagte da plötzlich eine sanfte Stimme enttäuscht. „Was soll das werden?“
Augenblicklich erloschen die Flötentöne. Leander taumelte zurück und hielt sich die schmerzenden Hände. Er konnte hören, dass seine drei Peiniger sich umdrehten, ihr Atem ging schnell und flach. Sie haben Angst. Sogar sie haben Angst.
„Dumpfe Drohungen? Rohe Gewalt? Schrille Lieder? Das soll eure Rache sein? Es gibt so viel … vollkommenere Arten des Leidens.“
„Kentar, wir …“, begann Niron, doch er konnte nicht ausreden.
„Pscht, pscht. Es ist gut. Jetzt bin ich hier. Ich übernehme das.“
„Das ist nicht, was wir wollten.“, antwortete Meres unbetont. „Nicht einmal er hat das verdient.“
„Ach nein?“ Kentars Stimme nahm einen höhnischen Klang an. „Seid ihr nicht hier, um ihn leiden zu lassen? Wollt ihr keinen Ausgleich? Wollt ihr nicht, dass er wahrhaft versteht, was ihr erleiden musstet?“
Niemand antwortete, nur eine Möwe schrie irgendwo in der Ferne. „Euer Schicksal wird auch ihm widerfahren. Lasst mich das Werkzeug eurer Rache sein. Lasst mich tun, was ich am besten kann. Ich verspreche euch, er wird ein anderer sein, wenn ich mit ihm fertig bin.“
Niemand wagte es mehr zu widersprechen. Leander hörte, wie ihre Schritte sich rasch entfernten. Bald war er mit Kentar allein.
„Endlich ungestört. Ich hoffe, sie waren nicht zu grob?“
Leander lachte keuchend. „Das klang gerade nicht so, als würde dich das sonderlich interessieren.“
„Oh, aber das tut es. Ich will deine Sinne ganz bei mir haben. Lass dich nicht von verbrannten Händen ablenken. Ich werde dir etwas zeigen, gegen das alles Leid verblasst, das du zuvor gespürt hast.“ Sie kicherte wie ein junges Mädchen, das sich über ein neues Spielzeug freut. „Ach, wir werden so viel Spaß miteinander haben!“ Sie summte leise vor sich hin, während sie irgendetwas vorbereitete.
„Du hast nicht viele Freunde an Bord, weißt du?“, plapperte sie munter weiter. „Niron, Orril und Meres. Sie hassen dich, da du sie nach Narkon getrieben hast. Ean Quella hasst jeden, am meisten sich selbst. Pero und Roa, die beiden treuesten Gefährten Callems. Sie würden ihm überallhin folgen, alles für ihn tun, und er straft sie mit Gleichgültigkeit. Sie hassen dich für die Wärme, die er dir entgegenbringt und die sie nie erfahren werden. Ich schätze, zumindest Krumm und Thogger werden dich in Ruhe lassen.“
„Wie wäre es, wenn du das auch tust?“
„Aber wo bliebe denn da der Spaß?“
Leander setzte sich auf seine Pritsche und verschränkte die Arme. „War es das mit den Drohungen?“
„Drohungen?“, lachte sie heiter. „Das waren keine Drohungen. Es war mein Versprechen. Meine große Gnade. Ich zeige dir, was du sonst nirgends finden wirst. Bist du gar nicht neugierig?“ Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Du bist etwas Besonderes, Leander. Dein Geist ist so … klar. Ich freue mich schon darauf, ihn in Scherben zu sehen! Was, denkst du, wird dein Bruder sagen?“
Ihre Stimme wurde traurig. Leander konnte unmöglich sagen, wie viel von ihren Gefühlen echt und wie viel gespielt war. „Er ist anders als sonst, weißt du? Nachdenklich. Still. Verzweifelt. Sein Herz ist gebrochen. Und du hast ihm das angetan.“ Leander lehnte sich zurück und versuchte, ihre Worte auszublenden.“
„Ich habe ihn noch nie so erlebt, in all den Jahrzehnten nicht. Du bedeutest ihm alles, weißt du? Du bist die Hälfte seiner Welt, und er selbst ist die andere. Für seine Mannschaft, oder für mich, ist darin kein Platz mehr.“
„Eifersüchtig?“
Sie kicherte. „Nicht das Wort, das ich verwendet hätte. Aber ja, ich würde mir wünschen, dass ich ihm wichtig bin um meiner selbst willen, und nicht nur aufgrund meines Nutzens für unsere Raubzüge. Nur dann könnte ich ihn hintergehen und zusehen, wie der Verrat ihn trifft. Nur dann könnte ich ihn wirklich verletzen. Nur dann könnte ich ihm den Schmerz bereiten, der ihm gebührt!“ Sie seufzte leise. „Allerdings hast du bereits jetzt mehr getan, als ich jemals gekonnt hätte. Du hast ihn tiefer verletzt, als ich für möglich gehalten hätte. Ich danke dir.“
Leander schüttelte schwach den Kopf. Nur nicht zu sehr über Callem nachdenken. „Was hast du davon, Kentar? Welchem Zweck dient dieses Leiden?“
Sie kicherte hell. „Das ist die falsche Frage, Leander. Du kannst den Schmerz dieser Welt nicht bekämpfen. Du kannst ihn nur genießen. Und ich tue das aus vollstem Herzen. Das Leid ist mein Zweck! Freude, Hoffnung, Liebe, das alles ist verwaschen, vermischt mit anderen Regungen, Gedanken, Wünschen. Doch Leid ist rein. Unverfälscht. Wahrhaftig! Der Moment, in dem selbst die Verzweiflung zerbricht und nur das Leid bleibt – es gibt nichts Erhabeneres! Ich bin eine Künstlerin, Leander. Ich erkunde die immer neuen Lieder des Schmerzes. Und ihr … ihr seid meine Instrumente.“
Leander unterdrückte ein Schaudern. „Du bist wahnsinnig.“, sagte er leise.
„Ich strebe nach etwas Wahrhaftigem in dieser leeren, bedeutunglosen Welt! Wenn das Wahnsinn ist, dann bin ich gerne bereit, ihn zu empfangen.“ Sie klopfte gegen das Gitter. „Und jetzt komm her. Ich habe etwas, das dich interessieren dürfte.“
Für wie blöd hielt sie ihn? „Und was soll das sein?“
„Ein Geschenk meiner Mutter Kenvilar. Mein wertvollster Besitz. Mein Weg zur vollkommenen Verzweiflung. Das Werkzeug, mit dem ich die halbe Mannschaft unter meinen Bann gezogen habe.“
Oh, diese verdammte Neugierde! Widerwillig stand Leander auf und trat zu Kentar ans Gitter. „Du kontrollierst die Mannschaft? Du drohst ihnen mit Schmerz?“
„Aber nein!“, lachte Kentar. „Drohungen … so plump.“ Was sie stattdessen tat, führte sie nicht aus.
„Und wer steht alles unter deinem Bann?“
„Was denkst du? Ean Quella? Meres vielleicht? Oder … dein Bruder?“
Leander keuchte auf. „Mein Bruder wird nicht kontrolliert!“
„Ach ja? Hast du dich nicht gewundert, warum der einst so loyale Seekrieger des Meereskönigs von einem Tag auf den anderen zum Piraten wird? Hast du dich nicht gefragt, was aus dem Seefahrer einen Mörder machte? Warum strebt ein Kapitän plötzlich nach der Krone? Was brachte ihn dazu, seinen vorgezeichneten Pfad zu verlassen? Warum kein Zauberbann?“
Leander sammelte sich. Wenn sein Bruder all die Jahre kontrolliert worden war, ohne dass Leander es gemerkt hatte, dann hätte er alles falsch gemacht! Er hätte seinen Bruder vom falschen Fluch befreit! Er hätte ihn seit fast zweihundert Jahren im Stich gelassen. Doch er hätte auch eine Möglichkeit, alles umzudrehen. Er könnte den Bann lösen, und gemeinsam mit Callem gegen den Ewigen Rat kämpfen. Er könnte …
Langsam schüttelte er den Kopf. „Fast wünschte ich, es wäre so. Dann wäre es nicht er gewesen, der all die Unschuldigen ermordet hat. Nichts davon wäre sein Vergehen. Und wenn der Bann erst gebrochen wäre, könnte alles wieder wie früher sein. Doch ich weiß, dass es nicht so ist. Mein Bruder ist noch immer er selbst.“
„Ja.“, gab Kentar ungerührt zu. „Die Fesseln, die ihn binden, hat er allein sich angelegt. Dennoch war es lustig, deine Reaktion zu sehen.“ Sie schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Und jetzt gib mir deine Hand.“ Leander zögerte. „Ach komm, ich will dir nichts antun. Das erfordert eine gründliche Vorbereitung. Wir haben gerade erst angefangen.“
Seufzend hielt Leander ihr die Hand hin und spürte, wie ein rauer Klumpen in seine Handfläche gelegt wurde. Vorsichtig betastete er ihn. Ein vollkommen unauffälliger Stein an einer feinen Kette, allerdings strahlte er leichte Wärme aus. „Was ist das?“
„Dies ist die ungeweinte Träne einer Göttin. Der letzte, fehlende Stein eines kristallenen Kerkers. Er enthält die Verzweiflung eines ganzen Volkes. Die Trauer und den Schmerz meiner Mutter. Selbst sie musste diese Gefühle von sich stoßen, um nicht daran zu zerbrechen. Kein sterblicher Geist übersteht den roten Stein unbeschadet.“
Probehalber zog Leander am Stein, doch scheinbar hielt Kentar die Kette gut fest. „Oh, du bist lustig!“, kicherte sie. „Du würdest es nicht aushalten, den Stein ganz für dich zu haben, glaub mir. Ich wollte nur, dass ihr euch schonmal vertraut miteinander macht. Du wirst noch viel Zeit haben, ihn genauer kennen zu lernen.“
Sie entzog ihm den Stein und legte stattdessen eine Kugel aus zusammengerollten Kräutern in seine Handfläche. „Und jetzt schluck das.“
Leander lachte heiser. „Ich denke nicht.“
„Was denkst du, habe ich dir gegeben? Ich will dich nicht vergiften, das wäre doch viel zu schade.“
Seufzend hob Leander die Kräuter unter seine Nase und schnupperte leicht. Zauberhutpilze, Wolfskraut, Mithasis und eine erdige Note, die er nicht ganz zuordnen konnte.
„Diese Kräuter werden dich stärken.“, fuhr Kentar fort. „Sie halten dich am Leben, damit du nicht zu früh stirbst. Sie erweitern deine Sinne, auf dass du meine Kunst unbeschränkt erfahren kannst. Sie intensivieren das Erlebnis.“
Leander ließ die Kugel fallen. „Tut mir leid, aber manches muss ich nicht intensiver erleben.“
Kentar lachte warm. „Ja! Sehr gut! Behalte deine Hoffnung! Deinen Widerstandsgeist! Zögere das Unvermeidliche heraus! Das alles nährt die Verzweiflung nur noch mehr! Ich will sehen, wie alles auf einmal zerbricht! Es wäre doch langweilig, wenn du jetzt schon aufgibst! Ich habe hohe Erwartungen an dich, Leander.“
Sie verstumme und ergänzte nach einiger Zeit nachdenklich: „Am wichtigsten ist sowieso, dass du den Stein berührt hast.“
Leander ballte die Fäuste. Verfluchte Neugierde! Er hatte es doch gewusst! „Wieso hast du ihn mir wirklich gegeben?“, fragte er verärgert über sich selbst.
„Deine Persönlichkeit ist jetzt in ihn geprägt. Deine Verzweiflung. Deine Wünsche. Deine Ängste. Ich muss mein Instrument erst kennenlernen, nur so kann ich ihm die vollkommensten Melodien entlocken. Ich muss wissen, was dich wahrhaft leiden lässt. Ich muss wissen, wovor du dich fürchtest. Zeig mir deine tiefste Angst!“
Beklommen überlegte Leander, ob er versuchen könnte, ihr den Stein doch noch zu entreißen. Sein Arm müsste zwischen den Gitterstäben hindurchpassen…
Plötzlich prustete Kentar los. Es steigerte sich schnell zu einem kreischenden, nicht enden wollenden Gackern, das nur unterbrochen wurde, wenn sie vor Lachen keine Luft mehr bekam. Nach etlichen Herzschlägen setzte sie an, etwas zu sagen, doch wurde von einem neuen Lachanfall unterbrochen. Seufzend wartete er, bis sie sich etwas beruhigt hatte.
„Na toll, jetzt habe ich – hick – Schluckauf! Oh, ich … ahaha … habe mich schon ewig nicht mehr so amüsiert! Welch Ironie! Ahahaha! Der Blinde fürchtet si…ick! … vor der Dunkelheit! Ahahahahaa!“
„Bist du fertig?“, fragte Leander betont genervt.
„Vor der Dunkelheit!“, prustete Kentar nur, dann wurde sie schlagartig ernst. „Doch es ist gar nicht die Dunkelheit selbst, habe ich recht? Die Dunkelheit ist nur ein Sinnbild für das Unbekannte. Das Unbestimmte. Das Unvorhersehbare. Das Rätsel, das keine Antwort kennt. Die Anomalie, für die es keine Erklärung gibt. Das, was kein Geist verstehen kann, weil es nicht zu verstehen ist. Weil es keine Regeln und keine Muster gibt und weil es in sich selbst allem widerspricht, was dein Verstand greifen kann. Ist es nicht so?“
Leander schwieg.
„Na, dann eben nicht.“, murmelte sie. „Doch so aufschlussreich das auch war, da ist noch mehr. Noch eine Angst… Ahh, ja. Natürlich. Die Helden von Andor. Deine … Freunde. Du hast Angst um sie. Um ihr weiteres Schicksal. Angst, dass sie verlieren werden.“ Ihre sanfte Stimme nahm einen nachdenklichen Klang an. „Interessant ist nur, dass du in diesem Bild nicht auftauchst. Trotz allem begreifst du dich noch nicht als einer von ihnen. Trotz allem bist du allein.“
Leander musste husten. Schwach griff er nach den Gitterstäben, als der Schwindel zurückkam. Seine Beine zitterten, doch innerlich fühlte er sich erstaunlich ruhig.
„Und da ist noch etwas.“, flüsterte Kentar. „Eine dritte Angst, die noch tiefer liegt. Die dein ganzes Wesen ausmacht. Zeig sie mir! Was verbirgt sich dort?“ Sie verstummte. „Nun, es sollte mich wohl nicht überraschen.“, sagte sie schließlich. „Du kennst Callem besser als jeder andere. Du kennst seine ganze Grausamkeit, seine Rücksichtslosigkeit, seine Kälte, seine Gier nach Macht und Ruhm. Welchen Grund hättest du, den Kapitän der Schwarzen Kogge nicht zu fürchten?“
Leander konnte sich nicht halten. Er lachte höhnisch los.
„Was? Was ist?“, fragte Kentar hörbar verwirrt.
„Du bist so ahnungslos! So naiv. Der rote Stein mag mich verstehen, doch du tust es nicht!“
„Wovon sprichst du?!“, herrschte sie ihn an.
Leander schüttelte nur den Kopf. „Du begreifst noch immer nicht?“ Er lachte stumm. „Glaub, was du willst.“
Zum ersten Mal wirkte sie verunsichert, und Leander genoss es. Warum konnte sie die Wahrheit nicht erkennen? Weil sie nur die eine Seite von Callem kannte? Weil sie nicht imstande war, irgendjemanden zu lieben? Leander seufzte leise. Er könnte seinen Bruder niemals fürchten. Seit er denken konnte, hatte Callem ihn beschützt und geleitet, stets hatte er sich in seiner Gegenwart sicher gefühlt. So vieles war zerbrochen, doch das würde sich niemals ändern. Leander hatte keine Angst vor Callem. Er hatte Angst um ihn.
„Ich werde es schon noch herausfinden.“, zischte Kentar wütend. „Wir werden so viel Zeit miteinander haben.“
Ohne Vorwarnung presste sich eine kalte Hand auf seine Stirn, auf seiner Haut spürte Leander die raue Oberfläche des roten Steins. Fast lautlos hauchte Kentar: „Ich freue mich schon auf all die …“
„Kentar!“, sagte da eine kalte Stimme. Eine Stimme, die er überall erkannt hätte. „Hierher. Sofort.“, flüsterte Callem.
Er konnte brüllen. Er konnte jähzornig sein. Als Kapitän musste er das auch. Doch wenn sein Bruder wirklich wütend war, dann schrie er nicht. Er rastete nicht aus. Er wurde aufmerksam und ruhig, und wer ihn nicht gut kannte, wer die Schärfe in jeder Silbe überhörte und nichts bemerkte von dem Meer aus Zorn, das in ihm brodelte, der musste glauben, alles wäre in Ordnung. Wenn Callem wahrhaft wütend war, dann zeigte er es nicht.
Einmal, während ihrer Zeit auf der Straße, war Leander von einem anderen Bettler bedroht worden. Der kleine Junge mit blauer Haut hatte sich geweigert, das Geld abzugeben, das er sich mühsam erbettelt und erstohlen hatte. Callem war erschienen, bevor der Bettler ihm etwas tun konnte, mit gefährlich leiser Stimme. Ruhig und beherrscht. Selbst, als er dem Bettler sein Messer in den Hals stieß, hatte er mit keiner Wimper gezuckt.
Jetzt war Callems Stimme noch leiser als damals.
Auch Kentar musste sich ihrer Situation zumindest in Ansätzen bewusst sein. „Gewiss, Kapitän.“, sagte sie ergeben, ließ die Hand sinken und beeilte sich, Leander zu verlassen. Doch bevor sie ging, hörte er sie noch flüstern: „Dein Bruder wird nicht immer zur Stelle sein. Bis bald, Seher.“ Ihre Schritte entfernten sich und bald hatte sie die beiden Brüder allein gelassen.
Leander entspannte sich etwas. „Danke, Bruder.“, begann er. Bevor er noch mehr sagen konnte, wurde er von einer schrecklichen Hustenattacke niedergerungen, die so lange dauerte, dass Leander kurz befürchtete, sich das Leben aus dem Leib zu husten. Er schmeckte Blut. Als er endlich wieder frei Luft holen konnte, war der Atem seines Bruders verschwunden. Erschöpft schleppte Leander sich zu seiner Pritsche zurück.


Früher Nachmittag, 26. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See südlich von Werftheim, Hadrisches Meer

Nachdenklich betrachtete Leander die fein säuberlich sortierten Schränke und Schubladen in seiner Hütte der Erinnerung. „urothunatt mjelar krisslommar keetom sovatissog turgedog aykal eaf arauthog efrylen thinghudylen.“, flüsterte Leander. „Dieser Kreislauf wird bewacht durch den sovatissog turgedog der Zeit und arauthog der drei Herzen.“ Er hatte sich lange genug mit der Tafel des Themauras beschäftigt, als dass er die echte Tafel, die wohl noch immer an Bord der Aldebaran II oder mittlerweile in Cavern war, noch gebraucht hätte.
Langsam schloss er das kleine Kästchen. Zu Lebzeiten hatte es getrocknete Zauberhutpilze beinhaltet, deren Rauch er in den ersten Monden seiner Blindheit eingeatmet hatte, um seine Visionen zuverlässiger herbeizurufen, ehe er begriff, wie schnell er sich vergiftete. Das Kästchen verbreitete den dunstigen Duft auch hier, in seiner Fantasie, in der ganzen Hütte. Leander hatte eine Sammlung verschiedener Schriften zu Wahrträumen darin abgelegt, und durch Zufall war auch das alte Barbarenwort turgyr, Traum, erwähnt worden, womit turgedog dann Träumer hieß.
Nachdem er außerdem aus einem Buch über Heilkräuter die Redewendung „sovatatt paethor yth aykag“, „Der Tod wächst mit der Zeit“, gefunden hatte, wäre sovatattissog die korrekte Übersetzung von wachsend. sovattissog hingegen war dann höchstwahrscheinlich von sovyr abgeleitet und hieß ruhend oder schlafend.
Dieser Kreislauf wird bewacht durch den schlafenden Träumer der Zeit und arauthog der drei Herzen.
Nur ein Wort fehlte noch, und so gründlich, wie er seine Hütte der Erinnerungen bereits durchsucht hatte, musste er sich wohl damit abfinden, dass er es hier nicht finden würde.
Nicht, dass es noch irgendeinen Unterschied machte, ob er den Text des Themauraus vollständig übersetzte oder nicht. Er könnte mit seinen Erkenntnissen dem Ewigen Rat von seiner Zelle aus nicht schaden. Nein, der Grund, weshalb er sich weiter an der Übersetzung versuchte, war pure Neugierde; er wollte die tieferen Zusammenhänge begreifen, wollte verstehen, was Themauras ihnen hatte mitteilen wollen, und welcher Bezug zu seinen unzuverlässigen Visionen bestand, oder zu der Prophezeiung Hrals, die angeblich nicht eintreffen würde. Neugierde, vielleicht ein wenig Sturheit – immerhin war er schon weiter gekommen als erwartet – und natürlich der Mangel an sonstiger Beschäftigung.
Seufzend wedelte Leander des Duft der Zauberhutpilze fort. Da er bei der Übersetzung keine Fortschritte machte, widmete er sich wieder Hrals Prophezeiung:
Wenn der gezeichnete Verkünder entsteht,
und in falscher Ordnung wieder vergeht,
finden die, welche ohne Argwohn verbrannten,
der Sklavenschinder Ende, das sie nicht erkannten,
den reglosen Herrscher in ewiger Wacht,
den Wächter, der aus Stehen Werden macht,
wo zusammenflossen Blut der Ewigkeit,
der Staub des Todes und das Wasser der Zeit,
und wenn sie nur seinen Namen sagen,
wird er erwachen und das Unheil vertagen.

Es half nichts. Die, welche ohne es zu erkennen der Sklavenschinder Ende verbrannten, waren aller Wahrscheinlichkeit nach noch immer die Helden, die den Schwarzen Baum zerstörten. Der reglose Herrscher könnte der geheimnisvolle schlafende Träumer der Zeit sein, oder auch nicht. Das Blut der Ewigkeit gehörte wohl zum dritten Herzen, doch das vervollständigte das Bild nur, ohne beim Lösen des Rätsels zu helfen. Und noch immer wusste Leander nicht, ob es überhaupt lohnenswert war, sich mit einer Prophezeiung zu beschäftigen, die ohnehin nicht eintreffen würde – in beiden möglichen Ausgängen, was immer das genau bedeuten mochte.
Nur ein neuer Gedanke war ihm gekommen, eine Idee zu den ersten beiden Versen. Wenn der gezeichnete Verkünder entsteht… Wie magisch wurde sein Blick von der Ebenholzschatulle angezogen, die noch immer offen auf dem Tisch lag. Die ersten sechs Erinnerungen hatte er sich wieder ins Gedächtnis gerufen, doch eine fehlte noch. Die vielleicht wichtigste von allen. Er hatte lange gezögert, noch einmal den Klang der Entscheidung zu hören, sich noch einmal seiner Gleichgültigkeit zu erinnern … Doch jetzt hatte er die vorletzte Perle, die in allen Farben schimmerte, hinter sich. Nun fehlte noch die letzte Perle. Die letzte Erinnerung. … der gezeichnete Verkünder …
Leander trat neben den Kasten und legte seine Hand auf den roten Samt. Ließ seinen Blick über die Reihe aus sieben Perlen streifen, bis er auf der hintersten ruhte. Perfekt rund geschliffen, glatt und doch so tiefschwarz, das sich nichts je in ihr spiegelte. Passend. Er hielt zögernd seine Finger darüber, bereit sie zu berühren. Was hielt ihn noch zurück? Wenn Hrals Prophezeiung noch irgendeine tiefere Bedeutung hatte, wenn er wirklich verstehen wollte, wie alles zusammenhing, dann gab es keinen Weg daran vorbei. Wenn der gezeichnete Verkünder entsteht… Was war ein Herold denn anderes als ein Verkünder?
Eine plötzliche Berührung an seiner Schulter ließ ihn aufschrecken, ehe er die Perle berühren konnte. Die Hütte der Erinnerung faltete sich zusammen und nur die Dunkelheit seines wachen Geistes blieb zurück.
„Ruhig“, sagte traurig eine tiefe Stimme an seiner Seite. „Ich tue dir nichts.“
Leander hustete keuchend als Antwort. Er war so versunken in seine Überlegungen gewesen, dass er nicht mitbekommen hatte, wie der andere seine Zelle betreten hatte.
„Ich bin Thogger.“, sagte die Stimme, nachdem er zur Ruhe gekommen war. Der alte Tarendruide also. Was wollte er? Als hätte er seine Frage gehört, antwortete der Tarus: „Der Kapitän schickt mich. Ich soll sehen, was ich gegen den Husten tun kann. Und ich vermute, ich soll als zusätzliche Sicherheit dienen, damit Kentar sich nicht an dir vergreift. Ich bin ehrlich erstaunt, dass sie es nicht längst getan hat.“
„Sie hat es versucht.“, antwortete Leander heiser. „Sie wurde unterbrochen, ehe sie wirklich anfangen konnte.“ Widerstandslos ließ er es zu, dass Thogger seinen Mantel abstreifte und mit kräftigen Händen sorgfältig seine Brust betastete.
„Sie wird es wieder versuchen.“, murmelte Thogger. „Diese Mannschaft ist ihre kleine Sammlung. Wann immer sie jemanden mit besonderen Fähigkeiten in die Finger bekommt, lässt sie nicht mehr locker, bis er sich uns anschließt – vorzugsweise hat sie vorher noch ihren Spaß mit den Gefangenen.“ Thoggers Stimme wurde so leise, dass Leander sich fragte, ob die Worte wirklich noch an ihn gerichtet waren.
Plötzlich presste sich ein gedrehtes Horn in seine Rippen, als Thogger versuchte, sein Ohr auf Leanders Brustkorb zu legen. „Tief einatmen.“, forderte der Tarus. Leander tat wie geheißen. Das tiefe Rasseln wäre bis außerhalb der Zelle zu hören gewesen.
„Oh, das klingt nicht gut.“
„Danke, dessen bin ich mir bewusst!“, erwiderte Leander bissig. Ruhiger ergänzte er: „Du sagst also, ich sollte lieber gleich aufgeben und mich Callem anschließen, bevor sie mich dazu zwingt?“
Thoggers Kopf verschwand von seinem Brustkorb und der Mantel wurde ihm wieder in die Hand gedrückt. Leander streifte ihn schnell über, auch wenn die fröstelnde Kälte nicht von außen auf ihn einströmte, sondern sich tief in ihm festgesetzt hatte.
Mit einiger Verspätung ertönte ein heiseres, gefühlloses Lachen. „Sie wird dich nicht in Ruhe lassen, nur weil du Treue vorgaukelst, Leander. Sie wird sichergehen, dass du es ernst meinst. Und wenn Kentar sichergehen will, dann hältst du keine Lüge lange durch. Bist du bereits Monster genug, um der Schwarzen Kogge zu folgen? Wenn nicht, wird sie dich dazu machen.“
Ein kleines Fläschchen wurde in seine Hand gedrückt. „Trink zweimal am Tag je zwei Schlücke. Ich braue dir noch mehr davon, wenn nichts mehr übrig ist.“
Leander löste den Korken und nahm einen Schluck. Die Flüssigkeit war eiskalt, bitter und etwas schleimig – kurzum, sie schmeckte grauenhaft. Dennoch würgte er ohne zu zögern noch einen Schluck herunter.
„Sie kontrolliert auch dich, oder?“, fragte er dann.
Thogger seufzte zitternd. „Kontrolliert? Ich wünschte, es wäre so einfach. Sie kontrolliert mich nicht, Leander. Sie brachte mir den Schmerz, die Verzweiflung, die Trauer. Sie lieferte mich meinen tiefsten Ängsten aus, sie streute Gift in meinen Geist, bis ich anfing, mich zu verändern. Es ist keine Kontrolle, Leander, kein Zauberbann, kein Fluch. Es ist schlimmer. Sie lockte meine dunkelsten Seiten ans Tageslicht. Sie zerbrach alles Gute in mir. Doch was übrig bleibt bin noch immer … ich. Ein schreckliches, verändertes Ich, doch noch immer ich. Alles, was ich getan habe, habe ich getan. Alles, was ich immer wollte, war mein Volk zu beschützen … und doch hätte ich die Hälfte der Taren ausgelöscht. Es war genau dieser Wunsch, der mich dazu trieb. Der Wunsch, sie vor sich selbst zu schützen.“
Ein Laut ertönte, der ein Schluchzen oder ein Keuchen sein könnte. „In klaren Momenten wie diesen weiß ich, wie dumm das ist. Doch wenn erst der nächste Angriff kommt, dann wird das alles egal sein. Dann werde ich doch wieder nur denken, das alles für mein Volk zu tun, egal wie unsinnig es ist. Ich kann mir nicht helfen, Leander.“
Leander schluckte. „Du hast nie versucht … das umzukehren? Dich zu widersetzen? Davonzulaufen, bis ihr Einfluss dich verlässt?“
Togger lachte bitter. „Als Kentar von Varatans Fluch getroffen wurde und die Welt vergaß, mich vergaß, da wurde es besser. Es hat viele Jahre gedauert, Jahre, in denen ich als Hoher Schamane mein Volk leitete, in denen ich die Steppen des Ostens und die Berge des Südens durchwanderte, doch ich konnte wieder zu mir zurückfinden. So dachte ich zumindest. Aber als ich erst wieder auf Narkon war, da … Sie musste nichts tun, Leander. Nichts! Ihr Anblick hat gereicht! Alles, was sie aus mir gemacht hatte, war noch immer irgendwo hier drinnen.“ Er holte tief Luft. „Vor einem Zauberbann könnte ich davonlaufen. Doch nicht vor mir selbst. Egal wohin ich flüchte, egal wie viele Jahre verstreichen, am Ende wird dieser Teil von mir nicht mehr verschwinden. Vielleicht habe ich irgendwann die Kraft zu flüchten. Dann werde ich gehen an einen Ort, an dem ich sicher bin vor mir selbst. An einen Ort, von dem ich nicht mehr zurückkommen kann. Dann werde ich … diesen Teil von mir töten. Selbst wenn der Rest dafür mitsterben muss.“
Er verstummte, erhob sich und verließ die Zelle. Das Gitter fiel mit einem lauten Klingen zu. „Flieh, Leander. Wenn du wirklich nicht willst, dass mit dir geschieht, was aus mir wurde, dann flieh. Geh, wohin sie dir nicht folgen kann. Lass alles zurück.“
Leander verstopfte das Medizinfläschchen wieder und verstaute es in seiner Tasche. „Es ist unmöglich, sich zu widersetzen?“, fragte er heiser.
Thoggers Schritte, die sich schon entfernt hatten, hielten inne und kehrten zurück. „Einst überfielen wir ein Handelsschiff aus Hadria. Wir hofften auf reiche Beute, doch an Bord fanden wir etwas besseres. Ein Mädchen aus Hadria. Eine Zauberin. Ean Quella. Sie war … ich habe nie einen besseren Menschen getroffen. Sie war so rein, so unschuldig. Sie war unterwegs, um Fremden zu helfen, wo sie konnte. Um ihre Kräfte zu erproben und sie dereinst in den Dienst Hadrias zu stellen. Nichts sonst. Sie strebte nicht nach Macht, nicht nach Reichtum, nichts. Wir sperrten sie in eine Zelle; alleine, nachdem sie zuvor noch versucht hatte, ihren Mitgefangenen zu helfen. Selbst die Ratten, die sich sonst über unsere Opfer hermachten, liebten sie. Callem wollte sie auf unsere Seite ziehen, doch das war von Anfang an vergeblich. Sie hätte keiner Fliege etwas zuleide getan. Also … ließ er Kentar ihr Werk verrichten.“
Thogger schwieg so lange, dass Leander schon glaubte, der Tarus sei fertig, doch irgendwann holte er tief Luft und fuhr fort: „Sie wehrte sich lange, länger als ich für möglich gehalten hätte. Fast zwei Monde konnten wir jede Nacht ihre Schreie hören. Dann war es vorbei. Wir alle dachten, es wäre zu viel und sie wäre gestorben … und wir hatten recht. Sie war tot. Alles, was sie einst ausgemacht hatte, war verschwunden. Ihre Persönlichkeit war nicht zerbrochen, denn dann wären Scherben zurückgeblieben, die man noch weiter hätte zerkleinern können. Doch bei ihr war nichts mehr übrig, das man noch zerstören könnte. Sie war zu Staub zermahlen. Sie isst, wenn wir ihr befehlen zu essen, schläft, wenn wir ihr befehlen zu schlafen, mordet, wenn wir ihr befehlen zu morden. Der Hass auf sich selbst ist das einzige, was sie noch am Leben hält. Seit bald zweihundert Jahren. Sie hat seitdem kein Wort mehr gesprochen.“
Leander holte rasselnd Luft. Er würde nicht so enden, das wusste er. Kentar brauchte nicht viel, um ihn zu verändern. Sie musste nur wieder aus ihm machen, was er den Großteil seines Lebens gewesen war. Sie musste nur die Liebe zu seinem Bruder befeuern, bis alles andere zurück in Gleichgültigkeit versank. Er hatte sich nie unter das Wappen der Schwarzen Schlange gestellt, war nie zum Piraten geworden, doch kein schlechtes Gewissen hatten ihn abgehalten, nur seine Seekrankheit und der Wunsch nach Zurückgezogenheit. Sie wird leichtes Spiel mit mir haben.
„Nur einem ist es je gelungen, sich ihr zu widersetzen.“ Leander horchte auf. „Es ist noch nicht lange her. Ein Hautwandler, der sich in einen Bären verwandeln konnte. Eine perfekte Ergänzung für Kentars Sammlung. Callem konnte ihn nicht überzeugen, also versuchte sie es. Doch er flüchtete sich in die Gestalt eines Bären. Kentar konnte ihm Schmerzen zufügen, sie brachte ihn zur Tollwut, bis er sich selbst zerfleischte und wild nach allem schnappte, was sich ihm näherte. Doch es gelang ihr nicht, ihn zu zerbrechen. Seine Ängste waren anderes als die unseren. Kentar konnte sie nicht für ihre Zwecke nutzen. Nach allem, was ich gehört habe, ist er jetzt an der Seite der Helden von Andor… Ich nehme an, du kennst ihn sogar?“
Oh, Drukil, was hat sie dir angetan?
Wortlos nickte Leander.
„Solange du deinen Geist nicht auf dem gleichen Weg verstecken kannst, wird sie ihn zerbrechen.“
Fast war Leander versucht. Er wollte nicht so enden. Er wollte nicht werden wie früher. Doch sobald er an seinen Bruder dachte, sobald er überlegte, was Callem durchleiden müsste, sollte er sich das Leben nehmen, sobald er sich vorstellte, wie er sich an dessen Stelle fühlen würde, wusste er, dass er es nicht konnte. Das konnte er seinem Bruder nicht antun.
Trotzdem sollte er sich wohl alle Möglichkeiten offenhalten. „Könnte ich ein Messer bekommen?“, fragte er und fasste sich geistesabwesend an den Hals.
„Du brauchst keines. Ich habe dir etwas besseres gegeben.“, erwiderte Thogger leise. „Deine Medizin … Zwei Schlücke jeden Morgen und Abend heilen dich. Doch solltest du alles auf einmal trinken, so wirst du einschlafen und nicht wieder aufwachen … Die Entscheidung liegt bei dir.“
Ohne ein weiteres Wort ging er. Leander hielt ihn nicht zurück. Es gab keine Fragen mehr.
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S - Die Bande, die halten (Fortsetzung)

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:28

Später Nachmittag, 26. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See südwestlich von Werftheim, Hadrisches Meer

… Dunkelheit…

… ein in rotes Licht getauchter runder Turm aus Stein, die grüne, mit einer weißen Blume verzierte Fahne im Wind flatternd, ein gewaltiger blutroter Hahn vom rietgedeckten Dach herunter krähend...

… Dunkelheit…

… eine Krone, die regelmäßigen gebogenen Zacken golden schimmernd…

… Dunkelheit…

… ein schlanker Mann mit Spitzbart und Halbglatze, das Auge eines Drachen zwischen seinen Händen…

… Dunkelheit…

… ein steinerner Boden, von bedrohlichen Rissen durchzogen…

… Dunkelheit…

… ein im Schnee kauerndes Mädchen in brauner Kutte, ihr Haar fast so golden wie ihre Augen…

… Dunkelheit…

… Dunkelheit…

… Dunkelheit…


Leander keuchte. Sein rasselnder Atem ging schwer. Nur langsam beruhigte er sich. Er musste eingeschlafen sein, und seine Vision … So war es noch nie gewesen. So viel Dunkelheit! Die unerklärliche Angst saß ihm noch immer in jedem Knochen.
Er setzte sich vorsichtig auf, lehnte den Hinterkopf an die Schiffswand und atmete langsam aus und ein, um ja keinen weiteren Hustenanfall zu provozieren.
Was hatte es nur mit dieser Dunkelheit auf sich? Normalerweise schob er jeden Gedanken an sie beiseite, doch so präsent, wie sie in seinen Visionen inzwischen war, hatte es keinen Sinn mehr, davonzulaufen. Er wollte doch wissen, wie alles zusammenhing, oder nicht? Die Dunkelheit, die dich verfolgt, wirst du nicht mehr erleben. Er seufzte.
Also. Dunkelheit. Was sollte ihm das sagen? Was sollte das bedeuten? Dunkle Magie? Hatte er früher schon oft genug gesehen, als er versucht hatte, mehr über die Blutlinie Varatans herauszufinden. Der Tod? Ein klarer Widerspruch zur Weissagung der drei Schwestern. Eine bewölkte Nacht, oder eine unbeleuchtete Höhle? Das Fehlen von Lichtquellen war für seine Gabe noch nie ein Hindernis gewesen. Ich habe es versucht. Ich habe nachgedacht, doch nichts scheint plausibel. Also konnte er die Fragen ruhen lassen, oder? Nichts scheint plausibel. Er konnte sich wieder hinlegen und in seiner Hütte der Erinnerung nach dem letzten Wort suchen. Nichts scheint plausibel. Warum ließ ihn dieser Gedanke nicht los? Nichts … scheint plausibel.
Nichts… Dunkelheit zu sehen, war das nicht eigentlich ein Widerspruch? Eigentlich sah er nur … nichts. War es das, was seine Vision ihm zeigte? Dass sie ihm nichts zeigen konnte? Wenn ja, was sollte das bedeuten?
Leander sah die Zukunft. Er sah, was sich zwangsweise ereignen musste. Wenn er nun nichts mehr sah, hieß das dann, dass es … keine Zukunft gab? War es doch sein Tod? Plötzlich war er sich unsicher, ob diese Deutung wirklich einen Widerspruch zur dreistimmigen Drohung des Orakels der Geister war. Die Dunkelheit, die dich verfolgt, wirst du nicht mehr erleben. Den Tod würde er per Definition nicht erleben.
Leander schüttelte schwach den Kopf. Nein, es gab genug Berichte von Sehern, die Ereignisse lange nach ihrem Tod vorausgesehen hatten – und von anderen, die versucht hatten, ihren eigenen Tod zu verhindern. Auch sie hatten keine Dunkelheit gesehen, sondern den Moment ihres Todes. Die Dunkelheit musste etwas anderes bedeuten. Nicht, dass es keine Zukunft gab, sondern …
Kein Plan konnte uns helfen, doch das Schicksal wies uns den Weg.
Ein Gedanke erfasste ihn, beängstigend und befreiend zugleich.
Wenn sie sie richtigen Ohren erreicht, wird die Prophezeiung in beiden möglichen Ausgängen nicht eintreffen.
Ein Gedanke, der allem widersprach, woran er bisher geglaubt hatte.
Die Dunkelheit ist nur ein Sinnbild für das Unbekannte. Das Unbestimmte. Das Unvorhersehbare. Das Rätsel, das keine Antwort kennt. Die Anomalie, für die es keine Erklärung gibt. Das, was kein Geist verstehen kann, weil es nicht zu verstehen ist. Weil es keine Regeln und keine Muster gibt und weil es in sich selbst allem widerspricht, was dein Verstand greifen kann.
Er lachte laut, bis ein Husten daraus wurde, und selbst dann noch kicherte er zeitgleich. Keine gesunde Kombination. So lange hatte er die Dunkelheit nicht begriffen, hatte nicht sehen wollen, was sie ihm sagte, und das hatte ihm Angst gemacht. Doch jetzt, auf einen Schlag, verschwand jede Furcht. Jetzt endlich begriff er. Die Dunkelheit seiner Visionen unterschied sich nicht von der, von der er tagtäglich umgeben war. Sein Erstes und sein Zweites Gesicht, sie beide waren blind. Seine Visionen zeigten ihm, was sich ereignen musste. Doch was, wenn es tatsächlich etwas gab, was sich nicht ereignen musste? Was, wenn ein Moment nahte, dessen Ausgang nicht feststand? Zwang oder Zufall. Was, wenn es ein einziges Mal das zweite war? Ein Augenblick, der alles weitere in Dunkelheit tauchte?
Er presste einen Ärmel vor den Mund, bis der Husten verging. Langsam schluckte er den Blutgeschmack herunter. Doch während sein Körper verfiel, arbeitete sein Geist unermüdlich. Eine Furcht war verschwunden, die ihn viel zu lange davon abgehalten hatte, von seiner Gabe Gebrauch zu machen. Es gab so viele Fragen, die sie ihm beantworten konnte.
Er vertraute seinen Visionen nicht, zu leicht hatte er sich geirrt. Doch am Ende zeigten sie nur, was geschehen musste. Er konnte sie falsch deuten, doch mit genug Vorsicht sollte er wertvolle Erkenntnisse aus ihnen gewinnen.
Was hatte es mit dem roten Hahn auf sich? Was mit dem Mädchen im Schnee und den seltsamen Rissen? Und hatte er nicht Ken Dorr gesehen, mit einem Drachenauge in den Händen? Ein schwarzes Juwel dieses Namens war verschwunden, während sie in Silberhall in der Schatzkammer waren, und auch wenn Leander bislang geglaubt hatte, dass Ken Dorr für einen Diebstahl weder die Möglichkeit noch das Motiv gehabt hatte, so würde er es schon noch herausfinden. Alles würde er herausfinden. Die Pfade, von denen er sich abgewandt hatte, standen ihm alle wieder offen. Er würde jeden einzeln beschreiten.


Frühe Nacht, 26. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See nördlich von Sidra, Hadrisches Meer

Vertraute Schritte brachten ihn aus seinen Überlegungen. Reglos wartete er, bis sie vor seiner Zelle anhielten. „Bruder.“, sagte er dann.
„Du bist aufgebracht.“, erwiderte Callem anstatt einer Begrüßung. Es war keine Frage.
„Ja.“, gab Leander zu. Dass sich, wie immer, eine tiefe Ruhe in ihm ausbreitete, kaum dass Callem bei ihm war, erwähnte er nicht. „Ich habe etwas herausgefunden. Meine Gabe hat mich ein weiteres Mal getäuscht. Ein Bild, das ich nicht verstand, verursachte eine Angst, die ich nicht bekämpfte. Fast als wollte meine Gabe nicht…“
„Dass du deine falschen Interpretationen hinterfragst?“, beendete Callem den Satz. Leander nickte stumm.
„Woher kommen deine Visionen, Bruder? Wer schickt sie dir?“
„Niemand. Die Vorsehung. Ich selbst.“ Leander zuckte mit den Achseln. „Da ist keine höhere Macht, die mein Schicksal bestimmt, außer der Fluss der Zeit und die Kette von Ursache und Wirkung.“
„Und woher weißt du das?“, fragte sein Bruder leise.
Leander schüttelte langsam den Kopf. „Ich rufe meine Visionen selbst herbei. Ich allein entscheide …“ Er hielt inne, als er sich eingestand, dass das nicht stimmte. Die Dunkelheit, den brennenden Baum, das Gesicht seines Bruders – nichts davon hatte er herbeigerufen. Die Visionen hatten ihn einfach überfallen. Weil sie wichtig für ihn waren, so hatte er gedacht. Er zögerte. … und während unser Reich erblühte, bekamen wir alle nur gezeigt, was wir sehen sollten.
Leander schluckte. Es war nicht so, dass er zum ersten Mal über diese Frage nachdachte. Die Zukunft sehen… Was hieß das schon? Welche Zukunft? Ein Seher, der sich selbst unter einem Baum begraben sah, würde den Wald meiden und stattdessen in eine Schlucht stürzen. Einer, der sich ertrinken sah, keinen Fuß mehr auf ein Schiff setzen und im hohen Alter am Husten sterben. Jede Vision, die er jetzt sah, würde beeinflussen, wie er sich in Zukunft verhielte. Wenn er sähe, was ohne seine Visionen eingetreten wäre, dann würde es durch eben diese Vision verändert. Sah er stattdessen diese veränderte Zukunft, wäre auch die Vision eine andere, und das Ergebnis eine neue, dritte Zukunft, die wiederum eine andere Vision erforderte, die in eine andere Zukunft führte… Jede Vision verhinderte sich selbst. Ein infiniter Regress.
Doch es gab unter den unzähligen Bildern, die er sehen könnte, einige, ganz wenige, die anders waren. Die genau die Zukunft hervorriefen, die sie selbst zeigten. Die sich selbst zur Wahrheit machten. Und von diesen wenigen Visionen, die in Frage kamen, sah er genau eine. Doch wer wählte aus, welche davon?
„Und wer sollte es sein, der mir diese Bilder zeigt?“
„Was weiß ich. Ein Dunkler Magier vielleicht.“, schnaubte Callem.
Leander musste lächeln. Wenn es doch so einfach wäre! Am Ende war die Frage, weshalb er gerade diese Bilder sah, wohl ebenso zielführend wie die Frage, weshalb ein losgelassener Stein nach unten fiel, oder nach der Ursache der Wirklichkeit. Alle Antworten, die sich finden ließen, würden nur noch mehr neue Fragen aufwerfen. Und am Ende stieß man auf nichts als das blinde Schicksal, das den Fluss der Zeit bestimmte wie ein gleichgültiger Gott.
„Wir halten unseren Geist für frei von allen Einflüssen, bis wir irgendwann bemerken, dass etwas herausgeschnitten wurde. Dass alles, was wir zu sein glauben, nur ein Bruchteil dessen ist, was wir wahrhaft sind.“, fuhr Callem fort. „Bis wir erkennen, dass etwas fehlt, was immer ein Teil von uns war, dass wir verkrüppelt und verflucht sind und niemals wieder sehen werden, was uns genommen wurde, selbst wenn es direkt vor uns ist und…“ Callem holte tief Luft und verstummte.
Leander stand auf und trat ans Gitter, bis er von der anderen Seite den Atem seines Bruders im Gesicht spüren konnte. „Varatans Fluch ist gebrochen. Du kannst wieder sehen, Bruder. Und auch ich kann wieder sehen. Ich habe mein inneres Auge wieder geöffnet. Und ich habe gesehen. Ich habe … verstanden.“
„Was hast du verstanden, Leander?“
„Vieles. Ich habe verstanden, was sich hinter der Dunkelheit verbirgt. Ich habe verstanden, welche Pläne Ken Dorr verfolgt, welches dreifache Spiel er in Wahrheit spielt. Er ist nicht auf unserer Seite, doch auch nicht auf eurer. Vertraue ihm niemals, Bruder, in mehr kann ich dich nicht einweihen. Vor allem jedoch habe ich verstanden, was meine Aufgabe ist. Was ich tun muss, um den Ewigen Rat aufzuhalten und meinen Freunden zu helfen. Ich schulde ihnen eine Warnung, eine Antwort und den Schlüssel zu ihrem Sieg.“
Callem sog scharf Luft ein. „Darauf also läuft es hinaus? Am Ende stehst du auf ihrer Seite?“
Leander senkte den Kopf. „Ich bin zu dir gekommen, als ich dich in Gefahr glaubte. Jetzt glaube ich sie in Gefahr und würde zu ihnen zurückkehren. Du bist mir wichtig, und sie ebenfalls. Es gibt keine Seiten.“
Etwas griff nach seiner Hand. Leander verschränkte seine Finger mit denen seines Bruders und fühlte alles, was ihn gezeichnet hatte. Er spürte die Kälte unter der Haut, die ihn seit der Gefangenschaft auf Narkon begleitete. Er spürte die Schwielen eines Schwertkämpfers, die raue Haut, wo wieder und wieder die Taue der Takelage entlangschrappten, er spürte die Spuren der hölzernen Griffe aus seiner Zeit als Steuermann, und darunter spürte er die kräftigen Hände des Jungen, der ihn von der brennenden Hütte ihrer Eltern fortgezerrt hatte. Callem sprach nicht, doch der Druck seines Griffs verriet genug. Er stellte eine wortlose Frage: Warum?
„Ich bin zu den Helden von Andor gestoßen, bin ihnen ein Freund geworden, ganz wie du wolltest. Doch keiner von uns beiden hatte bedacht, dass sie damit auch mir zu Freunden werden könnten. Ich habe es nicht erwartet, es nicht gesehen, doch nach all den Jahren, in denen mir alles andere egal war, wurden sie mir wichtig. Ich … habe sie in mein Herz gelassen.“
Der Druck von Callems Hand verstärkte sich. „Denkst du noch manchmal an unseren Schwur?“, fragte Callem rau.
Leander lächelte traurig. „Immer.“ Er hob ihre beiden Hände, bis sie auf Höhe ihrer Köpfe zwischen den Gitterstäben schwebten. Gleichzeitig begannen sie zu sprechen.
Und während seine Lippen die ersten Worte formten, zog sich Leander in die Hütte der Erinnerung zurück. Er stand zwischen den sortierten Schränken und Schubladen, zwischen den Zeugnissen seines Lebens. Die Schatulle aus Ebenholz lag noch immer offen auf dem Tisch, und die letzte, tiefschwarze Perle zog seinen Blick auf sich. Doch er ignorierte sie. Er trat am Tisch vorbei und duckte sich unter den an der Decke hängenden Kräuterbüscheln hindurch, bis er vor der Tür der kleinen Hütte stand. Langsam schob er sie auf.
Der Geruch von Salz und frischem Gras lag in der Luft. Fernes Meeresrauschen und Vogelschreie drangen an seine Ohren, doch hätte er den Kopf gewandt, so wären da weder das Meer noch der Wald gewesen. Nur Stille und Dunkelheit. Wenn er auch innerhalb seiner Hütte jedes Detail nachgebildet hatte, hier draußen war nichts bis auf das eine, was ihm wichtig war.
Auf einem schmalen Fleck Boden inmitten der Leere stand sein Bruder. Er war noch jung, höchstens Anfang zwanzig. Auf seinem kahlen Schädel glänzte die Sonne vergangener Tage, die in dieser Welt niemals schien, und in seinen gelben Augen lag Abschied. Leander trat zu ihm und erwiderte den Blick mit Augen, die außerhalb seines Kopfes nie wieder einen Blick erwidern würden.
Innerhalb seiner Hütte lagen die Erinnerungen aus Jahrhunderten, fein säuberlich abgelegt und geordnet. In jeder Ecke und jeder Spalte verbargen sich Texte, Gedanken, Gefühle, Momente, die er nicht vergessen wollte. Sie drängten sich aneinander und die abgestandene Luft war voll von ihnen. Doch jenseits der engen Wände herrschte Leere. Hier draußen hatte er nur eine einzige Erinnerung abgelegt. Die älteste und vielleicht wichtigste von allen.
Der junge Callem hob die Hand und Leander ergriff sie, bis ihre Finger sich verschränkten und die Gegenwart verschwand.


Früher Vormittag, 43. Frühjahrstag 124 v.A.Z.
Nördliche Küste, Wachsamer Wald
Leander schlug die Tür ihrer kleinen Hütte auf und beobachtete seinen Bruder, der soeben damit beschäftigt war, die Decke zusammenzurollen, damit sie in seinen Rucksack passte. Nach zwei vergeblichen Versuchen gesellte sich Leander zu ihm und hielt wortlos das Ende zusammen, sodass Callem sie nach kurzem Zögern klein genug bekam.
„Wann wolltest du es mir sagen?“, fragte Leander, während er seinen Bruder aus den Augenwinkeln beobachtete .
Callem schloss die Augen und holte tief Luft. „Gleich. Sobald ich fertig bin. Sobald du mich nicht mehr zurückhalten kannst.“ Er lachte traurig. „Wie lange weißt du es schon?“
Leander legte den Kopf schief. „Seit zwei Monden. Ich bin spät aufgewacht und das Rekrutierungsschreiben lag mitten auf dem Tisch.“ Er hielt inne und biss sich auf die Lippe. „Nein, eigentlich wusste ich es schon immer. Du bist nicht gemacht für dieses Leben. Du willst keine Zurückgezogenheit, keine Geborgenheit am Rande der Welt. Du willst dein Leben nicht im Dunkeln verbringen wie ich. Du sehnst dich nach dem Meer und den Schiffen, die ich immer so schnell wie möglich verließ.“
Callem nickte langsam. „Du warst schon immer der Klügere von uns beiden.“ Leander widersprach nicht. „Bruder, wenn du willst, dass ich bleibe – sag nur ein Wort, und ich …“
Leander ergriff Callems Hand. Sofort durchströmte ihn neue Sicherheit. „Ich kann dich nicht zurückhalten, Bruder. König Varatan braucht neue Seekrieger nach dem Debakel auf Danwar. Die Gelegenheit ist zu günstig. Das ist dein Leben, nicht diese kleine Hütte. Ich wünschte nur, wir hätten noch mehr Zeit gehabt.“
„Ich bin geblieben, solange ich konnte. Wenn ich noch länger warte, kann ich es erst nächstes Jahr wieder versuchen.“
Leander schluckte schwer. „Ich weiß. Du hast gewartet. Diesen Frühling und schon die ganzen letzten Jahre davor. Ich bin jetzt alt genug. Ich …“ Er blinzelte die Tränen fort. „Ich bin nicht hier, um dich zurückzuhalten, sondern um dir Lebewohl zu sagen.“
Callem strich mit dem Daumen eine Träne fort, die es doch auf seine Wange geschafft hatte. „Das ist nicht das Ende, oder?“, fragte er schwer.
„Nein.“, erwiderte Leander fest. „Nein, das ist es nicht! Bruder, bitte, versprich mir, dass du …“ Er verstummte, weil er selbst nicht wusste, was er eigentlich versprochen haben wollte.
„Was immer du willst.“, antwortete Callem ohne zu zögern.
Leander blinzelte. Langsam hob er ihre verschränkten Hände, bis sie neben ihren Köpfen schwebten, und begann zu sprechen:
„Ich schwöre feierlich, dass dies nicht das Ende ist. Ich schwöre, alle meine Taten, alle meine Wünsche, an uns beiden zu messen. Ich werde dir niemals mehr schaden, als ich mir selbst schaden würde. Ich werde deinen Schmerz fühlen, als wäre er mein eigener, und meine Freude mit dir teilen. Ich schwöre, niemanden zu brauchen als dich und mich. Ich schwöre, die Welt nicht in mein Herz zu lassen, mich zu verschließen, ehe etwas dich daraus vertreiben könnte. Ich schwöre, dass wir beide dort immer zu zweit sein werden. Wir werden einander treu sein, solange wir beide leben. Ein Band wird uns binden, stärker als die Meilen, die uns trennen. Dies ist das Band zweier Brüder. Ich schwöre, dass es nicht zerreißt.“
Leander verstummte und blinzelte. „Nein. Das ist nur … mein Schwur an dich. Ich kann nicht von dir verlangen, dass du…“
Callem unterbrach ihn, indem er den Schwur wiederholte, fehlerfrei, Wort für Wort, und in jedem lag ein schwerer, tiefer Ernst. Dann umarmten sie einander und für eine lange Zeit existierte nichts mehr außer ihnen beiden.
Schließlich löste Callem sich. „Es ist Zeit.“, sagte er rau. Leander nickte traurig und erwiderte den Blick aus den gelben Augen, in denen Abschied lag. Die Sonne glänzte auf Callems kahlem Schädel. Der Geruch von Salz und frischem Gras lag in der Luft. Fernes Meeresrauschen und Vogelschreie drangen an seine Ohren. Doch nichts davon war wichtig. Sie standen vor der Tür der Hütte, die sie gemeinsam erbaut hatten, und sahen einander an, und nichts anderes zählte.
Und Leander beschloss, dass er sich hieran immer erinnern würde. Er schuf einen sicheren Ort in seinem Geist, an den er sich zurückziehen konnte, wann immer er wollte. Und dorthin legte er diesen Augenblick des Abschieds, solange er frisch war. Ein unbeweglicher Ort entstand inmitten des Stroms seiner Gedanken, eine Insel der Ruhe und der Ordnung, und darauf war das Bild seines Bruders, der vor der Tür ihrer Hütte stand. Leander wusste, er würde diesen Moment niemals vergessen.


Frühe Nacht, 26. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See nördlich von Sidra, Hadrisches Meer

„Dies ist das Band zweier Brüder. Ich schwöre dass es nicht zerreißt.“, sagten sie beide. Ihre Stimmen klangen sanft gegen die Wellen. Callems Hand war warm in seiner. Wenn die Gitterstäbe zwischen ihnen nicht wären, alles wäre wie damals.
„Die Worte eines Kindes, das nicht versteht, dass ein Leben ohne Veränderung kein Leben ist, und dass mehr als zwei in einem Herzen Platz finden können.“, sagte Leander bitter.
„Die Worte zweier Brüder, die einander alles bedeuten.“, erwiderte Callem.
Leander lächelte. „Beides ist wahr.“
„Ich habe mich immer daran gehalten, Leander.“, flüsterte Callem. „Als die anderen Rekruten mich zu ihren Trinkabenden einluden, bin ich ferngeblieben und habe trainiert. Als alle anderen ihre Freunde und Verlobten zu ihrer Ernennung als Seekrieger mitbrachten, bin ich allein gekommen. Als ich das Kommando über ein eigenes Schiff bekam, nannte ich niemanden, den ich in meiner Mannschaft haben wollte. Als Pero mir wieder und wieder seine Freundschaft anbot, habe ich ihn abgewiesen. Und als ich meine Mannschaft ermordete und zum Piraten wurde, da konnte ich es, denn niemand bedeutete mir etwas. Die Männer, die mir gedient hatten und die ich verriet, waren mir egal. Die Unschuldigen, die ich auf meinen Raubzügen tötete, waren mir egal. Denn ich hatte meinen Schwur gehalten. Ich hatte die Welt nicht in mein Herz gelassen. Du hast mich zu dem hier gemacht, Leander. Der Schwur, den du mich schwören ließest. Und es war gut. Ich brauchte niemanden als uns beide.
Doch dann kam Varatans Fluch. Ich vergaß alles, was außerhalb von Narkon lag. Ich vergaß die See und die Schiffe und die Welt außerhalb des Eilands. Ich vergaß … dich. Doch was ich nicht vergaß, war meine Pflicht, alle anderen abzuweisen, selbst wenn ich den Grund dafür nicht mehr kannte. Ich durfte niemand neues in mein Herz lassen, und zugleich warst du herausgerissen. Für mehr als hundert Jahre war ich wahrhaft allein. Der einzige, von dem ich jemals zuließ, dass er mir auch nur im Entferntesten wichtig wurde, war ein verdammter Vogel, weil ich es sonst nicht ausgehalten hätte! Doch ich habe meinen Schwur gehalten. Ich bin uns treu geblieben.“ Callems Hand löste sich aus seiner. Wo sie gelegen hatte, fühlten seine Finger sich plötzlich kalt an. „Und womit dankst du es mir? Du brichst unseren Schwur, kaum dass du in Versuchung geführt wirst!“
Leander spürte Tränen der Trauer unter seiner Augenbinde. Wann hatten seine blinden Augen das letzte Mal geweint? Er wusste es nicht. Er erinnerte sich nicht daran. Vielleicht noch nie.
„Es tut mir leid, Bruder.“, wisperte Leander. „Du warst schon immer stärker als ich. Ich wünschte, ich hätte diesen Schwur nie von dir verlangt. Ich wünschte, ich hätte dir das nicht angetan. Ich wünschte, ich hätte nicht zugelassen, dass unser gemeinsames Band dir zur Fessel wird.“ Er hustete röchelnd. „Der Schwur ist gebrochen, Bruder. Ich habe versagt. Du bist nicht mehr gebunden. Du kannst tun, was immer du willst.“
Callem lachte, doch darunter konnte Leander den Zorn heraushören. „Und du hast keine Angst, dass ich dich jetzt töte, aus Rache für alles, was du mir angetan hast?“, zischte er.
„Dann sei es so.“, antwortete Leander ruhig. „Diesen Preis bin ich bereit zu zahlen. Ich befreie dich von deinem Schwur, Bruder.“
Callem schwieg. Sein Atem ging schwer. Als er schließlich doch sprach, war seine Stimme sanft und verzweifelt. „Das kannst du nicht, Leander. Ich habe diesen Schwur geleistet, im vollen Bewusstsein dessen, was er bedeutet. Ich habe mir diese Fesseln selbst angelegt, und du kannst sie nicht lösen. Egal was du tust, egal ob du unseren Schwur brichst, ich muss ihn halten! Für dich war ein Versprechen nie mehr als eine besonders feste Absichtserklärung. Aber für mich war es alles. Das ist es, was ich bin: Wenn ich einen Schwur gebe, dann halte ich ihn. Um jeden Preis. Ich breche niemals mein Wort! Das ist es, was ein Schwur bedeutet.“
Callem seufzte schwer. „Sie nannten mich den Abtrünnigen, den Eidbrecher. Sie haben nicht verstanden. Wir mussten einen Eid leisten, auf den Herrn des Hadrischen Meeres, und ich tat es. Ich habe König Varatan lange Jahre treu gedient. Doch dann erschien mir Kenvilar, die Tückische, auf meinen Reisen, und ich geriet in ihren Bann.“
Leander erstarrte. Die Worte Kentars kamen ihm in den Sinn. Doch Callems nächste Worte zerstreuten seine Sorgen.
„Sie brauchte keinen Zauber und keine Trugbilder, um mich zu verändern. Ihr reichten einfache Worte. Ihr reichte der Eid, den ich geleistet hatte. Varatan mochte einige Inseln und eine große Flotte befehligen, doch das Meer gehorchte anderen. Es gehorchte den Mächten des Meeres, und sie erkannten den Seekönig nicht an. Sie waren die wahren Herrn des Hadrischen Meeres. Ohne es zu wissen, hatte ich ihnen meine Treue geschworen. Und was ich geschworen habe, das halte ich. Auf Kenvilars Geheiß ermordete ich meine Mannschaft und versenkte mein altes Schiff. Auf ihr Geheiß ließ ich mein altes Leben zurück und wurde zum Seeräuber. Auf ihr Geheiß brachte ich Tod und Gewalt über Varatanien und die Menschen, die mir gleichgültig waren.
Ich will nicht behaupten, unschuldig zu sein. Ich genoss dieses Leben. Ich war dafür gemacht. Die drei Mächte haben sich nie groß für uns interessiert. Hin und wieder sollten wir ein bestimmtes Schiff überfallen oder jemanden beseitigen, aber im Großen und Ganzen konnten wir tun, was wir wollten. Wäre das Wissen nicht gewesen, dass ich den Mächten des Meeres jederzeit zu gehorchen hatte, ich hätte zufrieden sein können. Doch Kenvilar hatte mir einen Weg in Aussicht gestellt, meinem Schwur endgültig zu entkommen. Sollte ich selbst die Krone der Nordmeere tragen, so würden die Mächte des Meeres mich anerkennen. Meine Treue hätte ich nur noch mir selbst geschworen. Ich wäre frei. Also vergrößerte ich meine Mannschaft und wurde mächtiger, bis Varatan mit seiner gesamten Flotte gegen uns zog, uns nach Narkon verfolgte und …“ Callem verstummte.
„Aber jetzt sind die Mächte des Meeres tot, nicht wahr?“, fragte Leander behutsam. „Es gibt keinen Herrn des Hadrischen Meeres mehr. Du bist frei.“
„Frei?“, fragte Callem bitter. „Wie viele Schwüre binden mich, Leander? Wie viele Versprechen gab ich im Laufe meines Lebens? Manche davon habe ich erfüllt. Andere werden andauern, bis ich endgültig sterbe.“
Ein metallisches Schaben ertönte, gefolgt von einem gedämpften Klicken. Die Gittertür schwang mit einem leisen Quietschen auf.
„Hier.“ Etwas legte sich in Leanders Hand. Das abgegriffene Holz hätte Leander jederzeit wiedererkannt. Sein Stab! Er hatte seinen Stab wieder! Sofort erfasste ihn neue Sicherheit. Er stampfte mit dem unteren Ende auf und lauschte auf die fast unhörbaren Echos, die von allen Seiten auf ihn einströmten.
Leander zog noch ein Paar Stiefel an, das sein Bruder ihm reichte. Es waren nicht seine eigenen, sondern etwas größere. Wahrscheinlich waren seine alten Schuhe vor Nässe auseinandergefallen. „Und jetzt komm mit.“, befahl Callem ungeduldig.
Leander hatte nicht gewusst, wie sehr die Krankheit ihn geschwächt hatte, bis er erstmals wieder einen längeren Weg ging, als die enge Zelle es ihm erlaubt hatte. Als er die Treppe am anderen Ende des Ganges erreicht, war ihm bereits so schwindelig, dass er seinen Stab zur Hilfe nehmen musste. Nur der Seegang, redete Leander sich ein, auch wenn er selten eine so ruhige Nacht erlebt hatte. Mit mäßigem Erfolg versuchte er, seinen keuchenden Atem zu überhören.
Die kalte Seeluft, die ihm entgegenschlug, als er den Bauch des Schiffes verließ, half ein wenig gegen die Erschöpfung, wenngleich die schleichende Kälte, die sich in seiner Brust festgesetzt hatte, nicht eben schwächer wurde. Fast ohne zu taumeln folgte Leander seinem Bruder zur Reling. Dort machte Callem sich den Geräuschen nach zu urteilen an irgendwelchen Schnüren zu schaffen.
„Was tun wir hier?“, fragte Leander leise.
„Was wohl?“, schnaubte Callem. „Wir bereiten deine Flucht vor. In diesem Beiboot liegen Ruder und Vorräte. Wenn du es bis Sidra schaffst, kannst du an Land gehen und tun, was auch immer du tun musst. Kehre zu deinen Freunden zurück, wenn das dein Weg ist. Halte den Ewigen Rat auf.“ Schicksalsergeben fügte Callem hinzu: „Ich bin nicht hier, um dich zurückzuhalten, sondern um dir Lebewohl zu sagen.“
Leander schluckte. Schon wieder spürte er Tränen, doch diesmal konnte er nicht sagen, welches Gefühl sie hervorrief. Er fand keine Worte. Zielsicher griff er nach der Hand seines Bruders und drückte sie, übersandte eine stumme Frage: Warum?
„Weil ich es geschworen habe.“, zischte Callem zornig. „Ich hasse die Helden von Andor, ich habe ihnen Rache geschworen! Doch dir sind sie wichtig. Ich habe geschworen, dir niemals mehr zu schaden, als ich mir selbst schaden würde. Ich kann meinen Racheschwur nicht erfüllen, ohne einen anderen Schwur, meinen wichtigsten, zu brechen. Ich habe geschworen, alle meine Wünsche an uns beiden zu messen. Und was ich geschworen habe, das halte ich. Ich lasse dich ziehen, weil ich muss.“ Leise ergänzte er: „Und weil du mir wichtiger bist als alles andere da draußen. Du bist mein Bruder, Leander. Du bist der einzige, den ich jemals in mein Herz lassen durfte. Du bist alles, was ich habe. Hast du wirklich geglaubt, ich könnte meinen Bruder opfern für die Rache?“
Leander schluckte. Callem hatte seinen Stab und den Schlüssel schon dabeigehabt, als er gekommen war. Er hatte ihn von Anfang an befreien wollen, egal was er gesagt hätte. Leander ließ seinen Stab ins Beiboot fallen und legte seinen freien Arm um Callem. Die Finger der anderen Hand waren noch immer verschränkt mit seinen. Er krallte sich so fest an seinen Bruder, dass die Rüstung aus Holz und Leder in das Fleisch an seinen Armen schnitt. Und nach einem Moment des Zögerns legte sich auch um seinen Rücken ein Arm und drückte ihn, als wollte er ihn nie wieder loslassen.
„Es tut mir leid, Bruder.“, flüsterte Leander. „Du warst schon immer der bessere von uns beiden. Du hast das nicht verdient. Du hast mich nicht verdient. Du hättest einen Bruder verdient, der seinen Schwur halten kann.“ Leander spürte ein Schluchzen, das zu einem Husten wurde. „Ich danke dir, Bruder.“
Lange schwieg Callem. Schließlich sagte er leise: „Ich würde mir keinen anderen Bruder wünschen, Leander. Trotz allem.“ Die harte Rüstung bewegte sich mit Callems Brustkorb, als er tief Luft holte. „Das ist nicht das Ende, oder?“
Leander musste lächeln. „Nein. Nein, das ist es nicht!“, versprach er. „Welches sind die Bande, die halten, Callem? Sind es die Bande zwischen Freunden, nur lose im Vorbeigehen geknüpft und schnell verloren im Echo der Zeit? Sind es die Bande zwischen Eltern und Kind, vom Schicksal durchtrennt, kaum dass das Leben wahrhaft anfängt? Sind es die Bande zwischen Geliebten, erst gewoben, wenn das Leben bereits halb vollendet wurde, und nur aus Wasser gestrickt?“ Er lächelte sanft. „Nein! Es sind die Bande zweier Brüder, geknüpft von Blut und Zeit, die sich durch ein ganzes Leben ziehen, von den ersten Schritten und den dunkelsten Abgründen kindlicher Träume bis zum Tod und darüber hinaus. Sie allein halten ewig.“
Leander hob andeutungsweise ihre verschränkten Hände. „Dies ist das Band zweier Brüder. Es bindet stärker als die Meilen, die uns trennen. Und es zerreißt nicht so leicht. Vielleicht wird dies das letzte Mal sein, dass wir voreinander stehen. Doch dieses Band wird uns für immer begleiten.“
Er löste sich aus der Umarmung und steckte eine Hand in die Tasche, bis seine Finger über glatten Stein fuhren, in die Form eines verschlungenen Knotens geschliffen. Behutsam holte er den Lavastein heraus und überreichte ihn Callem. „Nimm diesen Stein, Bruder. Er wurde mir geschenkt in Erinnerung an ein Band, das ich knüpfte. Doch kein Band ist stärker als unseres.“
Behutsam nahm Callem ihm den Stein ab. „Es ist Zeit.“, flüsterte er.
Leander nickte traurig. „Ich weiß.“ Er lauschte, während sein Bruder das Beiboot ins Wasser ließ.
„Ich muss dich warnen, Leander.“, sagte Callem leise. „Ich habe den Helden von Andor Rache geschworen, und dieser Schwur gilt noch immer. Ich kann ihn nicht erfüllen, solange sie dir wichtig sind. Zerschlagt den Ewigen Rat, und die Schwarze Kogge wird in ferne Gewässer segeln. Im Westen soll es ein Land geben, das keine Schiffe und Häfen kennt, ihre Küstenstädte werden leichte Beute sein.“ Er seufzte. „Doch mein Schwur gilt, und was ich geschworen habe, das halte ich. Sollte ich erfahren, dass dein Leben vor dem der Helden von Andor ein Ende gefunden hat, dann werde ich zurückkommen und Rache üben müssen.“
Leander nickte. Er ließ sich zur Strickleiter führen und kletterte hinab.
„Und noch etwas, Bruder!“, rief Callem. „Du hast eine Aufgabe zu erfüllen, doch sieh dich vor, dass sie dich nicht das Leben kostet. Denn wenn das geschehen sollte, wenn du stirbst im Versuch, den Helden zu helfen – wenn sie dich mir schon wieder nehmen – dann werde ich alles zerstören, was ihnen wichtig ist. Dann werde ich nichts von ihnen übrig lassen! Das … schwöre ich.“
Leander ließ die Leiter los und setzte sich ins schaukelnde Boot. Er tastete umher, bis er erst seinen Stab und dann ein Ruder gefunden hatte. „Leb wohl, Bruder.“, sagte Leander leise. Er war sich nicht sicher, ob seine Stimme gegen die plätschernden Wellen bis hoch zu Callem drang, doch der Kapitän antwortete sofort, mit einer Stimme voller Abschied: „Leb wohl, Bruder.“
Leander ruderte nach Süden. Er war noch immer geschwächt, doch er spürte Callems Blick zwischen den Schultern, und das allein gab ihm Kraft. Irgendwann hörte er aus der Ferne noch das wehmütige Kreischen eines Vogels. Dann war er allein.


Morgendämmerung, 27. Wintertag 77 A.Z.
Ufer der Narne östlich der Rietburg, Andor

Schritte weckten Leander. Kurz meinte er, wieder in seiner Zelle an Bord der Schwarzen Kogge zu liegen, doch da war kein Seegang, die Schritte knirschten auf Erde, anstatt auf Planken zu klopfen, und die Luft schaffte es irgendwie, zugleich muffig und eiskalt zu sein.
Leander griff nach seinem Stab und regte sich sonst nicht mehr. Er war in diese verfallene Fischerhütte gekommen, durch einen schmalen Spalt in der Rückwand, weil seine Vision sie ihm gezeigt hatte. Er vertraute seiner Gabe nur eingeschränkt, doch wenn er sich nicht schon wieder täuschte, dann ahnte er, was er hier finden würde, auch wenn er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, wie genau es dazu kommen sollte. Dieses Gebäude erweckte den Anschein, schon seit Jahren leerzustehen.
Er war gleich im hintersten Winkel der Hütte geblieben, wo er verborgen war zwischen Unrat, Gerümpel und tiefen Schatten. Er hätte sich nur nicht hinlegen dürfen. Sein Körper war noch zu angeschlagen für solche Anstrengungen. Er hatte lange rudern und noch länger laufen müssen, durch seltsam rauchverhangene Luft, die seinen Lungen nicht gerade gutgetan hatte, um hier anzukommen.
Die Schritte ließen Schnee und Erde hinter sich und überquerten festgetrampelten Lehm und Stroh, ehe sie anhielten. Seine Besucher waren zu zweit, und in ihrem Atem lag mindestens so viel Schock wie Erschöpfung, so viel konnte Leander hören. Ein seltsames scharrendes Geräusch erklang, dann ließen die beiden erst etwas fallen, was wohl ihre Taschen waren, und anschließend sich selbst.
„Wie geht es dir, Sara?“, fragte behutsam eine Jungenstimme. Nach einer kurzen Pause hielt er die Luft an und ergänzte leise: „Wir ruhen uns aus, so lange es nötig ist.“ Seine Sorge war offenkundig.
Wer waren die beiden? Geschwister? Nein, eine Anspannung lag in den Worten des Jungen, die es zwischen Geschwistern nicht gab. Waren sie Freunde? Ein Paar vielleicht? Wahrscheinlich wussten sie es selbst nicht. Er klang so jung…
„Ja. Du hast recht. Mir geht es auch schlecht. Es ist einfach alles zu viel.“, sagte der Junge nach einer Weile. Leander runzelte die Stirn. Er war sich sicher, dass diese Sara nichts gesagt hatte, dennoch klangen die Worte wie eine Antwort. Merkwürdig.
Er hörte ein leises Rascheln, als einer der beiden seine Sachen durchwühlte. Dann sagte der Junge ehrfürchtig: „Kommandant Mart hat sie mir gezeigt, ehe er starb.“ Leander griff seinen Stab fester und lächelte. Endlich einmal hatten seine Visionen ihn nicht getäuscht. Er hatte diese Hütte gesehen und zusammen mit ihr…
„Die Rietgraskrone. Wenn ich seine letzten Worte richtig verstanden habe, dann soll sie … nach Cavern. Wir müssen die Krone dorthinbringen. Sie ist eine Falle für den Schwarzen Herold. Eine Waffe gegen den Ewigen Rat. Die Schildzwerge müssen sie bekommen. Die Helden von Andor müssen sie bekommen.“
Leander hielt die Luft an. Er hatte nicht erwartet, dass die Krone bereits ohne sein Zutun auf dem Weg nach Cavern war. Wer waren diese Kinder?
„Wir bekämpfen den Ewigen Rat auf unsere Weise.“, sagte der Junge leise. „Wir gehen nach Cavern! Wir machen alles wieder gut, Sara!“
Leander ließ seinen Atem keuchend wieder entweichen. Seine Brust rasselte und er konnte ein lautes, rasselndes Husten nicht verhindern. Sein Herz zuckte schmerzhaft in seiner Brust.
Als er seinen Atem nach einer Weile wieder unter Kontrolle hatte, herrschte Totenstille. Die beiden hatten ihn natürlich bemerkt. Nun, er hätte sich ihnen ohnehin bald zeigen müssen. Leander stand mühsam auf und unterdrückte den Schwindel, der ihn erfasste. Auf seinen Stab gestützt ging er langsam zum Eingang der Hütte. „Das Schicksal“, sagte er lächelnd und hasste, wie heiser seine Stimme dabei klang, „beweist wieder einmal einen seltsamen Sinn für Humor.“
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