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Story: Der Ewige Rat

BeitragVerfasst: 27. November 2021, 17:08
von TroII
Hallo liebe Andori,

drei Jahre hat sind in der echten Welt vergangen zwischen dem Prolog und dem Epilog dieser Geschichte. Die Taverne hat sich verändert, ich selbst (und ich fürchte auch mein Schreibstil) und die Welt, sowohl die andorische als auch die echte. Was einst als krude Idee einer ersten 3-Plan-Legende begann, verselbstständigte sich immer mehr, bis die Legende verblasste und die Geschichte verblieb. Eine Geschichte, die ich allen, die sie lesen wollen, hiermit zum Geschenk mache.
(Copyright liegt aber bei mir. :mrgreen: )

Dabei muss ich aber ein paar Warnungen loswerden:
Erstens ist die Geschichte nach Teil III angesiedelt, das heißt, wenn ihr noch nicht so weit gespielt habt, werden unweigerlich SPOILER auftauchen. (Auch wenn ich mich bemüht habe, sie auf das Notwendigste zu begrenzen.)
Zweitens habe ich den Anfang dieser Geschichte im Januar 2019 veröffentlicht. Das heißt, dass manche Informationen aus späteren Erweiterungen und Storytexten nicht mehr mit der Geschichte übereinstimmen.
Drittens sollte ich wohl erwähnen, dass das hier quasi die "erste Version" ist - das Original, mit allerlei Rechtschreibfehlern und unschönen Stilblüten, die ich ich besser gekappt hätte.

Ich werde in absehbarer Zeit eine fertige PDF-Version (evtl. auch e-Book) erstellen. Dort werden alle Fehler, die mir auffallen, gestrichen, mein Stil wird angeglichen und jeder Buchstabe bekommt noch ein kleines Bildchen zum Einstieg. Dies wird dann die finale Version sein. Aktuell habe ich hier bereits eine Zwischen-Version, die noch auf ihre versprochenen Bilder und das OK meines Testlesers wartet. Große Änderungen werden aber nicht kommen, von daher: Fühlt euch frei, jetzt schon hier zu lesen!

In diesem Sinne, andorische Grüße, viel Freude beim Schmökern, und ich freue mich sehr über jeden Kommentar!

Troll


Inhalt

Hier findet ihr eine überarbeitete Version als PDF für alle, die die Geschichte lieber offline lesen oder sie ausdrucken wollen:
Der Ewige Rat_V2.pdf
(3.58 MiB) 50-mal heruntergeladen


Hier die Links für die Beiträge im Forum:
Prolog - Risse im Boden
a – Traurige Erinnerungen
b – Eine finstere Vision
c – Fell oder Haut
d – Der letzte Hüter
e – Der Weg des Eises
f – Die Botschaft des Rates
g – Der Kult der Drei Mächte
h – Die Souveränin
i – Der Plan des Verfluchten
j – Der Tempel des Meeres
Zwischenspiel I – Die beste Möglichkeit
k – Verborgene Feinde
Zwischenspiel II – Familie
l – Das Herz des Todes
Zwischenspiel III – Der Rat erwacht
m – Der Verräter
Zwischenspiel IV - Geheimnisse
n – Violette Flammen
o – Die Politik der Einigung
p – Mädchen-Ohne-Worte
q – Der Herr der Schatten
Zwischenspiel V – Geschäfte
r – Nar´Al´Pan
s – Folgt der Dunkelheit!
Zwischenspiel VI – Die Balance des Meeres
t – Geopfert
u – Die nicht eintreffende Prophezeiung
Zwischenspiel VII – Die Ruine eines Menschen
v – Trauer
w – Die silberne Raute
x – Drei Rätsel und drei Fragen
y – Nur ein Gefühl
Zwischenspiel VIII – Gefährlicher denn je
z - Zwang oder Zufall
Zwischenspiel IX – Ein Ausgleich
A – Worte, Pfeile, Möglichkeiten
B -Dreistimmige Drohungen
Zwischenspiel X – Alte Gebeine
C – Eine flackernde Kerze
Zwischenspiel XI – List und Tücke
D – Der Bluter
Zwischenspiel XII – Schöpfung
E - Spuren im Schnee
F - Die tote Frucht
G - Das schwarze Herz
Zwischenspiel XIII - Spielsteine
H - Die Himmelssäule
I - Freiheit und Meeresschaum
J - Brennendes Silber
Zwischenspiel XIV - Ein dreifaches Spiel
K - Mosaik der Lügen
Zwischenspiel XV - Scherben
L - Ein Moment des Friedens
M - Silberhall
N - Was Heimat ist
O - Vertraust du mir?
Zwischenspiel XVI - Wer Wind sät...
P - Der Klang der Entscheidung
Q - Verloren in Bernstein
Zwischenspiel XVII - Der brennende Baum
R - Der rote Hahn
S - Die Bande, die halten
Zwischenspiel XVIII - Ein guter Tausch
T - Die letzte Zuflucht
U - Wie eine Klinge aus Glas
V - Ausgebrannt
Zwischenspiel XIX - Der Preis des Friedens
W – Krahalzar
X – Feuer und Turm
Zwischenspiel XX – Qurun
Y – Der letzte Kampf
Z – Der Träumer der Zeit
Epilog – Ein neuer Anfang

Prolog - Risse im Boden

BeitragVerfasst: 28. November 2021, 18:57
von TroII
Prolog – Risse im Boden

Früher Nachmittag, 56. Herbsttag 921 vor Andorischer Zeit
Herz des Bronwaldes, Graues Gebirge

Nomion, der Hexer, schwebte in der Luft und beobachtete, wie seine dreizehn Adepten einige Fackeln anzündeten und neben den großen, schwarzen Baum traten. Seit seinem Tod hatte ihn kein solches Gefühl des Triumphes mehr durchströmt. Sie hatten jetzt einen eigenen Baum in ihrem eigenen Land, sie waren auf diesen alten Klotz nicht länger angewiesen. Bald würde der junge Baum, den Nomion selbst noch zu Lebzeiten mit eingepflanzt hatte, alle Macht beherbergen. Der Geist war überzeugt, dass sein Volk unter König Borg einer strahlenden Zukunft entgegenblickte.
Die dreizehn Riesen stimmten einen rituellen Singsang an und hielten die Fackeln an den Stamm. Das trockene, tote Holz fing sofort Feuer und brannte wie Zunder. Der alte Baum gab ein Ächzen von sich und brach in sich zusammen. In diesem Moment begann das ganze Land sich zu regen. Bäume wurden entwurzelt, Berge schüttelten ihre schwere, weiße Last von ihren Häuptern und auch einige der Bauwerke der Zwerge stürzten in sich zusammen.

Drei formlose Schatten entwichen dem Inneren des brennenden Baumes, unbemerkt von den Krahdern. Sie warteten, bis die Glut heruntergebrannt war, dann kehrten sie in ihr Heim zurück.

Und in einem weit entfernten Land, hoch im Norden, an der tiefsten Stelle einer tiefen, weit verzweigten Unterwelt, zeigte sich ein haarfeiner Riss im steinernen Boden.


Früher Vormittag, 6. Sommertag 113 v.A.Z.
Eiswald, Hadria

Orweyn, der mächtigste der hadrischen Zauberer, hielt seine Hand über einen der seltenen, blauschwarzen und hochgiftigen Forinkäfer und jubilierte innerlich, als er zusah, wie der anfing, auf den Hinterbeinen zu laufen. Orweyn konzentrierte sich. Wie weit konnte er gehen? Der Käfer fing an, sich einzubuddeln, zu tanzen und schließlich riss er sich selbst die Beine aus, bis er komplett von schwarzen Schlieren umgeben war.

Und tief unter Orweyns Füßen, im ewigem Dämmerlicht der Unterwelt Hadrias, erschienenen an der tiefsten Stelle einige weitere Risse.


Sonnenhoch, 15. Sommertag 73 A.Z.
Hohe See östlich der Klippe
Rattenzahn, Hadrisches Meer
Mit einem letzten Schuss aus der Ballista der Aldebaran war der Kampf besiegelt. Stinner ließ das Steuerrad los, erschöpft, aber glücklich. Sie hatten geschafft, woran selbst Meereskönig Varatan mit den Magischen Waffen gescheitert war. Sie hatten eine der bis dahin als unsterblich geltenden Mächte des Meeres besiegt!
Gewaltige Tentakel peitschten durch die Luft. Oktohan schrie nochmals gequält auf und hauchte dann sein Leben aus. Ein Schatten floh zornentbrannt vom Ort seiner Niederlage.

Und an der tiefsten Stelle in Hadrias Unterwelt zeigte sich ein Spinnennetz aus dünnsten Rissen.


Morgendämmerung, 12. Herbsttag 75 A.Z.
Namenlose Berge, Graues Gebirge

Über die Gipfel des Grauen Gebirges flog rasend schnell ein Schatten. Während die Sonne über die Berggipfel kroch und mit ihren ersten Strahlen die Schneeflächen blendend hell aufleuchten ließ, folgte der Schatten Spuren, die nur er erkennen konnte. Von weit entfernt meinte er immer noch die Stimmen der Helden von Andor hören zu können.
Wie er sie hasste! Einst hatte er Tarok gedient, dem mächtigsten aller Drachen. Er hatte bereitwillig seinen sterblichen Leib für ihn hingegeben und sein Wille, zu dienen, war so stark gewesen, dass sein Geist seinen Körper überlebt hatte. Doch dann hatten die Helden von Andor Tarok getötet, sie hatten seine Visionen zerstört, seine Ideale vernichtet, seine Ziele zerschlagen und gegen ein einziges, brennendes Verlangen eingetauscht: Den Wunsch nach Rache!
Er hatte seitdem jeden Feind unterstützt, den die Helden jemals hatten, und es waren viele gewesen. Nur die wenigsten von ihnen lebten heute noch, und keinem war es vergönnt gewesen, die Helden von Andor zu schlagen. Noch vor einem Mond hatte er gedacht, die Krahder seien die letzten, die vielleicht noch eine Chance hätten. Sie waren seine letzte Hoffnung gewesen.
Doch als er zusammen mit den Helden aus dem Norden zurückkehrte, hatte er heimlich die Archive des Baumes der Lieder durchsucht, in der Hoffnung, etwas zu finden, was sich gegen die Helden verwenden ließe. Aber nicht in den Dunklen Archiven, die er aufgrund der ständigen Bewachung nicht hatte durchsuchen können, oder zwischen den Berichten über ihre Heldentaten hatte er die interessanteste Schriftrolle gefunden, sondern in der Abteilung von Mythen und Märchen. Er hätte dem Text keine weitere Beachtung geschenkt, wenn er nicht einige überraschende Parallelen zu dem aufgewiesen hätte, was Tarok ihn vor so vielen Jahren gelehrt hatte. In ihm war ein Verdacht aufgekeimt, der so gewaltig war, dass er das Gefüge der Welt umreißen könnte!
Er hatte die Schriftrolle entwendet und war unbemerkt entkommen. Nicht nur, weil die Helden hier waren, war er ins Graue Gebirge geflogen, sondern auch, weil hier derjenige hauste, der seine Fragen am besten beantworten konnte.
Schließlich fiel sein Blick auf einen einsamen Turm. Wie aus einem Alptraum entsprungen rauschte er durch eines der kleinen Fenster in die alten Räume und seine schwarze Maske warf einen bedrohlichen Schatten auf die gegenüberliegende Wand. „Nomion!“, rief er schallend.
Und einen Augenblick später erschien der Geist des Hexers, der erste Krahder. Er war noch deutlich blasser und durchscheinender als sein Besucher, selbst sein noch halbwegs massiv wirkender Schädel mit stechend gelben Augen war transparent und seine Manifestation glich mehr einem rissigen, grauen Umhang als einer schwarzen Wolke. „Du wagst es mich zu stören?!“ Die Stimme war kalt, tonlos, ein unheimliches Flüstern.
„Ich bin in freundlicher Absicht hier! Einst diente ich Eurem Mörder Tarok, aber diese Zeiten sind lange vorbei. Jetzt bin ich wie Ihr: Mein Körper wurde vernichtet, aber meine Seele weigert sich, diese Welt zu verlassen. Ich bin hier, weil ich Euch meine Hilfe anbieten möchte. Meine Hilfe gegen diejenigen, welche dreist in dieses Gebirge einfallen und die jagen, die sie verärgert haben, um sie für immer auszulöschen. Ihr solltest Euch Sorgen um Euer Volk machen, die Helden von Andor haben schon deutlich gefährlichere Feinde besiegt.“
„Hüte deine Zunge! Die Krahder sind sehr mächtig!“
„Soll ich Euch von den unzähligen Siegen der Helden von Andor berichten? Sie mordeten Tarok, den mächtigsten aller Drachen, den Eure Krieger stets fürchteten. Den Dunklen Magier Varkur, der die Krahder vor kurzem erst aufsuchte, schlugen sie dutzendfach. Sie töteten eine der gottgleichen Mächte des Meeres und vernichteten die Schwarze Kogge. Und ich war Zeuge all dieser Siege! Macht nicht den Fehler, diese kleine Gruppe zu unterschätzen.“
„Also schön, meinetwegen, wenn du helfen möchtest, werde ich dich nicht davon abhalten.“
„Noch vor kurzer Zeit hätte ich mich damit zufriedengegeben, aber heute steht mir der Sinn nach mehr. Ich möchte eine Gegenleistung. Lehrt mich die geheime Kunst der Hexerei! Bringt mir alles bei, was Ihr über die Geheimnisse der Totenbeschwörung herausgefunden habt. Ihr könnt es Euch nicht leisten, abzulehnen, selbst mit meiner Hilfe ist ein Sieg äußerst unwahrscheinlich.“
Die beiden Gestalten taxierten sich eine Weile, und schließlich nickte Nomion leicht. „Ich wüsste trotzdem gerne, mit wem ich es zu tun habe.“
„Oh, ich vergaß, mich vorzustellen. Man nennt mich den Schwarzen Herold.“


Später Nachmittag, 83. Wintertag 76 A.Z.
Schwarzer Baum, Krahd

Zwei Schatten schwebten über einem brennenden Land. Der eine flog ziellos umher, in der naiven Hoffnung, noch irgendetwas retten zu können. Der andere schwebte auf der Stelle, seinen Blick starr auf den Schwarzen Baum gerichtet und das beeindruckende Naturschauspiel um sich herum gar nicht wahrnehmend. Der Schwarze Herold hatte schon zu oft verloren, um sich hiervon aus der Ruhe bringen zu lassen. Er bemerkte, wie die kleine Heldengruppe in der Ferne durch das Land zog. Einer von ihnen hielt den magischen Sternenschild in die Höhe und obwohl überall um sie herum Lava vom Himmel fiel, kam kein Tropfen auch nur in ihre Nähe. Er konnte auch die Reflexion der ihm so verhassten Rietgraskrone zu erkennen, die für alles stand, was er verabscheute.
In diesem Moment erreichten die Flammen auch den Schwarzen Baum und steckten ihn sofort in Brand. Nomion wand sich in Qualen und verdampfte, aber der Schwarze Herold merkte es gar nicht. Er dachte darüber nach, dass die Helden gar nicht wussten, wie viel sie ihm verdankten. Wenn er nicht gewesen wäre, wenn er nicht seine Schlüsse gezogen hätte und schon vor Tagen etwas zwischen den Wurzeln des Schwarzen Baumes gefunden und in Sicherheit gebracht hätte, dann hätten die Helden in ihrer Unbedachtheit beinahe eine gewaltige Katastrophe ausgelöst. Aber er hatte schon lange genug in die Flammen geschaut! Es war Zeit, all das Wissen, das er in den letzten Jahren, aber vor allem in den letzten Monden mit Nomion, erworben hatte, auch anzuwenden. Er hatte noch einiges auszuprobieren, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte.
Er wandte sich vom brennenden Land ab und flog nach Süden, in eine einsame Schlucht, in der ein schwaches, blaues Glühen zwischen einigen Felsen hervordrang, während die Welt um ihn erbebte.

Und in einem weit entfernten Land, hoch im Norden, an der tiefsten Stelle einer tiefen, weit verzweigten Unterwelt, verbreiterten sich einige Risse im Boden.

a - Traurige Erinnerungen

BeitragVerfasst: 28. November 2021, 18:58
von TroII
a – Traurige Erinnerungen

Abenddämmerung, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Zwergenstraße nördlich der Korn-Schlucht, Graues Gebirge

Zwischen den Bergen des Grauen Gebirges wand sich die alte Straße der Zwerge wie ein grauer Wurm aus behauenen Steinen, überraschend gerade in Anbetracht der vielen Gipfel und Schluchten, die sie zu überwinden oder zu umgehen hatte. Die Zwerge waren brillante Baumeister, und diese Straße war ihr Meisterwerk, das Geheimnis ihres einstigen Erfolges, erbaut aus hunderten Tonnen Stein und in unzähligen Stunden Arbeit. So beeindruckend ihre gewaltigen Festen und tiefen Stollen auch sein mochten, mit Hilfe dieser Straße war es ihnen möglich gewesen, selbst in der Oberwelt in Friedenszeiten Handel zu treiben und in Kriegszeiten die Truppen schnell marschieren zu lassen. Doch die glorreichen Jahre waren lange vergangen.
Viele Jahrhunderte lang war die Straße nicht benutzt worden. Und so war sie im Laufe der Zeit halb verfallen, bis vor kurzem erst die Armeen der Krahder und dann ein Tross aus tapferen Andori sie benutzt hatte. Im Zuge des Bebens vor knapp drei Monden jedoch wäre sie beinahe endgültig unpassierbar geworden. Ruinen waren eingestürzt, Schluchten hatten sich verbreitert, aus den Bergen waren Steine groß wie Häuser gebrochen und alle paar Meilen wurde die Straße von Barrieren aus Schutt und Geröll blockiert. Vor einem dieser Hindernisse hatten die Andori ihr Lager aufgeschlagen.

Die Sonne berührte schon die ersten Bergspitzen und tauchte den wolkenlosen Himmel in ein sattes scharlachrot. Die Schatten der Wagen und Zelte wurde länger. Auf einem der Wagen saß Chada. Ihr langes schwarzes Haar kräuselte sich sacht im Wind. Sie hielt eine Gänsefeder in der Hand und vor ihr lag ein halb beschriebenes Pergament, daneben stand ein kleines Tintenfässchen. Doch Chada lauschte nur dem emsigen Gehämmer der Andori, die eifrig die Trümmer von der Straße räumten. Sie schwitzte in ihren grünen Kleidern aus Filz und Leder, obwohl sie noch immer hoch im Gebirge waren. Sicher wird es bald unerträglich heiß in Andor, dachte sie. Dann wandte sie sich wieder dem Pergament vor ihr zu und las erneut, was sie bereits zu Papier gebracht hatte:
Oberster Priester Farrun,
unsere Erwartung, bis Mittsommer wieder in Andor zu sein, wird sich leider nicht erfüllen. Durch die Zerstörung von Borghorn, der Feste der Krahder, haben wir zwar das Land Krahd und die Riesen vernichtet und die Sklaverei beendet, aber auch ein Beben ausgelöst, das zumindest im gesamten Grauen Gebirge zu spüren war. Unser Weg wird dadurch lang und beschwerlich, zudem ist unsere Schar deutlich größer als auf dem Hinweg, viele sind stark geschwächt oder verletzt. Ohne das Essen, das die Agren uns großzügigerweise zur Verfügung stellen, wären gewiss schon die Ersten verhungert. Von den Kreaturen wurden wir bisher zum Glück verschont.


Nachdenklich kaute sie auf ihrem Federkiel. Wie sollte sie den Brief beenden? Schließlich tauchte sie die Feder erneut in die Tinte und schrieb weiter:

Melkart wird nicht länger der Oberste Priester der Bewahrer sein, sodass du diese Verantwortung auch weiterhin wirst tragen müssen. Die befreiten Zwerge, die unter den Krahdern aufwuchsen, werden von Fürst Kram und den Schildzwergen in Cavern aufgenommen. Die Menschen werden sich größtenteils im Rietland ansiedeln, aber vielleicht können auch die Bewahrer einige bei sich aufnehmen?
Wir werden voraussichtlich um den Tag des Dunklen Ausgleichs herum wieder in Andor sein, bitte leite diese frohe Botschaft auch an die Schildzwerge und die Andori weiter.
Bis bald
Cha…


Plötzlich stieß etwas gegen das Tintenfässchen, das umkippte und seinen schwarzen Inhalt über das Pergament ergoss. Sofort versuchte Chada ohne Rücksicht auf ihre Ärmel, so viel wie möglich von dem kostbaren Nass zu retten. Als sie erkannte, dass sie den Brief erneut würde schreiben müssen, fluchte sie unterdrückt. Dann erst sah sie sich nach dem Verantwortlichen um. Vor ihr standen zwei Kinder, den Blick schuldbewusst zu Boden gerichtet. Nur anhand der olivfarbenen Haut erkannte Chada, dass es Agren waren. Der dichte, struppige Haarschopf, das scheinbare Fehlen eines Halses und der stämmige Körperbau traten bei Kindern des Gebirgsvolkes noch nicht so offensichtlich zutage.
„Passt doch auf!“, herrschte Chada sie an. „Seht nur, was ihr angerichtet habt.“
„Tschuldigung.“, murmelte der Kleinere der beiden. „Aber er ist der Ent und ich hab ihn verärgert und muss ...“
„Sei still, du Idiot! Du machst es nicht besser!“, unterbrach ihn der Größere. Dann wandte er sich an Chada: „Es tut uns wirklich leid! Wir haben Fangen gespielt und nicht gut genug aufgepasst. Wenn wir irgendwie helfen können, dann tun wir das natürlich.“
Chada schüttelte den Kopf, doch bevor sie antworten konnte, fuhr der junge Agre fort: „Ich bin übrigens Darn, und das ist Boram.“
Chada wollte sich auch vorstellen, doch Darn ließ sie nicht zu Wort kommen. „Und Ihr seid Prinzessin Chada, das weiß doch jeder. Ihr seid mein Idol, wisst Ihr? Ich weiß alles über die Helden von Andor!“ Seine dunklen Augen leuchteten stolz. „Wenn ich groß bin, werde ich auch ein Held!“, verkündete Darn mit einer Gewissheit, wie sie nur Kindern zu eigen ist, die überzeugt davon sind, eines Tages in einem Schloss aus Pfefferkuchen zu wohnen. Chada musste unwillkürlich schmunzeln als sie sich den in schmuddelige Fellfetzen gehüllten Jungen mit einem Schwert in den plumpen Fingern vorstellte.
„Komm, Darn, wir machen hier sauber!“, meinte Boram etwas schüchterner.
Da ertönte eine Stimme, knarrend und langsam: „Ihr seht doch, dass es jetzt schon zu spät zum Helfen ist. Macht, dass ihr fortkommt, ihr Rabauken, und achtet in Zukunft besser auf eure Umgebung.“ Langsam näherte sich ein alter Agren, das flache Gesicht von müden Falten durchzogen, die dunklen Haare von oben herab ausdünnend, der zottelige Bart bis auf die schmutzige Brust herabhängend. Grone, der Agrenälteste.
Die beiden Kinder liefen eingeschüchtert davon, Grone dagegen kam bedächtig zu Chadas Karren und versuchte, hinaufzuklettern, wäre jedoch beinahe gestürzt, wenn Chada nicht blitzschnell sein Handgelenk gegriffen hätte.
„Vielen Dank!“, sprach der Alte und schenkte ihr ein zahnloses Lächeln. „Meine müden Knochen machen nicht mehr alles mit und auch meine Reflexe sind nicht mehr die besten. Der Fluch des Alters.“ Er lachte leise. „Sieh ihnen ihren Übermut nach. Jugend ist kein Verbrechen.“
„Sei unbesorgt, Grone. Ich bin ihnen nicht wirklich böse. Solange es nicht erneut passiert.“
„Oh, keine Angst. In wenigen Tagen werden die Agren wieder in ihre Höhlen zurückkehren. Wir haben euch schon lange genug begleitet.“ Chada erstarrte. Wie sollten sie ohne die Agren überleben? „Hmhm, mach nicht so ein Gesicht. Wir lassen euch so viel Proviant da, wie ihr benötigt.“
Erleichtert atmete Chada aus. „Vielen Dank für eure Hilfe. Ich wüsste nicht, wie wir ohne die Agren zurückgekommen wären.“
„Nichts zu danken. Ihr habt die Krahder besiegt und damit einen Fluch von diesem Gebirge genommen.“
Chada nickte und schloss dann ihre grünen Augen, um die letzten Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht zu genießen. „Was ist der … Ent, Grone?“
„Ein Baumhirte, Hüter des Waldes, Herr der Arbaks. Ein uraltes Wesen, das im Grauen Gebirge haust.“, sagte er spöttisch, „Es ist eine Gutenachtgeschichten, leider nicht wahr, sonst hätten die Krahder niemals ungestraft so viele Wälder fällen können.“
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, dann fragte Grone: „Du wirkst bedrückt. Kann ich irgendetwas für dich tun?“
„Oh, nein danke. Es ist gerade einfach alles sehr viel. Ich trage die Verantwortung für unsere Gruppe, jede Entscheidung könnte eine falsche sein. Immer muss ich für alle da sein, allen helfen, dazu die Sorgen um die vielen Verwundeten und die Angst vor einem erneuten Angriff der Kreaturen.“
„Nur ein schlechter Anführer hätte in einer solchen Situation keine Sorgen. Aber ich bin mir sicher, ihr werdet ohne große Verluste zu Hause ankommen, und dann wirst du nicht mehr für all diese Leben verantwortlich sein.“
Chada seufzte. „Doch, das werde ich. In Andor angekommen werde ich zur Königin gekrönt.“
„Oh, das wusste ich nicht. Aber ich könnte mir keine bessere Königin vorstellen!“
Chada lachte nervös. „Das sagst du doch nur, um mich aufzumuntern. Aber trotzdem danke.“
Grone brummte: „Auch eine zukünftige Königin braucht dann und wann ein wenig Aufmunterung, keine Frage. Doch ich versichere dir, in diesem Fall kamen meine Worte aus tiefstem Herzen.“ Er zögerte kurz. Dann fragte er: „Das klingt jetzt möglicherweise etwas seltsam, aber… habt ihr das Ende der Sklavenschinder verbrannt?“
Chada öffnete die Augen und runzelte die Stirn. „Was soll das denn bedeuten? Wir haben das Ende der Krahder verursacht und wir haben sie verbrannt, aber bei dieser Frage bin ich mir nicht sicher, was ich antworten soll.“
„Es handelt sich um die letzte Prophezeiung von Hral, dem Weisen. Er sagte damals angeblich, dass diese Botschaft seine einzige Prophezeiung sei, die nicht eintreffen werde, aber nur, wenn sie die richtigen Ohren erreiche.“
„Hral, der Seher des Agrenvolkes? Er hat eine Prophezeiung gemacht, die nicht eintreffen wird? Wozu?“
„Es ist alles etwas rätselhaft. Vielleicht sollte der nächste Älteste das Orakel der Geister dazu befragen.“
„Das Orakel der Geister? Was ist das jetzt schon wieder?“
Grone sah sie nachdenklich an. Dann flüsterte er: „Es handelt sich dabei um ein altes Geheimnis unseres Volkes. Nach Hrals Tod machten drei Agrenfrauen es sich zur Aufgabe, Fragen zu beantworten, so wie er zuvor. Eines Tages starben auch sie, aber sie kehrten als Geister zurück und führten ihre Aufgabe fort. Aber bleiben wir lieber bei der Prophezeiung. Es ist wichtig, dass sie diejenigen erreicht, für die sie bestimmt ist.“
„Ich kann nicht mit Sicherheit behaupten, dass wir das Ende der Sklavenschinder verbrannt haben. Doch die Krahder sind alle tot, also für wen sonst soll diese Prophezeiung in Zukunft gelten?“
„Nicht so voreilig. Die Krahder sind tot, aber das heißt nicht, dass es in Zukunft nie wieder Sklaverei geben wird.“
Chada erschauderte. „Ich denke, ich werde mit Leander darüber sprechen. Wenn sich jemand mit Prophezeiungen und Zukunftsvisionen auskennt, dann er.“ Sie überlegte kurz. „Aber, Grone, ist es schlimm wenn die Prophezeiung die falschen Ohren erreicht? Ich meine, du kannst sie uns doch einfach sagen. Wenn wir die Richtigen sind, dann tritt sie nicht ein und wenn wir nicht die Richtigen sind, dann schadet es auch nicht.“
Grone verschränkte seine kleinen, behaarten Hände. „Ich weiß nicht. Es könnte ein Risiko sein. Aber andererseits habt ihr die Sklavenschinder getötet und es war mit Sicherheit viel Feuer im Spiel.“ Er zögerte kurz, dann begann er feierlich zu sprechen. „Also gut, hör zu: Wenn der… Oh, ich glaube, jemand möchte dich sprechen.“
Und tatsächlich, eine große Gestalt näherte sich. Inzwischen war es zu dunkel, um das Gesicht zu erkennen, aber aufgrund der Statur und des Fellumhangs wusste Chada, dass es sich um den Wolfskrieger Orfen handelte. Schon ertönte dessen raue Stimme: „Chada! Wo bleibst du denn? Es wird längst dunkel, das Feuer brennt schon. Die Zeremonie kann jeden Augenblick beginnen.“
Chada sprang auf. „Es tut mir Leid, Grone, aber ich muss jetzt los. Die Pflicht ruft.“
„Geh nur, Chada. Ich bin mir sicher, du hast viel zu tun. Ich warte hier auf dich, wir können unser Gespräch nachher fortsetzen. Ach, bitte richte deinen Freunden aus, dass es mich freut, sie zu kennen.“
Chada hastete bereits hinter Orfen her, warf Grone noch ein kurzes „Bis dann!“ zu und verschwand dann zwischen den Wagen und Zelten.


Frühe Nacht, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Zwergenstraße nördlich der Korn-Schlucht, Graues Gebirge

„Der 84. Frühjahrstag ist ein Tag wie jeder andere. Doch heute vor genau 76 Jahren wurde der Grundstein der Rietburg gelegt, eines Bauwerks, das bis heute ein Symbol für Freiheit und Sicherheit ist. Ein halbes Jahr zuvor war der junge Brandur, der das Unmöglich geschafft hatte und den Krahdern, den Sklavenschindern, entkommen war, der seine Schar durch das Graue Gebirge geführt und dem Drachen Tarok getrotzt hatte, von seinem Volk zum König gekrönt worden und hatte offiziell den Beginn Andors verkündet. Er begründete damit nicht nur eine neue Zeitrechnung, er gründete ein Land, in dem sein Volk in Frieden und Freiheit leben sollte.“
Chada stand vor dem großen Feuer und betrachtete die vielen Gesichter darum. Trotz der Dunkelheit erkannte sie ihre Freunde. Sie sah Orfen, den Wolfskrieger, dessen einstmals schwarzes Haar sich während seiner Zeit in den Händen der Krahder grau gefärbt hatte. Sie erkannte Drukil, den Hautwandler, natürlich in menschlicher Gestalt mit ungepflegtem hellblondem Haar und Bart. Den blinden Leander, der mit gesenktem Kopf ihrer Stimme lauschte und dessen blaue Hände seinen knorrigen Stab umklammerten. Dort saßen Melkart, der ehemalige Oberste Priester der Bewahrer, der sie vor so vielen Jahren großgezogen hatte, lange bevor sie geahnt hatte, dass in ihren Adern königliches Blut floss, und daneben Merrik, der alte Kartograph. Etwas abseits der abgemagerte Bragor, ein einstmals stolzer Tarenkrieger, dem in seiner Zeit in der Winterburg die Hörner abgesägt worden waren. Weiter hinten stand Garz, der dicke Handelszwerg. Sie sah ihre ersten Freunde, Fürst Kram von Cavern, Oberhaupt der Schildzwerge, Hand in Hand mit seiner Frau Marun. Eara, die blonde Zauberin, die in ihren dunklen Gewändern erhaben auf einem Stein saß, etwas weiter vom Feuer entfernt, sodass die Schatten, die sich um den gegabelten Stab in ihrer rechten Hand schlängelten, fast nicht zu erkennen waren. Und Thorn, der hünenhafte Krieger, wie immer in einen himmelblauen Umhang gehüllt. Ein aufmunterndes Lächeln zerteilte seinen goldblonden Bart, das Chada unwillkürlich erwiderte.
Doch fast genau so gut konnte sie all die Gesichter erkennen, die fehlten. Die Gesichter derjenigen, die heute nicht mehr kommen konnten und deretwegen sie zusammengekommen waren. Sie fuhr fort: „Noch sein ganzes Leben gab König Brandur stets sein bestes, um die Andori zu beschützen. Er verteidigte Andor gegen die Trolle, die Kreaturen des letzten Drachen und unzählige andere Gefahren. Doch elf Jahre nach seinem Tod übten die Krahder Rache. Sie fielen in sein Land ein und verschleppten Unzählige. Brandurs Geist aber lebt in seinem Volk fort. Freiwillige brachen ins Graue Gebirge auf, um die Gefangenen zu befreien. Und viel zu viele von ihnen werden nicht zurückkehren. Der Angriff der Krahder hat tiefe Wunden geschlagen, die zum Teil niemals heilen werden. Wir gedenken heute denen, die unter der Gefangenschaft der Krahder starben. Wir gedenken den tapferen Menschen, die ihr Leben riskierten und verloren, um ihre Freunde zu retten. Wir gedenken auch all den verstorbenen Schildzwergen, die uns begleiteten, obwohl keiner ihres Volkes verschleppt worden war. Sie taten es aus Mitgefühl und Solidarität, und viel zu viele von ihnen mussten ihr Leben dafür geben. Wir gedenken insbesondere auch Radan, der sich erst gegen Fürst Kram aussprach, aber der zuletzt doch an seiner Seite in den Kampf zog, der den Prinzen der Krahder tötete und diesen Kampf selbst nicht überlebte.“
Sie spürte Trauer in sich aufsteigen, weniger um den verbitterten Zwerg als um alle, die sie jetzt noch aufzählen musste. Doch das war sie ihrem Opfer schuldig. „Wir gedenken Reka, der Hexe, die einst an Brandurs Seite aus Krahd geflohen ist, die mit ihrer Weisheit und ihren Heilkünsten stets auf ihre Art für das Gute kämpfte und mit deren Tod viel Wissen verloren ging. Wir gedenken Arbon, der dunkle Schriften las, die er nicht hätte lesen dürfen, der den Andori aber bis zuletzt beistand, obwohl er von den Bewahrern verstoßen worden war. Wir gedenken Fenn, der einst aus dem Osten, aus den Barbarenlanden, nach Andor kam, auf der Flucht vor den Krahdern, und der sich ihnen schließlich doch noch stellte. Wir gedenken Kheela, die sich mit ihrer Weisheit und Großherzigkeit für immer einen Platz in unseren Herzen erkämpfte. Drei Menschen, die an unserer Seite unzähligen Gefahren trotzen und die sich tapfer den Heeren der Krahder in den Weg stellten, um anderen Zeit für die Flucht zu verschaffen. Die verschleppt wurden und die ihre Zeit in der Winterburg nicht überlebten. Wir gedenken…“
Sie merkte, wie ihre Stimme brach und sammelte sich kurz.„Wir gedenken Darh, die unter den Krahdern aufwuchs und die sich am Ende mit aller Macht gegen ihre einstigen Meister stellte. Wir gedenken Forn, dem Schattenskral, der aufgrund seiner Natur niemals Dank von denen zu erwarten hatte, für die er sein ganzes Leben kämpfte. Beide blieben in Borghorn zurück, um ihnen unbekannten Sklaven die Flucht zu ermöglichen.“
Chada hob die Arme und hoffte, dass die Tintenflecken auf ihren Ärmeln in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen waren. Der Feuerschein spiegelte sich in der Rietgraskrone, die an einer Kette um ihren Hals hing. „Wir haben keine Körper, die wir bestatten könnten. Wir haben nichts als die Erinnerungen, die wir in uns tragen. Die Erinnerungen an das Opfer, das sie alle brachten. Wir müssen uns klar machen, dass wir uns glücklich schätzen können, zu denen zu gehören, die aufgrund ihres Opfers eine Zukunft in Frieden verbringen können. Die Krahder sind für immer besiegt, von nun an wird es aufwärts gehen. Aber vergesst niemals, was uns dieser Sieg gekostet hat.“
Mit diesen Worten drehte Chada sich langsam um. Die Andori und die Schildzwerge, die befreiten Sklaven und die Agren würden jetzt um die Verstorbenen trauern und ihr Leben feiern, aber Chada brauchte jetzt etwas Ruhe, etwas Zeit für sich. Sie kehrte dem großen Feuer den Rücken und setzte sich ins Gras. Sie lehnte ihre Schulter an einen Stein, legte ihren Kopf in den Nacken und betrachtete die Sterne, bis sie einschlief.


Mondhoch, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Zwergenstraße nördlich der Korn-Schlucht, Graues Gebirge

Chada wurde davon geweckt, dass jemand eine Decke über ihr ausbreitete. Ohne die Augen zu öffnen schnupperte sie. Rosshaar, Rietgras und ein Hauch von Leder, eine unverwechselbare Mischung. „Du musst dir keine Mühe geben, leise zu sein. Ich bin schon wach, Thorn.“, lächelte sie.
Ächzend ließ sich Thorn neben ihr ins Gras sinken. „Du warst wunderbar.“, flüsterte er sanft.
„Ja, das war ich wohl. Damals, vor so langer Zeit.“, entgegnete Chada traurig. Sie dachte zurück an den Tag, an dem König Brandur ihr, Thorn, Kram und Eara die Heldenbrosche Andors verliehen hatte. Vieles hatte sie inzwischen erlebt, Gutes wie Schlechtes. Thorn gehörte definitiv zu den guten Dingen.
„Und du bist es noch immer.“, antwortete der Krieger ernst.
„Ich fühle mich aber nicht sehr wunderbar. Nur erschöpft. Ich bin froh, wenigstens jetzt meine Ruhe zu haben.“ Thorn versteifte sich neben ihr machte Anstalten, aufzustehen. Chada riss die Augen auf und verfluchte sich für ihre unbedachten Worte. „Nein, bleib!“, bat sie. „So meinte ich das nicht! Es ging um Ruhe von der Verantwortung, den Entscheidungen.“
„Du solltest diese Last nicht schultern müssen.“, seufzte Thorn. „Jetzt nicht. Und erst recht nicht den Rest deines Lebens.“
„Irgendjemand muss es tun.“
„Aber warum sind immer wir dieser irgendjemand? Wir haben schon so viel getan, meinst du nicht, dass jetzt mal jemand anders dran ist?“ Seine schwieligen Hände legten sich um ihre und er blickte ihr fest in die Augen. „Bitte, lass es uns beenden. Wir haben für Andor unsere Leben riskiert und unsere Jahre geopfert, aber jetzt können wir gehen. Wir suchen uns einen Hof irgendwo im Rietland, wo niemand uns erkennt. Wir züchten Pferde und sammeln Kräuter. Wir finden endlich Frieden nach den Jahren des Kampfes.“
Chada senkte ihren Blick, um den flehentlichen Ausdruck in seinen blauen Augen nicht mehr ertragen zu müssen. „Du weißt, dass ich das nicht kann. Ich bin für die Andori verantwortlich.“
„Weshalb? Weil König Brandur dein Vater war? Du bist die uneheliche Tochter, von der er nie erfahren hat, unter anderen Bedingungen hättest du den Wachsamen Wald niemals verlassen. Es gibt so viele, die nach der Krone lechzen, weshalb willst ausgerechnet du sie tragen?“
„Es geht nicht um das, was ich will! Es geht um das, was meine Pflicht ist. Thorn, ich kann sie nicht im Stich lassen. Aber ich will auch nicht, dass du gehst.“ Sie hob den Kopf. „Du könntest mitkommen. An meiner Seite regieren. Pferde kannst du auch auf der Rietburg züchten, du hast es schon früher getan.“
Er riss seine Hände zurück, als hätte er sich verbrannt. „Ich? König?“, fragte er fassungslos. „Nach all den Jahren soll ich noch immer nicht den Frieden erlangen, nach dem ich mich sehne? Weißt du, welch eine Erleichterung es ist, endlich nicht mit einem Schwert an der Hüfte herumlaufen zu müssen? Endlich nicht mehr stets in Angst vor der nächsten Bedrohung zu leben? Endlich keine Menschenleben mehr in meinen Händen zu halten? Und jetzt soll ich diese Chance auf Frieden auch aufgeben? Ich habe es so satt, Chada! Die Pflichten! Das Blutvergießen! Die Brosche um meinen Hals!“
„Also lehnst du mein Angebot ab?“, fragte Chada verletzt.
„Du lehnst meines ab, Chada.“, antwortete er kalt. „Wir könnten uns zurückziehen, aber du schaffst es nicht. Du hast verlernt, für dich selbst zu leben. Du behandelst die Andori wie kleine Kinder, die nicht selbst für sich sorgen können.“
„Und du läufst vor deiner Vergangenheit und deiner Verantwortung davon. Wir beide sind Helden von Andor, dieses Amt kann man nicht einfach abgeben, wenn es einem nicht mehr passt.“
„Ach, jetzt bin ich also der selbstsüchtige Mistkerl, dem andere egal sind?“, zischte er mit hochrotem Gesicht. „Soll ich dir sagen, weshalb du so sehr an deiner sogenannten Pflicht hängst? Weil du dich daran gewöhnt hast, anzuführen! Weil du dich in der Verehrung sonnst und die Macht nicht loslassen kannst!“
„Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt!“
„Und doch läufst du seit Monden mit dieser Krone um den Hals herum. Du lässt sie ja selbst im Schlaf nicht aus den Augen! Du betrachtest nur ihr hübsches goldenes Glänzen und bemerkst gar nicht, wie sehr ihr Gewicht dich nach unten zieht!“
Mit klammen Fingern tastete Chada nach dem Stück Metall auf ihrer Brust. Sie trug die Rietgraskrone immer bei sich, um sich an ihre Verantwortung zu erinnern, aber sie wollte sie bis zu ihrer Krönung nicht mehr aufsetzen. Ein goldener Reif, wie gewelltes Rietgras geformt, schmucklos, ohne Intarsien oder Edelsteine. Von schlichter Eleganz und stummer Erhabenheit. Ein ehrwürdiges Stück andorischer Geschichte, das sie sich jetzt am liebsten vom Hals gerissen hätte.
„Du bist bloß eifersüchtig!“, fauchte sie Thorn an. „Eifersüchtig, weil ich nicht bereit bin, um deinetwillen die Zukunft Andors zu gefährden.“
„Ich bin besorgt. Besorgt um dein eigenes Wohlergehen, weil es dir selbst anscheinend nichts mehr bedeutet. Weil ich es nicht ertragen kann, dich jetzt, wo alle Gefahren überstanden sind, noch immer am Rande der Erschöpfung zu sehen. Ich wünschte, du hättest nie von deiner Herkunft erfahren!“
Erzürnt sprang Chada auf. „Du missgönnst mir die Antwort, auf die ich mein ganzes Leben lang gehofft habe? Brandur war ein großer Mann und ich bin stolz darauf, seine Tochter zu sein. Er ist bis zu seinem Tod nie vor seiner Bürde davongelaufen! Geh zu den Pferden, die du so sehr liebst Thorn, und finde deinen Frieden! Und vor allem, lass mich in Frieden! Ich habe meine Entscheidung gefällt.“
„Wie Ihr wünscht, Prinzessin! Ich werde Euch in Zukunft nicht mehr als nötig behelligen!“, stieß Thorn mit zitternder Stimme hervor, doch Chada hatte sich schon abgewandt. So schnell sie konnte, hastete sie davon, damit er ihre Tränen nicht sah.

Als sie schließlich keuchend vor ihrem Zelt anhielt, dachte sie daran, dass Grone noch immer auf sie wartete. Sie zögerte, dann jedoch griff sie nach den Schnüren, die die Zeltplane verschlossen. Sie war jetzt viel zu aufgewühlt, und das seltsame Gespräch könnte sie besser fortsetzen, nachdem sie mit Leander gesprochen hatte, außerdem hatte sich Grone gewiss bereits zurückgezogen. Doch sie wusste, dass das in Wahrheit nur Ausflüchte waren. Sie hätte zurückgehen und zumindest nachschauen können, ob der Agrenälteste noch auf sie wartete. Doch sie brauchte jetzt nichts als Ruhe. Sie löste den Knoten vor ihrem Zelteingang und verschwand im Inneren.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, war Grone verstorben.

b - Eine finstere Vision

BeitragVerfasst: 28. November 2021, 18:59
von TroII
b – Eine finstere Vision

Späte Nacht, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Zwergenstraße nördlich der Korn-Schlucht, Graues Gebirge

… ein gewaltiger, in Flammen stehender Baum…

… ein Drache, eingerollt auf glattem, grauen Boden liegend, die Augen geschlossen, vielleicht schlafend, vielleicht auch tot…

… Dunkelheit…

… eine Ruine, umgeben von der See, der Himmel weiß vor Möwen, die darüber fliegen und ohrenbetäubend kreischen…

… ein gewaltiger, halbkreisförmiger Saal aus Stein, nur erhellt von einem seltsamen, fahlen, blauen Glühen…

… Dunkelheit…

… ein Mann mit blauer Haut, mit seinem Schwert einen Taren ohne Hörner durchbohrend…

… eine finstere, gezackte Maske mit zwei stechenden, weiß leuchtenden Augen…

… Dunkelheit…


Leander schlug keuchend die Augen auf. Er sah nichts als Dunkelheit und tastete nach seiner Augenbinde. Seine Fingerspitzen berührten feines Tuch. Schnell zog sich Leander die Binde über die Augen. Natürlich blieb die Dunkelheit, doch der Stoff vermittelte ein beruhigendes Gefühl. Leander griff nach seinem Stab, konzentrierte sich und erhaschte einen kurzen Blick auf braune Planen, eine einfache Decke und eine darauf liegende Gestalt mit blauer Haut. Das Zelt, in dem er übernachtete, wie es für jemanden aussehen musste, der seine Augen noch normal benutzen konnte. Oder zumindest, wie es tagsüber aussähe, denn noch war Nacht, Leander erkannte es an der Kälte der Luft, der Art, wie der Wind pfiff und den Lauten der nachtaktiven Gebirgsbewohner.
Langsam beruhigte er sich wieder. Er hatte eine Vision gehabt! Er hatte die Ruinenstadt gesehen, und den Baum der Lieder … brennend. Einen Drachen, obwohl Tarok doch das letzte dieser Wesen gewesen war. Die Maske des Schwarzen Herolds. Und immer wieder diese Dunkelheit. Er hatte noch niemals einfach nur Dunkelheit als eine Vision gehabt. Aber er wusste genau, dass diese Düsternis eine Vision gewesen war, eine Vision, welche die übrigen überschattete und die ihm mehr Sorge bereitete als alle anderen erschreckenden Bilder zusammen. Diese Dunkelheit konnte er nicht einschätzen. Sie hatte etwas Bedrohliches, Endgültiges gehabt, das ihm Angst gemacht hatte.
Und der Mann mit blauer Haut… Dieses Bild schmerzte besonders. Er hatte Callem versprochen, die Helden von Andor zu vernichten und in seinem Namen Rache zu üben, doch stattdessen hatte er ihnen zum Sieg verholfen. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, all die Sklaven zu verdammen und diejenigen zu hintergehen, die sich als seine Freunde bezeichneten. Er hatte Mitleid mit ihnen gehabt. Er hatte Callems Wunsch verraten. Hatte sogar ihren Schwur gebrochen. Ich schwöre feierlich… Und er würde es wieder tun! Wie hatte es so weit kommen können?
Callem hätte gesagt, Leander sei schwach geworden, doch er kam sich nicht schwach vor. Er wusste, dass die Helden von Andor hinter ihm standen, er hatte in ihnen Freunde gefunden, auch wenn sie nichts von seiner Verbindung zum ehemaligen Kapitän der Schwarzen Kogge wussten. Er fühlte sich zerrissener als es der Hautwandler jemals könnte. Drukil wusste nicht, welche Gestalt wirklich seine war, aber Leander wusste nicht einmal, auf welcher Seite er stand. Er könnte sich nicht länger gegen die Helden von Andor stellen, das wusste er, aber Callem war sein Bruder.

Plötzlich überkam die Erinnerung Leander wie eine Vision. Er hatte am Strand der Insel gespielt, die später Narkon heißen würde, und Muschelschalen gesammelt, als er in der Ferne die Fackeln gesehen hatte. Schon da hatte erkannt, dass etwas nicht stimmte. Sie bekamen nie Besuch, schon gar nicht von so vielen auf einmal. Und warum trugen sie all diese Fackeln bei sich? Er war nach Hause gerannt, so schnell er konnte, doch als er ankam, war aus der elterlichen Hütte ein Scheiterhaufen geworden. Leander würde niemals den Anblick der schwarzen, glühenden Balken vergessen. Bilder, die ihn verfolgten. Und nicht nur Bilder. Da waren die Geräusche von lauten Männerstimmen, vom rauschenden Meer, vom prasselnden Feuer, von gequälten Schreien aus dem Inneren der Hütte, die den Stimmen seiner Eltern in nichts ähnelten. Der Geruch von verbranntem Fleisch, der Geschmack von Asche in der Luft, das Gefühl der Hitze auf seiner Haut und des namenlosen Entsetzens in seinem Inneren. Das Erlebnis hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt, auch die zwei Jahrhunderte, die seitdem vergangen waren, hatten nicht das kleinste Detail auslöschen können, so sehr Leander es sich auch gewünscht hatte. Jede Einzelheit war noch immer in seinem Kopf gefangen, die Erinnerung war deutlicher als alle Bilder der Zukunft, die er in seinen Visionen sah.
Ohne Callem hätte der Mob auch ihn getötet. Plötzlich war er da gewesen, kaum zehn Jahre alt, und hatte Leander an der Hand gegriffen und mit sich gezogen. Als er nicht mehr konnte, hatte Callem ihn weitergeschleift und schließlich waren sie entkommen. „Wer war das?“, hatte Leander keuchend gefragt. „Wo sind Mama und Papa? Warum haben sie die Hütte angesteckt?“
„Mama und Papa kommen nicht mehr. Wir werden ohne sie auskommen müssen.“
„Aber...“
„Sie hassen uns, Leander! Wir sind anders als sie! Wir haben blaue Haut! Mehr brauchen sie nicht als Grund, um auch ein sechsjähriges Kind wie dich zu töten. Wir müssen hier weg, sonst finden sie uns.“
„Ich will nicht weg! Wir müssen auf Mama und Papa warten, Callem.“
„Ich habe doch gesagt, sie kommen nicht mehr.“ Callem hatte die Hände zu Fäusten geballt und eine einzelne Träne war über seine blaue Wange geflossen. „Ich werde es ihnen allen zeigen. Sie werden bis ans Ende ihrer Tage Fischer bleiben, aber ich werde Kapitän. Ich segle im Auftrag des Meereskönigs umher und zeige ihnen, dass wir besser sind als diese Mörder. Und jetzt komm, Leander.“
Und so waren sie losgezogen. Sie hatten viele Gefahren überstanden. Nun, Callem hatte sie überstanden. Wann immer zu wenig Nahrung da war, hatte Callem erst gegessen, wenn Leander satt war. Wann immer etwas Leander Angst machte, war Callem da gewesen, und hatte ihn getröstet. Wann immer Leander etwas angestellt hatte, hatte Callem die Strafe ertragen. Schließlich hatten sie sich an der Küste des Wachsamen Waldes einen Unterstand gebaut, später war eine kleine Hütte daraus geworden. Und dann war Callem losgezogen, war in die Dienste des Meereskönigs Varatan getreten und ein erfolgreicher Kapitän geworden. Er hatte alles, was er verdiente, nur benutzt, um Leander zu versorgen. Callem dürstete es nie nach Wohlstand, sondern nur nach Ruhm. Und während Leander mit dem Geld seines Bruders Bewahrer vom Baum der Lieder bestach, die ihm Schriftrollen ausliehen, war Callem eines Tages zu dem geworden was er heute war. Als erstes hatte er die Fischersiedlung ausgelöscht, bei der die Hütte ihrer Eltern gestanden hatte. Monster, nannten sie ihn später. Dämon. Pirat. Die letzte Anschuldigung zumindest traf zu, aber für Leander war Callem stets nur der geliebte große Bruder geblieben.
Eines Tages jedoch war er nicht mehr gekommen. Schnell fand Leander heraus, was geschehen war und sein Streben richtete sich nur noch auf ein Ziel: Varatans Fluch zu brechen, der auf seinem Bruder lastete und der ihn daran hinderte, das abgeschiedene Eiland zu verlassen, das sie einst Heimat genannt hatten. Er hatte unzählige Sprachen gelernt, doch keine hatte ihm helfen können. Schließlich hatte er sein Augenlicht gegen die düstere Gabe der Voraussicht eingetauscht. Doch es sollte noch viele Jahre dauern, bis sein Bruder endlich erlöst wurde.

Das Bild, das Leander in seiner Vision gesehen hatte, zeigte Callem, wie er einen Taren ohne Hörner tötete. Leander schüttelte traurig den Kopf. Er kannte nur einen solchen Taren. Während seiner Gefangenschaft waren Bragor die Hörner abgesägt worden. Im Gegensatz zu seinen drei menschlichen Gefährten hatte er die Zeit in der Winterburg überlebt, bis er befreit werden konnte. Doch er war innerlich gebrochen. Bragor würde nie mehr der Tarus sein, der er einst war. Auch wenn Leander den alten Bragor nie kennengelernt hatte, so berichteten die Menschen von einem stolzen, abenteuerlustigen Krieger, der an der Seite der Helden von Andor in den Kampf gezogen war. Doch der jetzige Bragor war abgemagert, still und müde. Er aß kaum und sprach nur selten ein Wort. Eara war überzeugt, dass er in seiner Heimat Sturmtal wieder erstarken würde, doch Leander wusste jetzt, dass sie in diesem einen Fall unrecht hatte. Bragor würde in Sturmtal nicht genesen. Er würde dort sterben.
Niedergeschlagen versenkte sich Leander in das Reich seiner Erinnerungen, dem er das Aussehen jener Hütte am Waldrand gegeben hatte, die ihn den Großteil seines Lebens beherbergt hatte. Die vielen Schränke, Schubladen und Kästchen enthielten keine Kräuter oder Schriftrollen mehr, sondern Bilder und Gefühle, die er nicht vergessen wollte. Er besaß kein außergewöhnliches Gedächtnis, er wusste nur, mit dem umzugehen, was er hatte. Er hielt Ordnung in seinem Geist. Wissen ist Macht.
Leander fertigte eine Erinnerung seiner jüngsten Vision an, solange sie noch frisch war, und legte sie in einer freien Schublade ab, die sich von den vielen anderen nur durch einen Splitter am Knauf unterschied. Ein Splitter, den Leander so wenig vergessen würde irgendeine andere Einzelheit seiner Heimstatt, und der die Vision nun für immer in sich eingeprägt hatte.
Anschließend betrachtete Leander die aufgeräumten Schränke. Es war Zeit, seine Vergangenheit nach Hinweisen zu durchforsten. Er zögerte kurz, dann griff er nach einer Schatulle aus Ebenholz und klappte sie auf. Ein Geschenk Callems, eines seiner ersten Beutestücke als Kapitän der Schwarzen Kogge. Fein säuberlich aufgereiht lag auf rotem Samt eine Reihe aus sieben Perlen. Die erste so strahlend weiß, dass sie in den Augen schmerzte, die zweite von silbernem Glanz umwebt, das Perlmutt der dritten aus hellgrauen Wellen gebildet, die vierte dunkelrot schimmernd wie frisch vergossenes Blut, die fünfte wie eine Träne geformt, die sechste gleich einem Regenbogen schillernd und die letzte dunkel wie die Tiefe der See. So lange hatte er nicht mehr an seine Entscheidung gedacht. An sein Verbrechen. Seine Gleichgültigkeit.
Leander überlegte kurz, wo jeweils welche Erinnerung verborgen war, dann berührte er die erste Perle. Die Hütte verschwand und wich der Zeit vor über dreißig Jahren.


Abenddämmerung, Lichttag 42. A.Z.
Taverne
Zum Trunkenen Troll, Andor
Leander saß allein in einer Ecke der stickigen Taverne und lauschte angeekelt den derben Trinkliedern des ungebildeten Volks. Heute war Mittsommer, der Lichttag, und die Andori feierten die kürzeste Nacht des Jahres und nahmen bereits Abschied von der Wärme des Sommers, der in ihrer Zeitrechnung morgen erst beginnen würde. Der Pöbel widerte ihn an, aber er konnte nicht alle seine Pläne nur von seiner einsamen Hütte aus verfolgen. Die Befreiung seines Bruders nahte. Die beiden Menschen, die den Fluch brechen sollten, waren inzwischen endlich geboren, und Leanders Aufgabe war es, die Zukunft zu erfüllen, die er sich mühsam aus den Bruchstücken seiner Visionen zusammengebaut hatte. Es gab nicht viel zu tun, nur einige Steine aus dem Weg zu räumen und andere bereitzulegen. Ein winziger Kiesel konnte eine Lawine auslösen.
Jemand zog den Hocker auf der anderen Seite des Tisches zurück und setzte sich.
Und da kommt schon mein Kiesel, dachte er bei sich, während er kurz seine Gabe benutzte, um einen Blick auf einen Bauerntölpel von vielleicht vierzig Sommern, mit schlammbraunem Haar und Bart, naivem Gesicht und langer Nase zu erhaschen.
„Ihr habt mich holen lassen. Woher kennt Ihr mich, Fremder?“, murmelte der andere mit tiefer Stimme und sein biergetränkter Atem schlug Leander entgegen.
„Seid gegrüßt, Auserwählter. Ich beobachte Euch schon seit längerem.“ antwortete Leander leise mit verstellter Stimme.
„Ach ja? Und wer seid Ihr? Zeigt doch wenigstens Euer Gesicht, wenn Ihr mit mir redet!“
Um zu verhindern, dass jemand seine strahlend blaue Hautfarbe bemerkte, hatte er sich seine Kapuze bis unters Kinn gezogen, sehen konnte er ja ohnehin nichts. Viel mehr störten ihn dafür das Fehlen seines leider allzu auffälligen Stabes und vor allem die Handschuhe, die er tragen musste. Ohne seinen Tastsinn fühlte er sich, als sei er zweifach erblindet.
„Die Schergen des Königs machen Jagd auf mich, mein Gesicht zu zeigen wäre zu gefährlich für uns beide. Ihr könnt mich den Schwarzen Priester nennen.“
„König Brandur sucht Euch?“, flüsterte der Bauer entsetzt. „Warum sollte ich überhaupt mit Euch sprechen? Warum sollte ich Euch nicht an ihn verraten?“
„Weil ich weiß, wer Ihr seid, Auserwählter. Ich weiß von dem Buch unter Eurem Bett und von dem Mal auf Eurer Schulter. Aber seid unbesorgt, ich bin Euch wohlgesonnen. Auch ich bin ein Anhänger SEINER Macht.“
„Das kann nicht sein. Es gibt keinen mehr außer meiner Familie!“, hauchte der Mann entsetzt.
Leander kicherte leise. „Ja, das dachte ich auch lange Zeit von mir. Doch dann bin ich auf Euch aufmerksam geworden. Es tut mir leid, wenn ich Euch erschreckt habe, Auserwählter, aber ich musste Euch einfach sprechen.“
„Ich heiße Seban! Warum nennt Ihr mich so?“
Leander schmunzelte unter seiner Kapuze über die Leichtgläubigkeit des jungen Mannes. „Ihr meint Auserwählter? Weil ER Euch erwählt hat. Nur Ihr könnt SEINE Aufgabe vollenden könnt. Doch ich muss gestehen, ich bin unsicher, ob Ihr das tatsächlich vermögt.“
„Was für eine Aufgabe?“, hakte Seban skeptisch nach.
„Ich weiß nicht, ob ich es Euch anvertrauen kann. Woher soll ich wissen, ob Ihr wirklich zu IHM betet? Vielleicht habt auch Ihr Euch dem ketzerischen Aberglauben an Mutter Natur angeschlossen? Ihr habt eine schöne Frau und einen reizenden Sohn, und doch ziert keinen von ihnen das Mal.“
„Weil ich sie da nicht mit hineinziehen wollte! Dass sie von meinem Glauben wissen ist schon gefährlich genug.“
„Aber Auserwählter, denkt Ihr wirklich, wenn Brandur von Euch wüsste, würde er diejenigen ohne Mal verschonen? Glaubt Ihr etwa der Propaganda des Lügenkönigs, die ihn als gerechten und großherzigen Mann präsentiert? Es gibt keinen Mittelweg, Auserwählter, entweder Ihr und Eure Familie seid SEINE Anhänger, oder keiner von Euch. Denkt darüber nach, bis wir uns erneut sprechen.“
„Ihr wollt schon gehen?“
„Nein, Ihr solltet gehen. Es ist besser, wenn man uns nicht zu lange miteinander sieht, Auserwählter. Möge das Feuer mit Euch sein.“
„Und mit Euch.“, hauchte Seban, ehe er aufstand und seine Schritte zwischen dem Lärm der Feiernden verklangen.



Morgendämmerung, 85. Frühjahrstag 76 A.Z.
Zwergenstraße nördlich der Korn-Schlucht, Graues Gebirge

Als Leander sein Zelt verließ, spürte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Ein Gefühl der Niedergeschlagenheit lag in der Luft, das den Andori wie Bleigewichte auf den Schultern lag. Gestern Abend hatte es eine Trauerfeier für die Opfer der Krahder gegeben, aber die war mit der Stimmung, die das Lager nun fesselte, nicht zu vergleichen. Das Gehämmer war verstummt, das normalerweise erscholl, wenn mit Schaufeln und Spitzhacken die natürlichen Barrieren beseitigt wurden, die ihnen das Beben in den Weg gelegt hatte. Die Ochsen schnaubten leiser, selbst das Schnarchen der Schlafenden war gedämpfter als sonst. Der kühle Wind war verschwunden, der sonst zwischen den Zelten hindurchpfiff und den nach Norden ziehenden Andori ins Gesicht biss, dem Verlauf der alten Zwergenstraße folgend und aus Andor nach Süden in die Gluthitze des ehemaligen Landes Krahd zischend.
Und Leander konnte das Wehklagen vernehmen, das aus dem nördlichen Ende des Lagers drang. Es war kein Schreien, Jammern und Weinen, denn es war ein Trauern von Wesen, die mit täglichen Verlusten zu kämpfen hatten, waren Todesfälle im Grauen Gebirge doch an der Tagesordnung. Das, was Leander vernahm, übermittelten ihm nicht nur seine Ohren, viel mehr war es ein unendlich wehmütiges Gefühl des Verlustes, das nur über sanfte Geräusche vermittelt wurde. Es war wie der Gesang von Gläubigen, die von ihren Göttern verlassen worden waren, das verzweifelte Summen eines Bienenschwarms, dessen Königen gestorben war, das melancholische Heulen eines Wolfsrudels, dessen Leitwolf nicht mehr erwachte. Es war die Klage eines Volkes um ihren geliebten Anführer, das Trauern von Agren, die ihren Ältesten verloren hatten.
Leander brauchte kein Seher zu sein, um zu wissen, was geschehen war. Grone war tot. Der alte Agren, der noch wenige Tage zuvor mit Leander über die Zeiten gesprochen hatte, ehe die Krahder auch das Graue Gebirge mit ihrer unheiligen Hexerei verpesteten und Untote Jagd auf die Agren machten, als der letzte Drache Tarok und seine Kreaturen noch die einsamen Berge unsicher gemacht hatten, würde nicht erneut mit Leander sprechen, seine knorrige Stimme war für immer verstummt. Leander, der selbst schon zwei Jahrhunderte lang im Verborgenen die Welt beeinflusste und beobachtete, die meiste Zeit davon nicht mit Hilfe seiner Augen, war bisher nur selten jemandem begegnet, der noch älter war als er selbst. Grone war schon der Agrenälteste gewesen, als Brandur über das Gebirge flüchtete. Fast drei Jahrhunderte lang hatte er schon auf der Welt geweilt und die Hälfte dieser Zeit sein Volk geleitet, geführt, beschützt. Die Agren wurden bedeutend älter als Menschen, konnten fast so lange wie Zwerge leben, doch auch nach den Maßstäben des Gebirgsvolks hatte Grone außergewöhnlich viele Sommer überlebt. In seinem kleinen Kopf lag mehr Wissen verborgen als auf Dutzenden Schriftrollen des Baumes der Lieder zusammen und dieses Wissen war nun unwiederbringlich verloren. Nicht der Tod des Agren selbst schmerzte Leander, er war alt, seine Zeit schon lange gekommen. Leander hatte ihn gemocht, aber keine Freundschaft mit ihm geschlossen. Was er wirklich bedauerte, waren all die Erfahrungen, all die Erkenntnisse, die nun nicht länger in seiner Reichweite waren. Wie viel hätte er noch von diesem unscheinbaren Alten lernen können, welche Geheimnisse mochte er gehütet haben? Nun würde es niemand mehr erfahren.
Langsam näherte sich Leander der Stelle, von der all das Leid ausging, und nun begriff er endlich, woher diese düstere Stimmung kam, die das gesamte Lager fest in ihrem Griff hatte. Es waren die Agren. Dutzende, Hunderte, Männer, Frauen und Kinder, alle, die sich zu diesem Zeitpunkt im Lager aufgehalten hatten. Auch wenn er sie nicht sehen konnte, so spürte er doch, dass kein einziger fehlte, abgesehen von dem einen, der in Zukunft für immer fehlen würde. Und all diese Agren summten eine schwermütige, langsame Melodie, die dafür sorgte, dass alle anderen Geräusche in den Hintergrund traten, die von solcher Kraft war, dass selbst die Natur innehielt und lauschte. Es war diese wortlose Klage, die das ganze Lager in tiefer Trauer ertränkte und die auch Leander ergriffen hatte. Auch Menschen und Zwerge hatten sich versammelt, um ihr Beileid zu bekunden, ohne zu erkennen, dass die Agren kein Beileid wollten, dass der Tod in ihrer rauen Welt ganz natürlich war und dass sie nicht nur um Grone selbst trauerten, sondern auch um das Ende einer Ära. Grone hatte sie beschützt und sie versorgt, wer wusste schon, wie es in Zukunft mit ihnen weitergehen würde. Wer würde die Agren nun führen?
Nach einer Weile setzten sie sich in Bewegung. Leander bemerkte, wie die Agren sich in einer Prozession gen Süden wandten, noch immer diese Melodie voller Harmonie und Verzweiflung summend, und alle anderen folgten schweigend. Langsam schlängelten die Agren sich durch das Lager, während nun auch die letzten Schlafmützen verwundert aus ihren Zelten krochen, zwar um Stille bemüht, aber Leander vernahm sie trotzdem. Die Agren verstummten erst, nachdem sie das Lager verlassen hatten.

Der Tag begann sich zu regen, die Welt wurde wieder lauter und auch der Wind kehrte zurück. Die Menschen und Zwerge gingen zurück zu ihren Aufgaben, und bald darauf hörte Leander wieder, wie die Steine auf der alten Straße mühsam beiseite geschafft wurden. Und er vernahm eine vertraute Stimme. Chada unterhielt sich mit jemandem, einer alten Frau, der Stimme nach zu urteilen. Die Worte waren noch unverständlich, also trat Leander leise näher.
„ ... halte es für falsch, euch all diese Vorräte zu geben!“, sprach die alte Frau gerade und anhand der Melodie in ihrer Stimme erkannte Leander, dass es sich um ein Agrenweib handelte.
„Bitte, Rhona!“, antwortete Chada und Leander bemerkte eine leise Panik in ihrer Stimme. „Du kannst uns nicht einfach dem Untergang überlassen, wir sind auf die Vorräte der Agren angewiesen.“
„Wir Agren sind ebenfalls auf unsere Vorräte angewiesen. Ich bin die neue Älteste und als solche bin ich verpflichtet, zuerst an mein Volk zu denken.“ Ihre Worte kamen schnell und unfreundlich, sie schien das genaue Gegenstück zum bedächtigen Grone darzustellen.
„Aber...“, setzte Chada an, doch die Agrenälteste ließ sie gar nicht zu Wort kommen. „Ich bin euch dankbar, dass die Krahder besiegt sind und ich bin euch auch dankbar, dass der Bär mich aus der Winterburg befreit hat, aber mit dem Versprechen, das Grone euch gab, hat er die Agren zum Hungern verurteilt.“
„Aber du verurteilst uns zum Tode! Wie sollen wir ohne ...“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich euch die Vorräte nicht überlasse. Ich halte es für falsch, aber Grone hat im Namen der Agren ein Versprechen gegeben und ich habe nicht vor, es zu brechen.“
Leander hörte die grenzenlose Erleichterung in Chadas Stimme als sie sagte: „Vielen Dank! Du rettest uns allen ...“
„Danke nicht mir, ich sagte doch bereits, dass ich es für falsch halte. Und außerdem sind die Vorräte von mir nur bereitgestellt, gesammelt hat mein Volk sie gemeinsam und in großer Anstrengung.“
„Die wir natürlich zu würdigen wissen!“, erwiderte Chada sofort. „Ich weiß, dass es ein großes Opfer für euch darstellt, insbesondere jetzt, nachdem Grone gestorben ist und die Zukunft im Dunkeln liegt. Sein Tod stimmt mich sehr traurig!“
„Weil du es jetzt stattdessen mit mir zu tun hast?“
„Nein, natürlich nicht. Aber er hat mir viel bedeutet.“ Leander erkannte, dass sie es tatsächlich so meinte, dass sie wirklich um ihn trauerte, und er fragte sich, weshalb. So gut hatte sie ihn auch nicht gekannt, nur ab und zu ein paar Worte mit ihm gewechselt. Wenn man schon trauerte, dann höchstens um gute Freunde. Alle anderen könnten ihr gleichgültig sein, aber nein, natürlich stellte selbst der Tod eines alten Agren für sie einen gewaltigen Verlust dar. Wie kann sie so nur leben?, fragte sich Leander.
„Er hat uns allen viel bedeutet.“, sprach Rhona etwas versöhnlicher. „Alle Agren werden ihn vermissen, ich hoffe, du verstehst, dass du deswegen nicht am Totenmahl teilnehmen kannst.“
„Vielleicht kann ich sein Grab anschließend besuchen?“, fragte Chada vorsichtig.
„Wir schließen unsere Toten nicht in Erde und Fels ein, sodass ihre Seelen für immer gefangen sind. Wir geben jedem Agren, dem der Verstorbene etwas bedeutete, einen Teil des Totenmahls ab. Die Gebeine und die übrigen Reste werden anschließend der Natur überlassen, damit ...“
Nun war es an Chada, die Alte zu unterbrechen. „Warte, willst du damit etwa sagen, dass ihr eure Toten … aufesst?“
Es gelang ihr nicht ganz, den Abscheu in ihrer Stimme als Erstaunen zu kaschieren, doch Rhona tat taktvollerweise so, als fiele ihr nichts auf. „Nur so kann der Verlorene in seinem Volk weiterleben, auf dass seine Seele eines Tages in einem anderen Agren wiedergeboren werde. Das ist eine uralte Tradition.“ Eine Tradition, die vermutlich entstanden war, weil es Verschwendung wäre, gutes Fleisch einfach zu vergraben, vermutete Leander. Die Flora und Fauna des Gebirges war schon karg genug. Chada fand keine passende Erwiderung, das hörte Leander ihr an, als sie schließlich rasch das Thema wechselte.
„Grone erwähnte vor seinem Tod eine Prophezeiung. Er fragte mich, ob wir das Ende der Sklavenschinder verbrannt hätten und...“
„Was? Der alte Narr! Hat er sie vorgetragen?“
Chada klang ebenso überrascht, wie Leander es aufgrund der harschen Erwiderung Rhonas war, als sie antwortete: „Wir wurden unterbrochen ...“
„Gut! Diese Prophezeiung ist nur für diejenigen bestimmt, die tatsächlich das Ende der Sklavenschinder verbrannten, und für mich klingt das eher danach, als wäre die Prophezeiung nicht für euch, sondern höchstens für jene, die euch verbrennen.“
Chada schien verwirrt, doch Leander verstand. Die Helden von Andor waren das Ende der Sklavenschinder und wenn man sie verbrannte … Leander jedenfalls hatte nicht vor, verbrannt zu werden. Doch schon stieg vor seinem inneren Auge das ungebetene Bild des brennenden Baumes der Lieder auf, das er heute Nacht gesehen hatte. Würde er mit ihm verbrennen? Würde er zu Asche vergehen, so wie die vielen Schriften, die darin lagerten? So wie seine Eltern an jenem schicksalhaften Tag vor über zweihundert Jahren?
„Grone wollte mir die Prophezeiung nennen. Welchen Schaden kann es schon anrichten, wenn ...“
Erneut wurde Chada von der Agrenältesten unterbrochen. „Du hast keine Ahnung, welchen Schaden eine Prophezeiung in den falschen Ohren anrichten kann. Frag deinen Freund hinter dir, der kann es dir sicher erklären!“
Leander zuckte unmerklich zusammen. Er hatte nicht angenommen, bemerkt worden zu sein, keine der beiden hatte irgendwie auf seine Anwesenheit reagiert. Tatsächlich hörte er, wie Chada sich jetzt umdrehte. Er konnte sich das Erstaunen auf ihrem Gesicht gut ausmalen, doch sie gab mit keinem Laut zu erkennen, dass er sie überrascht hatte.
„Sie hat recht!“, sagte er schließlich. „Es gab schon Leute, die Schreckliches verursacht haben, in dem Versuch, eine Prophezeiung zu verhindern oder zu erfüllen, die nicht für sie bestimmt war. Mit der Zukunft ist nicht zu spaßen.“
Mit Sicherheit war Chada beleidigt, dass ausgerechnet einer ihrer Gefährten sich in diesem Streit gegen sie stellte, aber eine Prophezeiung, die nicht für einen selbst bestimmt war, bekam man besser gar nicht zu hören. Und Chada war klug genug, ihm nicht zu widersprechen, sie wusste, dass er der Experte war. Stattdessen bat sie Rhona: „Dann befrage wenigstens das Orakel der Geister, ob die Prophezeiung wirklich nicht für uns bestimmt ...“
Schon wieder wurde sie unterbrochen, Rhona hatte eindeutig einen Hang dazu. „Woher weißt du vom Orakel der Geister?“ Doch sie schien keine Antwort zu erwarten, denn sie fuhr sogleich fort: „Grone hätte dir niemals davon erzählen dürfen! Das ist eines der bestgehüteten Geheimnisse unseres Volkes! Kein Wort sage ich mehr dazu. Das Gespräch ist hiermit beendet, danke für die Anteilnahme.“
Erst als Leander bemerkte, dass die sich entfernende Person keine Schuhe trug, begriff er, dass die neue Agrenälteste in einer Zeitspanne außer Hörweite gelangte, in der Grone nicht einmal auf die Beine gekommen wäre.
„Danke für die Vorräte!“, murmelte Chada ihr zu leise hinterher, als dass sie es hätte hören können. Leander bezweifelte, dass Rhona an Dank gelegen war, aber letztendlich kümmerte es ihn auch nicht. „Chada!“, sagte er eindringlich, „Ruf die anderen zusammen! Ich hatte eine Vision, von der ich euch erzählen muss.“


Sonnenhoch, 85. Frühjahrstag 76 A.Z.
Zwergenstraße nördlich der Korn-Schlucht, Graues Gebirge

Leander liebte die Stille. Die vollkommene Ruhe, in der es nichts gab außer den eigenen Gedanken, in der man sich ganz in sich selbst zurückziehen konnte um den einzigen Geräuschen zu lauschen, die man nicht ausschließen konnte: der Musik des eigenen Körpers. Dem rhythmischen Schlagen des Herzens, dem Rauschen der Luft in seinen Lungen und des Blutes in seinen Adern, dem Gluckern der unzähligen Organe und Säfte, die sich in seinem Körper befanden. Er liebte es, wenn jedes der Instrumente des Körpers, jeder noch so kleine Ton zu gewaltigen Ausmaßen anschwoll. Aber er hasste die unvollkommene Ruhe, wenn es nur noch ein kleiner Schritt zur wirklichen Stille war, der umso lästiger war, weil man genau wusste, dass dieser Schritt einerseits winzig klein und andererseits unüberwindbar groß war. Wenn kleine Geräusche aus der Außenwelt ihn von der Selbstversenkung abhielten. Eine solche Stille herrschte jetzt um ihn herum, jetzt, nachdem er seine Worte ausgesprochen und die Bilder, die er in der Nacht zuvor gesehen hatte, auch in die Köpfe der anderen Helden von Andor gepflanzt hatte.
Nachdem Chada sie alle zusammengerufen hatte, hatte sie selbst zuerst berichtet, von ihren Gesprächen mit Grone und Rhona. Noch war die Stimmung gut gewesen, schließlich hatten die Andori den Schutthaufen endlich beseitigt und die trauernden Agren zurückgelassen. Es ging wieder vorwärts, da konnten auch beunruhigende Worte über eine seltsame Prophezeiung die Stimmung nicht trüben. Leanders Vision dagegen konnte das durchaus. Die Bilder, die er gesehen hatte, beunruhigten die anderen, und das zurecht. Dabei hatte er seinen Bruder Callem ebenso wenig erwähnt wie die mysteriöse Dunkelheit, die ihn immer wieder heimgesucht hatte. Das war auch nicht nötig gewesen, auch jetzt schon konnte er ihre Sorgen förmlich fühlen. All die plagenden, kleinen Gedanken der Helden von Andor, die den unzähligen Gefahren in der Hoffnung getrotzt waren, nun endlich etwas Frieden zu finden.
Chada sah es als ihre Pflicht, endlich Königin Andors zu werden, so wenig ihr dieser Gedanke auch behagte, Thorn suchte nach Frieden in der Pferdezucht. Leander nahm eine gewisse Verstimmung zwischen den beiden wahr, aber auch ohne seine Gabe wusste er, dass sie nicht lange andauern würde. Fürst Kram wollte endlich die Schildzwerge vereinen, Drukil einsam durch die Wälder ziehen, ebenso wie Orfen durchs Gebirge. Nur bei Eara war Leander sich nicht sicher, was sie wirklich wollte. Sie war ebenso scharfsinnig wie mächtig, doch zugleich kalt wie das ewige Eis ihrer Heimat. Früher war sie nur schwer aus der Ruhe zu bringen gewesen, so hatte er gehört, doch heute war das ganz und gar unmöglich. Keinerlei Gefühlsregung ließ sich ihren Worten oder ihrer Stimme ablesen, und sie umgab sich mit einer Aura der Furcht, die nicht ihre Taten errichtet hatten, sondern ihre Anwesenheit. Aber auch ihr lagen gewiss die Schicksale der vielen Andori am Herzen. Und so schwiegen sie alle, während sie nach einer harmlosen Begründung für seine Vision suchten.

Schließlich wurde ihr Schweigen vom Ruckeln des Wagens unterbrochen. Von vorne hörte Leander die Stimmen des Ochsentreibers, der versuchte, die Tiere unter Kontrolle zu halten. Earas Gegenwart machte sie immer nervös. Damit war der Bann gebrochen. Chada, Fürst Kram und Drukil fingen gleichzeitig an zu sprechen und hielten dann kurz inne, um den jeweils anderen die erste Frage zu überlassen. Schließlich war es Drukil, der zuerst etwas hinterfragte: „Mir wurde gesagt, diese … Drachen sind ausgestorben? Aber deine Traumbilder zeigen die Zukunft. Sicher, dass es wirklich einer war?“
„Ich erkenne einen Drachen, wenn ich einen sehe. Aber um dich zu beruhigen: Ich kann nicht sagen, ob der Drache überhaupt am Leben war. Die Augen waren geschlossen und er regte sich nicht. Ich habe keine Verletzungen erkannt, aber da er eingerollt war, muss das nichts heißen.“
„Beschreibe den Drachen. Wie groß war er?“, fragte Fürst Kram besorgt.
„Ich weiß nicht, wie groß er war. Ich hatte keinen Vergleich. Seine Schuppen waren grau und rissig und … Was soll ich noch beschreiben?“
Earas kalte Stimme erklang. Wie üblich war es unmöglich, irgendeine Gefühlslage herauszuhören, aber Leander hätte wetten können, dass sie irgendwo tief in sich erleichtert war, als sie sagte: „Es heißt, viele der alten Drachen seien versteinert. Wäre es möglich, dass der Drache aus deiner Vision zu ihnen gehört?“
Leander überlegte kurz. „Ja,“, antwortete er schließlich, „möglich wäre es.
„Der Saal!“, warf Kram ein. „War er von Zwergenhand?“
„Ich weiß nicht. Er war riesig und wurde nur von einem schwachen blauen Licht ohne sichtbare Quelle erhellt. Es war ziemlich dunkel.“ Kaum hatte Leander die Worte ausgesprochen, bereute er es auch schon wieder. Sofort erschien in seinem Geist die ungebetene Erinnerung an diese seltsame, furchteinflößende Dunkelheit. Doch davon würde er den anderen Helden nichts erzählen. Also fragte er bloß noch: „Was wisst ihr über diesen Schwarzen Herold? Mir wurde nur gesagt, dass er schon lange gegen euch kämpft.“
Diesmal antwortete Orfen: „Vor vielen Jahren zog er durch Andor, ein Krieger in dunkler Rüstung, von seltsamer Magie durchdrungen.“
„Der Krieger oder die Rüstung?“, hakte Leander nach.
Orfen lachte rau und Leander war überrascht, dass er nach seiner Zeit in der Winterburg und den Schrecken, die vermutlich bevorstanden, dazu noch in der Lage war. „Wenn wir das wüssten. Jedenfalls bereitete er damals die Ankunft von Tarok vor, dem letzten Drachen. Er schien ihm zu gehorchen, doch ich selbst habe ihn schließlich besiegt, ihm mein Schwert durch die Rüstung gestoßen und gedacht: So, den sind wir los! Aber im Gegenteil, stattdessen kam er zurück, wieder und wieder.“
„Er half jedem Gegner, mit dem wir es zu tun hatten.“, ergänzte Eara. „Wir wissen nicht, was seine Motive sind, wissen nicht, woher er kommt, wissen nicht, warum er nach seinem Tod nicht einfach tot blieb. In Hadria nennen wir solche wie ihn Svrattar, verlorene Seelen. Nach allem was wir wissen, handelt es sich bei ihm um ein Gespenst. Aber letztendlich spielt es auch keine Rolle mehr. Wir wissen, dass er uns hasst, und das genügt.“
Nun ergriff erneut Orfen das Wort: „Seit seiner Rückkehr hat er sich nicht mehr alleine gegen uns gestellt, sondern nur unsere anderen Feinde unterstützt. Doch jetzt sind all unsere Feinde geschlagen. Ich wüsste nicht, was er noch tun will.“
„Woher willst du das wissen, Orfen?“, fragte Leander. „Ihr dachtet schon oft, all eure Feinde seien besiegt, aber bisher habt ihr euch immer getäuscht. Ich weiß nicht, welche, aber ich bin mir sicher, der Schwarze Herold spielt noch eine Rolle in dem, was noch kommt. Wenn er sich euch jedoch nicht alleine entgegenstellt, dann heißt das, dass es noch jemanden gibt.“
Kaum hatte er es gesagt, musste Leander an seinen Bruder denken. Die Helden hatten die Schwarze Kogge zerstört, zweifelsohne dachten sie, alle an Bord, die nicht ihren Waffen zum Opfer gefallen waren, seien ertrunken. Doch Callem lebte, und einige andere ebenso. War er verpflichtet, es den Helden mitzuteilen? Doch sie würden fragen, woher Leander davon wusste, sie würden bemerken, dass sie nur genau zwei Personen mit blauer Haut kannten. Außerdem war es keineswegs sicher, dass es tatsächlich Callem war, den der Herold unterstützen würde. Vielleicht lauerte eine weitere, noch unbekannte Bedrohung in den Schatten, die er nicht kommen sah. Doch dann wurde ihm klar, dass er seinen Bruder nicht ohne Grund gesehen hatte. Callem war auf jeden Fall wichtig. Doch Leander erwähnte ihn nicht. Stattdessen wurde er von Thorns besorgter Frage abgelenkt: „Was meinst du damit, was noch kommt? Woher weißt du, dass deine Visionen sich in nächster Zeit abspielen werden?“
„Das weiß ich nicht. Aber es war alles sehr...“ Beinahe hätte er düster gesagt, doch schon kam ihm erneut die Erinnerung an die unheilvolle Dunkelheit. „… sehr bedrohlich. Ich weiß nicht wann meine Visionen eintreffen werden, aber es wird auf jeden Fall gefährlich. Wir müssen bereit sein, ansonsten könnte das Ende der Helden von Andor bevorstehen.“
Womit zumindest sein innerer Zwiespalt beendet wäre. Vielleicht würde das Schicksal vollenden, was er nicht vermocht hatte. Einst hatte er die Helden von Andor verraten, töten, sich im Namen Callems rächen wollen. Es hätte so viele Möglichkeiten gegeben, und Leander hatte keine einzige ergriffen. Er hatte sich gesagt, dass er bis Krahd warten würde, um neben dem Sieg über die Helden auch noch das Wissen der Krahder zu erhalten. Doch in Krahd angekommen, hatte er sie nicht mehr verraten können. Er hatte sich anders entschieden, er hatte seinen Bruder hintergangen anstatt die Helden von Andor. Häufig waren es nur kleine Entscheidungen, die die Zukunft beeinflussten.
„Geschehen die Ereignisse in der Reihenfolge, in der du deine Visionen siehst?“, riss Thorn ihn aus seinen Gedanken. „Oder ist die Reihenfolge, in der sie ablaufen, zufällig?“
Leander lächelte. „Die Reihenfolge der Ereignisse ist nicht zufällig, die Reihenfolge der Visionen dagegen schon – zumindest habe ich bisher kein Muster erkennen können. Aber häufig handelt es sich auch nicht um bestimmte Zeitpunkte, die ich sehe, sondern um Orte und Personen, die von großer Bedeutung sind. Die Schwierigkeit ist, die Bilder richtig zu deuten und sich so auf die Zukunft vorzubereiten.“
„Wenn du sagst vorzubereiten,“, sagte Chada leise und Furcht schimmerte in ihrer Stimme, „heißt das, die Ereignisse geschehen auf jeden Fall? Unabwendbar?“
Leander wusste, dass sie an den brennenden Baum dachte. „Jede Vision tritt ein, früher oder später. Doch es ist möglich, sie nach selbstgewählten Bedingungen eintreffen zu lassen.“
„Aber es ist vollkommen unmöglich, das Gesehene abzuwenden?“, rief Chada entsetzt.
„Ja! Ich hatte noch nie Visionen, von denen ich verhindern konnte, dass sie eintreten. Häufig muss man die Bilder symbolisch sehen, sie zeigen nicht, was tatsächlich geschieht, sondern müssen interpretiert werden. Und bei diesen Interpretationen können natürlich Fehler unterlaufen. Doch ich habe noch nie von einer Vision oder Prophezeiung gehört, die verhindert werden konnte. Es sei denn, ihr zählt die Geschichte von Solantis.“
„Solantis?“, fragte Thorn irritiert. „Das sagt mir nichts. Aber wenn berichtet wird, dass eine Vision nicht eintraf, dann …“ Er beendete seinen Satz nicht.
„Die Mär von Solantis ist wohl kaum als zuverlässige Quelle anzusehen. Eine dumme Geschichte, mehr nicht.“
„Erzähle sie uns trotzdem!“, forderte Chada hoffnungsvoll.
Leander schüttelte seufzend den Kopf. „Angeblich war der erste Höhepunkt menschlicher Zivilisation eine Stadt namens Solantis, die voller ungeahnter Reichtümer steckte und im Zuge einer großen Katastrophe im Meer versank, und hartnäckig hält sich das Gerücht, einige Seefahrer seien im Stürmischen Ozean bei der Himmelssäule auf versunkene Ruinen gestoßen. Wenn dies der Wahrheit entspricht, fällt ihr Untergang womöglich mit dem Seebeben zusammen, das unsere Geologen auf das Jahr 2806 vor der Offenbarung des Propheten Reschael schätzen. Da uns keine sonstigen Überlieferungen vorliegen, könnte Solantis jedoch ebenso gut Seemannsgarn sein.“, zitierte Leander aus dem Kopf. „Eine kleine Fußnote am Rand einer Schriftrolle aus dem Baum der Lieder und der einzige Grund, weshalb ich die Geschichte überhaupt noch nicht vergessen habe. Nach unserem heutigen Kalender war dieses Beben 4647 vor Andorischer Zeitrechnung, und was diese Himmelssäule sein soll weiß niemand, den ich kenne. Und darauf wollt ihr eure Hoffnungen setzen, dass sich meine Bilder abwenden lassen?“
„Es wäre närrisch, auf diese Geschichte zu hoffen.“, meldete sich Eara kühl zu Wort. „Aber ebenso närrisch wäre es, auf möglicherweise wichtige Informationen zu verzichten, nur weil sie uns abwegig erscheinen. Wie geht diese Geschichte?“
Leander senkte schicksalsergeben den Kopf. „Wie ihr meint.“, gab er nach. „Dann hört die Sage von Solantis, wie ich sie vor vielen Jahren von einem Geschichtenerzähler Werftheims erlauschte.“
Leander betrat die Hütte seiner Erinnerungen, öffnete das Gewürzschränkchen neben der Kochstelle und berührte das Fach, das einst ein Fläschchen Honig beinhaltet hatte. Die goldene Stimme des Alten erfüllten seine Gedanken für wenige Herzschläge, dann setzte Leander an: „Es war einmal, vor vielen Jahren, Solantis, die Gleißende, die strahlende Stadt. Perle des Ozeans, Hort der Wunder, Wohnsitz der Götter, Stadt der Seher, lang verwelkte Blüte menschlicher Kultur. Solantis lag auf einer üppigen Insel im weiten Meer, umgeben vom Brausen des Ozeans. Die Straßen waren mit Gold gepflastert, die Paläste aus feinstem Silber erbaut, die Dächer bestanden aus reinem Diamant und in den Straßen blühten Blumen aus leuchtendem Glas. Auf jedem Platz stand ein prachtvoller Tempel, in dem die Priester sich mit ihren erhabenen Göttern berieten, denen die Gleißende ihren Wohlstand zu verdanken hatte und mit deren Hilfe die Solanter das Größte errichtet hatten, was je von Menschenhand erbaut werden sollte. Die Einwohner von Solantis waren schön, weise und lebten in unermesslichen Reichtum, den sie großmütig mit den umliegenden Völkern teilten. Sie waren stolz, doch nicht hochmütig.
Leander unterbrach sich. „Ihr wisst ja, wie das ist. Wenn nur genug Zeit vergeht, wird in den Geschichten aus jedem verschollenen Kupferstück ein gewaltiger Schatz, aus jedem Duell eine Schlacht und aus jeder zerstörten Hütte ein Palast.“
Er wartete auf eine Antwort, doch die anderen schwiegen und so fuhr Leander schließlich fort: „Die Götter hatten die Solanter mit dem zweiten Gesicht reich beschenkt. Unzählige Seher lebten in der strahlenden Stadt und stellten ihre Fähigkeiten in den Dienst des ewigen Königs Myranon, welcher gerecht über Solantis herrschte und selbst ein mächtiger Seher und Zauberer war. Die Seher wussten, dass ihre Visionen nicht verhindert werden konnten, oft genug hatten sie sich darum bemüht, doch sie konnten ihr Wissen nutzen, um jede Katastrophe zu bewältigen, jedes Problem zu lösen und jedes Unrecht sofort zu sühnen.“ Leander legte eine vielsagende Pause ein, doch noch immer sagte keiner der anderen Helden etwas.
Eines Tages jedoch sahen die Seher eine schreckliche Seuche, die Solantis heimsuchen würde. Sie sahen das Wasser in den Brunnen verfaulen, das Vieh darben, die Bevölkerung elendig zugrunde gehen. Myranon tat alles, um mehr darüber herauszufinden und die Schäden so gering wie möglich zu halten, doch je mehr er sah, desto größer ward seine Verzweiflung. Er sah, wie immer mehr seines Volkes an der Seuche sterben würden, wie die kalte Hand des Todes in Solantis um sich greifen und die Pracht zerstören würde. Er sah Väter, ihre Söhne begrabend, Frauen, die ihre Säuglinge von den Klippen warfen, um ihnen das Leid der Krankheit zu ersparen, er sah Solantis sterben. Alle Seher der Stadt suchten nach einem Heilmittel, noch ehe die Krankheit überhaupt ausgebrochen war, schickten ihre Träume in fremde Reiche und ihre Entdecker auf waghalsige Reisen, doch niemand konnte Erfolge vorweisen. Die Priester flehten zu ihren Göttern, doch selbst diese wussten keinen Rat und konnten keine Hoffnung bringen. Die Bevölkerung floh aus Solantis, die Stadt verwaiste mehr und mehr, und der Tag der Seuche rückte immer näher. Da hörte Myranon die Prophezeiung eines Sehers, ausgerechnet im Herzen von Solantis, im höchsten Heiligtum, verberge sich eine Kur gegen jedes Leiden. Er hörte, er werde diese Heilung finden und die Seuche besiegen. Er hörte, Solantis werde gereinigt, und er dankte den Göttern. Doch da traten die Götter zu ihm und verboten ihm, diesen Weg zu beschreiten. Sie untersagten die einzige Möglichkeit, die Seuche zu bezwingen, und Myranons Herz ward dunkel von Trauer. Er wollte sich nicht gegen seine Götter wenden, denen Solantis doch alles verdankte, doch er konnte nicht zusehen, wie seine Stadt durch seine Untätigkeit vernichtet wurde. Und er ahnte, dass die Prophezeiung nicht aufzuhalten wäre, ebenso wenig wie alle anderen zuvor. Also schmiedete er Pläne, um ins Heiligtum einzudringen. Wenn die Seuche ausbrach, dann wollte er sie baldestmöglich beenden können. Doch die Götter wussten um seine Absicht, und auch sie wurden von Trauer erfüllt. Myranon durfte das Heiligtum nicht betreten, und so straften sie den ewigen König für seine Hybris. Sie ließen Flammen vom Himmel regnen und die Erde erbeben, die ganze Insel ächzte und versank dann in den eisigen Tiefen des Meeres. Jedes lebende Wesen in Solantis fand an jenem Tag den Tod, und die Götter weinten heiße Tränen über den Verlust ihrer größten Schöpfung und das Verhängnis, das sie ihren Gläubigen hatten bringen müssen. Über Solantis errichteten sie die Himmelssäule als Mahnmal, um andere vom gleichen Fehler abzuhalten, und verließen den Ort ihres schrecklichen Opfers. Doch es heißt, dass zweimal im Jahrtausend, wenn die Himmelssäule an Größe gewinnt, die Glocken in der Tiefe läuten und Solantis für eine Stunde aus den Fluten auftaucht. Und wer reinen Herzens ist, kann die strahlende Stadt betreten, den Gesängen der Geister lauschen. Und wenn er den Göttern sein Blut opfert, so werden die Toten erlöst, und er selbst kann die Schätze von Solantis bergen.
Die übrigen Helden benötigten einige Herzschläge, um zu begreifen, dass Leanders Geschichte beendet war. „Und weshalb hat das mit Traumbildern zu tun, die nicht eintreffen?“, fragte Drukil schließlich. „Du hast doch nur gesagt, dass die Seher nichts verhindern konnten.“
„Der Geschichte nach versank Solantis im Meer, noch ehe die Seuche ausbrach oder Myranon das Heilmittel fand.“, erklärte Leander. „Hunderte Seher haben die Krankheit gesehen, und alle haben sich geirrt. Doch woran das lag, kann ich nicht sagen – abgesehen davon natürlich, dass der Großteil der Sage mit Sicherheit hinzugedichtet wurde und es wahrscheinlich gar nicht stimmt, dass auch nur ein Seher sich irrte. Vermutlich hat es weder Myranon noch Solantis je gegeben.“
Plötzlich ertönte ein Horn. Leander hörte, wie Thorn aufsprang und sich etwas stieß, vermutlich den Kopf. „Verdammt!“, rief Chada. „Das war das Alarmhorn. Wir werden von den Kreaturen angegriffen. Am helllichten Tag!“ Sofort riefen die anderen Helden durcheinander und verließen in kürzester Zeit den Wagen. Nur Leander blieb sitzen. Er griff seinen Stab fester und versuchte, sein inneres Auge auf die Ereignisse um sich herum zu fokussieren. Erst war es etwas unscharf, dann erkannte er mehr.

… eine kleine Schar Wargors, nur ein Dutzend, die auf eine Reihe brauner Wagen zustürmt…

Die dunklen Kreaturen der Tiefe waren reptilienartige Wesen ohne eigene Kultur, welche aber die Gemeine Sprache zumindest rudimentär verstehen und gebrauchen konnten. Als die Drachen noch nicht ausgerottet waren, hatten die Kreaturen ihnen gedient, seit Taroks Tod trieb nur noch der Hunger nach Fleisch sie an.
Wargors waren die schnelleren und stachligeren Verwandten der Gors aus dem Norden. Beide Arten hatten rötliche Schuppen und riesige Hornklauen anstelle von Vorderbeinen, doch während die Wargors sich wie große Echsen bewegten, vergleichbar mit den seltenen schwarzen Wardraks, gingen die gewöhnlichen Gors in gebeugter Haltung auf ihren Hinterbeinen und konnten so fast die Größe von Zwergen erreichen.
Leander war erleichtert, dass er zumindest keine Skrale gesehen hatte, vermutlich würde dieser Angriff also schnell abgewehrt werden. Aber ein „vermutlich“ reichte ihm nicht.

… ein Kampf, Blut, tote Kreaturen, verwundete Menschen, doch keine Leichen…

… Wargors, die panisch flüchtend zwischen hohen Bergen verschwinden…


Dieser Kampf würde ein gutes Ende nehmen. Aber was brachte die Zukunft?

… ein Tross aus Wagen, der in den ersten Herbsttagen in ein friedliches, sonnenbeschienenes Grasland eintrifft…

… eine Feier am Baum der Lieder, Bewahrer, ihre lang vermissten Freunde willkommen heißend …

… Dunkelheit…


Nein! Nicht schon wieder! Nicht schon wieder diese Dunkelheit! Doch es war zu spät, die Vision hatte bereits ein unaufhaltsames Eigenleben entwickelt.

… ein edler Dolch, eine gewundene, goldene Schlange mit Rubinaugen als Knauf, von seiner Klinge tropfendes Blut…

… Zwerge in silbernen Rüstungen, gegen Meereskreaturen kämpfend…

… Dunkelheit…

… ein schlanker Mann, die grauen Augen im schmalen Gesicht listig funkelnd…

… ein kleiner Gegenstand, silbern glänzend, zwischen schaumbedeckten Wellen versinkend…

… Dunkelheit…

… ein im Schnee kauerndes Mädchen in brauner Kutte, ihr Haar fast so golden wie ihre Augen…

… ein steinerner Boden, von bedrohlichen Rissen durchzogen…

… Dunkelheit…

c - Fell oder Haut

BeitragVerfasst: 28. November 2021, 18:59
von TroII
c – Fell oder Haut

Später Nachmittag, 14. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

Der Jubel um sie herum war unbeschreiblich. Die Luft zitterte vor freudiger Erregung und der Wald bebte erwartungsvoll. Ein Gefühl des Triumphes lag in der Luft, das alle Anwesenden mit reiner Freude erfüllte. Doch das meiste Glück verspürten sicherlich jene, die nun endlich ihre Freunde, ihre Verwandten in die Arme schließen konnten. Mütter umarmten ihre Söhne, Töchter ihre Väter, Brüder ihre Schwestern und Freunde einander. Die Melodie des Waldes war von Euphorie durchtränkt, doch in dieses Harmonie des Erfolgs mischten sich immer wieder die traurigen Klänge jener Menschen, die erfuhren, dass ihre Angehörigen nicht zu ihnen zurückkehren würden, dass sie für immer im Grauen Gebirge geblieben waren.
Auch Drukil spürte diese bittersüße Erregung um sich herum. Er hatte keine Angehörigen, kannte niemanden, den er aus den Fängen der hexenden Riesen befreit hatte. Freundschaft hatte er höchstens mit den Helden von Andor geschlossen, doch selbst von ihnen waren einige nicht zurückgekehrt. Darh war für Drukil stets etwas unheimlich gewesen, doch mit Forn hatte er sich verstanden. Niemand hatte besser nachvollziehen können, wie es war, von seiner Natur her zweigeteilt zu sein.
Drukil freute sich mit den Menschen um ihn herum, doch zugleich spürte er auch die Regung des Bären in sich. Der Bär mochte keine großen Menschenmengen, er mochte den lauten Jubel nicht, er wolle sich zurückziehen in den Wald um sich herum. Bald!, versprach Drukil dem Bären. Noch wenige Tage, dann war seine Aufgabe hier erfüllt.
Die Zwerge unter Fürst Kram waren bereits in ihre Heimat unter den Bergen zurückgekehrt, hatten die Schar verlassen, kaum, dass sie alle das Gebirge hinter sich gelassen hatten. Kurz darauf waren auch die meisten Menschen gegangen, waren nach Westen abgebogen, ins weite Grasland und zum Fluss hinunter. Mit ihnen war Orfen gegangen, der schweigsame Einzelgänger. Drukil vermisste ihn. Seit er aus der verschneiten Feste voller Bosheit befreit worden war, hatten sie sich angefreundet. Sowohl der Bär als auch der Mensch in ihm hatten ihn gemocht, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Wege sich trennen mussten. Orfen gehörte in die Berge, in die Weiten, Drukil dagegen brauchte Wald um sich herum. Er war froh, endlich in einem Wald zu sein, der ebenso groß war, wie der, den er die meiste Zeit seines Lebens bewohnt hatte, vielleicht auch noch größer. Die Wälder, die im Gebirge wuchsen, waren klein, krank und verdorrt, dieser hier jedoch strahlte eine Lebensfreude aus, die nicht nur von den jubelnden Menschen ausging. Und nur noch wenige Tage, dann war alles vorbei. Bald würden Chada und Thorn ebenfalls gehen, dorthin, wohin auch Orfen gegangen war.
Und zum Glück würde auch Eara verschwinden. Drukil hasste das Gefühl, das ihn in ihrer Gegenwart stets ergriff. Eine Mischung aus unterschwelliger Furcht und blinder Panik. Die Gewissheit, dass alles um sie herum nicht so war, wie es sein sollte. Sie zerstörte die Harmonie ihrer Umgebung, wurde begleitet von einer widernatürlichen Kälte. Dunkle Magie! Drukil war froh, dass sie bald endlich verschwinden würde. Natürlich war ihm bewusst, dass auch sie sich für die Menschen einsetzte, dass sie ebenfalls mit aller Macht gegen die abnormale Hexerei der Riesen kämpfte, aber ihre Kraft war noch schlimmer als die lebenden Toten. Was Leander tun würde, wusste Drukil nicht, aber er selbst würde die Menschen verlassen, das Fell wachsen lassen, sich in den Wald zurückziehen. Er würde den silbernen Reif vergraben, der ihn begleitete, seit die Agren ihn ihm geschenkt hatten, und nie wieder die menschliche Haut anlegen. Er würde durch den Wald streifen, Fische im Fluss fangen und sich auf den Winterschlaf vorbereiten. Er sehnte sich nach dem unwissenden Frieden des Bären, den es nicht kümmerte, ob seine Taten gut oder schlecht waren, der sich nicht um viele sorgen musste, sondern nur um sich selbst. Er wollte die Freiheit spüren. Dieser Wald hier würde seine neue Heimat sein.

Nach kurzer Zeit schritt ein Mann durch die Menge. Im Gegensatz zu den Menschen um ihn herum, die ausnahmslos grüne und braune Kleidung trugen, waren seine Gewänder schneeweiß und die Bewahrer in seiner Nähe wichen respektvoll beiseite, um ihm Platz zu machen. Er ging zielstrebig auf die Helden zu und schüttelte als erstes Chada die Hand. „Als du vor über dreißig Jahren hier geboren wurdest, hätte niemand erwartet, was eines Tages aus dir werden würde. Prinzessin, ha!“, sagte er warm. Dann begrüßte er auch die anderen Helden. „Wir sind euch allen zu großem Dank verpflichtet! Vor etwas über einem Jahr bracht ihr ins Graue Gebirge auf, als eure Zukunft ungewiss war. Ihr wart sehr tapfer, doch eure Mühsal ist nun vorbei.“
Drukil musterte ihn. Er war ein schlanker Mann von vielleicht 40 Sommern. Alles an ihm war vollkommen unscheinbar, seine Stimme ebenso wie sein Gesicht, das man lange mustern konnte und danach trotzdem sofort vergaß. Sein kurzes, mattbraunes Haar wirkte rötlich im Licht der untergehenden Sonne, seine ebenmäßige Züge waren zu einem Lächeln verzogen und aus seinen hellbraunen Augen blitzten Humor und ein messerscharfer Verstand. Um seinen Hals hing eine Kette mit einem goldenen Baum als Anhänger. Plötzlich bemerkte Drukil, dass er selbst von seinem Gegenüber ebenso ausgiebig gemustert wurde, bis dessen Blick sich den anderen Helden zuwandte. Er zeigte Mitleid beim Anblick des abgemagerten Bragor, doch der sah nur zu Boden und schien die Anteilnahme des Fremden nicht zu bemerken.
Schließlich sprach Chada den Mann an: „Wir sind auch froh, dass alles vorbei ist, Farrun. Hast du dich schon in deine Rolle als Oberster Priester eingelebt?“
Der Mann sah auf seine weißen Gewänder hinab. „Es ist ungewohnt. Melkart war Oberster Bewahrer, seit ich denken kann. Aber er hat mich gut auf diese Aufgabe vorbereitet und ich hoffe, dass ich mein Amt ebenso lange ausführen werde wie er. Aber vergeudet eure Ankunft nicht mit mir, es gibt einige, die euch sehen wollen. Und ich kann es selbst kaum erwarten, meinen alten Mentor endlich wiederzusehen.“ Mit diesen Worten verschwand er wieder im Getümmel und ließ die Heldengruppe stehen.
Nach und nach kamen immer mehr Bewahrer zu ihnen und begrüßten sie freudig. Eine unbekannte Frau küsste Drukil auf den Mund, bevor er sie langsam wegschob und ein kleines Mädchen umarmte die überraschte Eara, die sogar fast so etwas wie ein Lächeln zeigte.
Bald schon standen sie im Zentrum der Menge und wurden von allen Seiten zu ihrem Erfolg beglückwünscht und mit Dank überhäuft. Drukil wurde unruhig inmitten all der Menschen, der lauten Stimmen, der bunten Farben und der ungewohnten Gerüche. Er versuchte, sich durch die Masse zu arbeiten, doch er war in einem unbarmherzigen Sog gefangen, der ihn immer wieder zurückdrängte. Er spürte, wie der Bär unruhig wurde, wie er auszubrechen versuchte. Doch da entdeckte Drukil eine Lücke in der Mauer aus Leibern. Rasch zwängte er sich hindurch, ehe sie sich wieder schließen konnte.
Er atmete die frische Luft ein und reckte seinen Kopf ehrfürchtig zum gewaltigen Baum hervor. Jetzt erst bekam er eine Gelegenheit, ihn ausgiebig zu betrachten. Der Baum der Lieder. So gigantisch, dass die Mammutbäume um die Lichtung wie Sprösslinge wirkten. Seine gewaltigen Äste schaukelten sacht im Wind, doch der Baum strahlte eine solche Kraft und Beständigkeit aus, dass Drukil keinen Moment fürchtete, einer von ihnen könnte abbrechen und ihn erschlagen. Der Baum war umgeben von solcher Lebendigkeit, dass der ganze Wald davon zehrte. Die Blätter waren trotz des beginnenden Herbstes sattgrün, hunderte noch unreife Früchte hingen zwischen ihnen, das Holz schien vor Vitalität geradezu zu beben. Der Stamm hatte die Ausmaße eines Turmes und die Fenster wirkten eher gewachsen denn geschnitzt, als wäre der Baum nicht vor langer Zeit von Menschenhand ausgehöhlt worden, um Platz für unzählige Schriften und Archive zu bieten, sondern schon immer von Gängen und Kammern durchzogen wie ein Ameisenbau. Doch dieser Moment der Ruhe währte nicht lange. Die ersten Bewahrer verfolgten ihn schon wieder, begriffen nicht, dass er allein bleiben wollte. Also verschwand Drukil schnell im Schatten des kolossalen Baumes. Er fand eine ruhige Stelle hinter einer großen Wurzel und bettete sich auf den Moosteppich, der hier alles bedeckte. Noch lange lauschte er der Feier, ehe seine Augen schließlich zufielen.


Morgendämmerung, 15. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald
der bär seht mühsam auf und blinzelt ins morgenlicht. kurz schnuppert er in die frische morgenluft, bemerkt die anwesenheit der pelzlosen, läuft in den wald, seinem schatten nach. der pelzlose in ihm protestiert, spürt den drang zu bleiben, hat noch verpflichtungen. doch den bären kümmern verpflichtungen nicht, er läuft weiter. er spürt den zorn des pelzlosen in sich, doch was ist schon zorn? der bär weiß, dass er auch als pelzloser wieder in den wald möchte.
Drukil! Mein Name ist Drukil! Ich werde ihn nicht vergessen. der bär braucht keinen namen. namen sind für wesen, die sich voneinander abgrenzen wollen, doch für den bären gibt es keinen unterschied zwischen ich und du, es gibt nur ihn. je weiter er sich vom lebensbaum entfernt, desto leiser wird der pelzlose in ihm, bis er schließlich verstummt. der bär will die freiheit spüren, läuft um die wette mit dem wind. sein massiger körper rennt geschickt durchs dichte unterholz. sein kräftiges herz trommelt, die klare waldluft fließt in strömen durch seinen rachen.
der bär spürt das behindernde gewicht an seiner pfote, versucht, das glänzen abzustreifen, die erinnerung ans pelzlosensein.
Halte ein! der pelzlose regt sich wieder, ist wütend. also lässt der bär vom glänzen ab. er ist auch so frei. er rennt nicht mehr, denn die große kälte naht und er braucht alle reserven für den langen schlaf. er streift durch den wald, während die sonne über den himmel klettert. der bär frisst beeren, wenn er hungrig wird, folgt spuren und gerüchen, die interessant scheinen. mit jedem schritt sinkt die sonne wieder tiefer, der schatten des bären wird wieder länger, doch für den bären ist zeit irrelevant. er ruht, wenn es dunkel wird, frisst, wenn er hunger hat, schläft, wenn die große kälte kommt. den pelzlosen ist die zeit wichtig, sie rinnt durch ihre kleinen pfoten, doch für den bären bedeutet sie nichts. sonnenlicht auf seinem fell. wind in seiner nase. bäume um ihn herum. der bär ist nicht glücklich, denn glück ist ein konzept, das er nicht benötigt. der bär ist zufrieden. das genügt.


Später Nachmittag, 15. Herbsttag 76 A.Z.
Südlich des großen Brunnens, Wachsamer Wald
als es abend wird, schleicht in einiger entfernung vom bären noch ein wesen umher. der bär sieht es. hellrote schuppen. gebeugter gang.
Gor! der pelzlose mag das wesen nicht, doch der bär ignoriert es. sein fleisch ist ungenießbar, seine hornklauen scharf. leben und leben lassen. das wesen humpelt, sein eines bein ist verkrüppelt. es hat angst vor dem bären, denn es ist schwächer, doch das wesen ist keine beute. der bär geht gemächlich daran vorbei, doch dann erstarrt er. er spürt etwas… kälte! angst! verzweiflung! verderbnis! tod! das wesen spürt es auch, es duckt sich furchtsam. dann versteift es sich. plötzlich ist es von einem blauen schimmer umgeben. es kreischt kurz, seine roten schuppen werden grau und spröde, seine kleinen augen farblos, sein gesundes bein schlaff. dann kommt ein luftstoß und das wesen wird zu asche und staub, vom wind in alle richtungen davongetragen. das alles geschieht in nur wenigen augenblicken, doch den feinen sinnen des bären entgeht keine einzelheit. er brüllt auf. seine glieder zittern, seine haare sind aufgestellt. dann rast er davon, erfüllt von nackter panik. in seine gedanken tritt das bild von den skeletten von pelzlosen, von grauen riesen. der bär hat so etwas schon einmal gespürt, nicht derart entsetzlich, aber vergleichbar. doch seine gedanken sind verworren, seine gefühle aufbrausend, seine erinnerungen unzusammenhängend. der pelzlose! er kann die gedanken ordnen. er muss übernehmen. doch zuerst fort, fort von dem unheilvollen ort und dem blauen glühen! der bär rennt, zieht eine spur aus aufgewühltem erdreich und entwurzelten pflanzen hinter sich her, blickt nicht zurück.


Über den Baumwipfeln schwebte ein Schatten mit gezackter Maske. Voll grimmiger Freude betrachtete er das blaue Glühen aus seiner Faust und die rote Schuppe in seiner Handfläche. Den Bären, der unter ihm durchs Unterholz preschte bemerkte er nicht, wie auch er selbst nicht bemerkt wurde. Einige Herzschläge verstrichen und schließlich richtete der Schwarze Herold den Blick seiner stechenden weißen Augen auf den Waldboden und konzentrierte sich. Der eigentliche Test stand erst noch bevor. Das blaue Glühen schwoll erneut an und im Schatten der Blätter bildete sich ein gebeugter Umriss…


Und an der tiefsten Stelle in Hadrias Unterwelt erscholl ein unheilvolles Grollen.


Abenddämmerung, 15. Herbsttag 76 A.Z.
nordwestlich des Baumes der Lieder, Wachsamer Wald

Drukil preschte durch den großen Wald. Endlich konnte er wieder klar denken, endlich hatte der Bär die Kontrolle abgegeben. Der Körper trug noch immer das Fell, war noch immer in Bärengestalt, aber sein Geist glich wieder dem eines Menschen. Doch auch jetzt noch spürte er die Furcht des Bären, spürte seine eigene Furcht. Die Krahder waren vernichtet, für immer! Borghorn war eingestürzt, der Schwarze Baum verbrannt, die Sklaverei beendet. Und doch hatte er sie gespürt, die Hexerei der Riesen, grauenvoller und mächtiger denn je. Er sah das seltsame blaue Glühen, das den Gor umgeben hatte, noch immer vor sich, spürte noch immer diese abartige, verzerrende, surreale, verdorbene Macht. Die Helden … sie mussten gewarnt werden. Wo war er entlanggelaufen, als der Bär seinen Geist beherrschte? Anfangs war er seinem eigenen Schatten gefolgt, am Morgen, als die Sonne im Osten stand. Doch danach?
der bär reckt den kopf in die luft, nimmt seine eigene witterung auf, doch der geruch führt nur zurück. auch die pelzlosen riecht er nicht. doch der wald beherbergt ein großes muster, das labyrinth der bäume ist nicht unübersichtlich, sondern geordnet, die natürlich gewachsenen wege verlaufen nicht willkürlich, sondern von ihrem ursprung aus und zu ihrem ursprung hin. der lebensbaum, bei dem die pelzlosen hausen, ist die quelle und das streben allen lebens unter den baumkronen.
Drukil schüttelte seinen massigen Kopf. Der Bär war stark in ihm, zu stark. Während des Tages hatte er sich in wacheren Augenblicken gefragt, ob er je wieder seine menschliche Gestalt annehmen würde, hatte es zugleich gefürchtet und gehofft. Schon im Riesenland hatte er geglaubt, nie wieder ein Mensch werden zu können. Damals hatte er sich geirrt, doch der Bär wurde immer stärker, zwängte den Menschen ein und fühlte sich zugleich selbst eingezwängt.
Was wären schon seine menschlichen Pflichten gewesen? Abschied nehmen und seine Freunde umarmen, noch kurz den Andori helfen, dann wäre er für immer im Wald verschwunden, hätte das Fell angelegt und sein menschliches Bewusstsein in den einfachen Trieben des Bären verloren. Ein paar Tage früher oder später, das machte für Drukil nur einen geringen und für den Bären gar keinen Unterschied. Doch nun war die Situation eine andere. Die Hexerei der grauen Riesen war nicht ausgestorben, die Nekromantie nicht vergessen. Und Drukil benötigte jetzt sowohl seinen menschlichen Verstand als auch die Instinkte des Bären, denn die Helden von Andor waren in Gefahr, so viel war sicher.
Er folgte den Spuren, die er nur als Bär erkennen konnte, folgte ihnen, weil der Mensch es wollte. Mensch und Bär agierten Hand in Pfote, so wie es in seinen besten Augenblicken schon war, seit er aus der glühenden Quelle getrunken hatte, von den Waldgeistern verflucht worden und erstmals als Mensch erwacht war. Doch damals war es ihm leichtgefallen, hatte sein Verstand ebenso fließend zwischen den Formen gewechselt wie sein Körper. Aber der Bär wurde wieder stärker, wollte die vielen Jahre, um die er inzwischen betrogen worden war, zurückhaben. Um den Bären zu bezwingen, musste Drukil sich immer stärker anstrengen, musste ihn klein halten. Und im Gegenzug wurde der Mensch in ihm immer schwächer, wenn der Bär die Führung übernahm. Wurde jedes mal ein wenig schwächer. Aus der Partnerschaft war ein Kampf geworden, dabei sehnte doch auch Drukil sich nach dem Bären, verbrachte seine Zeit lieber mit Fell anstatt Haut. Doch nun war er endlich wieder in Frieden mit sich selbst, auch wenn dieser Frieden nicht lange halten würde.
der bär rennt und kann die pelzlosen jetzt auch riechen, den lebensbaum in der ferne erspähen. Bald würde Drukil ankommen, bald … für den bären hat das bald keine bedeutung, er kennt nur das hier und jetzt. und in diesem jetzt spürt er, dass der pelzlose zu seinen artgenossen will, zu ihnen muss. vor dem bären treten zwei pelzlose aus dem gebüsch, er hat sie schon lange gerochen. diese pelzlosen tragen den falschen pelz, den sie so sehr lieben. der pelz der beiden vor dem bären ist grün, es sind die gleichen grünlinge, wie sie auch beim lebensbaum sind. der bär riecht ihre angst, doch sie weichen nicht zur seite, sondern halten drohend ihre stöcke in die luft, ihre stachelwerfer.
Gerade noch rechtzeitig gelang es Drukil, anzuhalten. Die beiden Bewahrer hatten schon ihre Pfeile auf die Sehne gelegt angesichts des Ungetüms, das in ihren Augen wohl auf sie zu rannte. Hatten sie noch nichts von seiner Natur gehört oder hielten sie ihn für einen gewöhnlichen Bären? Langsam trat Drukil auf die beiden Bewahrer zu und versuchte, möglichst klein und harmlos auszusehen, was ihm allerdings nicht wirklich gelang. Doch dann rief einer der Bewahrer: „Das ist dieser Hautwandler! Sieh nur, um seine Vorderpfote, da ist ein Reif! Lassen wir ihn durch.“ Die beiden Bewahrer traten beiseite und winkten ihm respektvoll zu. Drukil schnaubte entnervt und trabte an ihnen vorbei.
Und dann, endlich, erreichte er den Baum der Lieder. Noch immer war er äußerst beeindruckend, auf der verfluchten Insel hatte es nichts Vergleichbares gegeben. Doch jetzt hatte er keine Zeit, er musste zu den Helden von Andor. Wo war Chada, wo Thorn, wo Leander? Notfalls wäre auch Bragor in Ordnung, und auch Melkart oder Farrun könnten ihm sicher helfen. Einige Bewahrer sahen ihn verwundert an, als er über den Platz zum Baum hechelte. Dann lief endlich einer von ihnen zum Eingang des Baumes.
Doch kaum war er verschwunden, lief Drukil ein Schauer über den bepelzten Rücken. Dann schob sich ein schwarzer Nebel in sein Blickfeld, dunkle, formlose Schlieren hüllten sich wie Schlangen um seine Beine. Natürlich hatte ausgerechnet Eara ihn zuerst gefunden. Wie hätte es auch anders sein können? Ihre düstere Gestalt trat auf ihn zu und die Bewahrer in ihrer Nähe wichen schnell einige Schritte zur Seite. In Drukils Kehle entstand ein Brüllen, dass er nur mit Mühe unterdrücken konnte. Der Bär rebellierte. zerstörte ordnung! falscher schein! Oh ja, der Bär hasste die Dunkle Magie, viel mehr noch als die Hexerei. Er verstand nicht, dass sie auf seiner Seite stand.
„Drukil!“, sprach Eara, weder überrascht noch zornig. „Die anderen haben sich schon Sorgen gemacht, als du einfach verschwunden warst.“ Die anderen, bemerkte Drukil. Nicht sie selbst. Eara machte sich wohl keine Sorgen um jemanden mit scharfen Zähnen und roher Kraft. Vielleicht machte sie sich auch überhaupt keine Sorgen um irgendjemanden. „Wo warst du, Drukil?“ Er brummte. Der Mund eines Bären war keiner Sprache mächtig, die Zunge erlaubte keine komplexe Artikulation. Doch Eara hatte auch so erkannt, dass sein Fell verschwitzt und seine Beine erschöpft waren, vielleicht bemerkte sie auch das Drängen in seinem Blick. Sie sah ihm tief in die goldbraunen Augen. Etwas streifte Drukils Geist, nur flüchtig, doch sofort wurde der Bär von Panik ergriffen.
der bär brüllt laut auf. vernichtung! dunkelheit! zerstörung! Nur mit Mühe gelang es Drukil, wieder die Kontrolle zu gewinnen. Da erklang eine weitere Stimme, müde, aber warmherzig. „Drukil! Endlich! Du bist einfach verschwunden.“ Thorn rannte aus dem Baum der Lieder hinaus, dicht gefolgt von Chada. Kurz darauf erschien auch der blinde Leander im Eingang und ging gemächlich auf ihn zu.
Drukil wünschte, er könnte seine Gedanken aufschreiben. Doch niemand hatte ihm so etwas je beigebracht, die normalen Wege der Kommunikation waren für ihn ausgeschlossen. „Er hat etwas gesehen.“, sagte Eara unbewegt. „Er lässt mich nicht an sich heran, ich kann nicht mehr in ihm erkennen, aber ich denke, einer von uns sollte ihm folgen.“ Drukil trat einige Schritte zurück, um den schwarzen Dunst zu verlassen und nickte dann mit seinem schweren Kopf. „Ich hole Ambra!“, rief Thorn.


Frühe Nacht, 15. Herbsttag 76 A.Z.
Nordwestlich des Baumes der Lieder, Wachsamer Wald

Drukils Kräfte gingen zur Neige, auch der Bär hatte seine Grenzen. Er war schon den ganzen Tag ausgelassen gewesen, dann war er die ganze Strecke zum Baum der Lieder gerannt. Und nun auch noch der Weg zurück… Die Hufe von Thorns Schimmel dröhnten in seinem Kopf und jeder Schritt fiel ihm schwerer als der vorherige. Aber bald mussten sie wieder da sein, wo alles passiert war. Und tatsächlich, vor ihnen erschienen die Pflanzen, die Drukil in seiner wilden Flucht niedergerissen hatte. Auch das dunkle Gefühl kehrte zurück und der Bär, der schon lange geschwiegen hatte, regte sich wieder. Er wollte fort von hier, doch Drukil war zu müde, um noch irgendeine andere Richtung einzuschlagen. Er verlangsamte seinen Lauf und fürchtete im ersten Moment, dass er hinfallen und einfach liegen bleiben würde, doch er schaffte es, auf den Beinen zu bleiben. Thorn hatte die Spur auch entdeckt und folgte ihr, während Drukil müde hinter ihm trottete.
der bär kommt zu dem düsteren ort. die aura, die von ihm ausgeht, hat sich sogar noch verstärkt. er legt sich müde ins gras, die erschöpfung überwiegt gegenüber dem drang, so schnell wie möglich zu verschwinden.
Thorn sprang von Ambras Rücken und sah sich verwundert um. Er ließ seinen Blick über den Boden schweifen, seine ganze Haltung drückte Verwirrung aus. Konnte er es denn nicht spüren? Alles hier war einfach falsch, verdorben. Doch anscheinend bemerkte der Krieger nichts. Wieso war auch gerade Thorn mitgekommen? Wieso nicht Leander oder Eara, sie hätten sicher etwas bemerkt. Doch andererseits war Leander blind, bis er das dichte Unterholz durchquert hätte, wäre eine halbe Ewigkeit vergangen. Und Eara … Drukil bedauerte es jedenfalls nicht, dass sie nicht vor Ort war.
Doch alleine war Thorn offensichtlich aufgeschmissen, er hatte keine Ahnung, was er hier sollte. Drukil wusste selbst nicht, was er erwartet hatte, für ein normales menschliches Auge war keine Spur von den Ereignissen zu erkennen, zumal es schon längst dunkel geworden war. Nur der Vollmond erhellte den Wald. Der Vollmond… Zu dieser Zeit war der Bär schon immer am stärksten gewesen. War das der Grund für Drukils Machtlosigkeit, für die Überlegenheit des Bären?
„Geht es um den Gor, Drukil?“, rief Thorn plötzlich und der Hautwandler fuhr verblüfft zusammen, die Müdigkeit war auf einen Schlag wie weggeblasen. Woher wusste Thorn vom Gor? Wie hatte er das erkennen können? Hatte Drukil ihn unterschätzt?
Doch dann bemerkte er, dass Thorn auf etwas dunkles zu seinen Füßen schaute. Mühsam rappelte Drukil sich auf und kam näher. Vor Thorn lag ein kleines, zusammengerolltes, zitterndes Etwas. Drukil schnupperte. Tatsächlich, ein Gor. Wo kamen die nur alle her? Er wandte sich ab, als ihm plötzlich etwas auffiel. Das Bein … Der Gor hatte ein verkrüppeltes Bein. Das war unmöglich! Entsetzen erfasste ihn. Plötzlich zitterte er ebenso wie das Geschöpf. Langsam machte er noch einen Schritt nach vorne, drückte dem Gor seine Schnauze in die Seite und sog seinen Geruch ein. Identisch! Dazu das verkrüppelte Bein …
Kein Zweifel, das war der selbe Gor wie vorhin. Der selbe Gor, den er zu Asche und Staub hatte zerfallen sehen. Die Hexerei der Krahder. Sie hatten Skelette in Marionetten verwandelt, hatten die Toten zu Untoten erhoben. Aber von diesem Gor war kein Skelett mehr übrig gewesen, das hätte auferstehen können. Außerdem war er nicht untot, sondern höchst lebendig. Wie konnte das sein? Drukil spürte den Herzschlag, roch die Angst. Dies war keine gefühllose Leiche, kein blasses Abbild eines Verstorbenen, es war ein lebendiges, denkendes, fühlendes Wesen, ganz so, als ob es niemals gestorben wäre.
War es vielleicht gar nicht gestorben? Vielleicht war die Kreatur niemals tot, sondern lediglich an einem anderen Ort gewesen, der Staub nichts als eine Sinnestäuschung. Doch Drukil wusste, was er als Bär gesehen hatte. Innerhalb eines Wimpernschlags war der Gor grau geworden, ausgetrocknet, bis er einer verschrumpelten Mumie glich. Unmöglich, dass er das überlebt hatte. Drukil wich einige Schritte zurück. Dieser Gor musste untersucht werden, musste zum Baum der Lieder, musste …
Thorns Schwert machte seine Pläne zunichte. Mit einem kraftvollen Hieb hackte es dem verängstigten Wesen den Kopf ab. „Den wären wir los. Gibt es hier noch mehr davon oder weshalb sind wir hier?“ Drukil starrte auf den Kopf vor seiner Schnauze, stupste ihn leicht an. Halb erwartete er, er werde sich weiter bewegen, werde dem Tod ebenso entschlüpfen wie schon einmal, doch er regte sich nicht. Lediglich das graublaue Blut sickerte langsam aus der Öffnung, die eben noch ein kaum sichtbarer Hals gewesen war. Oh Thorn, was hast du nur getan?

d - Der letzte Hüter

BeitragVerfasst: 28. November 2021, 19:00
von TroII
d – Der letzte Hüter

Früher Vormittag, 16. Herbsttag 76 A.Z.
Rietland nordwestlich von Narnfurt, Andor

Janis blinzelte in die Morgensonne, die durch das löchrige Schilfdach seiner Hütte lachte. Noch lag die Wärme des Sommers in der Luft, doch der Winter kündigte sich bereits an. Dann würde die zugige Hütte nicht mehr ausreichen, durch das Dach käme der Schnee hineingeweht und die dünnen Decken könnten Janis nicht mehr wärmen. Doch er dachte nicht daran, das Dach zu flicken und sich wärmere Decken zu besorgen, oder irgendwelche Vorräte anzulegen. Alles überflüssig! Er würde schon nicht erfrieren, er hatte auch den letzten Winter überlebt, auch wenn die Hütte damals noch in besserem Zustand gewesen war. Und wenn doch, wäre es auch kein großer Verlust. Wen würde sein Tod schon kümmern? Ein fünfzehnjähriger Junge mehr oder weniger auf dieser Welt, welchen Unterschied machte das schon? Die letzte Person, der er wichtig gewesen war, würde nicht mehr zurückkehren, nie wieder.
Sie sind da! Die Krahder, die Sklavenschinder aus dem Süden. Sie werden gewaltiges Unheil anrichten, wenn niemand sie aufhält.
Sie waren gekommen, vor über eineinhalb Jahren jetzt, hatten sich ihre Beute abgeholt und waren wieder verschwunden.
Der Statthalter wird sie nicht aufhalten, so viel ist sicher. Ken Dorr ist eine feige Schlange, auch wenn du das niemals sagen darfst, wenn andere dabei sind. Verstehst du, Janis? Ich sage das, weil es die Wahrheit ist, aber manchmal ist die Wahrheit gefährlich.
Die Riesen und ihre Armeen der Toten. Wenn sie doch in der Hölle geblieben wären, aus der sie gekrochen waren.
Wir müssen sie aufhalten. Sie sind zu stark, um sie offen zu bekämpfen, aber wir können sie zurückhalten, damit die Menschen sich verstecken können. Was willst du mit dem Stock, Janis? Wenn ich sage „Wir“, dann meine ich damit nicht dich. Du bist viel zu jung. Versteck dich hier bei unserer Hütte und warte auf mich. In ein paar Tagen komme ich wieder und bringe dich an einen Ort, an dem du in Sicherheit bist.
Oh ja, er war zu jung gewesen, um zu kämpfen. Aber war er nicht auch zu jung gewesen, um nach dem Vater, den er nicht gekannt hatte, auch noch seine Mutter zu verlieren? Seine Mutter war gegangen. Hatte sie geahnt, dass sie nicht zurückkommen würde? Waren ihre feste Umarmung und der traurige Kuss auf die Stirn ihr Abschied gewesen? Oder hatte sie tatsächlich angenommen, in einigen Tagen wieder bei ihm zu sein? Janis wusste es nicht.
Als die ersten der Menschen, denen Mutter die Zeit zum Fliehen verschafft hatte, ins westliche Rietland kamen, hatte Janis sie gefragt, wo sie war. Sie hatten es nicht gewusst. Niemand hatte es gewusst. Also hatte er gewartet. Auch als die Bauern und Fischer schon längst in den Wachsamen Wald oder die Taverne Zum Trunkenen Troll geflüchtet waren, hatte er noch gewartet. Er hatte ausgeharrt, als die wandelnden Toten an ihm vorbeimarschierten, er hatte gewartet, als sie wieder zurückkamen und verschwanden. Er wartete bei der Hütte, wie es ihm aufgetragen worden war. Auch als die Krahder Andor schon lange verlassen hatten, wartete er noch, obwohl ihm klar war, dass Mutter ihn niemals freiwillig verlassen hätte. Doch andererseits hatte sie genau das getan. Sie hatte ihn im Stich gelassen, als die Not am größten war, war gegangen, um irgendwelchen Unbekannten zu helfen, anstatt sich um ihren einzigen Sohn zu kümmern.
Spätestens, seitdem sie ihn erstmals besuchte, im Herbst, etwa ein halbes Jahr nach dem Raubzug, hätte er wissen müssen, dass Mutter tot war. Doch er hatte weiter gewartet, bis gestern. Der Wolfskrieger hatte seine letzten Hoffnungen zerstört. Mutter war tot, endgültig. So viele waren den Fängen der Krahder entrissen worden. Männer, Frauen, Kinder, lachende und weinende, doch Mutter war nicht unter ihnen. Janis hasste sie alle. Wieso hatten sie überlebt, diese erbärmlichen Wesen, die zu dumm gewesen waren, um rechtzeitig vor den Sklavenschindern zu flüchten, und Mutter nicht?
Eineinhalb Jahre lang hatte Janis die Hütte so gut er es vermochte in Schuss gehalten, hatte Netze aus Flachsfasern geflochten, das er selbst im weiten Rietland erntete, da die Pflanze in Ufernähe nicht gedieh. Er hatte sich vom Fischfang ernährt, aber mehr als das bloße Ernähren war ihm nicht möglich gewesen. Auch wenn er schon sein ganzes Leben in der Nähe von Fischern verbrachte, hatte seine Mutter ihm andere Dinge beigebracht. Er hatte nicht viel Zeit mit anderen Kindern verbracht, schließlich war er der Sonderling, dessen Mutter allseits bekannt war. Diese Rolle hatte ihm einen gewissen Respekt verschafft, aber ihm Freunde verwehrt. Mutter war die Person, mit der er sein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte und so hatte er jede Einzelheit von ihr noch in Erinnerung, er wusste genau, was sie in welcher Situation zu ihm sagen würde. Iss diese Beeren nicht, wenn du vergessen hast, was sie bewirken. Besser hungrig zu Bett gehen, als am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Oder: Halte dich vom Fluss fern. Es ist wichtig, dass du reinlich bist, aber nach der Schneeschmelze führt er zu viel Wasser, um gefahrlos darin schwimmen zu können. Die Narne ist tückisch. Ihre klugen Ratschläge hatten ihn oft vor Schwierigkeiten bewahrt in der Zeit, seit er alleine war, ihm vielleicht sogar das Leben gerettet. Doch jetzt hatte dieses Leben plötzlich allen Wert verloren.

Am frühen Mittag stand Janis schließlich auf. Sein Magen knurrte, doch er wollte nicht schon wieder Fische fangen. Sollte er doch hungern, für den heutigen Tag hatte er andere Pläne. Er sah sich in der kleinen Hütte um, die er so lange mit seiner Mutter geteilt hatte. Nach einer Weile nahm er sich seine eigene dünne Decke und wickelte darin zwei Feuersteine, einen Lederbeutel, ein Messer, einen Tontopf, Nähzeug, Lederbänder und den halben Fisch von gestern ein. Die andere Decke war dicker und nicht ganz so rau, doch Mutter hatte Wellenmuster darauf gestickt. Die Dinge, die er sich genommen hatte, waren unpersönlich. Nutzgegenstände, keine Erinnerungsstücke. Nur das Messer bestand nicht aus Stahl, sondern hatte als Klinge eine messerscharfe schwarze Schuppe, die sich niemals abnutzte und so gut wie alles zerteilte. Es war zu nützlich, um es zurückzulassen.
Er legte das Bündel unter einen Busch einige Schritt von der Hütte entfernt und trat dann erneut ein. Noch etwas? Kleider besaß er keine außer denen, die er am Leib trug. Nun gab es nur noch die Schatulle, in denen Mutter Wertgegenstände verwahrt hatte. Janis nahm sie behutsam in seine Hände und betrachtete die Schnitzereien auf ihrem Deckel. Eine Bildergeschichte. Die Reliefs waren schon abgegriffen von den vielen Stunden, die er früher damit verbracht hatte, sie mit den Fingern entlangzufahren, während er Mutters Stimme lauschte.
Vor langer, langer Zeit kamen zwei Brüder in ein leeres Land mitten im Nichts. Sie waren Arauthor, der Hirte, und Nivor, der Bauer. Damals lebte dort nichts außer den Fischen im Fluss und den Vögeln am Himmel. Doch die beiden Brüder brachten aus ihrer Heimat die seltsamsten Tiere und Pflanzen mit und setzten sie aus, denn sie wollten aus der kahlen Einöde ein fruchtbares Land machen, in dem sie in Frieden leben konnten. Doch dieses Land gehörte Kaoma´quul, dem Gott des Todes, und er wollte in seinem Land kein neues Leben haben. Also beschwor er einen großen Sturm, der alles verwüsten sollte. Doch die Brüder waren befreundet mit den Geistern des Feuers. Sie entfachten einen flammenden Ring um ihr Land und die Hitze war so stark, dass der kalte Sturm einfach dahinschmolz. Voll Zorn betrachtete Kaoma´quul die Brände. Wenn ein Sturm aus Luft sie nicht schrecken kann, so dachte er, dann soll es eben ein Sturm aus Feuer sein. Also schickte er eine gewaltige Feuerwalze, die alles niederbrennen sollte. Doch die Brüder waren befreundet mit den Geistern des Wassers und so konnten sie die Flammen löschen. Kaoma´quul jedoch gab sich nicht zufrieden. Er befahl er eine tödliche Flut herbei, um alles zu ertränken. Doch die Brüder waren auch mit den Geistern des Windes befreundet, die das Wasser einfach fortwehten. Als Kaoma´quul sah, dass seine Versuche ergebnislos waren, da ging er selbst zu den Brüdern, um ihr Werk zunichte zu machen. Da wussten die Brüder keinen Rat mehr und beteten voller Inbrunst zu Zha´bia, dem Gott des Lebens, dass er ihnen beistehen möge. Und der Gott erbarmte sich ihrer, stieg hinab und sprach mit Kaoma´quul. „Sieh“, sagte er, „diese beiden kamen ohne böse Absicht hierher. Sie sind Brüder, so wir wir es sind, und ihre Herzen sind rein. Alle Geister sind mit ihnen im Bunde, denn sie waren stets großmütig. Bitte, lass ab von ihnen! Sie haben deinen Zorn nicht verdient.“ Da hatte Kaoma´quul Einsehen und ließ von ihnen ab. Doch als Ersatz für das Land, dass nun bevölkert wurde, verlangte er von den Brüdern ein neues totes Land, das niemand ihm je nehmen könnte. So ließen sich die Brüder, als sie sahen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, von den Geistern des Windes in den Himmel tragen, wo nur die Vögel Kaoma´quul verärgern könnten. Dort bauten sie über den dunkelsten aller Wolken ein totes Land, das stets über die Welt ziehen sollte. Wer sich dem neuen Land näherte, den sollten die Geister des Feuers verbrennen, die Geister des Wassers ertränken und die Geister des Windes davonwehen. Und manchmal kommt das tote Land auch zu uns. Dann siehst du, wie sich die dunklen Wolken auftürmen, du fühlst die Geister des Windes stürmen, spürst wie die Geister des Wassers Regen aus dem Himmel fallen lassen und siehst die Geister des Feuers gleißend herabzucken. Darum suche Schutz, wenn jemals ein Gewitter aufzieht, denn die Geister können nicht nur schützen und bewahren, sondern auch töten und vernichten.
Der Glaube an die Zwillingsgötter Zha´bia und Kaoma´quul war fast vollständig ausgestorben, auch Janis Mutter hatte zu Mutter Natur gebetet, so wie fast alle Andori. Doch die Geschichte hatte sie trotzdem oft erzählt.
Sie lehrt dich, dir viele Freunde zu suchen, damit sie dir in Zeiten der Not beistehen können. Und sie lehrt dich, stets großherzig und fromm zu sein und deine Ziele nicht aufzugeben, genau wie die beiden Brüder.
Janis spürte, wie ihm nun doch Tränen in die Augen traten. Er blinzelte und öffnete dann die Schatulle. Daraus nahm er die wenigen Münzen und steckte sie in den kleinen Beutel an seinem schmucklosen Gurt. Den einfachen Schmuck aus Tonperlen und Muschelstücken ließ er unangetastet. Er klappte die Schatulle wieder zu und legte sie in sein selbstgeflochtenes Fischernetz, das inzwischen schon einige Mängel aufwies. Dazu legte er einen glatten Stein, der fast schon bläulich schimmerte und sich in der Hand stets warm anfühlte, eine rote, gezackte Muschel, eine kunstvoll verzierte Steinschale, eine bunte Puppe, die Mutter ihm gemacht hatte und andere Dinge, die Janis an sie erinnerten. Zuletzt noch ein verbeultes, silbernes Diadem, dass er erst gestern zurückerhalten hatte.
Er nahm das ganze Netz samt Inhalt hoch und verließ erneut die Hütte. Dann lief er die hundert Schritte zum Flussufer, die alle Häuser von der Narne entfernt waren, um vor Hochwasser geschützt zu sein. Doch es hatte schon lange nicht mehr geregnet und die Narne war von Hochwasser so weit entfernt wie irgend möglich. Aber selbst jetzt noch war sie in der Mitte wohl an die vier Schritte tief.
Flussaufwärts war die Fischersiedlung Narnfurt zu erkennen, flussabwärts die Taubrücke, die die Narne überspannte. Janis legte das Netz ab und legte sich auf die Uferböschung, blickte in das wirbelnde Nass. Undeutlich konnte er sein eigenes, Gesicht erkennen, die schmale Nase, die unordentlichen schwarzen Locken, die etwas schiefen Zähne. Dann meinte er im Wasser plötzlich auch das Gesicht seiner Mutter ausmachen zu können, ihre gütige Miene, ihre glatten, braunen Haare, ihre hellblauen Augen, die den seinen so sehr glichen. Sie wirkte genau so stolz und majestätisch wie an dem Morgen, an dem er sie zuletzt gesehen hatte, der graue Umhang um ihre Schultern und das silberne Diadem auf ihrem Kopf. Ihr einziger wirklich wertvoller Besitz.
Sei nicht albern, Janis. Du bist mein wertvollster Besitz, kostbarer als alle Schätze der Welt.
Und warum musstest du mich dann verlassen, Mutter?
Weil wir nicht nur an uns selbst denken dürfen. Wenn es Menschen gibt, die sich nicht selbst helfen können, dann müssen andere für sie da sein.
Aber warum ausgerechnet du, Mutter?
Das Schicksal lässt die einen leben und nimmt die anderen von uns. Dagegen können wir nichts tun.

Die Antwort befriedigte Janis nicht im mindesten, aber das wäre es gewesen, was sie gesagt hätte. Wie lange wollte er noch den Erinnerungen nachhängen, war er doch eigentlich hergekommen, um sie endlich vergessen zu können?
Er suchte sich die fünf schwersten Steine, die er am Flussufer finden konnte und legte sie mit ins Netz. Dann hob er das Bündel hoch und schleuderte es mit aller Kraft in den Fluss, wo es sofort versank. In ein paar Tagen wäre das Netz endgültig zerstört und die Gegenstände würden von der Narne bis ins Meer gespült, um für immer vergessen zu werden. Traurig wandte Janis sich ab, um erneut zur Hütte zurückzukehren.
Dort wurde er schon erwartet. Ein dicker Mann hockte davor auf einem Stein und blickte ihm entgegen. Sein fettiges Haar hing ihm in die Stirn und als Janis näher kam konnte er die Fahne riechen, die schon fast ein Teil von ihm zu sein schien.
Drog, der Säufer. Er behandelte seine eigenen Söhne wie Sklaven, die für ihn das Geld verdienten, das er versoff. Seine Frau schlug er regelmäßig, wenn ich nicht da war, um es zu verhindern. Schau ihn nicht so an, Janis, er war einmal ein großer Fischer und ein freundlicher Mann, bis er bei einem Unfall sein Bein verlor. Niemand ist einfach nur schlecht, du musst einfach hinter die Fassade blicken. Er mag ein Mistkerl sein, aber er war nicht immer so und wenn sein Unfall nicht gewesen wäre, wäre er es auch heute nicht. Tausche deinen Hass gegen Verständnis ein.
„Guten Tag, Drog.“, sagte Janis und machte sich keine Mühe, seinen Abscheu zu verbergen. Drog blickte ihn aus blutunterlaufenen Augen an und stand dann mühsam auf, wobei er sich auf seine Krücken stützte. „Ich hab´ das von deina Mutter gehört. Ich hab´ ja gesagt, sie is´ tot, aber natürlich trotzdem schrecklich.“ Janis schwieg. Drog waren doch alle egal. Es kümmerte ihn einen Dreck, das Mutter gestorben war und gewiss wollte er mehr als nur sein Beileid bekunden.
Denk nicht so schlecht von ihm. Andere sind auch ihm nicht vollkommen gleichgültig. Wenn er nicht betrunken war, dann hat er seine Familie geliebt und sich für das verachtet, was er ihnen antat. Ja, er hat sie tyrannisiert, auch ich konnte das nicht vollkommen verhindern, aber die Krahder haben sie ihm genommen. Er hat niemanden mehr, genau wie du.
„Sie war eine gute Frau, hat immer allen geholf´n.“ Sieh an, dachte Janis, jetzt kommen wir der Sache schon näher. „Und wo wia schon vom Helf´n sprechen, da fällt mir gerade ein, das Dach meiner Hütte is´ fast so abscheulich wie das hier, lauter Löcher drin, und du kannst ei´m alten Fischa in Not doch sicher helfen, du Bengel.“ Er gab sich keine Mühe, so zu tun, als wäre ihm das wirklich jetzt erst eingefallen.
Du musst ihm helfen, Janis! Es ist egal, ob er deine Hilfe zu schätzen weiß oder ob er sie verdient. Anderen zu helfen ist deine Aufgabe, besonders dann, wenn sie niemanden haben, der ihnen sonst helfen könnte. Ein gutes Dach alleine zu reparieren ist nur sehr schwer möglich. Hilf ihm, sein Dach zu flicken und danach könnt ihr euch zusammen um deines kümmern. Du bist mehr als nur ein Fischer.
Janis blickte Drog kalt an. „Ich bin nicht Euer Arbeitssklave. Wenn Ihr ein ernsthaftes Problem habt, dann könnt Ihr erneut zu mir kommen.“
Mit diesen Worten ging Janis an Drog vorbei, um die Hütte zu betreten, doch er wurde am Arm gepackt. „Deine Mutter hätt´ mir geholfen, sie hätt´ mich nich´ einfach stehen lassen.“
Janis riss sich los. „Und wie wurde ihre Hilfsbereitschaft ihr vergolten?“, brüllte er. „Ich bin nicht wie meine Mutter! Niemand ist wie sie. Und jetzt hau ab!“ Drog starrte ihn verdattert an. Mit einem solchen Ausbruch hatte er nicht gerechnet. Eine Weile suchte er noch nach einer schlagfertigen Erwiderung, als ihm keine einfiel, humpelte er grummelnd nach Osten, zurück nach Narnfurt. Janis öffnete die schlichte Brettertür mit einem kräftigen Tritt und betrat in die Hütte.
Jetzt erst bemerkte er, dass Drog nicht sein einziger Besucher gewesen war. Sie war hier. Wenn er nicht abgelenkt gewesen wäre, hätte er ihre Anwesenheit schon lange gespürt. Es lag eine angenehme Kühle und Feuchtigkeit in der Luft. Sie stand an seinem Schlaflager und das schwache, hellblaue Leuchten, dass von ihr ausging, erhellte auch die Stellen, welche nicht von Sonnenstrahlen erreicht wurden.
Langsam glitt sie näher. „Was willst du hier?“, schrie Janis. „Sie ist tot, falls du es noch nicht wusstest. Sie wird nie wieder mit dir den Menschen helfen. Es gibt keinen Hüter mehr.“ Sie glitt unbeirrt weiter und ihr konturloses Gesicht drückte unendliche Traurigkeit aus, als ihr Arm sich langsam hob und ihre durchscheinende Hand auf Janis zeigte. „Oh nein, auf keinen Fall! Ich bin nicht wie meine Mutter! Ich bin kein Hüter!“ Er schlug mit der flachen Hand nach ihr und spürte, wie sich Wasser darauf sammelte. Sie umrundete ihn und schritt durch die Türöffnung. Dort wartete sie. „Verschwinde! Ich werde mein Leben nicht mit Hilfsbereitschaft und Großmut vergeuden. Mit meinem Tod wird Etores Vermächtnis endgültig vergehen und du bist wieder frei.“ Sie reagierte in keiner Weise. „Ich bin nicht wie Mutter! Niemand ist wie sie! Sie ist tot! Tot! Kheela wird nicht mehr wiederkommen, Vara. Und ich werde ihre Aufgabe nicht fortführen.“
Mit diesen Worten schlug er die Brettertür so fest zu, dass sie danach prompt aus ihren Angeln nach außen fiel, genau dorthin, wo Vara gerade noch gestanden hatte. Doch der Wassergeist war verschwunden.

Noch eine ganze Weile saß Janis in der Hütte und blickte trübsinnig zu Boden.
Du solltest mit deinen Freunden besser umgehen. Denk nur an die Geschichte von den Brüdern. Wer die Geister als Verbündete hat, der hat es leichter im Leben.
Die Geschichte ist nur ein Märchen. Du hattest es nicht leichter im Leben als irgendjemand sonst. Sicher, die Fischer brachten uns regelmäßig alles, was sie erübrigen konnten, aber dafür haben sie andauernd deine Hilfe gefordert. Sie haben dich nicht als ehrwürdige Hüterin der Flusslande betrachtet, sondern als Tagelöhnerin.
Du weißt, dass das nicht stimmt. Ich war die helfende Hand, die in der Not stets bei ihnen war, die Hirtin, die sich um ihre Schafe kümmerte. Sie haben mich respektiert und sie wussten, dass sie sich auf meine Hilfe verlassen konnten. Doch jetzt musst du diese Aufgabe fortführen, mein Schatz. Sie brauchen deine Hilfe, vielleicht jetzt, vielleicht in zwanzig Jahren. Sie werden immer deine Hilfe brauchen. Und zum Dank für deine Hilfe werden sie dich nicht nur versorgen, sondern dir auch gute Freunde sein.
Und was hat ihre Freundschaft dir genützt, Mutter? Keiner hat auf dich gewartet. Keiner hat den Tross ins Gebirge begleitet, um dich zu retten. Die Freundschaft der Menschen endet, wo ihr Eigennutz beginnt.
Wir helfen ihnen nicht, um davon zu profitieren, sondern weil sie unsere Hilfe brauchen. Erinnere dich an das, was ich dich gelehrt habe. Mut. Tapferkeit. Hilfsbereitschaft. Höflichkeit. Freundschaft.
So vieles hast du mich gelehrt, doch dein Tod war mein bester Lehrmeister. Er zeigte mir, was du mir verschwiegen hast. Die Welt ist grausam, unbarmherzig und gnadenlos. Wenn Mutter Natur wirklich existiert, dann sind wir ihr egal, so, wie du deinen Schafen egal warst.
Janis, du siehst nur die eine Seite der Medaille. Ein Fluss hat immer sowohl eine Quelle als auch eine Mündung, nicht nur eines von beidem. Die Welt ist ebenso unbarmherzig wie wohlgesonnen, ebenso grausam wie gütig.
Warum rede ich überhaupt mit dir? Du bist tot, weil du zu hilfsbereit warst. Deine Abwesenheit straft deine Worte Lügen, Mutter. Die Menschen verdienen keine Hilfe, weder meine, noch die von Vara oder irgendwem sonst. Wenn sie in Zukunft hierherkommen, dann werden sie diesen Ort verlassen vorfinden.
Überlege dir gut, was du tust, Janis.
Du hast mir gesagt, ich solle hier warten. Und ich habe gewartet, viel zu lange schon. Es wird Zeit, dass ich die Vergangenheit zurücklasse. Und zu dieser Vergangenheit gehörst auch du, Mutter, so leid es mir auch tut. Ich weiß, du hast mich geliebt, so wie ich dich liebte, aber ich kann dich nicht zurückholen. Also lass mich in Zukunft mein eigenes Leben führen.

Janis erhob sich. Sein Blick fiel auf das bestickte Tuch, die verzierten Möbel, den festgestampften Lehmboden, auf die Spuren, die Mutter hier überall hinterlassen hatte. „Die Vergangenheit zurücklassen.“, murmelte er. Mit der Hand fuhr er über die staubtrockene Wand, mit den Fingerspitzen berührte er das ausgedörrte Schilfdach über seinem Kopf. Janis würde jetzt vollenden, was er begonnen hatte, als er das Netz dem Fluss übergeben hatte. Er würde das Leben opfern, das er hätte führen können, um ein anderes zu leben. Dem Wasser die Vergangenheit, dem Feuer die Zukunft. Er ging zum Busch, in dem er die Decke mit den nützlichen Dingen verstaut hatte, um die Feuersteine zu holen. Das Häuschen würde brennen wie Zunder.


Abenddämmerung, 16. Herbsttag 76 A.Z.
Alter Wehrturm, Andor

Als die Sonne unterging, kam Janis zur Ruine des alten Wehrturms. Hier würde er übernachten. Weiter hatte er noch nicht geplant. Fort, fort von den undankbaren Fischern und hilflosen Bauern, die das Flussufer bevölkerten, irgendwohin, wo niemand wusste, wie er hieß.
Noch kannst du umkehren, Janis. Gib den Menschen eine Gelegenheit, sich zu beweisen. Sie werden dir helfen, die Hütte wieder aufzubauen, du wirst schon sehen.
Nein, Mutter, meine Zukunft liegt woanders.
Du brauchst Menschen, denen du etwas bedeutest. Du brauchst Freunde, die dir beistehen können.
Auf Freunde, wie du sie hattest, kann ich verzichten, Mutter.

Janis setzte sich vor Turmruine und legte die Decke ab. Er nahm einen Schluck aus dem Trinkschlauch, den er am Fluss aufgefüllt hatte, und aß den halben Fisch, da der Hunger nun doch übermächtig wurde. Roh, wie er war, schmeckte er nicht gerade besonders gut, und er kam Janis auch schon leicht verdorben vor, dennoch ließ er nichts als die Gräten übrig. Am Rietgras wischte er sich die Hände ab. Noch immer hatte er gewaltigen Hunger, doch das war ihm egal. Sein Blick schweifte über die Landschaft. Goldenes Gras wogt im Wind, durchsetzt von den rosafarbenen Rietgrasblüten, die erst im Herbst zu blühen begannen. Er konnte die Rietburg erkennen, in die der Wolfskrieger und die befreiten Sklaven sich einquartiert hatten, den Freien Markt und die Taverne Zum Trunkenen Troll.
Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, ließ die letzten Sonnenstrahlen auf sein Gesicht fallen. Doch ehe er einschlafen konnte spürte er, wie die Luft sich kaum merklich abkühlte. „Ich habe doch gesagt, du sollst verschwinden.“, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. „Du kannst gehen, wohin du willst, aber lass mich endlich in Ruhe!“
Plötzlich überkam Janis eine blitzartige Furcht. Dann ertönte leises Gelächter, das ihn zusammenzucken ließ. Er schlug die Augen auf. Die Kontur einer hochgewachsenen Gestalt zeichnete sich gegen die untergehende Sonne ab. Ihre Beine waren nicht zu sehen, da die Erscheinung von hüfthohen dunklen Schlieren umgeben war, die langsam durch die Luft zuckten. Darüber war ein pechschwarzer Umhang erkennbar und obenauf eine seltsame gezackte Maske, von Stacheln gekrönt und in Finsternis gehüllt, die nur von zwei stechenden, weiß glühenden Augen durchbrochen wurde.
„Ich fürchte, du hast mich verwechselt, junger Mann!“, erscholl eine tiefe, volltönende Stimme. Dann zog die Gestalt lautlos ein großes, schwarzes Schwert hervor. Die Klinge war eindeutig für zwei Hände geschmiedet worden, doch die Gestalt schwang sie problemlos mit einer Hand und zielte mit der Spitze genau auf Janis Gesicht. Unmittelbar davor kam die Waffe zum Stehen. Janis beachtete sie gar nicht.
„Ihr seid der Schwarze Herold! Ich habe schon von Euch gehört.“
„Das trifft sich gut, dann brauche ich mich nicht vorzustellen. Ich habe eine Frage an dich und du wirst sie mir beantworten, wenn dir dein erbärmliches Leben lieb ist!“
Janis lächelte verächtlich. „Warum sollte ich?“, fragte er langsam. Plötzlich zuckte das Schwert nach vorne und die Spitze drang in seine Gesicht ein, wurde dann nach unten geschwungen und verließ seinen Körper erst auf Nabelhöhe. Eine eisige Kälte durchfuhr Janis an der Stelle, wo das Schwert ihn berührt hatte, doch ansonsten geschah ihm nichts und so zuckte er nicht einmal zusammen.
Der Schwarze Herold lachte auf. „Du gehörst wohl nicht zur ängstlichen Sorte, was? Das Schwert besteht nur aus Schall und Rauch, ebenso wie ich, aber wenn ich dich töten möchte, dann bin ich dazu nicht auf physische Gewalt angewiesen.“ Mit diesen Worten steckte der Schwarze Herold sein Schwert wieder weg. Janis behielt sein Lächeln bei.
Sei vorsichtig, Janis. Er ist gefährlich. Aber du darfst ihm nicht antworten, seine Pläne gefährdeten bisher jedes mal unzählige Leben.
Was kümmert es mich, Mutter?

„Mein Leben bedeutet mir nichts.“, sagte Janis. Plötzlich riss sich ein Haar von seinem Schädel und schwebte bis über die Hand, die eben noch das Schwert gehalten hatte. Der Schwarze Herold hob seine andere Hand. Sie war zur Faust geballt, doch zwischen den in dunkles Eisen gehüllten Fingern drang ein blaues Glühen hervor. Janis fuhr unbekümmert fort: „Aber wenn Ihr höflich fragt, dann bekommt Ihr vielleicht die Antwort, die Ihr sucht.“
Der Schwarze Herold ließ die Faust wieder sinken. „Wie bitte?“
Noch immer lächelnd sagte Janis: „Bitte ist schon mal ein guter Anfang.“
Nichts rührte sich. Die Sonne war jetzt komplett hinter dem Horizont verschwunden und die ersten Sterne prangten am Himmel. Der Vollmond schien blendend hell vom wolkenlosen Himmel. Schließlich vernahm Janis erneut die Stimme: „Also schön. Beantworte mir bitte meine Frage.“
Janis gähnte demonstrativ. Dann erst antwortete er. „Ihr müsst die Frage schon stellen, damit ich sie beantworten kann.“
Der Schwarze Herold richtete sich auf, erhob sich in die Luft, bis er fast einen halben Schritt über dem Boden schwebte. „Tarok!“, rief er. „Der letzte Drache! Hier wurde er getötet, ich war selbst dabei. Doch hier ist nichts zu sehen. So ein gewaltiger Leichnam löst sich doch nicht einfach in Luft auf. Was ist damit geschehen?“
Janis stand langsam auf. „Als der Drache starb, war ich noch nicht mal drei Jahre alt. Glaubt Ihr wirklich, ich erinnere mich noch daran? Vermutlich hat man seine Schuppen und Zähne zu Staub zermahlen, sein Fleisch verbrannt und seine Knochen ins Meer geworfen, um nie wieder von diesem Dämon heimgesucht zu werden. Seine Überreste wurden verstreut und vernichtet.“
Der Schwarze Herold heulte zornig auf. „Nein! Du lügst! Irgendetwas muss noch übrig sein!“
Janis lachte kalt. „Übrig? Natürlich! Die Helden, die das Untier erschlugen oder den Menschen in jener Zeit anderweitig einen großen Dienst erwiesen, erhielten als Trophäe je eine Schuppe. Und zufälligerweise weiß ich, wo sich eine befindet.“
Ehe Janis reagieren konnte, hatte sich die schwarze Maske direkt vor sein Gesicht geschoben und die weißen Augen glühten bedrohlich. „Wo? Sag schon!“
Janis hob die Augenbrauen. „Was habe ich davon, es dir zu sagen?“
Der Schwarze Herold zögerte. Dann sagte er mit einer Stimme wie Honig: „Es gibt doch sicher jemanden, der dir etwas bedeutet. Willst du wirklich sein Leben aufs Spiel setzen, indem du mir eine Antwort verweigerst?“
Janis schüttelte nur den Kopf. „Es gibt niemanden. Nicht mehr.“
Der Schwarze Herold wich eine Handbreit zurück. „Soso, nicht mehr? Es gibt also jemanden, den du vermisst. Jemanden, der diese Welt hinter sich gelassen hat. Was, wenn es nicht für immer wäre?“
Janis riss die Augen auf. „Nicht für immer?“, fragte er fassungslos.
„Sieh mich an! Ich wurde von einem Schwert durchbohrt und doch bin ich hier und kann mit dir sprechen. Das Ende ist nicht so endgültig wie es scheint.“
Janis, tu es nicht! Was auch immer er bezweckt, du darfst das nicht tun! Das bin ich nicht wert.
Oh Mutter, ich würde die ganze Welt opfern, für die Chance, dich wiederzuholen. Was ist da schon eine Schuppe?
Du kannst ihm nicht trauen! Das ist ein Fehler, Janis! Lass es bleiben! Bitte!

Janis blickte den Schwarzen Herold fest an und nickte. Dann bückte er sich und rollte die Decke auf, legte hastig den Topf und die Lederbänder beiseite und hob ehrfürchtig das Messer in die Höhe. Die schwarze Schuppe, die als Klinge eingearbeitet war, glänzte verheißungsvoll im Licht des vollen Mondes.
Die Vergangenheit zurücklassen? Warum, wenn man sie auch zurückholen kann? Er richtete sich auf und streckte die Hand aus. Gierig griff der Schwarze Herold nach der Schuppe und schloss sie in die Hand, über der vor kurzem noch Janis´ schwarzes Haar geschwebt hatte.
„Du wirst es nicht bereuen!“, sagte er dann. „Bring mir ein Teil des Verstorbenen, ein Haar, einen Knochen, irgendetwas, und dein Wunsch soll in Erfüllung gehen.“
Janis erbleichte. Was hatte er getan? Die Hütte. Er hatte sie verbrannt, hatte alle Spuren, alle Überreste, die es vielleicht noch gab, vernichtet. Kheela war von den Krahdern verschleppt worden, es gab kein Grab und keine Leiche. „Ich… habe nichts!“, sagte Janis und Tränen schossen ihm in die Augen. „Meine Mutter … die Krahder haben sie verschleppt. Es ist nichts übrig.“
Der Schatten wartete kurz, ob noch mehr kam, dann sagte er: „Das ist bedauerlich! Aber ich vergesse diejenigen, welche mir geholfen haben, nicht. Wie heißt du, Junge?“
„Janis!“, presste er mühsam hervor.
„Dann, Janis, sei dir gewiss, dass du belohnt werden sollst, wenn die Zeit reif ist.“ Mit diesen Worten zog der Schatten sich geschwind zurück und verschwand schon bald in der Ferne, während Janis hemmungslos schluchzte.
Ich sagte doch, es war ein Fehler. Du hast dich auf die falsche Seite gestellt, mein Schatz. Alles war vergeblich.
Janis trocknete mit dem Ärmel seine Tränen. „Es war nicht vergeblich!“, sagte er laut. „Du hast mir doch gesagt, ich brauche Freunde, die mir beistehen. Und die habe ich jetzt. Bist du nun zufrieden, Mutter?“ Doch die Stimme in seinem Kopf antwortete nicht.

e - Der Weg des Eises

BeitragVerfasst: 28. November 2021, 19:00
von TroII
e – Der Weg des Eises

Früher Vormittag, 16. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

Das Sonnenlicht, das im Rietland durch das löchrige Dach einer kleinen Hütte schien, durchbrach auch das Dach des Waldes, beleuchtete die Blätter, die bald anfangen würden, sich rot und gelb zu färben. Auf einer Galerie am Baum der Lieder stand Eara und betrachtete die kleinen Menschen, die unten auf der Lichtung umherwuselten wie Ameisen. Ihr gegabelter Stab lag locker in ihrer rechten Hand und die schwarzen Schlieren, die ihn umschlängelten, liebkosten die Haut an ihren Händen. Sie fragte sich, ob Thorn und Drukil wieder zurück waren. Hatten sie gefunden, was den Bären so entsetzt hatte?
Plötzlich hörte sie hinter sich Schritte auf der Plattform. Ohne sich umzudrehen befahl sie der Schwärze um sich herum, den Ankömmling zu umschließen. Diese Schlieren waren ganz erstaunlich. Materialisierte Dunkle Magie, wie sie nur um die stärksten Magier erschien. Sie gehorchten dem Willen des Magiers, doch waren zugleich mit Eigenleben erfüllt. Die Schatten konnten leicht sein wie Luft, flüssig wie Wasser oder hart wie Stein. Sie konnten die ungewöhnlichsten Formen bilden und waren den Gesetzen der Natur nicht unterworfen. Sie waren zugleich chaotisch und kontrollierbar, eine äußerst mächtige Waffe. Und mit jeder Benutzung wuchsen die Schatten im gleichen Maße, in dem die Dunkle Magie sich immer tiefer im Magier einnistete und ihn immer mehr niederrang.
Momentan besaßen die Schlieren die Konsistenz von Nebel und Eara konnte die Form ihres Besuchers erspüren, die hochgewachsene, humanoide Gestalt in weiten Gewändern. Doch sie bemerkte auch, dass dieser Nebel einen eigenen Willen hatte, dass er sich am liebsten verdichtet hätte, um die Person zu ersticken, zu erwürgen, auszupressen. Eara zog die Schatten zurück und drehte sich um. Noch ehe sie das unscheinbare Gesicht mustern konnte, erkannte sie am bodenlangen weißen Gewand, wen sie vor sich hatte.
„Seid gegrüßt, Oberster Priester Farrun.“, sagte sie.
Der Bewahrer zeigte ebenso wenig Gefühle wie sie selbst, als er sagte: „Seid gegrüßt, Eara. Von hier oben hat man einen guten Ausblick, nicht wahr?“
Eara musterte ihn. „Durchaus.“, antwortete sie. „Aber ich betrachtete soeben nicht den Wald, sondern eher die Menschen zu meinen Füßen.“
Farrun nickte. „Sie sehen so klein und unwichtig aus. Aber man darf nicht vergessen, dass es sich bei jedem einzelnen von ihnen um einen unendlich wertvollen Menschen handelt. Ich zumindest darf das nicht, schließlich bin ich jetzt ihr Anführer.“
Eara schüttelte den Kopf. „Wie kann ein einzelner unendlich wertvoll sein? Einer allein ist nahezu wertlos, erst sie alle zusammen sind von Bedeutung.“
Der Oberste Priester schloss seine Faust um den feinen goldenen Baum, der auf seiner Brust baumelte. „Jeder von ihnen ist ein denkendes, fühlendes Wesen.“, entgegnete er.
Eara trat einen Schritt auf ihn zu. „Und was ist mit den Tieren, die ihr jagt und verspeist? Trifft das auf sie nicht zu?“, fragte sie ruhig. „Außerdem: Wenn jeder einzelne unendlich viel wert wäre, warum hätten wir dann ins Gebirge aufbrechen sollen, um die Gefangenen zurückzuholen, obwohl doch klar war, dass einige von uns sterben würden? Wenn Leben unendlich viel wert wären, dann könnte man sie nicht gegeneinander aufwiegen und die ganze Aktion wäre sinnlos gewesen.“
Jeder von ihnen ist einzigartig. Keiner sieht, denkt, fühlt so wie der andere. Wenn einer von ihnen stirbt, dann stirbt für diesen einen eine ganze Welt, sagte eine leise Stimme in ihrem Inneren. Es war die Stimme der Schwäche. Spätestens seit Krahd hatte Eara gelernt, sie zu ignorieren.
Farrun wollte widersprechen, doch Eara kam ihm zuvor: „Ich möchte mich nicht mit Euch streiten. Ich halte Eure Meinung für bedenklich, insbesondere da Ihr, wie Ihr so treffend bemerkt habt, der Anführer all dieser Menschen seid, doch Ihr müsst tun, was Ihr für richtig haltet. Weshalb seid Ihr hier, Farrun? Nur der schönen Aussicht wegen? Oder liegt es eher daran, dass Ihr mir etwas auszurichten habt?“
Farrun kniff die Augen zusammen. „Bragor möchte Euch sehen.“, sagte er schließlich, und auch wenn er noch immer keine Regung zeigte war Eara klar, dass er sich fragte, weshalb der Tarus ausgerechnet sie sehen wollte. Eara hielt es nicht für nötig, ihn aufzuklären. Wortlos schritt sie an ihm vorbei und trat ins Innere des gigantischen Baumes.
Während sie die Wendeltreppe nach unten schritt, von der Dunkelheit begleitet, fuhr sie mit den Fingern über das glatte Holz, das aufgrund der Sonnenstrahlen, welche durch die kleinen Doppelfenster fielen, golden leuchtete. Sie spürte die Kraft des Baumes, die ihm ureigene Magie, die ihn durchdrang. Als die ersten Bewahrer ihn einst aushöhlten, verwendeten sie dafür die alte andorische Zauberei, wie sie auch in den Runensteinen steckte, von denen Eara einen Satz zum Erforschen nach Hadria mitnehmen wollte. Nur so hatten sie gewährleisten können, dass der Baum nicht beschädigt wurde. Doch im Baum der Lieder schlummerte noch eine ungleich mächtigere Kraft, die ihn schon lange vor den ersten Bewahrern erfüllt hatte.
Immer weiter drehte sich die Wendeltreppe nach unten, vorbei an Fenstern, Öffnungen zu Balkonen und Türen, hinter denen sich die Schätze verbargen, die dieser Baum beherbergte. Alte Schriften und Pergamente, mehr Wissen, als ein Mensch in seinem Leben aufnehmen konnte, selbst wenn er ein Jahrhundert alt wurde.
Auch das war ein ungelöstes Rätsel dieses Landes: Die Menschen hier wurden ungleich älter als anderswo. Zwerge, Agren, Krahder, Drachen, nur die wenigsten bekannten intelligenten Arten hatten wie die Menschen eine maximale Lebenserwartung von eigentlich gerade mal achtzig Sommern. Doch der alte König Brandur hatte fast ein Jahrhundert überlebt, die Hexe Reka noch zehn Jahre mehr. Und die Bewahrer alterten sogar noch langsamer, ehe Melkart verschleppt worden war, hatte er eher wie dreißig denn wie siebzig ausgesehen. Ob Farrun tatsächlich nur so alt war, wie er wirkte?
Überall anders starben die Menschen wie die Fliegen, auf den Nebelinseln, in den Barbarenlanden, in Krahd und in Tulgor. Diejenigen, welche die kritischen ersten paar Jahre überstanden, wurden noch ihr ganzes Leben von Hunger und harter Arbeit gepeinigt und erlebten nur selten ihren siebzigsten Sommer. Nicht jedoch in Andor.
Ihre Gedanken entfernten sich von Andor und traten unwillkürlich die lange Reise in ihre Heimat Hadria an, wo die Bevölkerung unter Frost und Kälte zu leiden hatte. Nur den dortigen Zauberern stand die Zeitzauberei zur Verfügung, mit deren Hilfe sie den Alterungsprozess zwar nicht auf Dauer verhindern, aber zumindest zeitweise bannen konnten. Je älter ein Zauberer wurde, desto mehr Kraft kostete es, jung zu bleiben.
Eine interessante Theorie besagte, die Dunkle Magie böte eine weitere Möglichkeit, das eigene Leben zu verlängern. Der Körper eines Dunklen Magiers veränderte sich langsam, der beste Beweis dafür war ihr alter Widersacher Varkur. Eara dachte nur ungern an ihn zurück, zu sehr glich sie ihm inzwischen. Sie beide waren in Hadria geboren worden, sie beide hatten in Yra die Zauberei studiert, sich für den Orden des Turms entschieden und sich letztendlich doch der Dunklen Magie zugewandt. Sie beide waren einst nach Andor gekommen, wenn auch mit unterschiedlichen Absichten. Sie beide hatten Teile ihrer Menschlichkeit eingebüßt: Varkur mit seinen gelben, echsenartigen Augen, den schwarzen Krallen und dem geschuppten Leib hatte zum Zeitpunkt seines Todes nichts mehr mit einem Menschen gemein gehabt, aber auch Eara hatte bereits die ersten Veränderungen an ihrem eigenen Körper festgestellt, ihre Augen schienen immer lebloser zu werden und stellenweise wirkte ihre Haut leicht geschuppt.
Varkur lag in Hadria begraben, die Dunkle Magie war aus seiner Leiche entflohen und hatte ihn als Menschen zurückgelassen. Sein Tod war ein Segen für die ganze Welt, doch in Earas Augen kein Unterschied zwischen ihnen beiden, denn tot war auch sie. Mochte auch ihr Herz noch schlagen und ihr Verstand noch arbeiten, die Zauberin von einst existierte nicht mehr.

Unten angekommen verließ Eara den Baum der Lieder und stand kurz darauf vor einer der Hütten, die die Bewahrer auf der Lichtung errichtet hatten. Der Geruch nach Waldkräutern lag in der Luft. Sie selbst kannte sich auf diesem Gebiet nicht aus; Chada hätte sie sicher alle benennen können. Die Heilerin Larissa kümmerte sich hier in der Hütte der Genesung um die Kranken und Verwundeten.
Der Eingang der Hütte war nur von einem braunen Vorhang bedeckt anstatt von einer Tür. Im Sommer bekamen die Kranken so mehr frische Luft, doch im Winter? Die Schatten um Eara schnellten nach vorne und schlugen den Vorhang zur Seite, während sie eintrat. In der Mitte der Hütte befand sich ein schwarzer Fleck auf dem Boden, direkt unter einem runden Loch in der Decke. Die Menschen in Andor wussten einfach nicht, was Kälte bedeutet. In Hadria hätte ein Feuer nicht genügt, um eine ganze Hütte voll mit Kranken warm zu halten!
Um die Feuerstelle waren einfache Betten gruppiert, die vor langer Zeit schnell aus billigem Holz zusammengezimmert worden waren und jetzt halb verrottet waren. Doch natürlich stellte schon die Anwesenheit von geschreinerten Betten ein Luxus dar. In Hadria war Holz streng rationiert und wurde fast ausschließlich als Brennholz oder zum Schiffsbau verwendet, es war viel zu kostbar, um daraus Betten zu machen. Den einfachen Menschen war es bei Strafe verboten, Holz im Eiswald zu schlagen, da der sonst innerhalb von wenigen Jahren komplett verschwunden wäre und somit auch die letzte Holzquelle Hadrias vernichtet wäre. Doch hier in Andor gab es genug Holz, um daraus auch Betten zu machen.
Momentan waren diese Betten ausnahmslos belegt, schließlich waren die Andori von der entbehrungsreichen Reise ins Graue Gebirge zurückgekehrt. Als Eara zwischen den Betten hindurch schritt, war ihre Anwesenheit sofort spürbar. Die Gespräche der Kranken verstummten, die Schlafenden wurden unruhig und schrien teilweise sogar auf und die Verletzten verzogen das Gesicht, als seien ihre Schmerzen plötzlich gewachsen. Eara kümmerte es nicht. Sie hielt sich nicht mit dem auf, was sie nicht ändern konnte. Nur die leise Stimme beschwerte sich, ohne etwas bewirken zu können.
Sie erreichte das Bett, in dem Bragor lag. Taren zeichneten sich neben ihren Hörnern gleich denen eines Widders und der ockerfarbenen Haut vor allem durch ihre stattliche Größe aus, und Bragor war selbst für einen Tarus groß. Doch seine Vergangenheit drückte ihn nieder und ließ ihn klein und hilfsbedürftig aussehen. Erst jetzt konnte man sich um die Verletzungen, die er in der Winterburg erlitten hatte, angemessen kümmern, auch wenn die meisten unheilbar waren. Bragor war der einzige, den ihre Anwesenheit nicht zu belasten schien. Sogar ein müdes Lächeln umspielte seine Lippen, das erste mal seit seiner Befreiung. Damals hatte Eara sich für ihn eingesetzt, hatte ihn besonders umsorgt, denn er war dem Tode nahe gewesen und ihre Heilzauber hatten mehr ausrichten können als Chadas Tränke. Der Tarus besaß keinen Lebenswillen mehr, dennoch war er der Dunklen Magierin sehr dankbar, nicht etwa, weil sie ihn gerettet hatte, sondern weil er so viel von ihrer Zeit beansprucht hatte. Ihre Anwesenheit half ihm spürbar, und so hatte sie ihn ab und an besucht. Das er jetzt von sich aus nach ihr fragte, bekräftigte Earas Vermutung, er könnte sich erholen. Sie setzte sich an sein Bett und betrachtete ihn. Die Hütte der Genesung besaß an diesem Ende keine Fenster und war deshalb in ein mattes Dämmerlicht getaucht, doch mehr benötigte Eara nicht. Ihre veränderten Augen kamen mit der Dunkelheit besser klar als ihre alten, ließen sich jedoch auch schneller blenden.
Bragor sah müde aus, so wie immer, und die Stellen, an denen seine Hörner abgesägt worden waren, glänzten hässlich. Warum hatten die Krahder, oder vielmehr der Bleiche König, das getan? Durch die Hörner eines Tarus verliefen keine Nerven, er spürte also keinen Schmerz, egal was mit ihnen geschah. Es war wohl eher der Versuch gewesen, Bragors Stolz zu verletzen, nicht ihm physische Schmerzen zuzufügen. Für letzteres waren andere Mittel benutzt worden, die Eara sich nicht vorzustellen wagte.
„Eara!“, flüsterte Bragor. Dann räusperte er sich und sagte ihren Namen erneut, dieses mal in normaler Lautstärke. Seine Stimme klang rau und heiser. Ob das von den vielen Schreien kam, die er auf der Winterburg wohl ausgestoßen hatte?
Sie lächelte und sagte warm: „Bragor, wie schön, dass du mal nach mir fragst. Kann ich daraus schließen, dass es dir besser geht.“
„Besser als je zuvor!“, bestätigte der ehemalige Krieger. „Zum ersten mal bin ich froh, dass ich noch am Leben bin.“
„Das ist toll!“, rief Eara freudig. Dann fügte sie hinzu: „Möchtest du noch nach Sturmtal?“
„Wann habe ich jemals gesagt, dass ich nach Sturmtal möchte? Das hast du für mich entschieden, ein eigener Willen war mir zu diesem Zeitpunkt noch fremd. Doch du hattest damals natürlich recht, denn auch wenn es mir hier schon deutlich besser geht, werde ich mich höchstens in Sturmtal wirklich erholen können.“ Er schloss kurz die dunkelbraunen Augen. „Ich bezweifle allerdings immer noch, dass es dazu kommen wird.“, fügte er nach einer Pause hinzu.
„Sag so etwas nicht! Was ist mit der Hoffnung, die du früher immer verspürt hast?“, fragte Eara empört, aber auch immer noch lächelnd. Bragor auf die Zeit vor seiner Gefangenschaft anzusprechen war ein mutiger Schritt, doch sie vermutete, dass es ihm jetzt mehr helfen als schaden würde.
Der Tarus sah ihr müde in die Augen. „Wir haben uns alle verändert! Ich habe meine Hoffnung verloren und du deinen Humor!“
Eara lachte leise auf. „Ich hatte niemals sonderlich viel Humor, Bragor. Das weißt du doch ganz genau.“
Nun lachte auch Bragor kurz, doch sein Lachen ging schnell in ein gequältes Husten über. Eara ergriff seine Hand und drückte sie sacht, bis es ihm wieder besser ging. „Ach Eara, ich vermisse Sturmtal. Aber wahrscheinlich langweile ich dich, schließlich hast du inzwischen noch deutlich mehr erlebt als ich.“
„Unsinn!“, erwiderte Eara sanft. „Was du in der Winterburg durchgemacht hast, ist mehr als ich mir vorstellen kann.“ Ein Schatten huschte über Bragors Gesicht und Eara hätte sich verfluchen können, wenn das nicht eine völlig überflüssige Verschwendung ihrer Zeit gewesen wäre. Sie war zu schnell gewesen! Jetzt würde ihre Anwesenheit ihm auch nicht mehr nützen. „Ich fürchte, ich muss weiter, Bragor!“, sagte sie traurig.
„Geh nur, Eara. Ich weiß zu schätzen, welche Zeit du bereits für mich verschwendet hast.“
Eara lächelte noch breiter als zuvor. „Ich würde es jederzeit wieder tun!“, äußerte sie sanftmütig. Dann erhob sie sich, winkte Bragor noch kurz zu und drehte sich dann um.

Während sie zum Ausgang der Hütte der Genesung schritt, verschwand das Lächeln gänzlich von ihren Lippen. Sie schlug den Vorhang zur Seite und sah sich dem blauhäutigen Leander gegenüber, seinen ungewöhnlichen Stab aus knotigem Holz, das beinahe etwas wie eine Hand zu formen schien, auf den Rücken geschnallt. „Eara!“, begrüßte er sie leise, „Du bist ja doch noch imstande, Gefühle zu zeigen.“ Niemand besaß so scharfe Ohren wie ein Blinder.
Gemeinsam gingen sie zurück zum Baum der Lieder. Nach einer Weile antwortete Eara: „Es fällt mir nicht leicht, Anteilnahme vorzutäuschen.“
„Vorzutäuschen?“, echote Leander, „Willst du damit etwa sagen…“
„Oh bitte, hast du etwa geglaubt, die Gefühle wären echt? Dann bist du ein wirklich miserabler Seher. Ich fühle schon lange nichts mehr. In meinem Inneren ist ein bodenloser Abgrund, der alles verschluckt hat. Wo früher Liebe und Güte waren, ist jetzt nichts als Dunkelheit.“
Bei diesem Wort zuckte Leander unmerklich zusammen. Dann sagte er: „Ich halte es für falsch, Bragor nach Sturmtal zu bringen. Ich denke, hier, wo er sich schon wieder erholt, wird er eher gesund werden.“
„Hast du ihn nicht gehört? Er selbst ist inzwischen auch der Meinung, dass es ihm dort am besten gehen wird.“
Leander lächelte gequält. „Mag sein. Aber ich denke, er irrt sich. Ich denke, ihr irrt euch beide.“
Eara blickte den Seher scharf an. Verheimlichte Leander etwas? Hatte er ein persönliches Interesse daran, wenn Bragor nicht zurück nach Sturmtal kehrte? Aber welches denn? Nein, er profitierte in keiner Weise davon. Was war es dann? Leander würde so etwas nicht nur aufgrund von unbegründeten Spekulationen von sich geben. Gab es etwas, das er wusste und sie nicht? „Leander,“, fragte Eara, „ hattest du eine Vision?“
Leander zögerte kurz. „Nein!“, sagte er anschließend, „Nur ein ungutes Gefühl.“
Sie liefen schweigend nebeneinander her. „Apropos Gefühl. Was ist mit deinen geschehen?“, fragte er schließlich. „Wohin sind sie verschwunden?“
Eara öffnete ihre Hand und ihre Schatten formten darüber die kleine Figur einer Magierin mit langem, schwarzen Stab. Eara betrachtete sie nachdenklich, dann ballte sie die Hand zur Faust und die Figur verschwand. „Ein Dunkler Magier,“ begann sie, „und damit meine ich nicht jemanden, der ab und an Dunkle Magie verwendet, sondern sie täglich benutzt und sich ihr ganz ausliefert, ein solcher Dunkler Magier kann zwei Wege gehen: Den Weg des Feuers…“
„Und den des Turmes?“, spekulierte Leander.
Eara schüttelte den Kopf, bis ihr auffiel, dass das im Gespräch mit einem Blinden eigentlich bedeutungslos war. „Nein, ein solcher Magier steht schon weit über den beiden Orden. Er wählt zwischen dem Weg des Feuers und dem Weg des Eises. Entscheidet er sich für das Feuer, dann wird seine Glut seine Freunde wärmen und sein Rauch seine Feinde ersticken. Sein Handeln wird von seinen Gefühlen bestimmt, von seiner Liebe ebenso wie von seinem Hass. Doch irgendwann wird der Hass triumphieren, denn das ist das Wesen der Dunklen Magie. Und dann wird das Feuer in ihm alle um sich herum verbrennen, seine Feinde ebenso wie die alten Freunde, und schließlich ihn selbst. So wird der Magier geleitet von Zorn und Grausamkeit und ist nicht mehr als eine leere Hülle, gefüllt mit Dunkler Magie. Das ist der Weg, den Varkur ging.“
Sie erreichten die Pforte in den Baum der Lieder. Leander ging mit schlafwandlerischer Sicherheit voran und Eara folgte ihm, ohne zu wissen, wohin er sie führte. Sie erklommen die spiralförmige Treppe und nach einer Weile setzte Eara ihren Monolog fort: „Wählt der dunkle Magier dagegen den Weg des Eises, dann wird sein Herz erkalten. Jegliches Gefühl wird für immer ausgelöscht, Liebe ebenso wie Hass, Freude wie Trauer, Glück wie Leid, Tapferkeit wie Furcht. Das ist der einzige Weg, um dem Hass auf Dauer widerstehen zu können. Der Weg des Eises ist ein einsamer Weg, aber wenn man ihn weit genug gegangen ist, dann spielt Einsamkeit keine Rolle mehr.“ Immer weiter gingen sie die Treppe hinauf. Wohin Leander sie wohl führte?
Schließlich ergriff der Seher das Wort. „Wenn dich nichts mehr mit den Helden und den Andori verbindet, warum hilfst du ihnen dann?“, fragte er.
„Mein Körper wird nicht mehr von den Gefühlen, sondern vom Verstand geleitet. Ich habe lange darüber nachgedacht, worauf es im Leben wirklich ankommt. Wonach man Streben sollte.“ Sie wartete eine Weile, doch Leander fragte nicht nach. „Einige meinen, es sei die Selbstoptimierung. Man solle ein möglichst schlauer, gerechter, ehrlicher oder weiser Mensch werden. Doch warum sollte ausgerechnet das der Sinn allen Strebens sein? Ist jemand zu intelligent, so werden andere es ihm neiden, ist jemand zu gerecht, wird er anderen um der Gerechtigkeit willen schaden, ist er zu ehrlich, fehlt ihm die Möglichkeit, zu lügen und er wird andere verraten müssen. Einige meinen, es sei die Frömmigkeit. Man solle stets nach dem Willen der Götter leben und seine Ziele nach ihren Worten richten. Doch nach welchem Gott? Nach Mutter Natur, nach den Zwillingsgöttern Zha´bia und Kaoma´quul, nach Ullgrasch, Brak und den anderen Götzen der Trolle, nach Fornur, dem fast vergessenen Feuergott der Zwerge? Ich habe auf meinen Reisen nichts gesehen, was eindeutig auf die Existenz von nur einem von ihnen hinweist. Wenn man bedenkt, von wie vielen Göttern, zu denen einst gebetet wurde, wir vermutlich nicht einmal mehr etwas ahnen, wie viele im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten sind, dann spricht die Wahrscheinlichkeit, dass wir ausgerechnet den erwischen, der wirklich existiert, doch gegen uns. Nach allem, was wir wissen, kamen die Drachen auch gut ohne Götter aus.“
Leander lachte leise. „Sei vorsichtig, Eara, wir befinden uns in einem der höchsten Heiligtümer für Mutter Natur. Und wenn ich mich nicht irre, dann ist sie die Göttin, zu der inzwischen fast die gesamte bekannte Welt betet. Selbst die Zwerge sind mittlerweile konvertiert, obwohl sie in ihren Stollen von der Natur so viel nicht mitbekommen. Ich erinnere mich noch gut an einen Priester Fornurs. Er konnte ganz erstaunliche Dinge tun.“ Er lachte leise in sich hinein.
„Ich kam zu dem selben Schluss wie viele andere auch.“, knüpfte Eara an ihre Rede an. „Das, worauf es im Leben ankommt, ist das Wohl, von einem selbst wie auch von anderen. Doch das eigene Wohlergehen ist abhängig von Glück, Zufriedenheit, ...“ Sie brach ab.
Leander ergänzte ihren Gedanken: „Und ein Dunkler Magier, der den Weg des Eises beschreitet, verspürt weder Glück noch Zufriedenheit. Ich verstehe. Dein ganzes Streben richtet sich also danach, andere so glücklich wie möglich zu machen?“ Leander war klug, unbestreitbar.
„Genau. Weder gibt es etwas, das mir Genugtuung verschafft, noch könnte etwas mir ein Leid zufügen. Sicher, ich spüre Schmerzen, aber sie sind ohne Bedeutung für mich. Das einzige was zählt, ist das Wohl anderer, für mich selbst gibt es weder Gutes noch Schlechtes.“
Leander überlegte. „Was ist mit unseren Feinden?“, fragte er dann. „Wenn es dir darum geht, andere glücklich zu machen, warum hast du dann geholfen, die Krahder zu vernichten? Zählt ihr Wohl etwa nicht?“
Immer weiter stiegen sie den Baum empor. Noch weiter oben befanden sich nur noch die dunklen Archive, die Kammern des Obersten Bewahrers und die große Aussichtsplattform.
„Ihr Wohl ist ebenso wertvoll wie das von allen anderen.“, antwortete Eara. „Aber mit ihrer Existenz haben sie unzählige andere gequält und deren Glück zerstört. Also ist die Welt insgesamt besser ohne sie dran.“
Leander dachte eine Weile nach. „Du hattest mehrere Gelegenheiten, diesen … Varkur zu töten, doch nur die letzte hast du genutzt. Weshalb?“
Eara blieb abrupt stehen. Das saß. Sie empfand keine Reue, sich so entschieden zu haben, denn Reue war eines der Gefühle, das sie gewissenhaft unterdrückte. Sie besaß nur den Willen, aus ihren damaligen Fehlern zu lernen. „Du hast dich gut informiert. Wir haben ihn oft besiegt, und ihn doch jedes mal wieder entkommen lassen. Es waren die schwersten Fehler meines Lebens. Er hat noch so viel Leid und Unheil über die Welt gebracht, wie ich mit Worten nicht beschreiben kann. Es erschien mir richtig. Ich hatte Mitleid mit ihm, ich glaubte, er könne sich vielleicht noch ändern, ich hoffte, er würde uns in Zukunft in Ruhe lassen. Ich habe mich getäuscht, und zwar, weil ich mich von meinen Gefühlen leiten ließ. Doch das ist ein Fehler, der mir nicht mehr unterlaufen wird.“
Es war kein Fehler!, protestierte die schwache Stimme. Du konntest nicht wissen, ob er sich nicht vielleicht ändern würde. Ob nicht vielleicht noch Hoffnung für ihn bestand. Niemand ist von Grund auf schlecht. Und Mitleid ist keine Schwäche.
Die Sehnsucht, endlich wieder eine Emotion zuzulassen, und sei es nur Mitleid, war groß. Doch Eara würde der Verlockung nicht nachgeben. Nie wieder! Sie hatte ihre Lektion gelernt und sie musste nur an die schrillen Schreie zurückdenken, um sich in ihrem Entschluss zu stärken. Ohne weiter auf die leise Stimme zu achten, ergänzte sie: „Wenn ich in Zukunft das Leben eines Einzelnen gegen das Risiko auf enormes Leid abwäge, dann werde ich eine andere Entscheidung treffen. Doch woher weißt du davon?“
Leander blieb kurz stehen und Eara schloss zu ihm auf. „Oh, zumindest Chada und Thorn waren mir schon lange vor ihrer Geburt bekannt, denn ich wusste, dass sie Varatans Fluch brechen würden. Im Zusammenhang mit ihren Heldentaten habe ich sie beobachtet, also auch dich und Varkur.“
„Und warum interessierte es dich so sehr, wer Varatans Fluch brechen würde. Warst du etwa auch auf Narkon gefangen?“
Leander verkrampfte sich. „Ich… Nein, aber… Es war einfach ein sehr interessantes Phänomen.“ Eara merkte, dass er etwas verheimlichte, doch ehe sie nachfragen konnte, blieb Leander ohne zu zögern exakt vor der Tür stehen, die in die Gemächer des Obersten Priesters führte. Melkart hatte sie nie genutzt, Farrun jedoch hatte sich hier einquartiert. „Da wären wir.“, sagte er. „Ich bin schon gespannt, was Drukil zu berichten hat.“


Später Vormittag, 16. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

Drukil hatte tatsächlich so einiges zu berichten. Seine Stimme bebte, während er von seinen Erlebnissen erzählte. Eara hörte aufmerksam zu und fragte sich zugleich, weshalb er nicht gestern, als er noch in Gestalt eines Bären unterwegs war, seinen Geist für sie geöffnet hatte. Sie hätte sehen können, was er gesehen hatte, und Thorn, dem das schlechte Gewissen nun auf die Stirn geschrieben stand, hätte den Gor nicht leichtfertig erschlagen.
Ebenso aufmerksam wie Chada, Thorn und Leander lauschten auch Farrun und Melkart auf Drukils Worte. Die Anwesenheit des Obersten Bewahrers Farrun war naheliegend, schließlich war das alles in dem Wald geschehen, für den er zu sorgen hatte, aber weshalb war Melkart hier? Konnte er sich nicht daran gewöhnen, nicht länger Oberster Bewahrer zu sein? Der ehrwürdige Bewahrer mit den schulterlangen grauen Haaren und den strengen Falten war in grüner Kleidung jedenfalls ein ungewohnter Anblick. Wahrscheinlicher aber war, dass Farrun klug genug war, nicht auf seine Erfahrung und seinen Rat zu verzichten.
Als Drukil ausgeredet hatte, sprang Farrun auf. „Ich lasse sofort einige Bewahrer den Kadaver des Gors bergen. Möglicherweise lassen sich an ihm noch Spuren feststellen.“
Drukil schüttelte den Kopf. „Ich habe den toten Gor mitgebracht, er liegt etwas westlich des Baumes unter einer großen Fichte. Aber die größere Frage ist wohl, was der Vorfall zu bedeuten hat.“
Chada erhob sich ebenfalls: „Ist das nicht eindeutig? Irgendwie haben die Krahder, oder zumindest ihr Wissen um die Hexerei, überlebt. Und unsere Aufgabe ist es, dieses Wissen endgültig zu vernichten! Wir müssen mehr herausfinden. Es muss irgendwelche Spuren geben. Warum geschieht dieser Vorfall erst jetzt, nachdem die Krahder vernichtet wurden? Ist der Hexer etwa mit uns nach Andor gekommen?“
„Warum müssen wir dieses Wissen vernichten?“, warf Leander ein. „Wir dachten bisher, die Natur habe das für uns erledigt, aber wenn es überlebt hat, dann ist das doch vorteilhaft. Vielleicht lassen sich die Fähigkeiten der Krahder auch zum Guten einsetzen. Wir sollten bedenken, dass der unbekannte Hexer ausgerechnet einen Gor als Opfer erkor, was in meinen Augen dafür spricht, dass er auf unserer Seite stehen könnte. Die Sklaven sind es allerdings nicht! Ich habe sie bereits auf unserer Reise befragt. Keiner, den wir befreit haben, wusste sonderlich viel über die Hexerei der Krahder. Es ist ein Jammer!“
Drukil schüttelte sich leidenschaftlich. „Es wäre besser, wenn das Wissen für immer verloren gegangen wäre. Die Hexerei ist fast so schlimm wie…“
Er sah zu Eara und brach ab. Die Magierin wusste, dass er an die Dunkle Magie gedacht hatte. Nun ergriff sie selbst das Wort: „Ich stimme Leander zu. Kein Wissen ist generell schlecht, es kommt darauf an, wie es eingesetzt wird. Die Krahder nutzten ihre Kenntnisse, um andere Völker zu unterdrücken, aber in unseren Händen könnten wir damit so vielen helfen. Skelette könnten Arbeit übernehmen, sie könnten Gebäude bauen, Felder bestellen und Fische fangen. Die gesamte Welt würde davon gewaltig profitieren. Alle ungesunden, anstrengenden und gefährlichen Aufgaben wären nun die Aufgabe der Toten. Überlegt nur, was das für die Zukunft bedeutet.“
„Nein!“, rief Drukil und sprang auf. „Die Hexerei ist falsch, verdorben und widerlich. Sie stört die Harmonie der Natur und führt zu nichts als Leid und Zerstörung. Sie muss beendet werden, für immer!“
Auch Eara stand auf. „Wir sollten keine Möglichkeiten, die Zukunft in solchem Maße zu verbessern, einfach verwerfen, nur weil sie bisher missbraucht wurden.“ Die Schatten zu ihren Füßen ballten sich bedrohlich hinter ihr auf. „Es wäre unsinnige Verschwendung, eine solche Gelegenheit wegzuwerfen, nur aufgrund eines schlechten Gefühls. Die Hexerei ist nichts als ein willenloses Werkzeug, ebenso wie ein Messer … oder die Dunkle Magie. Wichtig ist, zu welchem Zweck sie benutzt wird. Man kann sie einsetzen, um zu zerstören.“ Bei diesen Worten verdunkelten die schwarzen Schlieren den ganzen Raum, krochen vor die Fenster, schwollen an, bis sie die Luft wie Rauch erfüllten.
„Oder man kann sie einsetzen, um zu helfen und Neues zu schaffen.“ Sie ließ die Dunkelheit über dem Tisch in der Mitte des kreisrunden Raumes zusammenfließen. Die dunkeln Schwaden verschwanden aus der Luft vor den Fenstern und aufgrund der vorherigen Finsternis schien alles nur noch heller zu strahlen. Die Schatten vereinigten sich zu einem großen, versponnenen Kunstwerk, sich ewig kunstvoll verändernd und rotierend, zugleich wunderschön und bedrohlich.
„Oder man vernichtet sie komplett und lässt all die beispiellosen Chancen hinter sich.“ Das Kunstwerk zerbarst mit einem lautlosen Knall und die Schatten nahmen die Form von unzähligen Scherben an und schwebten zu Boden. Eara befahl die Dunkelheit zu sich zurück. Sie schrumpfte, floss in die Ärmel ihrer Kleidung und verdichtete sich auf Earas Schatten am Boden, bis nichts mehr von ihr zu sehen war.
„Wenn das Wissen der Krahder im Besitz unserer Feinde ist, dann ist es gefährlich und muss vernichtet werden, doch wenn wir es erhalten könnten, dann ist das eine großartige Perspektive!“ Eara setzte sich wieder. Sie überlegte, ob sie mit ihren Effekten womöglich übertrieben hatte. Doch die anderen wirkten nachdenklicher als zuvor, was ein gutes Zeichen war. Einzig Leander war ungerührt, aber der Blinde hatte vermutlich ohnehin nichts von ihren Schattenspielen mitbekommen.
Es verging einige Zeit, bis Drukil schließlich rief: „Gut, wir haben gesehen, wie begeistert du vom Gedanken bist, diese Macht beherrschen zu können. Aber ich finde das falsch. Absolut falsch!“ Mit diesen Worten stürmte Drukil aus der Kammer und polterte die knarzende Wendeltreppe hinunter.
Der Hautwandler irrte sich. Eara war war nicht begeistert von der Hexerei, genau so wenig wie von allem anderen. Sie hielt den Versuch, sie zu beherrschen, für richtig, also tat sie alles in ihrer Macht stehende, um das zu verwirklichen. Doch Begeisterung steckte nicht dahinter.
„Ich muss Drukil beipflichten.“, äußerte sich nun auch Farrun. „Die Toten für sich arbeiten zu lassen ist pietätlos. Ihre Körper sollten unangetastet bleiben. Sie arbeiten zu lassen entspräche genau der Sklaverei, die ihr zu beenden suchtet.“
Eara schüttelte leicht den Kopf, doch Leander kam ihr mit ihrer Antwort zuvor: „Es ist etwas völlig anderes, ob man tote Körper für sich arbeiten lässt oder lebendige Menschen und Zwerge. Wir beschweren uns doch auch nicht, dass es Sklaverei ist, wenn wir Tiere unsere Arbeit machen lassen, und die haben immer noch mehr Gefühle als ein Leichnam.“
Farrun funkelte den Seher an, doch der reagierte darauf natürlich nicht. Auch Farrun sah schnell ein, dass es keinen Sinn hatte, einen Blinden mit Blicken einzuschüchtern, also antwortete er: „Ihr habt keinen Respekt vor der Totenruhe, Leander. Mutter Natur lehrt uns, dass Nekromantie …“
Eara stöhnte innerlich auf. Melkart hatte niemals Bezug auf Mutter Natur genommen. Natürlich war auch er der Oberste Priester seiner Göttin gewesen, aber dennoch hatte er sich hauptsächlich um weltliche Dinge gekümmert. Aber Farrun schien ein äußerst frommer Mann zu sein, nicht so säkular wie sein Vorgänger. Er war klug, gerecht, trotz seines durchschnittlichen Äußeren charismatisch und besaß die Fähigkeit, in kürzester Zeit die richtige Entscheidung zu fällen. Er war zweifellos ein sehr guter Anführer, aber diese Frömmigkeit würde ihm noch zum Verhängnis werden. Sein Glaube schränkte ihn in seiner Entscheidungsfähigkeit ein, davon war Eara überzeugt. Sie unterbrach ihn: „Aber es heißt doch, dass nur die unsterbliche Seele zählt, für die der Körper lediglich ein Behältnis ist. Wenn jemand stirbt, dann bringt sein Tod neues Leben hervor und somit wird der Kreislauf von Mutter Natur fortgeführt. Die Seele kann später in einem anderen Körper wiedergeboren werden, aber der alte Körper nährt die Natur. Wieso ist es dann von Bedeutung, was sonst noch mit ihm geschieht?“
Farrun wirkte kurz erstaunt, dass Eara ihn auf eine der vielen widersprüchlichen Stellen in den heiligen Schriften seiner vierundzwanzig Propheten aufmerksam machte, aber er sammelte sich schnell wieder. „Aus Euren Worten klingt entweder Unwissenheit oder Häresie. Seid froh, dass ihr nur gegen Mutter Natur redet, im Namen von anderen Göttern wurden schon Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Doch die Heilige Mutter predigt Liebe und Vergebung, sie wird euch nicht für Eure Worte verurteilen. Aber die Nekromantie ist eine Sünde, so viel ist sicher.“
„Ein Haus mit vielen Wänden.“, sagte Leander und lehnte sich zurück. Eara hatte keine Ahnung, wovon der Seher sprach, aber sie bemerkte interessiert, dass Farruns Gesicht sich noch weiter verfinsterte und Chada leicht schmunzelte.
Thorn räusperte sich. „Ich denke, bevor wir debattieren, ob wir das Wissen vernichten oder anwenden wollen, sollten wir vielleicht erst einmal mehr herausfinden. Ist es überhaupt die Hexerei der Krahder, oder vielleicht etwas völlig anderes, das sich für Drukil ähnlich anfühlte? Wer beherrscht diese Fähigkeiten, ein Freund oder ein Feind?“
„Wir brauchen mehr Informationen!“, ergänzte Chada, „Erst dann können wir entscheiden.“
Beide standen exakt gleichzeitig auf. Auch Melkart, der die ganze Zeit über geschwiegen hat, erhob sich. „Soll ich auf den Schriftrollen in unseren Archiven nach einem vergleichbaren Vorfall suchen?“, fragte er Farrun.
Der nickte nur, dann jedoch blickte er die vier Helden nachdenklich an. „Wo wir gerade schon von Schriftrollen sprechen, fällt mir ein, dass ein wertvolles Pergament aus unseren Archiven verschwunden ist, während ihr vor einem Jahr hier wart.“
Thorn blickte ihn empört an. „Willst du etwa andeuten, wir hätten …“
Farrun unterbrach ihn schnell. „Bei der Mutter allen Lebens, selbstverständlich nicht. Es war keine Schriftrolle aus den Schwarzen Archiven, ihr hättet sowieso Zugriff darauf gehabt. Ich wollte es lediglich erwähnen, vielleicht wisst ihr ja etwas darüber.“
Leander lauschte aufmerksam. Jetzt fragte er: „Um was für eine Schriftrolle handelt es sich denn?“
Farrun lächelte ihn an und Eara war erstaunt, dass er den Streit so schnell hinter sich gelassen hatte. Die Vergebung, die seine Göttin predigte, schien er ernst zu nehmen. „Ein religiöser Text von den Anfängen der Bewahrer. Der erste Oberste Priester – ein blinder Bewahrer namens Themauras – verknüpfte den herkömmlichen Schöpfungsmythos um Mutter Natur mit einigen ungewöhnlichen Elementen. Der Text ist allerdings eher wegen seines beträchtlichen Alters und nicht wegen seiner theologischen Bedeutung wertvoll.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Ich erwarte nicht, dass ihr schon davon gehört habt, aber ich konnte ja mal fragen.“
Themauras. Der Name kam Eara bekannt vor. Irgendwo hatte sie ihn schon einmal gehört, da war sie sich sicher. Und sie meinte zu erkennen, dass auch Leander angestrengt nachdachte. Auch er schien eine lang vergessene Erinnerung auszugraben. Doch ehe einem von ihnen einfiel, woher sie den Namen des ersten Obersten Priesters kannten, ergriff Chada das Wort: „Wenn der Text tatsächlich von Themauras stammt, dann muss er eineinhalb Jahrtausende alt sein. Haben wir nicht Abschriften von allen älteren Texten?“
Melkart lächelte warm. „Ich sehe, du hast nicht alles vergessen, was ich dich lehrte.“, sagte er leise. „Aber von dieser Schrift gibt es keine Abschrift, denn sie war auf Steinbärenhaut festgehalten.“ Da er verwunderte Blicke erntete, ergänzte Melkart: „Die Steinbären waren große Bären mit grauem Fell, die hier an der Küste des Wachsamen Waldes lebten. Ihre Haut eignete sich deutlich besser zum Beschreiben als Ziegen- oder Schafshaut. Texte auf Steinbärenhaut verblichen nicht, das Pergament wurde nicht brüchig, war wasserabweisend und nicht brennbar. Das verschwundene Pergament könnte also tatsächlich noch das Original gewesen sein. Leider sind die Steinbären alle tot. Ausgestorben.“ Wie gut, dass Drukil den Raum bereits verlassen hatte.
Farrun schnaubte zornig. „Ausgerottet wäre das passendere Wort. Ausgerechnet die Priester von Mutter Natur vernichteten eines ihrer Wunder. Aber ich denke, ihr versteht nun, weshalb wir es nicht für nötig erachteten, zwei verschiedene Exemplare des Textes aufzubewahren.“
„Das tun wir.“, sagte Chada. „Ich bezweifle, dass dieser Text von Bedeutung ist, aber wir werden ihn nicht vergessen, Farrun.“ Mit diesen Worten verließen Chada und Thorn den Raum, dicht gefolgt von den beiden Bewahrern. Zurück blieben nur Leander und Eara.

„Du hast gelogen.“, sagte der Seher plötzlich. „Du hast gesagt, Dunkle Magie sei ein bloßes Werkzeug, aber das stimmt nicht. Die Dunkle Magie hat ihren eigenen Willen, das weißt du.“
„Da hast du recht, Leander. Die Dunkle Magie ist nicht ein willenloses Werkzeug, sondern ein wildes Tier, das dich jederzeit zu verschlingen droht. In allem, was existiert, liegt eine Ordnung, aber die Dunkle Magie vernichtet diese Ordnung, vernichtet den Willen, der hinter den Ideen steckt. Ein Magier kann den vernichteten Willen durch seinen eigenen ersetzen, aber die Dunkle Magie wird stets versuchen, das Ding, das kontrolliert werden soll, zu pervertieren, es so böse und verdorben wie nur möglich zu machen. Ja, die Dunkle Magie hat einen eigenen Willen, und ja, je mehr ein Magier sie verwendet, desto mehr liefert er sich ihr aus, selbst wenn er dem Weg des Eises folgt. Ja, Leander, ich habe gelogen. Aber eines musst du bedenken: Dunkle Magie mag von einem unbeseelten Werkzeug verschieden sein, aber eine Lüge ist ganz genau wie ein Werkzeug, sie ist weder gut noch schlecht und vollkommen willenlos. Wenn ich also lüge, dann ist das weder eine gute noch eine schlechte Tat. Erst der Zweck der Lüge entscheidet darüber. Und ich habe gelogen, um etwas Gutes zu erreichen.“
Leander lachte. „Das sollte keine moralische Wertung sein, Eara. Ich selbst habe schon oft genug gelogen.“ Zum Beispiel vorhin, dachte Eara.
Der Seher stand auch auf, doch ehe er gehen konnte, hielt Eara ihn am Ärmel fest. „Leander?“, fragte sie. „Du sagtest, du hast einen Priester Fornurs kennengelernt. Und Chada und Thorn hast du schon vor ihrer Geburt beobachtet. Wie alt bist du?“
„Ich war ein junger Mann, als Orweyn die Magischen Waffen schmiedete. Ich war Zeuge der großen Seeschlacht gegen die Mächte des Meeres, ich hatte mein Augenlicht längst verloren, als sich die beiden Zaubererorden voneinander abspalteten. Dass Brandur versuchen würde, durch das Gebirge zu fliehen, wusste ich bereits Jahre im voraus. Achtzehn Dutzend Jahre ist es jetzt her, dass ich geboren wurde. Ich bin deutlich älter, als ich aussehe, Eara.“
Noch jemand, der unwahrscheinlich alt wurde. Ein Segen des Landes? Sie bezweifelte, dass Leander in solchem Maße davon betroffen war. Er war kein Mensch, das war die Erklärung für sein Alter. Oder? „Zweihundertsechzehn Sommer ist tatsächlich alt, aber es überrascht mich nicht. Ist das normal für … jemanden deiner Art?“
Leander schüttelte nur traurig den Kopf. „Ich kenne niemanden von meiner Art außer meine Familie, und die wurde ermordet, als ich noch ein Kind war. Ich habe lange nach jemandem wie mir gesucht, doch ich habe nichts gefunden. Keine Person, keine Erinnerung, kein Zeugnis. Es gibt keine Berichte über Menschen mit blauer Haut, keine Städte, die sie erbaut haben, keine Sprache, die sie benutzten. Sie könnten aus dem Meer gestiegen oder vom Himmel geflogen sein, doch falls dem so ist, sind sie ebenso spurlos wieder dorthin verschwunden. Vielleicht wurden sie von anderen Arten ausgerottet, alles, was an sie erinnerte, zerstört. Vielleicht waren meine Eltern auch einfach Opfer eines magischen Experiments. Die Wahrheit lautet: Ich habe nicht die geringste Ahnung.“ Leander befreite seinen Arm aus ihrem Griff und verließ ebenfalls den Raum. Eara jedoch saß noch eine ganze Weile da.


In dieser Nacht wurde das Hadrische Meer von einem Sturm heimgesucht, der seinesgleichen suchte. Es begann, kaum dass die Sonne untergegangen war. Dunkle Wolken näherten sich von Norden, die den Himmel bedeckten und die vielen Sterne sowie den Vollmond verschluckten. Regen peitschte vom Himmel und Blitze zuckten durch die Nacht. Die Wellen türmten sich zu Bergen aus Wasser auf, welche so manches Schiff verschlangen. In Sturmtal pfiff der Wind durch die hohen Felszacken und spielte ein grausames Lied. In Silberhall waren die Zwerge die ganze Nacht damit beschäftigt, mittels komplizierter Vorrichtungen Wasser aus ihren Gängen zu pumpen.
Etwa zwei Stunden, nachdem der Sturm begonnen hatte, erschien über der Ruine von Klippenwacht ein Schatten, der noch eine Stunde zuvor bei einer anderen Ruine gewesen war. Er schwebte in der Luft, vom Wind und Wasser unbeeindruckt, und begann mit einer vollen Stimme, die das Tosen der Elemente übertönte und über das gesamte Hadrische Meer zu vernehmen war, seine Botschaft vorzutragen. Kaum ein Bewohner der Nebelinseln war imstande gewesen, einzuschlafen, doch die Stimme hielten die meisten für einen bösen Traum und vergaßen sie schnell wieder.
In der Ruine Klippenwachts jedoch stand ein bleicher Jüngling von neunzehn Sommern auf und trat zwischen Steinen, hinter denen das Haus stand, in dem er zusammen mit vielen anderen Schutz gesucht hatte, hervor. Er hielt die Stimme nicht für einen Traum und die Neugierde plagte ihn. Es war kalt, nass und finster, sodass der junge Mann nicht viel sah. Doch sein Blick richtete sich zufälligerweise in jenem Moment zum Himmel, als ein gleißender Blitz die düstere Szenerie erhellte. Nur einen Augenblick war der Schemen zu sehen gewesen, doch er war deutlich zu erkennen gewesen. Vor allem eines sollte dem jungen Mann im Gedächtnis bleiben: Die schwarze gezackte Maske, in welcher der Blitz sich spiegelte und die beiden weiß funkelnden Augen.
Der bleiche Mann hätte in diesem Regen nichts aufschreiben können, doch die unheilvollen Worte prägte er sich genau ein. Als das nächste mal ein Blitz zuckte, war der Schatten verschwunden. Der junge Mann rannte durch den strömenden Regen zurück zum Unterschlupf.
Eine Stunde darauf verließ ein Falke die Ruinenstadt. Um seinen Fuß war eine Nachricht gebunden und das Tier flog tapfer durch den Sturm. Die Böen schleuderten es umher, doch der Vogel verließ nicht seinen Kurs und flog geschwind nach Süden. Als der Falke mit seinen scharfen Augen endlich die bewaldete Küste erspähte, war er am Ende seiner Kräfte. Mühsam legte er auch die letzte Strecke noch hinter sich und flog auf einen gewaltigen Baum zu. Zusammen mit dem Falken war auch der Sturm nach Süden gewandert, und so kam es, dass in dem Moment, als er seine Füße zur Landung ausstreckte, ein letzter Windstoß das arme Tier ergriff und mit einem Ruck gegen den Stamm schmetterte. Der Falke schrie gequält auf und trudelte zu Boden. Erst im letzten Moment wurde er von schwarzen Schlieren ergriffen, die ihn durch eines der Fenster ins Innere des Baumes zogen.


Späte Nacht, 16. Herbsttag 76 A.Z.
Baum der Lieder, Wachsamer Wald

Schon die ganze Nacht hatte sich der Winter mit einem eisigen Nordwind angekündigt, und bald waren auch die ersten dunklen Wolken aufgezogen. Irgendwann hatte es begonnen zu regnen, erst langsam, dann plötzlich goss es wie aus Kübeln. Der Wind fuhr durch den Wachsamen Wald und riss gewaltige Bäume um, nach einiger Zeit hatte sich der Regen in Hagel verwandelt. Niemand hatte schlafen können, auch Eara nicht. Die Bewahrer versuchten, die größten Schäden zu verhindern, aber als der Wind immer stärker wurde, hatte Eara befürchtet, einer der kolossalen Äste des Baumes der Lieder könnte abbrechen und Dutzende erschlagen. Sie war hinaufgestürmt und hatte vorgehabt, den Baum mit ihrer Zauberei zu verstärken. Auch wenn sie keine Hemmungen mehr hatte, Dunkle Magie zu verwenden, hieß das nicht, dass sie die Möglichkeiten der Zauberei übersah. In Situationen wie dieser kam man mit ihr ebenso schnell zum Ziel. Earas Bemühungen hatten sich allerdings als sinnlos erwiesen, der Baum der Lieder trotzte dem Sturm wie ein Berg, die Windstöße konnten ihn nicht gefährden.
Dennoch war es gut, dass Eara den Baum bestiegen hatte, denn nur so hatte sie den Falken ausmachen können, der durch den Sturm flog. Ihre Schatten trugen das verletzte Tier sanft durch die Fensteröffnung, doch Eara spürte das Verlangen in ihnen, den Vogel in der Luft zu zerreißen. In ihrer Dunkelheit verbarg sich der Hass auf alles, was fühlte und dachte, der Hass auf alles Lebendige, letztendlich sogar der Hass auf alles, egal ob lebendig oder nicht. Die Dunkle Magie hätte am liebsten jedes Tier, jede Pflanze und jeden Stein zu Staub zermahlen. Doch Eara gebot über sie und so geschah nichts davon.
Der Falke schwebte vor ihr in der Luft und mit ihrer freien Hand zog Eara die Nachricht von seinem Bein. Eine kleine Schriftrolle, gegen den Regen mit Wachs beschichtet. Die Botschaft war wichtig, das war Eara klar, nachdem sie die Worte gelesen hatte. Nachdenklich betrachtete sie den Falken. Der Vogel hatte sich durch diesen fürchterlichen Sturm gequält, war den weiten Weg von Klippenwacht bis hierher zum Baum der Lieder geflogen. Doch jetzt hatte er sich im letzten Moment seiner Reise den linken Flügel und die Wirbelsäule gebrochen. Der Falke zitterte vor Kälte und Schmerz. Ein tapferes Tier, flüsterte die Stimme der Schwäche.
Die Schlieren schlugen schnell und gnadenlos zu, drehten dem Vogel den kleinen gefiederten Hals um. Dann ließ Eara ihn achtlos aus dem Fenster fallen. Eine gebrochene Wirbelsäule konnte niemand heilen, jeder weitere Moment hätte ihm nur zusätzliche Schmerzen bereitet. Schnell schritt Eara die große Treppe hinab, während sie über die Nachricht grübelte, die überbracht worden war:

Teure Freunde, verehrte Helden von Andor,
bitte begebt euch so schnell wie möglich zur Ruine von Klippenwacht. Dringende Ereignisse fordern eure Aufmerksamkeit und Anwesenheit.
Euer Freund und Waffenbruder
Stinner

f - Die Botschaft des Rates

BeitragVerfasst: 28. November 2021, 19:00
von TroII
f – Die Botschaft des Rates

Später Vormittag, 19. Herbsttag 76 A.Z.
Hohe See südwestlich von Sturmtal, Hadrisches Meer

Leander lehnte an der Reling der Sturmrose und lauschte der unruhigen See. Oh, wie er dieses Schiff hasste! Vor zwei Tagen waren sie alle an Bord gegangen, Chada, Thorn, Eara, Drukil, Bragor und er selbst. Das Handelsschiff hatte eigentlich nur Eara und Bragor abholen sollen, die einzigen, die in den Norden gewollt hatten. Doch die Botschaft von Stinner hatte dafür gesorgt, dass sie stattdessen alle diesen verfluchten Kahn betreten hatten.
Der Kapitän Borsar war ein abergläubischer Mann mit einer rauen Stimme, der neben seiner generellen Abneigung, Frauen mit an Bord zu nehmen, vor allem dagegen gewesen war, so kurz nach seiner Ankunft schon wieder auszulaufen. Die Waren, hauptsächlich Baumstämme, hatte er schnell verladen, aber er weigerte sich, in diesem Sturm in See zu stechen, obwohl er durchaus seine Ladung hätte sichern und mit halber Segelfläche hätte fahren können. „Der Zorn der drei Mächte!“ Jede Anmerkung, dass die Hälfte seiner Passagiere am Ende einer dieser drei Mächte beteiligt waren, hatte er geflissentlich überhört. Letztendlich war Kapitän Borsar nur mit viel Geld und guten Worten von der Dringlichkeit ihrer Reise zu überzeugen gewesen, und Leander hatte die Vermutung, dass dabei das Geld die wesentliche Rolle gespielt hatte.
Doch inzwischen bereute er, dass sie so überhastet aufgebrochen waren. Der Sturm dauerte nun schon ihre gesamte Reise an und Leander hatte vor allem erfahren, dass sein Magen doch nicht so resistent gegen gegen hohe Wellen und schlechtes Wetter war, wie er angenommen hatte. So hatte es sich ergeben, dass seine Mahlzeiten ein rasches Ende bei den Fischen fanden und dass sein Lieblingsplatz möglichst nahe am Wasser war. Wenigstens hatte er genug Weitblick besessen, die windabgewandte Seite zu wählen. Und dennoch … Dass das ausgerechnet ihm passieren musste, zum ersten mal seit über zweihundert Jahren. Ab und an hatte Drukil ihm Gesellschaft geleistet, bis der Hautwandler seine Ernährung auf trockenes Zwieback umgestellt hatte. Die übrigen Helden waren von der Seekrankheit weitestgehend verschont geblieben. Aber er selbst war stets nur in seiner kleinen Koje oder über die Bordwand gelehnt anzutreffen gewesen, die Schritte dazwischen kannte er mittlerweile auswendig. Das einzig positive, was sich über die Fahrt sagen ließ, war, dass die Sturmrose eine gute Mannschaft besaß, das Schiff hatte niemals in Gefahr geschwebt, zu sinken. Doch abgesehen davon war die gesamte Reise einfach nur zum Kotzen.

Plötzlich ertönte von über ihm eine laute Stimme: „Land in Sicht!“ Endlich, wie sehr hatte Leander dieses Ruf herbeigesehnt! Sturmtal war in Sichtweite. Fast hätte er seine Gabe genutzt, um einen kurzen Blick auf die hohen Felszacken zu erhaschen, aber er konnte sich beherrschen.
Seine Visionen … Besser, seine Gabe wurde so selten wie möglich eingesetzt. Seit jenem Tag im Gebirge hatte er noch zwei mal im Traum eine Vision gehabt, jedes mal mit den gleichen erschreckenden Bildern. Auch jetzt noch konnte er sie vor seinem inneren Auge sehen: Den brennenden Baum, die gezackte Maske, seinen Bruder Callem, das Mädchen im Schnee. Und natürlich die Dunkelheit, auch wenn sehen in diesem Fall das falsche Wort war. Diese Dunkelheit war der Grund, weshalb er bisher darauf verzichtet hatte, weitere Visionen herbeizurufen. Sie machte ihm Angst, und er konnte nicht mal sagen, um was er fürchtete. Aber Leander wollte ihren Anblick um jeden Preis vermeiden.
Langsam wankte er zurück zu seiner Koje. Sein Magen hatte sich wieder etwas beruhigt und wenn sie bald in Sturmtal wären, dann wollte er nicht ganz so wackelig auf den Beinen sein wie momentan. Doch jetzt kreisten seine Gedanken um die Visionen, insbesondere um das Bild seines Bruders. Bragor war auf dem Weg nach Sturmtal, doch Callem würde ihn dort ermorden, das hatte Leander gesehen. Er konnte es zwar nicht verhindern, aber durchaus verzögern, am einfachsten, indem Bragor Sturmtal nicht erreichte. Falls Leander ihn überzeugen könnte, seine alte Heimat nicht zu besuchen, dann könnte Callem ihn dort auch nicht töten. Und vielleicht würde sein Bruder stattdessen doch einen anderen Taren morden, der durch Zufall seine Hörner verloren hatte. So einfach ließ eine Zukunft sich abwenden. Hoffentlich.

Leander klopfte an die Holztür, die den Eingang zu Bragors Kajüte verschloss. Die brüchige Stimme des Taren erscholl aus dem Inneren und bat ihn, hereinzukommen. Also schob Leander die Tür auf und trat einen Schritt nach vorne. Plötzlich durchzuckte ein dumpfer Schmerz seinen Schädel. Er stöhnte leise auf und duckte sich, um erneut durch die Tür zu gehen. Verfluchter Kahn! Was mussten die Decken hier auch so niedrig sein? Der Erbauer des Sturmrose hatte wohl keinen Gedanken daran verschwendet, dass eines Tages ein hochgewachsener Blinder durch diese Tür gehen könnte.
„Oh, das sah unschön aus.“, sagte Bragor leise. „Was möchtest du, Leander?“
Leander ging vorsichtig noch einen Schritt weiter und rieb sich seine noch immer schmerzende Stirn. „Bragor, sei gegrüßt.“ Er legte eine kurze Pause ein, um seinen Mantel enger um sich zu ziehen. Es war verdammt kalt hier unten, sicher fror auch Bragor. „Ich habe über das Ziel deiner Reise nachgedacht. Hältst du es wirklich für schlau, ausgerechnet an dem Ort gesund werden zu wollen, an dem dir deutlicher als irgendwo sonst vor Augen geführt wird, wie … schlimm deine Verletzungen sind? Stell dir nur vor, überall um dich herum sind all die gesunden Taren und du sitzt einsam vor deiner Hütte, kaum imstande aufzustehen. Im Wachsamen Wald wurdest du gut versorgt und deine Verletzungen sind schnell verheilt. Ich halte es für besser, wenn du dorthin zurückkehrst.“
„Ich … die Taren sind auch gute Ärzte. Und ich ging bisher davon aus, dass ich umgeben von meinem Volk am schnellsten heilen werde. Eara hat mir diesen Vorschlag unterbreitet und ich … es schien mir eine gute Idee zu sein. Außerdem … meinst du nicht, das kommt ein wenig zu kurzfristig? Was meinst du, Eara? Hat Leander recht?“
Eara?! Der Tarus sprach so, als ob sie anwesend wäre. Entweder waren seine Verletzungen ernster als angenommen oder Leander hatte sich einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt für seinen Besuch ausgesucht. Es stellte sich heraus, dass letzteres der Fall war, denn nun sprach die Dunkle Magierin warm: „Ich stimme dir absolut zu, Bragor. Jetzt umzukehren wäre ein schwerer Fehler.“ Dann nahm ihre Stimme einen honigsüßen Klang an, als sie sagte: „Leander, komm doch bitte mit raus. Ich würde mich gerne mal mit dir unterhalten.“
Oh nein! So viel Pech konnte er doch nicht haben. Warum besuchte er Bragor ausgerechnet in dem Moment, in dem er schon Besuch hatte? Die unnatürliche Kälte hätte ihm auffallen müssen. Wortlos verließ Leander Bragors Kajüte wieder und dachte sogar daran, sich dieses mal rechtzeitig zu ducken.
Eara schloss die Tür und folgte ihm, dann wurde Leander plötzlich wie von einer gewaltigen Faust gepackt und in die Luft gehoben. „Was fällt dir ein?!“, herrschte Eara ihn an. „Wenn du eine Vision hattest, dann teile das uns allen mit und wenn nicht, dann lass ihn gefälligst in Ruhe.“
„Eara!“, presste Leander mühsam hervor. „Niemand kann uns hier hören, du brauchst nicht so zu tun, als wärest du zornig.“
Sofort löste sie Faust auf, die ihn hochgehoben hatte, und Leander polterte unsanft auf den schwankenden Boden. „Intonation und Mimik können den Inhalt meiner Worte unterstreichen, auch wenn ich auf letztere im Gespräch mit dir verzichte.“, sagte Eara in wütendem Tonfall. „Selbstverständlich bin ich nicht zornig, doch wenn ich so klinge, dann prägt sich meine Botschaft womöglich besser ein. Aber erkläre mir, warum du unbedingt vermeiden möchtest, dass Bragor nach Sturmtal kommt. Hattest du eine Vision, ja oder nein?“
Was, wenn er ihr jetzt sagen würde, dass er eine gehabt hatte? Er musste Callem schließlich nicht erwähnen, dass er Bragor auf Sturmtal sterben gesehen hatte, würde genügen. Doch dann würde Eara sich fragen, weshalb er das bisher verschwiegen hatte. Also griff er wieder auf seine alte Ausrede zurück: „Keine Vision, doch ich hatte und habe noch immer ein äußerst schlechtes Gefühl dabei. Nichts, was mit meinen Fähigkeiten in Verbindung stände, aber es kommt mir unklug vor.“
„Ein schlechtes Gefühl? Wirklich? Das ist deine Begründung?“ Sie schwieg kurz. „Weißt du, warum ich dich bei deinem Ansinnen unterstützt habe, die Hexerei der Krahder zu verwenden, sollte das Wissen darum in unsere Hände fallen? Weil es nichts gab, das dagegen sprach, abgesehen von Farruns Aberglauben und Drukils Meinung. Und worauf gründete seine Meinung? Auf einem schlechten Gefühl!“
Leander rappelte sich mühsam auf, während Eara unbeirrt fortfuhr: „Gefühle machen uns schwach, naiv und kontrollierbar. Ich hätte dich für weiser gehalten, Leander. Du lebst schon zwei Jahrhunderte und noch immer handelst du, weil du ein schlechtes Gefühl bei etwas hast, anstatt nach deiner Vernunft. Wenn von deinen Entscheidungen viel abhängt, dann dürfen diese Entscheidungen von Emotionen nicht getrübt werden! Ich erwarte, dass du Bragor nicht erneut belästigst. Lass ihn auf Sturmtal seinen Frieden finden.“


Früher Nachmittag, 19. Herbsttag 76 A.Z.
Sturmtal, Hadrisches Meer

Leander saß fröstelnd auf dem einsamen Holzsteg. Regen und Hagel machten gerade eine kurze Pause, aber auch der Wind war eisig. Die anderen Helden waren zum Dörfchen gegangen, in dem das kleine Volk der Taren lebte. Sie nannten es Sturmtal, aber eigentlich hieß nur die Insel so. Die Taren hatten ihrem Dorf keinen Namen gegeben, denn Ortsnamen waren nur für Fremde; Einheimischen genügte die Erwähnung von „dem Dorf“. Die Menschen der Nebelinseln hatten die Heimat der Taren früher Pagotar geheißen, aber vermutlich war dieser Name schon lange in Vergessenheit geraten. Nun nannten alle sowohl die komplette Insel als auch das Dorf in ihrer Mitte Sturmtal, ein Name, der eigentlich völlig paradox war. Tatsächlich war das Tal in der Inselmitte im gesamten Süden des Hadrischen Meeres der einzige Ort unter freiem Himmel, an dem der Wind nicht ununterbrochen brauste, ein Kontrast, der durch das Heulen des Windes an jedem anderen Ort der Insel noch verstärkt wurde. Hier, auf dem Holzsteg, konnte Leander das unmelodische Konzert gut hören, das entstand, wenn der Wind durch die Felszacken pfiff, die die ganze Insel bedeckten. Ansonsten hörte Leander allerdings nichts, gerade in Stürmen wie diesem überdeckte das Lied des Windes alle anderen Geräusche an diesem Ort fast komplett. Selbst das ständige Meeresrauschen war in den Hintergrund getreten. Warum nur wurde es auf dieser Reise niemals still? Immer war es laut, aber Leander mochte die Stille deutlich lieber.
Er zog sich in sein Reich der Erinnerungen zurück und griff nach einer kleinen Holzflöte neben der Eingangstür, um sich die Bilder seines ersten und einzigen Aufenthalts in Pagotar vor Augen zu rufen. Damals war er noch ein Kind gewesen, zusammen mit Callem war er hergekommen. Beide waren verletzt und ausgehungert gewesen und trotz der selbstgewählten Isolation des Völkchens hatten die Taren die Geschwister bereitwillig versorgt. Das Tal umgab ein Gefühl der Geborgenheit und des Friedens, die vielen Windspiele klangen leise und überall war Schmuck aus Federn und Muscheln. Ob es dort heute immer noch so friedlich war?
Die Verlockung dorthinzugehen war groß gewesen, aber wenn er die erfreuten Stimmen der Taren vernommen hätte, dann hätte ihm das sein Scheitern noch deutlicher vor Augen geführt. Er hatte es nicht geschafft, Bragor von seinem Vorhaben abzubringen. Jetzt musste Leander andere Mittel finden, um seine Vision umzudeuten. Was würde wohl geschehen, wenn sie nichts taten? Leander kannte seinen Bruder gut, er wusste genau, wie Callem dachte. Er musste inzwischen erfahren haben, dass die Helden wohlbehalten aus dem Süden zurückgekehrt waren. Doch bestimmt wusste er auch, dass Leander noch bei ihnen war. Was würde er denken? Eines zumindest ganz gewiss nicht: Callem würde niemals vermuten, sein Bruder könnte die Seiten gewechselt haben. Wie auch, noch vor einem Jahr hätte auch Leander es für unmöglich gehalten, dass er seinen Bruder hintergehen könnte. Dessen unzählige Verbrechen hatten ihn nie gekümmert. Damals war er ihrem Schwur noch treu gewesen. Callem würde also vermuten, dass Leander noch immer auf eine günstige Gelegenheit wartete, um die Helden von Andor zu verraten und Rache zu üben. Solange der Kapitän der Schwarzen Kogge davon ausging, würde er Sturmtal nicht angreifen. Callem würde sich bedeckt halten und seinem kleinen Bruder vertrauen. Die Helden glaubten ihn tot, und sie hatten ihn schon einmal besiegt. Er würde ausharren, bis Leander sie vernichtet hatte, um dann mit seinen verbliebenen Kameraden die Schwarze Kogge wieder aufzubauen. Irgendwann würde Callem ahnen, dass die Vernichtung der Helden nicht mehr in Leanders Interesse lag. Doch bis dahin war Bragor sicher.

Am frühen Abend kamen die Helden zurück, die Neugier, was es mit Stinners Botschaft auf sich hatte, brannte in ihnen allen. Nun, abgesehen von Eara. Der Weg des Eises. Plötzlich zitterte Leander nicht nur wegen der Kälte. Die Auslöschung jeglicher Gefühle. Er hatte nicht gewusst, dass so etwas möglich war. Seit drei Tagen fand er Eara noch deutlich faszinierender als zuvor.
Die Helden begrüßten ihn und gingen zurück an Bord der Sturmrose. Auch Leander stand auf und trat zum schmalen Laufsteg. Den Weg zu seinem Sitzplatz hatte er sich exakt eingeprägt, also wusste er, wohin er zu gehen hatte. Er brauchte nicht mit seinem Stab nach dem Steg zu tasten, sondern konnte ihn aufgrund seiner Erinnerung finden.
Leander machte einen großen Schritt nach vorne und trat ins Leere. „Was …?“, entfuhr es ihm, während er vergeblich versuchte, sein Gleichgewicht zu halten. Ehe er im Wasser landete, wurde er jedoch plötzlich hochgehoben. Schon zum zweiten mal an diesem Tag wurde er wie von einer gewaltigen Faust gepackt, doch diesmal war er froh über Earas Eingreifen. Er wurde angehoben und auf schaukelndem Boden sacht wieder abgesetzt. Noch bevor er sich überlegen konnte, warum sein Gedächtnis ihn so plötzlich im Stich gelassen hatte, konnte er schwere Schritte hören, die eilig angehastet kamen. Dann erklang Borsars kratzige Stimme und der Kapitän entschuldigte sich eilfertig. Dummes Versehen, wird nicht wieder vorkommen, die üblichen Floskeln. Aus irgendwelchen Gründen hatte wohl die Planke verlegt werden müssen und er hatte es nicht bemerkt. Leander schüttelte wortlos den Kopf. Heute hatte sich wirklich alles gegen ihn verschworen.
„Passt in Zukunft besser auf Eure Passagiere auf, Kapitän. Ich bin …“ Ehe Leander aussprechen konnte, spürte er wieder das heftige Schaukeln unter seinen Füßen und eilte zur Reling. Die Zeit auf dem Steg war eine wirklich kurze Erholungspause gewesen.
Das Schiff legte ab, während Leander seinen „Lieblingsplatz“ nicht verließ. Doch glücklicherweise blieb er von weiteren Ausbrüchen seiner Seekrankheit verschont. Der Niederschlag blieb verschwunden und nach einiger Zeit ließen auch Wind und Wellengang spürbar nach. Als Leander etwas später zu seiner Koje ging und sich in seine Hängemate legte, hatte sich der Sturm schon fast vollständig aufgelöst.


Abenddämmerung, 19. Herbsttag 76 A.Z.
Klippenwacht, Hadrisches Meer

… ein kreischender Falke, die außergewöhnlich großen Fänge weit gespreizt…

… ein Pergament, dicht mit Runen in einer ordentlichen Handschrift beschrieben…

… Dunkelheit…

… ein schneebedeckter schwarzer Steinquader, eine Flamme und ein Turm über zwei kurzen Schriftzügen eingraviert…

… eine steinerne Klippe, hoch aus dem Wasser ragend und von Wellen umspült, in der Mitte ein Dreieck aus vom Halbmond beschienenen, in den Himmel aufstrebenden Säulen…

… Dunkelheit…

… Leander! Wach auf!…

… eine Krone, die regelmäßigen gebogenen Zacken golden schimmernd…

… ein großer, schwarzer Wolf mit grünen Augen, von eisernen Ketten umschlungen…

… Wir sind angekommen! Wir sind in Klippenwacht!…

… Dunkelheit…

… ein in rotes Licht getauchter runder Turm aus Stein, die grüne, mit einer weißen Blume verzierte Fahne im Wind flatternd, ein gewaltiger blutroter Hahn vom rietgedeckten Dach herunter krähend...

… LEANDER! Aufgewacht, du Schlafmütze! Ich sagte, wir
sind angekommen! Komm schon, Stinner wartet schon lange genug!“ Ruckartig richtete sich Leander auf und wäre beinahe aus der Hängematte gepurzelt. Die Welt schien zu schwanken, und Leander wartete darauf, dass der Schwindel aufhörte, bis er begriff, dass er sich noch immer an Bord der Sturmrose befand.
„Schrei doch nicht so, Chada!“, grummelte er. Noch immer war er ganz benommen von seiner neuesten Vision. Doch jetzt konnte er darüber nicht nachdenken. Er stellte seine Füße auf den Boden und stand auf. Ein Schritt nach vorne und er konnte seinen Stab ergreifen, der neben der Tür lehnte. Dann erst drehte er sich zu der Stelle um, von wo die Stimme seiner aufdringlichen Besucherin gekommen war.
„Chada, ich hatte soeben eine weitere Vision. Wir sollten darüber sprechen, sobald wir wissen, weshalb Stinner uns herbestellt hat.“ Er merkte, dass ihr einige Fragen auf der Zunge brannten und konnte sich ihren inneren Widerstreit gut ausmalen. Was war stärker, ihre Neugierde auf den Inhalt seiner Vision oder ihr Wunsch, endlich Stinner zu treffen. Letztendlich stimmte sie Leander zu, zuerst ihren alten Freund aufzusuchen und anschließend mit den anderen seine Vision zu besprechen. Gemeinsam verließen sie die kleine Koje und wenige Schritte später auch die Sturmrose.
Unter Leanders Füßen befand sich ein unebener Steg. Ein Steg? In der Ruinenstadt? Er versuchte, seine Sinne für die Umgebung zu öffnen. Die Luft um ihn war kalt, aber beinahe unbewegt, der grauenhafte Sturm war offensichtlich vorbei. Über allem lag der penetrante Gestank von Salz, altem Fisch und faulen Algen, wie überall an den Küsten des Hadrischen Meeres, aber auch der Geruch von trockenem Gesteinsstaub mit dem Beigeschmack von neu angemischtem Mörtel sowie der harzige Duft von frisch geschlagenem Holz. Den Mief von Moder und Verfall, den Leander erwartet hatte, suchte er allerdings vergebens. Es herrschte auch nicht die Ruhe, die er hier vermutet hätte. Wenn sie nicht länger als erwartet hierher gebraucht hatten, war es jetzt knapp eine Stunde nach Sonnenuntergang, doch neben den obligatorischen Tönen von Wind und Wasser vernahm er auch noch andere Geräusche: Von weiter weg erscholl leiser Gesang, klangen harte Schläge von Meißeln auf Gestein, das selbst jetzt noch wohl im Schein einer Lampe bearbeitet wurde und sägten die Werkzeuge der Holzwerker mit schnarchenden Arbeitern um die Wette. Bloß das Geschrei von Meeresvögeln war um diese Tageszeit nicht zu hören, womit auch klar war, dass jetzt nicht der Zeitpunkt war, den er in seiner ersten Vision gesehen hatte. Er war in Klippenwacht, aber die Ruine war nicht von einem gewaltigen Schwarm Möwen umgeben.
„Sieh mal, Chada!“, sagte Thorn leise in einigen Schritt Entfernung. „Dort vorne liegt die Aldebaran II. Sie hat einen Ehrenplatz bekommen. Die meisten anderen Schiffe hier sind deutlich größer, aber unser altes Boot wirkt… besonders, so vereinzelt wie es hier liegt.“
„Es ist unglaublich!“, kam die gedämpfte Erwiderung. „Ich hätte nicht gedacht, dass sich dieser Ort in so kurzer Zeit dermaßen verändern könnte. Überall die Gerüste, die Steinblöcke, die Holzstämme. Schau nur, die Mauer dort ist wieder aufgebaut worden. Und da in ihrem Schatten, ist das etwa ein kleines Haus?“
„Von wegen klein. Die Mauer ist einfach nur groß. Das Haus hat drei Stockwerke, zähl die Fenster.“
Leander schüttelte ungläubig den Kopf. Was war hier nur los? Es schien ganz so, als würde Klippenwacht wieder aufgebaut. Doch wer wäre dazu in der Lage? War der Anführer dieses gewagten Unternehmens dieser Stinner, den die Helden in so leuchtenden und sein Bruder Callem in so finsteren Tönen beschrieben hatten?

Chada und Thorn waren noch immer in ihr Gespräch vertieft, wurden jedoch von einer weiblichen Stimme unterbrochen: „Seid gegrüßt! Ich bin Admiralin Ferane. Wer von Euch ist der Anführer dieser Gruppe?“
„Der Kapitän unseres Schiffes verhandelt dort drüben mit unserer Begleiterin über den Preis unserer Überfahrt.“, antwortete Thorn freundlich.
„Nein, Kapitän Borsar ist mir gut bekannt, doch ich spreche von Euch, seinen Passagieren. Wer von… Oh! Ihr seid die Helden von Andor, nicht wahr? Warum habt ihr das nicht gleich gesagt? Stinner möchte euch sehen.“ Ohne Thorn zu Wort kommen zu lassen rannte die Frau den Steg hinunter und anhand der Schwere ihrer Tritte vermutete Leander, dass sie eine Lederrüstung trug.
Kaum waren ihre Schritte verklungen, wurde Eara, die sich soeben mit Kapitän Borsar auf einen Preis geeinigt hatte, von einer anderen Person angesprochen, der Stimme nach zu urteilen ein junger Mann: „Die Helden von Andor! Es ist mir eine große Freude! Gestatten: Santalion Bantor, Sohn des Mertos Bantor, welcher der stolze Besitzer der Fröhlichen Nixe ist, des besten Gasthauses von Klippenwacht. Und wo wir schon davon sprechen: Es wäre mir eine große Ehre, wenn Ihr als unsere Gäste in unserer bescheidenen Herberge nächtigen würdet, selbstverständlich zu Sonderpreisen.“ Die letzte Bemerkung erklärte, weshalb der Besucher sich ausgerechnet an die finstere Eara gewandt hatte. Wer mitbekommt, wie ein Beutel Geld den Besitzer wechselt, der hofft, dass dort noch mehr zu finden sind.
Ehe Eara jedoch angemessen auf die wortreiche Begrüßung reagieren konnte, polterte noch jemand den Steg hinauf. „Chada! Thorn! Eara! Endlich sehen wir uns wieder!“ Nach dem, was Leander hören konnte, umarmte der Neuankömmling als erstes Thorn, dann Chada und, nach kurzem Zögern, auch Eara. Dann wandte sich der Mann, bei dem es sich wohl um Stinner handeln musste, an den aufdringlichen Sohn des Gasthausbesitzers: „Santalion! Versuchst du schon wieder, Gäste in deine verlauste Spelunke zu locken? Die Helden von Andor übernachten selbstverständlich bei mir.“
„Selbstverständlich! Ihr seid gewiss unbeschreiblich stolz, nach einem Jahr Arbeit so viele Gäste beherbergen zu können wie wir nach zehn Tagen.“, erwiderte Santalion spöttisch. „Ich lasse die fröhliche Familienzusammenführung dann mal in Ruhe!“, ergänzte er, nur um noch verschwörerisch niemand bestimmtem zuzuflüstern: „Falls Ihr es nicht länger mit ihm aushaltet, in der Fröhlichen Nixe findet sich immer ein Plätzchen. Das Angebot steht noch!“ Anschließend entfernte er sich rasch.
Drukil trat neben Leander und raunte ihm ins Ohr: „Ein ziemlich frecher Kerl, wenn du mich fragst.“ Leander antwortete nicht, sondern schmunzelte nur in sich hinein.

Stinner führte seine Besucher in Klippenwacht umher, ohne mit einem einzigen Wort auf den Grund ihres Besuches zu sprechen zu kommen. Stolz präsentierte er den Helden die unvollständig restaurierte Burg.
„Die Westmauer samt Turm haben wir bereits komplett fertig und bemannt. Wartet nur, bis ihr es bei Tageslicht sehen könnt. Anfangs waren die Meereskreaturen ziemlich dreist, aber nachdem wir sie jedes mal erfolgreich zurückschlugen, haben sie das Interesse an Klippenwacht verloren. Und wenn die Festung erst fertig ist, dann wird sie uneinnehmbar sein. Auf den Mauern und in den Türmen platzieren wir Ballisten, die mit einem einzigen Schuss einen Arrog töten können. Die ersten stehen schon.“
Während sie immer weiter durch die Ruine stapften, verstummten mit der Zeit die letzten Geräusche der Arbeiter, der Gesang hatte schon lange ein Ende gefunden. Schließlich blieben die anderen stehen und Leander tat es ihnen gleich.
„Hier seht ihr den Hauptturm, das Herz dieser Feste. Vor vier Tagen wurden wir fertig mit den Arbeiten an ihm, der Sturm konnte glücklicherweise nur noch die Gerüste wegwehen. Noch ist alles ziemlich kalt und ungemütlich, aber man kann darin wohnen. Wir haben während des Sturmes die Hälfte der hiesigen Arbeiter aufgenommen, die andere Hälfte konnte in der Fröhlichen Nixe unterkommen.“
Stinner setzte sich wieder in Bewegung und Leander folgte artig. Die Versuchung, mittels seiner Gabe einen Blick auf die Festung zu werfen, war groß, doch er zügelte sich. Eine weitere Ansicht der unheilvollen Dunkelheit konnte er sich sparen.
Plötzlich begannen die Schritte Stinners, der vor ihm ging, leicht nachzuhallen. Scheinbar hatte man beim Bau des Hauptturmes entweder vorerst auf Türen verzichtet oder das Tor stand sperrangelweit offen, jedenfalls hatte es kein Geräusch eines sich öffnenden Portals gegeben. Kein Wunder, dass es im Turm kalt war. Sie stiegen einige Treppen aus Stein empor und anschließend noch eine aus Holz, bis sie erneut stehen blieben.
„Hier könnt ihr übernachten. Es ist noch etwas karg eingerichtet, aber ich hoffe, ihr könnt damit leben.“
Alle wünschten einander eine gute Nacht und Leander tastete sich mit Hilfe seines Stabes zu den Betten voran. Seine blauen Finger fühlten eine grobe Decke und eine mit Stroh gefüllte Matratze. Er hatte schon an deutlich unangenehmeren Orten schlafen müssen. Der Seher entkleidete sich und legte sich still nieder. Kurze Zeit später sank Leander in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


Morgendämmerung, 20. Herbsttag 76 A.Z.
Klippenwacht, Hadrisches Meer

Am folgenden Morgen wurde Leander von neuerlichen Begrüßungen geweckt, denn ein weiterer alter Freund der Helden von Andor, ein Zauberer aus Hadria mit dem Namen Kirr, hielt sich in Klippenwacht auf. Er hatte jedoch noch weitere Verpflichtungen, da er mit seinen Fähigkeiten beim Bau große Dienste leisten konnte, und verschwand bald wieder.
Kurze Zeit später, als die Helden von Andor beim reichhaltigen Frühstück aus Räucherfisch und Meeresfrüchten in einem anderen Raum des Hauptturms saßen, besprachen sie endlich die Vision, die Leander gehabt hatte. Stinner war schon wieder auf der riesigen Baustelle unterwegs, hatte jedoch versprochen, so bald wie möglich zu erklären, weshalb er sie alle herbestellt hatte. Vorerst gab es allerdings noch genug, worüber die Helden sprechen konnten.
„Die ersten beiden Bilder zeigten einen Falken mit großen, gespreizten Krallen und ein dicht beschriebenes Pergament. Ich denke, wir können davon ausgehen, dass die beiden zusammengehören. Es bleibt die Frage, um was für ein Pergament es sich handelt.“
„Um die Botschaft von Stinner?“, vermutete Thorn, doch Leander musste widersprechen: „Erstens war deutlich mehr Schrift zu erkennen, und zweitens hatten wir die Botschaft zum Zeitpunkt meiner Vision schon längst erhalten. Ich habe allerdings eine andere Vermutung: Es könnte sich womöglich um die Schrift handeln, von der Farrun uns erzählt hat, um das verschwundene Pergament des ersten Obersten Bewahrers Themauras. Bisher habe ich ihm keine große Bedeutung beigemessen, aber seit meiner Vision spukt dieses Gespräch wieder in meinem Kopf herum, zumal ich mir sicher bin, den Namen Themauras schon gehört zu haben. Aber gut, reden wir nachher darüber, vorerst möchte ich noch meine anderen Bilder beschreiben: Das dritte Bild zeigte einen schwarzen Quader aus glattem Stein, in den die Embleme der beiden Zaubererorden graviert waren. Eara, weißt du etwas darüber?“
Eara antwortete sofort: „Ich denke, ich weiß, was du gesehen hast. Nach Varkurs Tod wurde sein Leichnam in Yra begraben und im Auftrag beider Zaubererorden wurde ein Mahnmal erbaut, das zukünftige Generationen warnen sollte, Varkurs Beispiel zu folgen. Die Formulierung der Inschrift hat viel Streit ausgelöst.“ Daraufhin folgte ratloses Schweigen. Welche Bedeutung könnte Varkurs Grab haben?
Schließlich entschloss sich Leander, seinen Bericht fortzusetzen. Mit dem vierten Bild, der mondbeschienen Klippe und den drei Säulen, wusste niemand sonderlich viel anzufangen, doch das fünfte war recht eindeutig: Die Rietgraskrone. Vermutlich richteten sich jetzt alle Blicke auf den goldenen Reif, der an einer Kette um Chadas Hals baumelte. Doch welche Bedeutung diese Insignie haben könnte wurde niemandem klar.
Der gefesselte Wolf dagegen schien eine Warnung zu sein. Nur der Königswolf besaß schwarzes Fell und grüne Augen. Ein mächtiger und kluger Leitwolf mit magischen Eigenschaften, den Chada aus irgendwelchen Gründen immer Lonas nannte. Seitdem er Freiwillige für den Tross ins Gebirge aufgespürt hatte – unter anderem auch Leander selbst – war er nicht mehr gesehen worden. Jetzt war insbesondere Chada besorgt, er könnte sich bereits in Gefangenschaft befinden, doch niemand wusste zu sagen, in wessen genau. Das letzte Bild jedoch war am schwersten zu deuten: Ein blutroter Hahn, der im Abendrot vom Dach der Rietburg krähte. Den Turm konnte Thorn als den Kronenturm identifizieren, den höchsten der Rietburg. Die Flagge war unschwer als das Sternblumenbanner Andors zu erkennen, der eigentlich purpurne Untergrund wurde auf großen Flaggen häufig durch kräftiges grün ersetzt, da leuchtend rote Farben nicht aus Pflanzen gewonnen werden konnten und dementsprechend teuer waren. Doch der Hahn… Was sollte ein solches Tier ausgerechnet dort oben zu suchen haben? Wieso war er Leander so gigantisch erschienen? Und welcher Hahn krähte bitteschön im Abendrot?
Ehe die Helden zu einem eindeutigen Schluss gelangt waren, kehrte Stinner endlich zurück. Damit rückte Leanders Vision vorerst in den Hintergrund. Heute ließ Stinner sich auch nicht lange bitten und begann gleich zu erzählen, was sich zugetragen hatte.
„In der ersten Nacht dieses fürchterlichen Sturmes erschien der Schwarze Herold hier in Klippenwacht. Er überbrachte eine Botschaft an Kenvilar und Arkteron, die verbliebenen beiden Mächte des Meeres, sowie die Überlebenden der Schwarzen Kogge. Ehe ihr jetzt alle aufspringt und euch beschwert: Ich weiß, auch ich bin davon ausgegangen, dass niemand die Zerstörung der Schwarzen Kogge überlebt hat. Doch wie es scheint, haben wir uns geirrt.“
Leander war mindestens ebenso entsetzt wie seine Gefährten, doch in seinem Fall gab es einen anderen Grund dafür: Nicht die Tatsache, dass es Überlebende gab, erschreckte ihn, dies war ihm schließlich schon seit dem Vorfall damals bekannt, sein Problem war, dass es jetzt auch die anderen wussten. Zweifellos würden sie sich früher oder später auf die Suche nach Callem machen, und dann müsste Leander sich für eine Seite entscheiden. Das war ein Alptraum!
„Glücklicherweise hat jemand hier auf Klippenwacht ihn gesehen und die Geistesgegenwart besessen, sich jedes Wort zu merken.“, fuhr Stinner fort und holte dann tief Luft.
Ich, der Schwarze Herold, erstes Mitglied des Ewigen Rates, überbringe hiermit folgendes Angebot an die verbliebenen Mächte des Meeres, Kenvilar, die Tückische, und Arkteron, den Herrn der Stürme: Schließt euch dem Ewigen Rat an, und den Mächten des Meeres wird zu alter Macht verholfen. Ihr werdet wieder im ganzen Hadrischen Meer gefürchtet und respektiert werden und niemand wird es mehr wagen, sich gegen euch zu stellen. Schließt euch dem Ewigen Rat nicht an, und ihr werdet jegliche verbliebene Macht über das Hadrische Meer für immer verlieren. Stellt euch gegen den Ewigen Rat, und ihr werdet vernichtet. Trefft mich von jetzt an in genau sechs Tagen an eurem Tempel, dem Tempel des Meeres, um eure Antwort zu überbringen.
Ich, der Schwarze Herold, erstes Mitglied des Ewigen Rates, überbringe hiermit folgendes Angebot an Callem, den Kapitän der Schwarzen Kogge, sowie alle Wesen aus der Mannschaft des Schiffes, welche noch am Leben sind: Schließt euch dem Ewigen Rat an, und der Schwarzen Kogge wird zur Rache an denen verholfen, welche euch besiegten. Ihr werdet wieder erstarken und alle Wesen des gesamten Hadrische Meeres werden vor euch zittern. Schließt euch dem Ewigen Rat nicht an, und die Kogge wird in Bedeutungslosigkeit versinken. Die Helden von Andor werden vernichtet werden, ohne dass ihr einen Anteil daran hättet. Stellt euch gegen den Ewigen Rat, und ihr werdet vernichtet. Trefft mich von jetzt an in genau sieben Tagen an dem Ort, an welchem auch unser erstes Treffen stattfand, um eure Antwort zu überbringen.

Stinner verstummte, Eara ließ Leander und den übrigen Helden jedoch keine Zeit zum Nachdenken, denn sie fragte augenblicklich: „Ich nehme an, du hast keine Ahnung, was es mit diesem Ewigen Rat auf sich hat?“ Da der Seekrieger nicht widersprach, fügte sie sogleich hinzu: „Das war zu erwarten. Wir haben es mit einem Feind zu tun, der entweder sehr mächtig ist oder sich gewaltig überschätzt, denn das Angebot des Schwarzen Herolds ist zugleich eine Drohung. Wer wagt es, sich mit Kenvilar und Arkteron zugleich anzulegen? Unsere beste Möglichkeit, mehr über diesen Ewigen Rat herauszufinden, ist es, an den Treffpunkten zu sein, die der Schwarze Herold vorschlägt. Wenn er dort belauscht werden kann, erfahren wir womöglich mehr. Leider ist bereits einige Zeit vergangen, seit die Botschaft überbracht worden ist. In der ersten Nacht des Sturmes sagtest du? Dann haben wir nur noch zweieinhalb Tage, um den Ort zu finden, den der Ewige Rat für die Mächte des Meeres ausgewählt hat und einen weiteren Tag für den Treffpunkt mit den Überlebenden der Schwarzen Kogge.“
Eara verstummte und Leander unterdrückte ein Schmunzeln.
Thorn räusperte sich. „Sag, Stinner, gibt es wirklich einen Tempel für die Mächte des Meeres? Wenn ja, weißt du, wo er sich befindet?“
Stinner lachte gequält. „Es gibt einige Narren, die zu den Mächten des Meeres beten wie zu Göttern, oder zumindest gab es sie früher. Als wir Oktohan töteten, ist diese Kirche stark geschrumpft, und seitdem habe ich mein möglichstes getan, um sie endgültig auszulöschen. Ob sie heute noch existiert, ist mir unbekannt. Doch ein Tempel für die Mächte des Meeres… was das angeht habe ich bisher nur Gerüchte gehört, und wenn die Botschaft des Schwarzen Herolds nicht wäre, hätte ich bis jetzt nichts darauf gegeben. Ich fürchte, ich kann euch nicht weiterhelfen.“
Von einem Tempel des Meeres hatte Leander bislang noch nichts gehört. Den anderen Ort allerdings kannte er. Der Schwarze Herold hatte sich damals vor fast zwei Jahren mit Callem getroffen und ihm seine Hilfe angeboten, und Leander war dabei gewesen. Doch wie sollte er den anderen das klar machen, ohne, dass sie Verdacht schöpften? Es gab keinen Weg, oder zumindest war er auch als Seher nicht in der Lage, ihn zu erkennen. War jetzt schon der Zeitpunkt gekommen, an dem er sich für eine Seite entscheiden musste? Nicht, wenn es sich vermeiden lässt! Wenn sie diesen mysteriösen Tempel ausfindig machen könnten wäre es vielleicht nicht mehr nötig, dass die Helden auch Callem belauschten. Doch wo sollte so ein Tempel stehen?
„Stinner“, begann Chada, „könntest du uns vielleicht mit der Person bekanntmachen, die den Schwarzen Herold vor drei Tagen gesehen hat?“
Stinner lachte. „Ich brauche euch nicht bekanntzumachen, ihr kennt euch bereits. Es war Santalion Bantor aus der Fröhlichen Nixe, der den Schwarzen Herold gesehen hat. Wenn ihr meint, dass er euch weiterhelfen kann, dann bringe ich euch gerne persönlich hin. Packt eure Sachen zusammen, dann gehen wir gleich hinüber.“

Leander blieb sitzen, während die anderen sich erhoben, um ihre Sachen zu holen. Er selbst hatte alles jetzt schon bei sich, er war kein Freund von großen Taschen. Doch als er meinte, die anderen wären schon alle gegangen, sprach ihn plötzlich Eara an: „Ich verstehe deine Gabe nicht. Mal kannst du steuern, was du sehen willst, mal bist du deinen Visionen vollkommen hilflos ausgeliefert. Woran liegt das?“
Leander zuckte zusammen. „Eara! Musst du nicht packen?“
„Das habe ich schon längst getan. Ich benötige nicht so viel Schlaf wie ihr anderen.“ Leander grinste und hoffte im nächsten Moment, dass diese Regung durch seine Kapuze vor Earas Blick verborgen gewesen war. Sie reagierte jedenfalls nicht.
„Meine Gabe funktioniert größtenteils unterbewusst.“, antwortete Leander auf Earas Frage. „Ich kann sie zwar steuern, aber dann bekomme ich nur winzige Ausschnitte der Zukunft zu sehen. Es genügt, um bestimmte Dinge vorauszusagen, vor allem, wenn sie sich in naher Zukunft ereignen. Doch durch meine unterbewusste Gabe empfange ich Visionen, die mitunter erst in ferner Zukunft geschehen werden und die für mich oder die, die mir am Herzen liegen, von großer Relevanz sind.“
„Was ist mit Prophezeiungen? Wann erscheinen sie dir?“
„Gar nicht!“ Da Eara darauf nichts erwiderte, schien sie eine ausführlichere Antwort zu erwarten. „Ich vermute, es liegt daran, dass ich nicht von Geburt an ein Seher war. Einige werden mit dem zweiten Gesicht geboren. Sie haben die gleichen Fähigkeiten wie ich, sind allerdings nicht zwingend blind. Ein Vertreter dieser Spezies ist zum Beispiel Hral, der Weise, der Seher des Agrenvolkes. Und dann gibt es solche wie mich. Als ich geboren wurde, besaß ich nicht die geringsten Anlagen zum Seher. Doch es gibt die Möglichkeit, die Sprache der Zukunft zu erlernen. Eine Spielart der Dunklen Magie, wenn man so will. Man tauscht gewissermaßen sein erstes Gesicht durch das zweite aus, man verliert sein Augenlicht und erhält die Möglichkeit, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Wenn ich richtig liege, kann ein solcher Seher Prophezeiungen nicht besser aussprechen als irgendein Scharlatan auf dem Jahrmarkt. In einer Abhandlung, die ich darüber gelesen habe, wird Orweyn, der Entdecker der Dunklen Magie, als Beispiel eines solchen Sehers genannt. Doch weder war er blind noch hätte er nach meiner Vermutung überhaupt etwas prophezeien können, ehe er für immer im Eisernen Turm verschwand.“
Leander wusste, dass er es geschafft hatte, Eara zu überraschen, als sie fragte: „Willst du damit sagen, der große Zauberer Orweyn war ein Seher? Einer derjenigen, die es von Geburt an sind?“
„Nun ja, zumindest besaß er das zweite Gesicht. Es war wohl nur sehr schwach ausgeprägt, doch es war vorhanden, seine letzte Prophezeiung beweist das.“
„Unsinn!“, widersprach Eara. „Wenn die Zauberer uneins sind, wird Qurun kommen, das Ende Hadrias? Das war doch keine Prophezeiung, sondern nur ein Versuch, künftigen Generationen Angst zu machen, damit sie zusammenhalten.“
Leander schüttelte den Kopf.
Wenn Feuer und Turm miteinander ringen,
das Ende aller naht, denn Qurun wird sie bezwingen.
“, sagte er leise. „Woher hätte er wissen sollen, dass sich die Zauberer eines Tages in die Orden des Feuers und des Turmes aufspalten würden? Und die Prophezeiung traf ein. Qurun tauchte während des Ordenskrieges auf.“
„Das ist lächerlich. Sie traf nur ein, weil dieser Feind die Prophezeiung kannte und sie sich zunutze machen wollte.“
„Die Ereignisse sehr vieler Visionen und Prophezeiungen hätten nicht eintreffen können, wenn niemand sie vorhergesehen hätte.“
„Aber Chada, Thorn, Stinner und ich konnten Qurun aufhalten. Qrweyn hatte unrecht.“
Leander lachte leise. „Ach Eara, die Zauberer wurden bezwungen und das Ende aller nahte. Dass die Welt tatsächlich auch vernichtet wird, ist nicht Bestandteil der Prophezeiung.“
„Ich kann akzeptieren dass Orweyn ein Seher war, aber ich bezweifle, dass das, was geschehen ist, wirklich diese Prophezeiung war.“, sagte Eara fest. Nach einer kurzen Pause fragte sie: „Du bist also gewissermaßen ein Dunkler Magier? Denn du hast Dunkle Magie, angewendet, um deine Gabe zu erlangen.“
„Die Dunkle Magie hat mit der Gabe des Sehens nicht viel zu tun. Sie verlangte ihren Preis, mein Augenlicht, aber ansonsten hat sie nicht viel Einfluss auf mich. Nicht keinen, wohlgemerkt, nur sehr wenig.“
Eara stand auf und ging zur Türöffnung, dann verstummten ihre Schritte plötzlich. „Wie kommst du zu deiner Vermutung? Kennst du noch weitere blinde Seher außer dir?“
„Nicht persönlich, aber ich bin nicht der erste. Was glaubst du, wo ich meine Fähigkeiten erlernte? Ich musste Dutzende Schriftrollen lesen. Soweit ich weiß, ist der erste bekannte Seher, der…“
Leander brach ab. Er spürte regelrecht, wie sich in der Hütte seiner Erinnerungen ein einfacher Schrank öffnete und eine Schublade aufsprang, die in der Realität voller Verbände gewesen war. Jetzt schlummerten die Erinnerungen an Schriftrollen darin, und mit ihnen auch ein lang vergessener Name. „Eara! Ich bin so ein Idiot! Der erste „künstliche“ Seher… sein Name war Themauras! Der erste Oberste Bewahrer! Er war nicht ohne Grund blind. Dieses Pergament über die Schöpfung der Welt… wir müssen es unbedingt finden. Erst verschwindet ein jahrhundertealter Text eines Sehers einfach so, dann beziehen sich vermutlich zwei meiner Visionen darauf.“
Eara schnappte nach Luft. „Jetzt weiß ich auch wieder, wo ich den Namen Themauras schon gehört habe.“, rief sie aufgeregt. „Als der Seekönig Varatan zum ersten mal nach Hadria kam, hatte er aus dem Drachenland, also aus Andor, nicht nur Vorräte für die Bevölkerung dabei, sondern auch Pergamente. Sie werden noch heute in der Feste von Yra aufbewahrt.“
Leander sprang auf. Er hatte noch nie positive Gefühle verspürt bei der Erwähnung Varatans, dessen Fluch seinen Bruder für knapp einhundertachtzig Sommer auf Narkon festgehalten hatte, doch jetzt durchflutete ihn Erregung. „Meinst du, der Text, der verschwunden ist, könnte dabei sein? Aber wie sollte Varatan da herangekommen sein?“
Earas kalte Hände legten sich auf seine Schultern. „Es ist ein religiöser Text. Erst mit dem Eintreffen des Meereskönigs konnte sich der Glaube an Mutter Natur auch in Hadria verbreiten. Er wurde von Missionaren begleitet, auf den Nebelinseln hatten sie bereits ganze Arbeit geleistet. Meinst du nicht, dass solche Missionare oft auch religiöse Schriften dabeihaben sollten? Ich kann nicht dafür garantieren, dass dieser spezielle Text dabei ist, aber in Yra gibt es Schriften von Themauras und es gibt religiöse Texte. Die Wahrscheinlichkeit ist also gar nicht so gering.“ Eara nahm ihre Hände weg und eilte aus der Tür hinaus. „Du kannst vermutlich nicht voraussehen, wann von hier aus das nächste Schiff nach Hadria fährt?“, rief sie ihm noch zu, dann verklangen ihre Schritte.
Und Leander fragte sich, ob bei Eara wirklich alle Gefühle für immer ausgelöscht worden waren. Diese Begeisterung, diese Aufregung, diese kindliche Freude… hätte sie die wirklich spielen können? Und was hätte sie davon gehabt?
Schließlich versenkte er sich erneut in die Hütte der Erinnerungen. Die Texte von Themauras, denen er seine Gabe verdankte, waren jetzt wieder frisch in seinem Gedächtnis, doch um für die Zukunft gewappnet zu sein, musste er anderen Ereignissen der Vergangenheit seine Aufmerksamkeit schenken. Bis die anderen fertig waren, hatte er noch ein wenig Zeit. Leander betrachtete nachdenklich den Kasten aus Ebenholz. Er klappte die dunkle Schatulle auf, ließ seinen Blick über die aufgereihten Perlen schweifen. Wie gut, dass er diese Erinnerungen aufbewahrt hatte! Kurz schwebte seine Hand über der ersten Perle, der weiß erstrahlenden Erinnerung. Jener Lichttag war noch klar genug, entschied er. Es war die zweite Perle, die er auswählte. Rund und silbern wie der volle Mond. Leander legte seine Hand auf den roten Samt und tippte sie sacht an.


Mondhoch, 32. Sommertag 42. A.Z.
Steinbronn, Andor
Leander wünschte sich, er hätte seine Nase nicht nur mit einer Kapuze verborgen, sondern sie gleich noch abgedichtet. Dieses Kaff zwischen Krallenfels und Südlichem Wald hatte den einzigen vernünftigen Brunnen im Süden des Rietlands und dennoch gelang es den Bauern nicht, den Mist aus den Gassen zu waschen. Erbärmlich!
Mit dem einfachen Stock, den er sich geschnitten hatte, pochte er die Bewohner einer der armseligen Bauernkaten aus dem Schlaf. Erst nach knapp zweihundert Herzschlägen hörte er endlich jemanden die Tür öffnen. „Wer seid Ihr, bei allen Kreaturen der Tiefe?“, fragte aufgebracht eine tiefe Stimme.
„Seid gegrüßt, Auserwählter! Ihr werdet mich doch nicht nach einem Mond schon vergessen haben?“ Ungefragt trat Leander ein.
„Schwarzer Priester?“, fragte Seban vorsichtig. Leander bemühte seine Gabe, bis ein Bild die endlose Dunkelheit seines Geistes beleuchtete. Eine ärmliche Hütte, eine Frau mit schweißüberströmten Gesicht in der Schlafecke liegend, ein junger Mann mit finsterem Blick in der Ecke stehend. Das spärliche Licht des Vollmondes reichte nicht, um auch nur einen von ihnen zu beleuchten, aber Leander war auf so etwas Profanes wie Lichtquellen nicht angewiesen.
„Ganz recht, Auserwählter! Ich freue mich, Eure Familie endlich persönlich kennen zu lernen. Euer Weib scheint zu leiden, ist Euer Sohn deshalb hier?“
Beiläufig deutete er mit seinem Stock auf die Ecke in seinem Rücken. Der junge Mann keuchte. „Wel, leg sofort das Schwert weg!“, rief Seban besorgt. „Ich habe euch doch von ihm erzählt. Dieser Mann ist ein Gast.“
„Der angebliche Priester, der nicht einmal sein Gesicht zeigt? Erst, wenn er sagt, was er hier will!“, entgegnete Wel ruhig, seine Stimme mindestens ebenso tief wie die seines Vaters, aber von vollerem Klang.
„Ich bin hier, um den Auserwählten auf seine heilige Mission vorzubereiten.“
„Verschwinde, Priester!“, krächzte die kranke Frau aus der Ecke. „Das Leben ist schon schwer genug, wir brauchen keine Belastungen durch Fanatiker wie dich.“
„Fanatiker?“, fragte Leander mit gespieltem Zorn. „Auserwählter, hat Eure Frau ihrer törichten Ketzerei etwa nicht abgeschworen? Ihr lebt mit einem Weib zusammen, das SEINE Macht verleugnet?“
„Wenn er es nicht getan hätte, wäre ich nicht geboren worden, und unsere Religion hätte nur noch zwei statt drei Anhänger.“, antwortete Wel an Sebans Stelle. „Wenn der Glaube an Tarok fortbestehen soll, müssen wir umdenken.“ Der hier hatte anscheinend mehr Biss als sein Vater.
„Sprich SEINEN Namen nicht aus.“, flüsterte Leander eindringlich. „Es ist nicht nur Blasphemie, sondern außerdem gefährlich, solange der Lügenkönig das Drachenland regiert. Was mich übrigens zum Grund meines Besuches bringt, Auserwählter.“
Leander griff in die Tasche seines Mantels; er fühlte das kalte Glas auch durch die dünnen Handschuhe hindurch. Vorsichtig zog er die kleine Flasche hervor. „ER kann nicht zurückkehren, solange Brandur lebt. Aber Euch, Auserwählter, ist es bestimmt, SEINE Ankunft zu bereiten.“
„Ich soll den König ermorden?“, hauchte Seban entsetzt. „Ganz bestimmt nicht! Er hat dieses Dorf in beiden Trollkriegen verteidigt.“
„Welcher König sieht schon zu, wie sein Reich erobert wird und seine Macht zerbröckelt?“
„Hört zu, Schwarzer Priester: Könnt Ihr Brandur nicht einfach selbst vergiften, wenn es Euch so wichtig ist?“, wollte Seban wissen.
„Vater!“, rief Wel entsetzt. „Ich habe erst wirklich zu leben begonnen, als Schwertmeister Harthalt mir erstmals ein Schwert in die Hand gedrückt hat. Als Brandurs Krieger zu leben und zu sterben ist meine heilige Mission, du kannst nicht ernsthaft wollen, dass dieser Schwarze Priester den König ermordet, nur weil er vorgibt, im Namen des Drachen zu handeln. Brandur ist ein gerechter Mann!“
Interessiert beschwor Leander das Gesicht des Sohnes erneut herauf. Der vielleicht zwanzigjährige Wel hatte die naiven Züge seines Vaters geerbt, aber aus seinen klaren Augen sprach unbezähmbare Entschlossenheit.
„Es gibt keine Gerechtigkeit. Nur Rache.“, intonierte Leander nach einer Weile getragen. „Auserwählter, wollt Ihr Euch wirklich SEINEM Ruf verweigern?“
„Meine Frau ist krank, mein Sohn einer von Brandurs besten Kriegern und ich einer seiner Untertanen.“
„Noch seid Ihr ohnehin nicht bereit, Auserwählter. Aber …“
„Mein Mann“, unterbrach ihn Sebans Frau, „wird niemanden ermorden, schon gar nicht den König! Es gibt Gerüchte, dass die Trolle sich erneut zusammenrotten, die Gefahr eines dritten Trollkriegs schwebt in der Luft. Brandur ist der einzige, der zwischen uns und diesen Bestien steht. Wenn ich nicht an Fieber erkrankt wäre, würde mein Sohn jetzt als einer von Brandurs Spähern ins Graue Gebirge reisen, um ganz Andor zu beschützen.“
Leander schnupperte. Zwischen dem Gestank von Mist und Siechtum erfüllte leichter Schwefelgeruch die Hütte. Gelbkralle! War es Unwissenheit oder Vorsatz?
„Eine gefährliche Aufgabe“, ergänzte Wel, „die ich mit Stolz erfüllt hätte.“ Bedauern lag in seiner tiefen Stimme.
„Ich bin in der Heilkunst bewandert. Ich könnte Euer Leiden beenden.“, bot Leander an.
„Ganz bestimmt lasse ich mich nicht von diesem wahnsinnigen Priester untersuchen!“, schrie die Kranke hastig. Also Vorsatz, vermutete Leander. Die Sorge einer Mutter. Ob Seban wohl davon wusste?
„Auserwählter, Ich kann Euch nicht in SEINEN Dienst zwingen. Aber ich möchte, dass Ihr dieses Gift zumindest bei Euch aufbewahrt. Ich werde gejagt und weiß nicht, ob ich den nächsten Mond erlebe. Und wenn SEIN Ruf Euch dereinst ereilt und Euch die Augen geöffnet werden, so sollt Ihr SEINE Mission vollenden können.“
Gegen den Protest von Frau und Sohn nahm Seban das Fläschchen an sich. „Wenn Ihr versprecht uns nie wieder zu besuchen, solange Ihr gejagt werdet, Schwarzer Priester, dann kann ich das Gift zusammen mit dem Heiligen Buch verstecken. Aber glaubt nicht, dass ich es jemals einsetzen werde.“
„Es ist Euch überlassen, Auserwählter. Ich kann Eure Wege erhellen, aber beschreiten müsst Ihr sie allein.“ Leander drehte sich um und verließ die Hütte. „Möge das Feuer mit Euch sein!“, warf er der Familie noch zu, dann schloss er die Tür.

g - Der Kult der Drei Mächte

BeitragVerfasst: 28. November 2021, 19:02
von TroII
g – Der Kult der Drei Mächte

Früher Vormittag, 20. Herbsttag 76 A.Z.
Klippenwacht, Hadrisches Meer

Thorn trat aus dem zentralen Hauptturm Klippenwachts und blinzelte in die Sonne, die über die Trümmer der östlichen Mauer strahlte. Die Sonne! Endlich! Wie hatte er sie in den letzten Tagen vermisst. Seitdem dieser Sturm begonnen hatte, hatte Thorn sie nicht mehr zu Gesicht bekommen, nur eine dunkelgraue, eintönige Wolkendecke. Doch die hatte sich jetzt endgültig aufgelöst.
Neben ihm trat Stinner ins Sonnenlicht. Die schwarzen Haare des Seekriegers wurden von der Meeresbrise aufgewirbelt und ein flüchtiger Ausdruck des Friedens legte sich über sein ernstes Gesicht. Ihm folgten Chada, Drukil und Leander. Der blinde Seher tat Thorn leid, denn ihm entging der Anblick der Sonne. Doch Leander lächelte, vermutlich konnte er ihre Wärme spüren.
Eara war schon fort, sie war ihnen noch auf dem Weg nach draußen entgegengelaufen, hatte Stinner gefragt, wann das nächste Schiff nach Hadria abfuhr und war dann verschwunden, um es noch zu erwischen. Leander hatte ihnen berichten müssen, was es mit ihrem überraschenden Sinneswandel auf sich hatte. Themauras war also ein Seher gewesen. Damit besaß dessen verschwundener Text eine ganz neue Bedeutung. Hoffentlich würde Eara ihn in Hadria finden.

Stinner ging voran und führte sie durch die Ruine. Er hatte recht gehabt, bei Tageslicht wirkten die Fortschritte noch beeindruckender. Zudem konnte man jetzt all die emsigen Arbeiter sehen, die hier tätig waren.
„Erzähl uns etwas über diesen Santalion, Stinner.“, verlangte Chada.
Der Seekrieger nickte und hob die Stimme: „Vor etwa einem Jahr gab es einen neuen Großangriff der Meereskreaturen auf die Nebelinseln. Viele fanden damals den Tod, doch als er ausgestanden war, schloss ich im Namen der Menschen Werftheims einen Pakt mit den Silberzwergen und Taren. Wir erneuerten das alte Seereich Varatanien und beschlossen, Klippenwacht wieder aufzubauen, um eine sichere Basis zu haben, von wo aus wir die Kreaturen bekämpfen könnten.“
„Und was hat das mit diesem Burschen zu tun?“, fragte Drukil ungeduldig.
Stinner blickte ihn finster an, bevor er fortfuhr: „Während ich noch auf der Suche nach Arbeitern war, trat ein Mann an mich heran, der mir ein Angebot machte: Sein Name war Mertos Bantor und er wollte ein kleines Grundstück auf Klippenwacht kaufen und dort ein Gasthaus errichten. Ich hielt ihn für bekloppt, denn damals war das hier ja noch ein ödes Niemandsland. Kaum jemand kam her und er bot mir gutes Geld für ein nahezu wertloses Grundstück. Selbstverständlich nahm ich sein Angebot an, denn wir waren ziemlich in Geldnot. Klippenwacht wieder aufzubauen verschlingt ein Vermögen! Die Rohstoffe sind nur der kleinste Teil. Wir beschäftigen momentan einhundertdreiundfünfzig Steinmetze, Maurer, Schmiede, Zimmermänner, Schreiner, Architekten und Statiker, ungefähr fünfhundert Tagelöhner, Gelegenheitsarbeiter und Wachen, dazu kommen noch sechsundzwanzig Baumeister der Zwerge und ein Dutzend Taren. Sie zu versorgen und zu bezahlen ist… teuer. Das meiste übernehmen die Silberzwerge für uns, aber wir freuen uns dennoch über jede Münze, die wir dazuverdienen können. Also habe ich ihm das Grundstück vertickt und vorerst geschah nichts. Nach drei Monaten waren wir soweit, mit dem Bau zu beginnen. Wir fuhren in die Ruinenstadt und begannen mit den Arbeiten. Einen halben Mond vor uns war auch Mertos Bantor hierhergekommen, zusammen mit seiner Frau Cera, seinem Sohn Santalion, seiner Tochter Kmarforia und einem halben Dutzend Holzwerkern, die schon vor dem Bau Geld verdienen wollten. Mertos ist, ehrlich gesagt, nicht der Allerhellste, und ich dachte, ich hätte ein gutes Geschäft gemacht. Doch als wir ankamen, stand die Fröhliche Nixe bereits. Wir begannen sofort mit dem Wiederaufbau, aber es kamen mehr Arbeitskräfte als erwartet und unsere Schlafplätze reichten nicht für alle. Wir ließen natürlich eiligst alles kommen, was für den Bau zusätzlicher Unterschlüpfen benötigt wurde, doch bis die standen, waren drei Tage um, in denen die überzähligen Handwerker entweder unter freiem Himmel schliefen oder ins Gasthaus gingen. Das Geld, das Mertos für die Fröhliche Nixe ausgegeben hatte, hatte er nach dieser Zeit schon zur Hälfte wieder eingespielt. Mit der Zeit wurde mir allerdings klar, dass die Idee wahrscheinlich nicht von ihm, sondern von seinem Sohn Santalion stammte. Er ist deutlich gewitzter als sein Vater und hat im Laufe der Bauarbeiten noch durch einige andere Projekte viel Geld eingespielt. Die Stege zum Beispiel, an denen die Schiffe anlaufen, hat die Familie Bantor auf eigene Kosten gebaut, und anschließend durften sie ein halbes Jahr die Pacht eintreiben.“
Die Gruppe bog um eine Ecke und Thorns Blick fiel auf das große dreistöckige Haus, das er schon am gestrigen Abend gesehen hatte. Die Fröhliche Nixe war massiv und schien, obwohl komplett aus Holz, für die Ewigkeit gebaut worden zu sein. Hier waren gute Handwerker am Werk gewesen. Stinner marschierte auf das Gasthaus zu, während er weitererzählte: „Während des Sturmes vor drei Tagen konnte ein Teil unserer Arbeiter dort drin Unterschlupf finden, für den sie nicht einmal bezahlen mussten.“
Thorn betrachtete das Gasthaus mit neuen Augen. „Sie konnten umsonst dort schlafen? Das war großherzig.“
Stinner lachte. „Vielleicht. Aber seitdem ist die Familie Bantor hier sehr beliebt und die Fröhliche Nixe wird noch regelmäßiger besucht als zuvor, langfristig werden also auch Santalion und Familie davon profitieren. Außerdem wurden die einfachen Unterschlüpfe während des Sturms wieder zerstört, also werden sie in nächster Zeit wohl wieder satte Gewinne einstreichen.“
Sie erreichten das Haus und Thorn bewunderte die lachende Holznixe, die an zwei Ketten über der Tür hing und langsam hin und her schaukelte. Stinner stieß die Tür auf und Thorn konnte nun auch den leeren Schankraum ausgiebig betrachten.
Die Inneneinrichtung unterschied sich nicht groß von der Taverne Zum Trunkenen Troll in Andor. Einfache Tische und Hocker, ein Boden aus geschrubbten Brettern, verglaste Gitterfenster und erloschene Laternen an den Wänden, am anderen Ende ein Tresen, hinter dem eine hagere Frau damit beschäftigt war, Schüsseln aus Holz mit einem Tuch abzuwischen und unter den Bar zu verstauen. Auf einem Regal hinter ihr standen eine Reihe von bauchigen Flaschen und ein großes Fass mit Zapfhahn, vermutlich mit alkoholischem Inhalt.
Beim Geräusch der sich öffnenden Tür blickte die Frau auf und Thorn erkannte zwischen den grauen Haaren ein zerfurchtes Gesicht mit einer eckigen Nase und kleinen schwarzen Augen. Plötzlich erbleichte die Frau, ihre Hände zitterten und die Schüssel in ihren Händen entglitt ihren Fingern und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden vor dem Tresen. Thorn ging nach vorne um sie aufzuheben, stockte jedoch, als er den Blick der Frau bemerkte. In ihren schwarzen Augen stand glühender, alles verschlingender Hass. Thorn blinzelte und als er seine Lider wieder hob, war der Hass verschwunden. Thorn kam zu dem Schluss, dass er sich ihn nur eingebildet hatte. Auch das Zittern hatte aufgehört und die Frau bekam langsam ihre Farbe zurück.
Jetzt eilte sie um den Tresen, hob die Schüssel auf und betrachtete ihre fünf Gäste. „Kmarforia!“, rief sie. „Kundschaft!“ Dann wandte sie sich an Stinner: „Ihr habt Euch hier lange nicht mehr blicken lassen! Was verschafft uns die Ehre Eures Besuches?“
„Cera, wir…“
Er wurde unterbrochen, als sich am hinteren Ende eine Tür öffnete, durch die schüchtern ein blondes Mädchen von etwa zwölf Sommern blickte. Ihr folgte ein junger Mann, den Thorn noch von gestern kannte. Santalion Bantor schob sich in die Gaststube und zog das Mädchen, bei dem es sich wohl um seine Schwester Kmarforia handelte, hinter sich her. Jetzt erkannte Thorn, dass der geschäftstüchtige Bursche jünger war, als er angenommen hatte, vielleicht neunzehn oder zwanzig Sommer. Als er jedoch ins Licht des Wirtshauses trat, stockte Thorn der Atem.
Ein Verfluchter! Gestern Nacht war das nicht zu erkennen gewesen, doch nun glitt Thorns Blick über den schmächtigen Körper in hellbrauner Wollkleidung. Die Arme und der Hals waren noch bleicher als Cera gerade eben geworden war, seine Haare leuchteten in einem grellen weiß. Santalion schien blass und farblos wie ein Gespenst. Das scharf geschnittene Gesicht wies deutliche Ähnlichkeit zu dem seiner Mutter auf, doch Thorn konnte sich nicht darauf konzentrieren, da sein Blick immer wieder auf die strahlend roten Augen fiel. Die rote Iris war von weißen Äderchen durchzogen, in deren Mitte die glutrote Pupille wie ein mit Blut gefüllter Brunnen wirkte, in dem man mühelos versinken konnte. Hinter ihm schnappte auch Chada nach Luft.
Santalion bemerkte ihre Blicke und zog eine farblose Augenbraue hoch, woraufhin Thorn peinlich berührt wegsah und versuchte, irgendwohin zu schauen, nur nicht in diese Augen, die seinen Blick wie magisch anzogen. Schließlich zog Santalion ein seltsames Konstrukt aus Silber und Horn aus einer Tasche und setzte es sich auf die Nase, woraufhin seine Augen nur noch undeutlich durch dunkelgrüne Scheiben zu erkennen waren.
„Die Helden von Andor!“, sagte er dann. „Na, haltet ihr es im Hauptturm nicht mehr aus? Es ist kalt und zugig da drin, das habt ihr sicher mitbekommen. Hier dagegen ist es immer warm. Mein unschlagbares Angebot: Zwei Betten zum Preis von drei! Was sagt ihr?“
„Du hast komische Augen.“, brummte Drukil. Thorn zuckte zusammen angesichts dieser Taktlosigkeit. Drukil hatte sich an ein Leben als Mensch gewöhnt, aber mitunter war er sehr direkt. Santalion lächelte jedoch nur amüsiert. „Ach, habt Ihr das auch schon bemerkt? Dafür habt Ihr einen komischen Bart, der in letzten Jahren garantiert weder in Kontakt mit einem Rasiermesser noch mit einem Bad gekommen ist.“ Kmarforia presste sich eine Hand auf den Mund und prustete. Drukil dagegen lachte schallend los und damit war die Situation gerettet.
„Wir sind nicht hier, weil wir hier übernachten wollen, sondern weil wir gerne mehr über das erfahren würden, was du in jener Nacht erlebt hast.“, sprach Chada.
Santalion nickte. „Ja, das war zu erwarten. Setzen wir uns. Schwesterherz, bring uns etwas zu trinken!“
Das blonde Mädchen eilte zur Theke, wo Cera ihr wortlos Wasser aus einem großen Krug in einige Humpen füllte. Santalion beobachtete die Szene aufmerksam und entspannte sich sichtlich, als seine Schwester das Tablett an ihren Tisch gebracht hatte. Er nahm sich wahllos einen der Humpen und trank einen Schluck, dann begann er gestenreich zu erzählen.
„In der Nacht, von der ihr vermutlich redet, begann gerade einer der schlimmsten Stürme, die das Hadrische Meer je erlebt hat. Arkterons Zorn war grauenhaft, und sein eisiger Atem erfüllte auch Klippenwacht. Großherzig, wie meine Familie nun mal ist, nahmen wir einige der Arbeiter bei uns auf und…“
Stinner erhob ich leise, was ihm einen irritierten Blick Santalions einbrachte. Er ließ sich allerdings nicht unterbrechen und setzte seine Geschichte fort, während Stinner zur Tür ging und Thorn zu sich winkte. Auch der Krieger erhob sich und schlich zur Türöffnung. „Was gibt es?“, raunte er Stinner zu.
„Ich muss weiter, hier gibt es noch zu viel Arbeit für mich.“
Thorn nickte. „Warum hast du uns nicht erzählt, dass er ein Verfluchter ist, Stinner? Das war gerade ziemlich peinlich.“
Stinner lächelte verlegen. „Hier haben sich schon alle daran gewöhnt. Und Thorn… benutze diesen Ausdruck bitte nicht, wenn er dabei ist. Er mag das nicht, was ich ehrlich gesagt auch gut nachvollziehen kann.“ Erneut nickte Thorn. „Ich hoffe, auch in meinem eigenen Interesse, ihr findet diesen Tempel rechtzeitig.“, fuhr Stinner fort. „Mein Wort hat Gewicht, ich könnte euch unterstützen. Ich könnte euch mein schnellstes Schiff zur Verfügung stellen und eine Belohnung für jeden versprechen, der etwas über diesen Tempel weiß. Aber …“
„Aber dann weiß jeder, was wir vorhaben.“, beendete Thorn den Satz. „Wir sind schon bekannt genug. Wenn wir überhaupt eine Chance haben, den Schwarzen Herold im Tempel des Meeres zu belauschen, dann würde sie dadurch zunichtegemacht. Am wichtigsten ist jetzt Unauffälligkeit.“
Stinner biss sich resigniert auf die Lippe. Dann überreichte Thorn einen kleinen Beutel und ein zusammengerolltes Pergament. „Hier ist etwas Geld, aber kein Wort zu niemandem. Das war eigentlich für die Bauarbeiten bestimmt.“
Thorn hob abwehrende die Hände, aber Stinner ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Jetzt nimm schon! Informationen über diesen Ewigen Rat sind zu wichtig, bei euch ist das Geld sinnvoller angelegt. Und die Lücke in der Kasse werde ich nach und nach aus eigener Tasche füllen.“
Widerstrebend nahm Thoen den Beutel entgegen, das beruhigende Gewicht an seinem Gürtel brachte sein Gewissen zum Verstummen. „Und das Pergament?“
„Darin steht, dass ihr in in meinem Auftrag unterwegs seid und dass euch alle erdenkliche Hilfe gewährt werden soll. Es ist alles andere als unauffällig, aber im Notfall könnte es euch helfen. Wie gesagt, mein Wort hat Gewicht.“ Stinner lächelte das raue Lächeln eines Seemanns. „Ihr könnt die Aldebaran II haben, wenn ihr irgendwo hinwollt. Leb wohl!“
„Leb wohl!“, sagte auch Thorn und die beiden umarmten sich kurz, dann ging Stinner wieder hinaus und Thorn zurück zur Erzählung. Allerdings hatte er die verpasst, denn als er ankam, hörte Santalion gerade auf zu berichten.
„Und?“, fragte Thorn.
„Er ist ein guter Erzähler, der aber leider auch nichts Relevantes weiß.“, antwortete Chada.
Santalion verschränkte erbost die Arme vor der Brust. „Der aber leider auch nichts Relevantes weiß?“, wiederholte er leise. „Vielleicht habt Ihr einfach die falschen Fragen gestellt. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass es Euch brennend interessiert, was es mit diesem Tempel der Mächte des Meeres auf sich hat.“
Santalion beobachtete offensichtlich belustigt die Reaktionen der Helden. Thorn riss die Augen auf, Leander verschluckte sich an seinem Wassr, Chada schnappte nach Luft und Drukil tat das alles gleichzeitig, was zu einem heftigen Hustenanfall führte. Kmarforia starrte neugierig zu ihnen herüber und Cera kam hinter dem Tresen hervor und stellte sich auffällig unauffällig in ihre Nähe. Thorn beschlich ihn in ihrer Gegenwart ein ungutes Gefühl.
„Und was weißt du darüber?“, stellte Leander die Frage, die ihnen allen auf der Zunge brannte, während Chada dem Hautwandler auf den Rücken klopfte.
„Nichts!“, antwortete Santalion mit einem schnellen Blick zu seiner Mutter. „Aber ich könnte vielleicht etwas herausfinden. Ich habe Kontakte in Werftheim…“
Cera trat hinter ihn und bohrte ihre knochigen Finger in seine Schultern. „Du kannst nicht fort, Santa! Wir brauchen dich hier und es wäre nicht gut für dich.“
Der Verfluchte - Thorn konnte es sich einfach nicht abgewöhnen, ihn so zu nennen - legte eine Hand auf die Finger an seiner Schulter und streichelte sie sacht. „Du kannst es mir nicht verbieten, Mutter! Nicht, wenn die Bezahlung stimmt.“, fügte er mit einem auffordernden Blick hinzu.
Thorn erkannte das Stichwort und erklärte hastig: „Wenn die Informationen, die du uns über den Tempel geben kannst, hilfreich sind, dann wird die Bezahlung stimmen.“
Ceras Finger bohrten sich noch fester in Santalions Schulter. „Kmarforia!“, rief sie. „Hol deinen Vater!“
„Mutter! Hör auf!“, bat Santalion. „Wenn Ihr bitte draußen warten könntet! Ich kläre das schnell.“, wandte er sich dann an die Helden. Chada stand wortlos auf und ging hinaus und die anderen folgten ihr. Als Thorn das Gasthaus verließ, meinte er erneut einen hasserfüllten Blick zu spüren, der sich in seinen Rücken bohrte, doch er drehte sich nicht um.

Der vierte Teil einer Stunde verging, bis Santalion aus dem Gasthaus trat. Er trug einen langen, braunen Kapuzenmantel, der fast seine ganze Haut bedeckte, und auf seiner Nase saß immer noch das seltsame Gebilde aus Horn, Silber und grünem Glas, von dem Chada Thorn erzählt hatte, sie habe so ähnliche Augengläser schon bei einem alten Bewahrer mit Sehschwierigkeiten gesehen.
„Ich habe sie überzeugt, mich gehen zu lassen.“, sagte er und es war unklar, ob er sich damit nur auf seine Mutter oder auf die ganze Familie bezog. „Habt ihr ein Schiff? Wir müssen nach Werftheim.“
Die Gruppe ging zu den Stegen, wo die Aldebaran II vor Anker lag. Thorn erinnerte sich noch lebhaft an die Abenteuer, die er damals zusammen mit Chada, Stinner und Kirr auf ihren Planken erlebt hatte. Sie hatten die Schwarze Kogge gejagt und schließlich vernichtet. Doch wie es schien, nicht so endgültig, wie sie dachten.
Die Aldebaran II war ein kleines Schiff, nicht größer als ihre Vorgängerin, das notfalls sogar alleine gefahren werden konnte. Nur mit der Hilfe von Stinner war es Thorn und Chada anfangs möglich gewesen, zur See zu fahren. Mit der Zeit hatten auch sie beide gelernt, was es hieß, ein Boot zu steuern. Doch seitdem Thorn den Einmaster zuletzt gesegelt hatte, waren über eineinhalb Jahre vergangen. Das meiste war längst wieder vergessen und er nahm nicht an, dass es bei Chada deutlich besser aussah. Ihm war also etwas mulmig zumute, als er vor dem Boot stehen blieb. Aber vielleicht könnte Santalion ihnen helfen?
Ehe er jedoch an Bord gehen konnte konnte, rannte plötzlich jemand den Steg entlang auf sie zu. Schon auf den ersten Blick erkannte Thorn Santalions Schwester Kmarforia. Ihre blonden Haare wirbelten um sie herum, als sie ihren Bruder auf Bauchhöhe umarmte.
„Viel Erfolg und leb wohl, Santa!“, wünschte sie mit schriller Stimme und Thorn fiel auf, dass er sie jetzt zum ersten mal sprechen hörte.
Santalion rieb ihr über den Kopf und verwuschelte ihre Haare. Dann beugte er sich hinab und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie strahlend nickte. Anschließend wandte sie sich zur Fröhlichen Nixe um, wirbelte dann jedoch plötzlich herum und blickte die Helden fest an. „Bringt Santa heil nach Hause, hört ihr?“, rief sie überraschend ernst und Thorn hatte das Gefühl, dass ihr Blick besonders ihn gefangenhielt. Ohne eine Antwort abzuwarten sprang sie zurück und rannte wieder davon.


Sonnenhoch, 20. Herbsttag 76 A.Z.
Hohe See südwestlich von Klippenwacht, Hadrisches Meer

Die Aldebaran II flog nur so über die Wellen, denn es wehte ein geradezu optimaler Nordostwind. Santalion hatte sich nicht als große Hilfe herausgestellt, sondern sich - zum Schutz vor der gleißenden Sonne, wie er sagte - gleich unter Deck verzogen, sodass es letztendlich an Chada und Thorn selbst hing, das kleine Schiff zu segeln. Drukil unterstützte sie dabei, indem er sich so gut er vermochte an ihre Anweisungen hielt.
Jetzt stand Chada am Steuer und Thorn betrachtete sie versonnen. Auf ihrem fein geschnittenen Gesicht erkannte er den Ausdruck ihres eisernen Willens, den er so sehr liebte. In ihren Augen standen Trotz und die Entschlossenheit, niemals aufzugeben. Wäre er der Schwarze Herold oder einer ihrer anderen Feinde, er wäre jetzt vom Schiff gesprungen.
Nur wenige Tage nach ihrem Streit im Grauen Gebirge hatten sie beschlossen, die bösen Worte beiseitezuschieben. Dennoch hatte er sie nicht vergessen, und Chada wohl auch nicht. Du bist bloß eifersüchtig! Thorn schüttelte seinen Kopf. Es war besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Du könntest mitkommen. An meiner Seite regieren. Sie hatte es nur gut gemeint. Auch wenn er den Gedanken an die pausenlose Mühsal hasste, die sie erwartete, konnte er doch nicht leugnen, dass Chada, im Gegensatz zu ihm, eine gute Königin abgeben würde. Sie beide hatten ihre Entscheidung getroffen, und sie beide konnten mit der des anderen leben.
Schon oft hatte Thorn sich gewünscht, einfach zu gehen. Sein Leben wäre gewiss deutlich glücklicher verlaufen, wenn er diesem Wunsch nachgegeben hätte. Aber auch ihn zeichnete ein eiserner Wille aus; der Wille, Unrecht und Leid nicht einfach hinzunehmen, sondern dagegen anzukämpfen. Doch mittlerweile war Thorn sich nicht sicher, ob er in diesem Kampf wirklich erfolgreich war. Jedes mal, wenn sie einen Feind besiegt hatten, war sogleich ein neuer gekommen, jedes mal, wenn sie eine Aufgabe erfüllt hatten, mussten sie sich sogleich um die nächste kümmern. Vielleicht lag es einfach in der Natur des Menschen, stets aufs Neue unglücklich zu sein. Vielleicht war die Welt einfach so eingerichtet, dass alles Gute stets etwas Schlechtes gebar, dass nichts jemals wirklich von Bestand war. Wenn das stimmte, dann wäre Thorn jedenfalls dazu verdammt, den Rest seines Lebens zu kämpfen, denn er hatte nicht vor, das Leid der Menschen, Zwerge und all der anderen Völker dieser Welt einfach hinzunehmen. Er würde diejenigen beschützen, die Schutz benötigten, wenn es sein musste, bis ans Ende seines Lebens. Doch er hegte noch immer die schwache Hoffnung, dass es nicht sein musste.
Chada bemerkte, dass er sie betrachtete und lächelte ihm zu. Thorn spürte eine Wärme in sich aufsteigen und erwiderte das Lächeln, dann ging er zur Tür, die ins Innere der Aldebaran II führte. Er musste mit Santalion sprechen.

Unten bemerkte er, dass er nicht der einzige war, der auf diese Idee gekommen war, denn der Verfluchte war bereits in ein Gespräch mit Leander vertieft. „Meinst du, ich weiß nicht, wie man mich nennt? Meinst du, ich habe keine Ahnung, was ich bin? Ich bin ein Verfluchter!“
Das Wort spie Santalion regelrecht aus und Thorn empfand sogleich Schuldgefühle. Nie wieder, schwor er sich, werde ich ihn so nennen, selbst wenn es nur in Gedanken ist.
Santalion hatte seine Ankunft noch nicht bemerkt und fuhr fort: „Solche wie ich werden in der Regel schon bei ihrer Geburt ausgesetzt, oder gleich ertränkt, um auch wirklich sicher zu sein, niemals von ihnen behelligt zu werden. Wir gelten als Unheilsbringer, Todesboten. Weil wir anders sind.“
„Du bist nicht als einziger anders.“, erwiderte Leander. „Sieh mich an! Meine Eltern wurden bei lebendigem Leibe verbrannt, als ich sechs Jahre alt war. Meine ganze Jugend hindurch wurde ich gequält, verfolgt und gedemütigt. Du hast es gut, glaub mir. Du hast wenigstens noch deine Familie, die dich im Zweifelsfall beschützt.“
Nach diesen Worten trat eine einträchtige Pause ein. Thorn wollte gerade zu seiner Frage ansetzen, als Leander erneut zu sprechen begann: „Deine Familie hat seltsame Namen.“
„Was soll an Bantor seltsam sein?“
Leander schnaubte. „Stell dich nicht dümmer als du bist. Santa-Lion. Das heilige Schwert. Kmar-Foria. Meeresmacht.“
„Ihr beherrscht die alte Sprache des Nordens?“, fragte der Verflu… Santalion erstaunt.
Leander lächelte milde. „Ich bin mit dieser Sprache aufgewachsen. Damals konnte hier jeder sie sprechen und sie galt noch nicht als alte Sprache. Auch wenn die Gemeine Sprache in Sachen Verständigung natürlich viele Vorteile bietet, das muss man anerkennen. Aber du weichst aus: Was hat es mit euren Namen auf sich?“
„Cera, meine Mutter. Sie hat einen… ungewöhnlichen Sinn für Humor.“
Erneut machte sich Stille breit und Thorn hatte nicht vor, diese Gelegenheit auch verstreichen zu lassen. „Santalion!“, sagte er. „Wie genau möchtest du uns helfen? Was kannst du tun, um diesen Tempel aufzuspüren?“
Der junge Mann zuckte zusammen und drehte seinen Kopf herum. Noch immer trug er seine dunkelgrünen Augengläser und Thorn fragte sich, ob er sie wohl nur besaß, damit andere Menschen ihm nicht andauernd in seine Augen starrten oder ob es einen tieferen Zweck erfüllten. „Seid gegrüßt, Thorn!“, rief Santalion. „Ich sehe, dass Begrüßungen Euch ebenso fremd sind wie Geduld. Aber gut, ich werde Euch erleuchten: In Werftheim habe ich einige Kontakte, unter anderem auch zum Kult der Drei Mächte. Wer könnte wohl mehr über den Tempel wissen als diese Religion?“
Thorn schüttelte sich. „Ich würde nicht so weit gehen, so etwas als Religion zu bezeichnen. Wie kommen Menschen nur dazu, die Mächte des Meeres anzubeten?“
„Es ist eigentlich ziemlich naheliegend.“, überlegte Leander. „Mutter Natur ist für die einfachen Fischer, Handwerker und Schiffsbauer hier nur irgendeine weit entfernte Gottheit, doch die Mächte des Meeres sind ein fester Bestandteil ihres Lebens. Man kann sie sehen, mit ihnen sprechen, sie berühren, auch wenn das vermutlich das letzte ist, was man tut. Ihre Existenz ist unbestreitbar, ihre Macht gewaltig und ihr Zorn grauenhaft. Wieso verwundert es dich, dass die Menschen lieber zu den Wesenheiten beten, vor denen sie sich fürchten, als zu irgendeiner weit entfernten metaphysischen Entität, von der ein paar Priester erzählen?“
Was für eine Ente? Auch wenn es Thorn wurmte, dass Leander nicht in der Lage war, verständliche Wörter zu benutzen, so war der Sinn des Gesagten doch klar. „Aber wieso sollte man zu den Mächten des Meeres beten, obwohl sie so grausam sind?“
Santalion schüttelte den Kopf. „Nicht obwohl“, antwortete er nachdrücklich, „sondern weil. Es ist klar, dass Arkteron Stürme rufen kann, also bittet man ihn darum, es in nächster Zeit zu unterlassen, damit die eigene Familie wohlbehalten nach Hause kommt. So entstand vermutlich der Kult.“
„Hm. Ich bin froh, wenn diese verblendeten Eiferer ein für alle mal verschwinden. Im Übrigen hättest du schon lange Stinner von deinem Wissen erzählen sollen, er versucht doch mit aller Macht, diese Leute auszuräuchern.“
Santalion hob eine Augenbraue. „Ich weiß auch nicht so viel, dass ich imstande wäre, eine Armee direkt in ihr Heiligtum zu führen. Außerdem ist es jetzt wohl eher vorteilhaft, dass der Kult noch existiert, sonst könntet Ihr die Möglichkeit, diesen Tempel zu finden, direkt vergessen.“
Thorn verschränkte die Arme. „Und dein Kontakt weiß etwas Nützliches?“
„Das müsst Ihr entscheiden. Er heißt Toras. Ein wirklich guter Dolchwerfer, aber das macht nichts, denn ehrlich gesagt sind seine Klingen deutlich schärfer als sein Verstand. Wenn wir ihn ein bisschen aushorchen, dann bekommen wir wahrscheinlich mehr über diesen Tempel heraus.“


Abenddämmerung, 20. Herbsttag 76 A.Z.
Hafen von Werftheim, Hadrisches Meer

Bei Sonnenuntergang lief die Aldebaran II in den Hafen Werftheims ein, womit sie die Strecke Klippenwacht – Werftheim in rekordverdächtiger Zeit zurückgelegt hatte. Selbst zu dieser späten Stunde war es hier noch äußerst belebt. Dutzende Schiffe liefen aus, aber vor allem ein, von winzigen Fischerbooten über kleine Einmaster wie der Aldebaran II bis hin zu einer gewaltigen dreimastigen Galeone, deren Ruder tief ins Wasser tauchten. Während Thorn und Chada versuchten, an einem Steg, zu dem sie von einem Hafenaufseher gelotst wurden, anzulegen, zeigte sich, dass ihre Fähigkeiten trotz der sensationellen Fahrt auf dem offenen Meer schon etwas eingerostet waren, denn zwischendurch verursachten sie zwei Zusammenstöße und hätten fast eines der Ruderboote über den Haufen gefahren.
Als sie mit einem lauten Knall gegen den Steg stießen, wurde Thorn von den Füßen geschleudert und erhob sich nur mühsam wieder, einen Fluch durch die zusammengepressten Zähnen zischend. Der Hafenaufseher legte eilig seine für Werftheim so typische Schwertlanze beiseite, wobei die gebogene Klinge im Sonnenschein gefährlich funkelte, und lief trotz der Lederrüstung behände näher. Dann streckte er die Arme aus und nahm das Tau, das Thorn ihm zuwarf, entgegen. Er band es an einen Pfahl und holte anschließend seine Lanze. Als die ganze Gruppe kurz darauf von Deck ging, musterte er sie kritisch. „Passt das nächste mal besser auf, ihr Dilettanten! Wenn ihr nicht segeln könnt, dann tut es auch nicht.“, murrte er unfreundlich
„Man kann nicht tun, was man nicht kann.“, erwiderte Santalion galant. „Wenn sie nicht segeln könnten, so hättet Ihr sie nicht segeln sehen können. Wenn sie aber wider Erwarten doch segeln, so ist das wohl ein eindeutiger Beweis ihrer Fähigkeiten. Ihr seht, Eure Forderung ist in jedem Fall hinfällig.“ Der Aufseher grummelte etwas Unverständliches und ging davon.
„Also, wohin jetzt?“, fragte Chada. Santalion rückte sich seine Augengläser zurecht und zeigte in Richtung der hölzernen Stadt. „Mein Bekannter lebt nahe der Schiffswerften. Folgt mir!“

Der Weg durch Werftheim glich dem Marsch eines Betrunkenen im dichten Nebel. Santalion führte sie zielstrebig voran, aber die Straßen waren so willkürlich gewachsen, dass sie unzählige Spiralen und scheinbare Umwege liefen, auch wenn es sich vermutlich um den schnellsten Weg handelte. Werftheim bot wie schon bei Thorns früheren Besuchen ein Bild geschäftigen Elends. Die vielen Händler und Handwerker, die selbst jetzt noch durch die Gassen eilten und von denen sich besonders viele noch am Marktplatz aufhielten, ignorierten die zerlumpten Bettler ebenso wie den Unrat zu ihren Füßen. Die Hütten wirkten größtenteils ärmlich und es war ihnen anzusehen, dass es sich in vielen Fällen um Provisorien handelte, die zum Teil allerdings schon Jahrzehnte standen. Das Holz war grau und ausgeblichen, an vielen Stellen oft auch faulig, in den Dächern klafften so viele Löcher, dass sie wie das Gebiss einer alten Vettel wirkten. Der letzte Sturm hatte einiges zerstört, aber in Thorns Augen führte das eher dazu, dass Werftheim sich wieder erneuern konnte, bis es bald wieder so heruntergekommen aussähe wie immer. Auf ihrem Weg wurden sie von mehr als einem Augenpaar neugierig beäugt. Insbesondere Leander mit seiner blauen Haut und der Binde vor den Augen erregte einige Aufmerksamkeit, doch auch Santalion, der in seinem braunen Kapuzenmantel und mit den Augengläsern auf der Nase wie ein bleiches Ebenbild des Sehers wirkte.

Nach einem besonders scharfen Knick in der Straße blieb Santalion plötzlich stehen und deutete auf eine kleine Hütte, die selbst für hiesige Verhältnisse - auch im Mondlicht erkennbar - besonders schäbig wirkte. „Hier wohnt Toras!“, flüsterte Santalion, auch wenn die Hütte noch lange nicht in Hörweite war. „Besser, ich spreche alleine mit ihm. Ihr wartet hier.“
Chada kniff ihre grünen Augen zusammen. „Da drinnen wohnt ein Mitglied des Kultes der Drei Mächte. Ich halte es für keine gute Idee, wenn du alleine dort hinein gehst. Ich habe die Absicht, die Bitte deiner Schwester zu erfüllen und dich heil zurückzubringen.“
Santalion nahm die Gläser ab und verdrehte seine roten Augen. Schon wieder spürte Thorn, wie er keine andere Wahl hatte, als hineinzublicken. Schließlich betrachtete er stattdessen den schlammigen Untergrund zu einen Füßen. Zumindest hoffte er, dass es sich bloß um Schlamm handelte…
„Ihr seid ja fast so schlimm wie meine Mutter!“, zischte Santalion Chada zu und zuckte dann mit den Achseln. „Von mir aus stellt Euch hinter die Hütte und lauscht unserem Gespräch, wenn Euch das beruhigt. Aber seid leise, um der Heiligen Mutter willen, man kann Euch von drinnen ebenso gut hören, wie Ihr uns werdet hören können!“
Während Santalion also gemächlich zur heruntergekommenen Hütte marschierte, schlichen die Helden von Andor geräuschlos näher. Als sie angekommen waren, erkannte Thorn, dass die Bezeichnung Hütte noch ein großes Kompliment darstellte. Es handelte sich eher um einen Verschlag, nur anhand der sorgfältig mit Stroh und Holzwolle ausgestopften Ritzen erkannte man, dass er bewohnt war. Während die Häuser Werftheims sich sonst Wand an Wand drängten, ließen sie hier einen Abstand von mindestens einem Schritt, fast, als wüssten die Gebäude selbst, dass ein Mitglied dieses verderbten Kultes hier hauste. Behutsam tappten sie um das Bauwerk herum und pressten ihre Ohren an die Rückwand. Im nächsten Moment erscholl von der anderen Seite ein Klopfen, gefolgt von den knarzenden Brettern der sich öffnenden Tür.
„Toras! Sei gegrüßt, mein alter Freund. Wie ich sehe, hast du noch immer kein Schloss.“ Drinnen raschelte es und man konnte hören, wie jemand aufstand.
„Nein!“, rief eine quäkende, missmutige Stimme. „Ob du es glaubst oder nicht, ich bewohne nach wie vor eine kleine Hütte, jaja.“
Santalion lachte. „Aber Toras, ich bezog mich doch auf die Tür. Nicht mal einen Riegel besitzt du.“
„Jaja, wozu auch, hier gibt es doch eh nichts, was sich zu stehlen lohnt.“
Von der anderen Seite der Wand erklangen leise Schritte. „Ach Toras, ich habe dich vermisst, ob du es glaubst oder nicht.“
„Ha, willst du mich etwa umarmen?“
„Selbstverständlich nicht, ich weiß doch, wie selten du deine Hemden wäschst.“
Toras knurrte. „Jaja, scharfzüngig wie eh und je. Hast dich gar nicht verändert. Noch genau so unverschämt wie damals. Und wahrscheinlich bist du auch nicht bloß hier, um einen alten Freund zu begrüßen.“
„Zufälligerweise gibt es tatsächlich noch einen anderen Grund für meine Anwesenheit. Ich möchte…“
„Pah, das sieht dir ähnlich. Vor drei Jahren verschwindet ihr einfach spurlos, nach allem, was man hört, treibt ihr euch seitdem ausgerechnet mit diesem Stinner herum. Aber kaum bist du wieder da, möchtest du schon etwas, jaja.“
„Toras, bitte!“, sagte Santalion beschwichtigend. „Ich bin hier, weil ich Gerüchte gehört habe, du seist Mitglied im Kult der Drei Mächte.“
„Gerüchte? Als ob du das nicht ganz genau wüsstest.“
„Nun, nicht immer stimmt das, was man hört, mit der Wahrheit überein. Manchmal belauscht man Dinge, die falsch sind.“
„Was? Was willst du damit sagen? He, was machst du da?“
Eine kurze Zeit lang war kein Geräusch zu hören. Selbst Leander verzog nur angestrengt das Gesicht und, da er sich die Blicke der anderen wohl denken konnte, schüttelte lautlos den Kopf.
Nach einer Weile begann Santalion wieder zu sprechen: „Toras, erinnerst du dich noch an jenen Abend des Lichttags, damals vor vier Jahren?“
„Ich erinnere mich noch an den Mittag. Und an den Morgen darauf, jaja.“
„Um dein Gedächtnis etwas aufzufrischen: Du lagst zusammengeschlagen in der Gosse, in einer Pfütze aus deinem eigenen Blut.“
„Das war der Teil den ich vergessen wollte. Vielen Dank, Santa!“
„Ich habe dich gefunden und den ganzen Weg zum Heiler geschleppt. Meine Augengläser habe ich dabei verloren, ich musste danach noch einen ganzen Mond lang tagsüber mit geschlossenen Augen herumlaufen, um nicht zu sehr geblendet zu werden.“ Aha, das war also der Grund für seine Gläser.
Aus der Hütte drang ein widerliches Schmatzen, dann sagte Toras: „Sieh´s positiv, deine neuen Gläser sind viel schöner, jaja.“
„Und erinnerst du dich noch an…“
„Schon gut, Santa, sag, was du willst!“
„Ich will, dass du mir vertraust. Habe ich dich jemals im Stich gelassen? Habe ich dich jemals verraten?“
„Sag, was du wirklich willst!“
„Der Tempel der Drei Mächte! Ich weiß, dass es ihn gibt, aber was weißt du darüber?“
„Der Tempel des Meeres? Nicht mehr als du, dass muss dir doch bewusst sein. Irgendwas hatte es mit Arkterons heiligem Tier zu tun, jaja. Warum fragst du?“
Arkterons heiliges Tier? Was sollte das sein? Vermutlich eine stinkende Ratte! „Reine Neugierde. Ich habe mich den Mächten des Meeres auseinandergesetzt, habe alles verschlungen, was ich über sie finden konnte. Toras, ich möchte eurem Kult beitreten. Ich und einige Freunde, wir haben in ihren Lehren Erleuchtung gefunden.“
Meinte Santalion damit etwa sie, die Helden von Andor? Das war lächerlich, sie hatten Oktohan, eine der drei Mächte, getötet. „Du bist ein Jahr lang ausgerechnet in der Nähe von diesem Stinner, der unseren Kult zerschlagen will, und dann möchtest du plötzlich… aufgenommen werden? Das klingt sehr verdächtig, jaja. Das musst du doch verstehen!“
„Und deshalb, mein alter Freund, habe ich dich um Vertrauen gebeten. Bitte, wann findet die nächste Versammlung statt, wie kommt man dorthin?“
Erneut erklang dieses grauenhafte Schmatzen. „Also schön! Die nächste Versammlung ist in der Nacht nach dieser hier, jaja. Unser Heiligtum befindet sich unter einem leerstehenden Haus in der Böttchergasse, mit einem Dreieck über der Tür. Im Keller gibt es einen Zugang.“
„Danke, Toras! Bitte richte dem Kult aus, dass ich und meine vier Freunde ihn noch heute Nacht aufsuchen werden. Und selbstverständlich auch morgen, zu ihrer Versammlung.“
„Kann ich gerne machen, jaja. Aber wehe, du verrätst uns!“
Eilige Schritte erklangen und dann öffnete sich wieder die Tür. Thorn machte einen Schritt nach vorne, um Santalion abzupassen, wurde jedoch blitzschnell von Chada am Umhang gepackt. Zum Glück, denn es war nicht Santalion, sondern Toras, der Anhänger des Kultes, welcher herausgetreten war. So war Thorn im Schatten des Verschlags nicht auszumachen, hatte jedoch einen guten Blick auf den Mann.
Toras war dürr und klein zugleich, er trug eine verdreckte braune Hose und eine grobes Hemd, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr auszumachen war. Am schlimmsten war jedoch sein Kopf, denn sowohl die Glatze als auch das Gesicht waren mit feuerroten, feucht glänzenden Pusteln bedeckt, die im Nachtlicht ekelerregend schimmerten. Dann eilte die Gestalt davon und im nächsten Moment öffnete die Tür sich erneut und dieses mal kam wirklich Santalion heraus.

„Weshalb hast du gesagt, dass wir sie aufsuchen werden?“, fragte Thorn aufgebracht. „Wir kennen den Versammlungsort des Kultes und die Zeit ihres nächsten Treffens, wir hätten sie einfach stürmen können! Irgendeinen hätten wir schon erwischt, der uns mehr über diesen Tempel sagen könnte. Aber jetzt müssen wir den Kult schon vorher mindestens ein mal aufsuchen, um keinen Verdacht zu erregen. Verflucht, du hättest uns gar nicht erwähnen sollen!“
Santalion wartete, bis Thorn sich einigermaßen beruhigt hatte, dann erklärte er: „Ich dachte, wir schauen uns besser schon vorher mal dort um. Außerdem wäre es vielleicht nicht das beste, mit gezogenen Waffen hineinzustürmen.“
„Warum nicht? Hat der Kult Wachen? Tödliche Fallen?“
Santalion lächelte hintergründig und seine roten Augen funkelten. „Das würde mich sehr überraschen. Nein, ich hatte etwas anderes im Sinn. Aber lasst euch am besten überraschen.“
Doch mit dieser Antwort wollte Thorn sich nicht abspeisen lassen. „Man wird uns erkennen. Hast du daran auch schon mal gedacht? Ich war daran beteiligt, einen der unheiligen Götter dieses Kultes zu töten!“
Santalion behielt sein Grinsen bei und hob die Hände. „Zwei von uns tragen bereits einen Kapuzenmantel. Wenn der Rest es ebenso hält, können wir uns dadurch auch nicht mehr verdächtiger machen.“
Thorn schüttelte zornig den Kopf. „Wie sollen wir denn um diese Zeit an Kapuzenmäntel kommen? Wir wollen den Kult noch heute Nacht aufsuchen!“
Santalion starrte ihn ungläubig an. „Das hier ist Werftheim!“
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging los, das Gespräch schien für ihn beendet. Thorn holte tief Luft, doch Chada griff sanft seine Hand. „Beruhige dich, Thorn!“, sagte sie leise. Dann folgte sie dem jungen Mann und Thorn trottete schwer atmend hinterher.


Mondhoch, 20. Herbsttag 76 A.Z.
Untergassen in Werftheim, Hadrisches Meer

An geeignete Mäntel zu kommen, hatte sich tatsächlich als ziemlich einfach herausgestellt. Auch eine kleine Öllampe hatten sie noch erworben, mit deren Hilfe sie jetzt das gleichseitige Dreieck erkennen konnten, das über den Türrahmen der verfallenen Hütte gekerbt war. Durch die nach unten weisende Spitze wirkte es wie ein Pfeil, der sie geradewegs ins Innere der Hütte lenken sollte. Es war jetzt etwa fünf Stunden nach Sonnenuntergang, das bedeutete, sie hatten noch etwas weniger als zwei Tage, um den Tempel des Meeres, wie Toras ihn genannt hatte, aufzuspüren und dorthinzukommen. Thorn blickte die Straßen hinunter, doch zu dieser Zeit war selbst in Werftheim niemand mehr unterwegs. Santalion stand vorne und schirmte seine Augen gegen den Schein der Lampe ab, bis er sich entschloss, seine Gläser wieder zu benutzen. „Wollen wir?“, fragte er anschließend.
Das Innere der Hütte war unspektakulär. Alle Möbel, die hier früher einmal gestanden haben mochten, waren längst verschwunden und wahrscheinlich als Feuerholz wiederverwertet worden. Die Decke war kaum noch vorhanden und Thorn fürchtete, einer der verbliebenen maroden Balken könnte plötzlich abbrechen. Die einzige Besonderheit stellte der gemauerte Boden dar, doch der war unter einer dicken Dreckschicht kaum noch als solcher auszumachen. Eine ganze Reihe von verschiedenen Fußspuren verlief auf dem Boden, die zielstrebig zu einer deutlich erkennbaren Luke führte. Auch auf ihr prangte ein unsauberes Dreieck.
Santalion beugte sich herab, doch Thorn wollte nicht darauf vertrauen, dass der junge Mann mit seinen schmächtigen Armen sie stemmen konnte, also öffnete er sie still mit einer lässigen Handbewegung. Die Luke stellte sich allerdings als dermaßen leicht heraus, dass sie von Würmern zerfressen sein musste. Unwillkürlich fragte sich Thorn, ob sie es wohl aushielt, wenn sich jemand darauf stellte.
Santalion drehte den Kopf in seine Richtung und zog eine Augenbraue hoch, der Ausdruck in seinen Augen war wegen der grünen Gläser nicht zu erkennen. Dann stellte er die Lampe ab und kletterte ohne zu zögern an der wackeligen Leiter in die Tiefe. Thorn folgte als nächstes und bekam von Chada die Lampe gereicht. Während die Übrigen ebenfalls nach unten stiegen, ließ er den Lichtschein über schmucklose Ziegelwände und eine schiefe Türöffnung gleiten, die wohl ins Heiligtum führte.

Hinter der Tür veränderte sich der Keller plötzlich. Zwar war der ärmliche Raum, den sie nun betraten, noch immer aus rötlichen Ziegelsteinen gemauert, doch alles war regelrecht sauber. An der Wand brannte eine Laterne, und auf der den Helden gegenüberliegenden Seite befand sich eine weitere Türöffnung. Auf einem einzelnen Hocker saß eine ausgemergelte Gestalt, die beim Eintreffen der Neuankömmlinge den Kopf hob.
Thorns Gesicht war unter seiner Kapuze gut verborgen, und er hoffte, dass es bei den anderen ebenso war. Er erschauderte, als er den sitzenden Mann näher betrachtete. Seine Lider schienen nicht zu existieren, daher waren die schielenden Augen durchgehend geöffnet und starrten ohne zu blinzeln in die Gegend. Der Mund stand offen, die Zähne waren schwarz und verfault, und Speichel lief das Kinn hinab und tropfte auf das verschlissene Hemdchen. Seine komplette Haut war von roten Striemen bedeckt, die nicht natürlichen Ursprungs waren, und Thorn überlegte, ob im Kult der Drei Mächte wohl Selbstgeißelung praktiziert wurde. Auch wenn er keine Waffen bemerkte, wanderte Thorns Hand unmerklich näher zum unter dem Mantel verborgenen Schwert an seinem Gürtel. Der Wachtposten, so es sich denn um einen handelte, war allerdings anscheinend schon von Toras informiert worden, nuschelte etwas Unverständliches und ließ den Kopf wieder sinken.
Die Helden von Andor durchquerten den Raum und erreichten auf der anderen Seite einen langen Gang. Direkt neben der Tür hockte eine halb nackte Frau auf einem Haufen sauberen Strohs. Sie war ebenso ausgemergelt wie der Mann im letzten Raum. Kein einziges Haar spross aus ihrem Kopf und ihre Beine waren schwarz, vertrocknet, knorrig und tot. Ihr kahler Kopf lag auf ihrer Brust und sie schien zu schlafen. Auf der rechten Seite des Ganges befanden sich zwei Türen, die gemauerten Öffnungen ebenso schief wie alle bisherigen, doch die geschlossenen Holztüren waren passgenau gezimmert.
Die Gruppe durchquerte den Gang. „Was ist das hier nur für ein Ort?“, raunte Thorn Chada zu. „Alles hier ist krank und verdorben. Hier sammelt sich der Abschaum der Gesellschaft.“
Santalion blieb abrupt stehen und drehte sich zu Thorn um. „So könnte man es wohl auch sehen!“, zischte er verächtlich.
„Wie denn noch?“, erwiderte Thorn.
Santalion schüttelte ruckartig den Kopf. „Ich würde eher sagen, unsere Gesellschaft treibt ihren Bodensatz, ihren - wie habt Ihr es formuliert? - Abschaum, hierher. Ich sehe hier keine düsteren Kult, sondern eine Sammelstelle für die Entrechteten, die Geknechteten, die Ausgeschlossenen, die, die anders sind.“ Er wirbelte herum und fuhr fort, während sie ihren Weg fortsetzten. „Ich empfinde Abscheu bei diesem Besuch, Abscheu auf unsere Welt, die zulässt, dass diese armen Gestalten misshandelt und gequält werden. Habt ihr die Spuren der Gewalt gesehen, die Hagan angetan wurde?“, fragte er und Thorn wurde bewusst, dass er sich damit auf die Striemen des Wachpostens bezog.
Sie durchquerten die Tür in die nächste Kammer. Gleich zwei Lampen erhellten diesen Raum, den größten bisher. Erneut gab es zwei geschlossene Türen auf der rechten Seite, an der Rückwand befand sich ein großes, zweiflügliges Portal und links davon ein kleiner, offener Durchgang, der in einen dunklen Gang führte. In diesem Raum hielten sich gleich drei Personen auf, in der Mitte eine riesenhafte Gestalt, den Rücken zu ihnen gedreht, die einen Reisigbesen schwang und wohl den Grund für die Sauberkeit darstellte, und neben der zweiten Tür auf der rechten Seite zwei schwer erkennbare Personen, die eine groß und schlank, die andere klein, die in ein Gespräch vertieft schienen.
Santalion redete sich langsam in Rage, behielt seine gedämpfte Lautstärke jedoch bei. „Die Menschen können mitunter grausamer und gnadenloser sein, als man es sich vorstellen kann. Hierher kommen diejenigen, die Schutz vor ihrer Grausamkeit suchen. Diejenigen, die sich sogar von Mutter Natur verstoßen fühlen. Jeder hier hat eine Geschichte voller Brutalität und Trauer zu erzählen, kann berichten, welche Demütigungen und Qualen er selbst oder ein Freund erleiden musste. Wir Ausgestoßenen kennen einander. Toras zum Beispiel war einst ein erfolgreicher junger Söldner, dessen Wurfdolche immer ihr Ziel fanden, bis er eines morgens mit seinem Ausschlag erwachte. Von einem Tag auf den anderen hat er alles verloren. Oder seht ihr den Riesen da vorne? He, Bag!“, fügte er laut hinzu.
Der Mann mit dem Besen drehte sich schwerfällig um und Thorn erkannte, dass er nur aufgrund eines Buckels nicht noch größer war. Bag hatte eine hohe Stirn und vorstehende Augen, die verständnislos glotzten. Als sein Blick sich auf die fünf Gestalten in Kapuzenumhängen richtete, verzogen sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln. Er ließ den Besen fallen und trat einen gewaltigen Schritt nach vorne. Seine krummen Arme umschlossen Santalions Körper und drückten ihn fest, seine kolossalen Pranken tätschelten den Rücken. Bag brummte glückselig und ließ dann los, um mit den anderen Besuchern dasselbe zu tun. Danach hob er seinen Besen wieder auf und fegte weiter.
„Er ist wie ein kleines Kind, aber nach den Spuren auf seinem Körper zu urteilen wurde er eine Zeit lang als Ackergaul gehalten!“
Chada entfuhr ein unterdrückter Aufschrei und Drukil keuchte. Auch Thorn spürte, wie sein Herz sich zusammenzog, doch Santalion fuhr erbarmungslos fort: „Und die kleine Gestalt da drüben?“
„Ist das ein Kind?“, entfuhr es Thorn entsetzt.
Santalion lächelte bitter. „Nein, und auch kein Zwerg, obwohl Ausgrenzung bei ihnen vermutlich ebenso häufig vorkommt. Das ist Vudul. Er ist zwergenwüchsig. In der besten Zeit seines Lebens konnte er für einen Hungerlohn in einem Wanderzirkus unterkommen. Den Rest weigert er sich zu erzählen. Die Frau neben ihm ist Kanuta. Sie besitzt keine Absonderlichkeiten, aber sie hegt der Religion von Mutter Natur gegenüber einige … Antipathien, seit sie als kleines Mädchen von einem ihrer Priester…“ Er brach ab, doch auch so war allen klar, wie der Satz zu beenden war.
„Nein!“, hauchte Chada. „Welcher Priester würde so etwas tun? Wie kann er der Heiligen Mutter dienen und zugleich zu solchen Taten fähig sein?“ Santalion zuckte bloß mit den Achseln.
Thorn versuchte, die grausamen Bilder aus seinem Kopf zu verdrängen. „Weshalb erzählst du uns das alles?“, fragte er.
Santalion hob eine Augenbraue. „Weil ich euch zeigen wollte, weshalb ich dagegen war, dass wir uns hier mit Waffen Zutritt verschaffen.“

Santalion führte sie durch das Portal. Dahinter lag ein großer Raum mit nur einem kleinen Ausgang auf der anderen Seite. Bis auf die mitgebrachte Lampe war es stockdunkel. Einige einfache Bänke und Tische waren hier aufgestellt, an einem Ende befand sich ein steinerner Altar, der mit einem groben blauen Tuch bedeckt war. An den Wänden hingen Holztafeln, auf die in einfachen Formen Bilder geschnitzt waren. Thorn trat zu einer und hörte nur mit halbem Ohr, wie Santalion flüsterte: „Und hier haben wir wohl den Ort, an dem ihre Messen gefeiert werden. Ich denke, damit wissen wir genug, um morgen wiederzukommen. Ich bin zuversichtlich, dass Ihr alles erfahren werdet, was wir wissen wollt.“ Thorn beugte sich näher zu einer der Tafeln herunter und betrachtete das grobe Schnitzwerk. Zu sehen war die Figur einer Frau mit Schlangenkörper, die ein großes Schwert schwang.
Plötzlich öffnete sich das Portal und ein kleiner Mann ohne besondere Auffälligkeiten betrat die Halle. Er blickte verwundert auf die Anwesenden, doch als sein Blick auf Leanders blaue Haut fiel, lächelte er wissend. Unter den Ungewöhnlichen ist Auffälligkeit die beste Tarnung, schoss es Thorn durch den Kopf.
„Willkommen im Kult der Drei Mächte. Ich bin der Ehrwürdige Satarus, einer der drei Priester hier. Ihr müsst die Neuen sein, von denen Toras berichtete. Hier werdet ihr eine neue Heimat finden und die Schrecken der Welt hinter euch lassen, wenn ihr es wünscht. In unserer Mitte gibt es niemanden, der euch verletzen wird.“
Santalion holte tief Luft, doch Thorn brachte ihn mit einem warnenden Kopfschütteln zum Schweigen. Auch er hatte überlegt, dass dieser Priester vielleicht mehr über den Tempel des Meeres wissen könnte. Aber es war zu riskant, sich jetzt schon verdächtig zu machen. Morgen wäre der gesamte Kult versammelt, eine bessere Gelegenheit gab es nicht.
Der Ehrwürdige Satarus ging zu Thorn, betrachtete jedoch glücklicherweise nicht sein Gesicht, sondern die hölzerne Tafel an der Wand. „Du beschäftigst dich schon mit den Mythen des Kultes, wie ich sehe. Dieses Bild zeigt die göttliche Kenvilar, wie sie mit dem Heiligen Schwert Land von Wasser trennt und die Welt ordnet.“
Der Priester blickte Thorn erwartungsvoll an. Der räusperte sich und antwortete dann notgedrungen: „Die Weisheit in Euren Worten erleuchtet mich!“
Satarus runzelte die Stirn. „Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, noch mal jemand neuen zu treffen, der voller Inbrunst an das alles hier glaubt. Meine persönliche Einschätzung ist eher, dass die meisten Geschichten hier nach dem Genuss von berauschenden Kräutern entstanden sind. Aber ich werde dir nicht hineinreden, jeder sollte seine Verehrung zu den Drei Mächten auf die Art äußern können, die er für angemessen hält. Du kannst mich übrigens mit Du ansprechen, wir sind doch jetzt eine Familie. Wie heißt du, Bruder?“
Sie hatten sich auf dem Weg hierher falsche Identitäten ausgedacht, doch plötzlich war Thorns Kopf wie leergefegt. Er versuchte, eine glaubwürdige Antwort zu finden. Es gab doch wohl genug Namen, irgendeiner musste ihm einfallen!
Zum Glück sagte der Priester in diesem Moment: „Nein, du brauchst nichts zu sagen. Morgen Abend ist hier eine Versammlung des Kultes. Am besten, ihr stellt euch dort vor, dann müsst ihr nicht alles wiederholen. Ich lasse euch jetzt in Ruhe alles hier erkunden.“ Satarus drehte sich gemächlich um und verließ die Halle.
Santalion stellte sich zu Thorn und raunte: „Nicht ganz der grausame Kult, der regelmäßig Menschenopfer darbringt und das Blut von unschuldigen Jungfrauen schlürft, den Ihr erwartet hattet, was? Wo sind sie, die verblendeten Eiferer, von denen Ihr spracht?“


Später Vormittag, 21. Herbsttag 76 A.Z.
Hafen von Werftheim, Hadrisches Meer

Am nächsten Tag standen sie alle erst um die Mittagszeit auf. Bis zum Abend hatten sie nicht viel zu tun, also besprachen sie noch kurz den recht einfachen Plan. Sie würden sich, ebenso wie gestern, als Gläubige in den Kult einschleichen, der Versammlung beiwohnen und anschließend versuchen, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, um mehr über den Tempel herauszufinden. Falls sie vorher erkannt werden sollten, würden sie sich ihre Informationen notfalls mit Gewalt holen, der Kult hatte keinen allzu gefährlichen Eindruck gemacht und vielleicht würde schon der Anblick ihrer Waffen ausreichen, um jemanden zum reden zu bringen.
Nach der Besprechung ging Santalion, der sich in Werftheim am besten auskannte, einige Matrosen anheuern, mit denen sie in See stechen könnten, denn wer wusste schon, wie weit dieser Tempel von Werftheim entfernt war. Es wäre töricht, sich auch in Zukunft auf gute Winde zu verlassen.
Währenddessen ging Drukil mit Leander die Stadt erkunden und Thorn und Chada besuchten den Markt Werftheims, noch von ihren letzten Besuchen wussten sie, dass es hier die interessantesten Dinge aus aller Welt zu kaufen gab.

Sie schlenderten im Sonnenschein durch das bunte Getümmel voller Farben und Gerüche. Neben einem Stand, an dem Honigwein angeboten wurde, bat Thorn Chada zu warten, denn er musste eilig austreten. Als er zurückkam ging er auf direktem Wege zum Stand zurück, doch plötzlich erspähte er aus dem Augenwinkel einen bekannten Kapuzenmantel. War das etwa Santalion? Er wollte doch am Hafen nach Seeleuten suchen? Die Gestalt drehte sich um und Thorn erkannte die unverkennbaren grünen Augengläser. Er selbst wurde seinerseits anscheinend nicht gesehen, denn Santalion drehte sich wieder um und ging weiter. Was machte er hier? Aber gut, vielleicht hatte er am Hafen keine freien Matrosen gefunden und durchstreifte jetzt die Stadt auf der Suche nach welchen. In diesem Moment blickte Santalion erneut zurück. Es schien, als würden die Gläser seine Sicht einschränken, denn er bemerkte Thorn offensichtlich nicht. Es war dieser erneute Blick über die Schulter, der Thorns Misstrauen weckte.
Santalion zwängte sich durch die Menge und Thorn überlegte, was er jetzt tun sollte. Zu Chada gehen und ihr berichten? Aber was denn, bisher war ja noch nichts geschehen. Und bis dahin wäre der junge Mann garantiert verschwunden. Also heftete Thorn sich an die Fersen Santalions, der den Markt schon bald verließ und ins unübersichtliche Labyrinth der Gassen eintauchte. Hier waren nicht mehr so viele Leute unterwegs, daher musste Thorn aufpassen, um nicht gesehen zu werden. Doch so klug und schlagfertig Santalion auch sein mochte, in diesem Fall versagte er vollständig und bemerkte seinen Verfolger nicht.

Wohin Santalion ging, begriff Thorn erst, als er vorsichtig um eine scharfe Ecke bog und die armselige Hütte erblickte. Dass diese Stadt im Hellen aber auch so anders aussehen musste! Santalion blickte nochmals vergeblich zurück, dann klopfte er an die schiefe Tür und trat ein. Thorn rannte möglichst leise zum Verschlag und umrundete ihn umständlich. Weshalb suchte Santalion Toras erneut auf? Warum hatte er ihnen nichts davon berichtet? Die Lauschstelle, die Santalion ihnen gezeigt hatte, funktionierte immer noch bestens. Thorn presste lautlos sein Ohr auf die Holzwand und schloss die Augen.
„… dieses mal ungestört, Santa? Oder wieder ungebetene Lauscher?“, fragte Toras mit seiner üblichen quäkenden Stimme.
„Nicht, dass ich wüsste. Ich dachte gestern schon, du kapierst es nicht. Meine Anspielungen hast du alle überhört.“
„Jaja, aber dafür waren deine Gesten recht eindeutig.“
„Diese Pantomime war die letzte Möglichkeit, mich dir mitzuteilen. Ich konnte schlecht laut sagen, dass wir belauscht werden.“
„Wer waren sie? Die gleichen, die du in den Kult gebracht hast?“ Keine Antwort, aber wahrscheinlich hatte Santalion genickt. „Warum wolltest du, dass sie denken, du wärest neu im Kult? Wenn du ihnen doch genug vertraust, um sie dann einzuschleusen.“
Thorn schnappte nach Luft. Sollte das etwa heißen, dass Santalion nicht neu im Kult war? Dass er schon früher Mitglied gewesen war? Die Entrechteten, die Geknechteten, die Ausgeschlossenen, die, die anders sind. Ein Aussätziger, ein zurückgebliebener Riese, ein Zwergenwüchsiger. Würde ein Verfluchter nicht perfekt in diese Reihe passen? Und wie kam es eigentlich, dass Santalion zu jedem im Kult Namen und Hintergrundgeschichte gewusst hatte? Wir Ausgestoßenen kennen einander. Was waren sie doch für Idioten! Das war die verdammte Müdigkeit, gepaart mit den grauenhaften Geschichten, die Santalion ihnen erzählt hatte. Aber wie viel davon entsprach eigentlich der Wahrheit und wie viel war frei erfunden?
„Ich habe sie nicht eingeschleust, weil ich ihnen vertraue, Toras!“
„Jaja, das war wohl klar, sonst hättest du ihnen alles sagen können. Aber warum dann?“ Toras schmatzte laut. „Santa, ich habe einige beunruhigende Gerüchte über ihre Identität gehört. Satarus sagte, einer von ihnen hatte blaue Haut. Begleitet so jemand neuerdings nicht auch die Helden von Andor?“
Toras spie dieses Wort mit so viel Hass aus, dass Thorn unwillkürlich zusammenzuckte. Dabei stieß er an die Wand, an die er sein Ohr presste. „Santa, hast du das auch gehört? Was war das?“ Thorn hielt die Luft an.
Nach einer Weile atmete der Verfluchte - jede von Thorns Hemmungen, ihn so zu bezeichnen, war plötzlich verschwunden – tief ein und sagte: „Vermutlich nur eine Katze.“
„Jaja, nun gut. Aber sag, wer sind sie? Sind sie es wirklich?“
„Ich… ja, sie sind es wirklich.“
„Was?! Santa, wie konntest du so leichtsinnig sein. Wenn ich nicht genau wüsste, dass du uns schon längst alle an Stinner hättest ausliefern können, ich hätte dir Verrat unterstellt. Nach Oktohans Tod ist deine ganze Familie aus dem Kult verschwunden, sogar Cera! Und jetzt kommst du ausgerechnet mit denen zurück, die den göttlichen Oktohan ermordeten?“
Als Santalion antwortete, kam seine Stimme direkt von der anderen Seite der Wand und Thorn gab sich Mühe, noch leiser zu sein. „Aber genau das ist doch der Grund, Toras! Sie haben den König der Tiefe vernichtet! Und jetzt können wir Rache nehmen. Sie vertrauen mir, ich locke sie in den Kult und dort bereiten wir eine Falle für sie vor!“
„Eine Falle für die Mörder Oktohans? Sie werden uns mühelos besiegen!“
„Vertrau mir, mein Freund! Wir können hier und jetzt alles Weitere besprechen. Aber zuvor muss ich noch etwas überprüfen.“
Thorn begriff zu spät. Als die klapprigen Bretter nach Santalions Tritt nach außen fielen, war es nicht mehr möglich, sich zu verstecken. Er betrachtete den Verfluchten vor sich. Santalion blickte ihn gequält an. „Doch keine Katze also. Thorn, bitte, ich weiß nicht wie viel Ihr gehört habt, aber lasst uns versuchen, eine Erklärung zu finden …“ Thorn durchdachte seine Möglichkeiten. Santalion war noch unbewaffnet, doch Toras hatte schon in jeder Hand einen Dolch. Wahrscheinlich könnte er die beiden besiegen, aber dieses wahrscheinlich genügte nicht. Er musste ganz sicher gehen, dass er Chada und die anderen warnen konnte. Flucht war also wichtiger, als diesen Kampf zu gewinnen. Er sprang zurück, ergriff mit der Linken die Dachkante der Hütte hinter sich und zog sich daran hoch. Santalion versuchte, seinen Umhang zu erhaschen, doch zu spät. Die beiden könnten ihn nicht mehr einholen. Er zog sich am Dach hoch, um darüber zu verschwinden, doch in diesem Moment flog etwas Silbernes durch die Luft und bohrte sich in Thorns Hand. Schmerzerfüllt schrie der Krieger auf und ließ los. Wurfdolche! Toras benutzte Wurfdolche, das hatte Santalion selbst erzählt!
Er schlug hart auf dem Boden auf und die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Sein Kopf musste auf einen Stein geknallt sein, denn ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte seinen Schädel. Sein Blickfeld wurde an den Rändern dunkel.
„Jaja, den habe ich gut erwischt. Und hiermit beginnt unsere Rache!“, klang aus weiter Ferne eine triumphierende Stimme.
„Nein! Tu das nicht! Toras, halte ein, wir brauchen ihn noch!“ Das letzte, was Thorn noch wahrnahm, war das Gesicht Santalions, das sich über ihn beugte. Die Augengläser waren verschwunden und die roten Augen musterten ihn besorgt. Dann verschwand auch dieses letzte Bild und er nahm gar nichts mehr wahr.

h - Die Souveränin

BeitragVerfasst: 28. November 2021, 19:05
von TroII
h – Die Souveränin

Sonnenhoch, 21. Herbsttag 76 A.Z.
Westklippen, Hadria

Ein schneller Segler mit guter Mannschaft konnte die Strecke von Klippenwacht nach Hadria in drei Tagen zurücklegen, vorausgesetzt die Winde waren günstig. Ein schwerfälliges Handelsschiff wie die Stern von Werftheim benötigte mindestens sechs. Mit vollem Frachtraum wurden rasch zehn daraus. Wenn dazu auch noch ein kräftiger Nordwind wehte, brauchte es einen halben Mond. Mit einer mächtigen Dunkeln Magierin an Bord, die es äußerst eilig hatte, einen Tag.
Zwei verfeindete Zaubererorden teilten sich die Herrschaft über Hadria, der altehrwürdige Orden des Turmes, der die Dunkle Magie ablehnte, und der junge Orden des Feuers, der die Möglichkeiten nutzte, die sie bot. Und seit dem gestrigen Tag spukte Eara Orweyns alte Prophezeiung wieder im Kopf herum:
Wenn Feuer und Turm miteinander ringen,
das Ende aller naht, denn Qurun wird sie bezwingen.

Bisher hatte sie auf diesen Reim wenig geachtet. Ein zweiter Krieg zwischen dem Orden des Feuers und des Turmes wie der vor zwei Jahren war selbstverständlich zu vermeiden, aber nicht aus Furcht vor der Warnung eines paranoiden alten Magiers, sondern wegen all des Leids, das er hervorrufen würde. Doch wenn Leander recht hatte und Orweyn, der große Zauberer und Entdecker der Dunklen Magie, wirklich ein Seher gewesen war…
Ihr war klar, dass Qurun um jeden Preis verhindert werden musste. So pathetisch das Ende der Welt vielleicht klingen mochte, es stellte alles andere in den Schatten, auch diesen mysteriösen Ewigen Rat. Natürlich konnten noch Jahrhunderte vergehen, bis Orweyns Worte eintrafen, aber was auch immer bis dahin erreicht würde wäre fast nichts im Vergleich zur Vernichtung von allem, was sonst noch hätte kommen können. Vielleicht könnte nach ihr auch jemand anderes das, was Orweyn gesehen hatte, noch verhindern, vielleicht war es auch tatsächlich längst vorbei, wie Leander vermutete, und vielleicht bedeuteten ihr die Helden von Andor tatsächlich noch mehr als nur die Folgen von deren Taten, aber sie musste Prioritäten setzen. Und auf dieser Liste belegte auch nur die Möglichkeit auf das Ende der Welt klar den ersten Platz.

Nachdem die Stern von Werftheim angelegt hatte, wollte der Kapitän sie am liebsten für alle kommenden Fahrten anheuern. Winde und Wasser hatten sich einzig ihrem Willen beugen müssen, und auch wenn Eara nun so ausgelaugt war wie seit Krahd nicht mehr und spürte, dass die Dunkle Magie in ihr weiter gewachsen war, so war das den Preis, schon diesen Morgen in Hadria zu sein, doch wert. Der begeisterte Kapitän gab ihr das Zehnfache dessen, was sie vorher für die Überfahrt gezahlt hatte, was zwar großzügig wirkte, in Anbetracht der Gewinne, die er durch die verkürzte Fahrt einheimsen würde, allerdings lächerlich wenig war. Eara bedankte sich nicht, sie hätte keine einzige Münze gebraucht, aber sie lehnte das Geschenk auch nicht ab. Mit diesen Münzen könnte in ihrem Besitz vermutlich mehr Gutes bewirkt werden als in der Geldkatze des Kapitäns.
Sie verließ das Schiff auf wackeligen Beinen und betrat zum ersten mal seit über einem Jahr Hadria, ihre alte Heimat. Sie hatte bisher auf der ganzen Welt zwei Orte besucht, an denen das ganze Jahr über Schnee lag: Die höchsten Gipfel des Grauen Gebirges und Hadria, das Land der Zauberei. Hier herrschte ein ewiger Winter, seit Orweyn es vor fast zweihundert Jahren gewagt hatte, die Magischen Waffen zu schmieden und sich gegen die Mächte des Meeres aufzulehnen. Der Seekönig Varatan hatte gegen die Mächte gekämpft und verloren, trotz einer riesigen Flotte und der gewaltigen Macht seiner Waffen. Als Folge hatte Orweyn - um Hadria vor der Strafe der Drei Mächte zu bewahren - den Eisernen Turm gebaut, fast alles Wissen um die Dunkle Magie dort verwahrt und jeden Zauberer, der etwas darüber wusste, getötet.
Erst die Helden von Andor hatten bewiesen, dass es möglich war, die Mächte des Meeres zu vernichten, denn sie hatten Oktohan getötet, den König der Tiefe, auch ohne Hilfe der Dunklen Magie. Der riesenhafte Krake war tot, und das grässliche Wesen, das sich in Hadria als personifiziertes Qurun getarnt hatte, ebenfalls.
Leander glaubte, dies sei die Erfüllung von Orweyns Prophezeiung gewesen, doch Eara vermutete, es habe die Warnung lediglich benutzt, um Hadrias Herzen mit Furcht zu erfüllen. Denn wenn sie damals verloren hätten, dann hätte das, so schrecklich die Folgen auch gewesen wären, wohl kaum das Ende aller ausgelöst.
Seit ihrem Sieg jedenfalls war die Kälte in Hadria zurückgegangen. Lag es am Tod einer der Drei Mächte des Meeres, dass die eisigen Stürme weniger geworden waren? Niemand vermochte es zu sagen. Doch auch wenn nach wie vor das ganze Jahr über Schnee fallen konnte, war es nicht mehr die vorherige unnatürliche Kälte, die über Hadria lag, sondern lediglich die Folge der meteorologischen Gegebenheiten der Insel.
Auf dem winzigen Steg saß ein alter Mann, in einen dicken Mantel gehüllt, aber dennoch in der Kälte bibbernd. „Ein Kupferstück für einen armen Alten?“, fragte er tapfer, als Eara vorbeischritt. Seit wann gab es hier Bettler? In Nordgard lebten einige wenige, die sonst nirgends eine Arbeit fanden und keine andere Wahl hatten, doch hier, an den Westklippen? Es war doch ein vergleichsweise warmes Jahr gewesen, eigentlich sollte der geringe Wohlstand Hadrias vermehrt worden sein, doch stattdessen saßen selbst im Herbst noch Bettler an einem verlassenen Steg?
„Warum bist du hier? Weshalb nicht bei deiner Sippe?“ Der Mann zitterte und verlor wohl nur deshalb nicht die Nerven, weil die Zauberer es sich zur Aufgabe gemacht hatten, das Leben in Hadria zu verbessern. Auch wenn der Orden des Feuers und des Turmes sich nur selten einig war, was man für die Menschen hier im Großen tun könnte, wenn jemand in Not zu ihnen kam, dann versuchten sie, ihre Hilfe zu gewähren.
„Ich bin hier, weil doch die Versammlung in Yra ist, und der Wintermarkt ist von hier auch ganz nah, deswegen kommen immer mal Schiffe hierher. Von meiner Sippe bin ich weg, weil wir uns nicht genug für alle leisten konnten, und ich bin doch schon alt, die anderen sind wichtiger.“, sprudelte der Alte los.
Eara unterbrach ihn. „Eine Versammlung in der Feste von Yra? Wie lange schon?“ Nach dem Ordenskrieg hatte es eine solche Versammlung der beiden Zaubererorden gegeben, letztendlich mit dem Ergebnis, dass Eara sich der Dunklen Magie verschrieben und die Führung über Hadria übernommen hatte. Beide Orden hatten ihr die Vollmachten einer unabhängigen Souveränin zugesprochen, also faktisch die Herrschaft über diese Insel.
„Seit fast einem Jahr!“, antwortete der Bettler auf ihre Frage. Eara sparte sich die ungläubige Reaktion, die der Mann auf diese Antwort wohl erwartete. Normalerweise verwalteten die Zauberer des Turms Yra, die Hochschule der Zauberei, und die Zauberer des Feuers residierten in Nordgard, der Hauptstadt Hadrias. Eine solche Versammlung war dazu gedacht, die brennendsten Fragen zu klären, dass sie ein Jahr lang andauerte, war verheerend.
Wortlos warf Eara dem fassungslosen Bettler den gesamten Beutel zu, den der Kapitän der Stern von Werftheim ihr gerade eben überreicht hatte. Dann machte sie sich auf den Weg.


Früher Nachmittag, 21. Herbsttag 76 A.Z.
Südlich der Feste von Yra, Hadria

Am nördlichen Ende der Weißen Brücke blieb sie stehen und betrachtete die Feste, in der sie den größten Teil ihrer Jugend verbracht hatte. Die dunklen Türme wirkten abweisend, die Silhouette des Eisernen Turms war schwarz und bedrohlich vor den grauen Wolken und der Schnee fiel eisig vom Himmel. Doch innen war es warm und behaglich, der Geruch von altem Pergament, nahrhafter Suppe und Zauberei erfüllte die Luft.
Heimat! flüsterte die Stimme der Schwäche. Früher hatte dieses Wort Eara viel bedeutet, aber diese Zeiten waren vorbei. Dennoch spürte sie einen leisen Nachhall der unbeschwerten Erinnerungen in sich. Yra war ein Hort der Künste und Wissenschaften, der seinesgleichen suchte. Der Baum der Lieder war das größte Archiv der bekannten Welt, nirgendwo lag so viel Wissen gelagert wie dort, doch hier in Yra wurde nicht so sehr Altes aufbewahrt, sondern vielmehr Neues entdeckt. Nicht nur in der Zauberei wurden die Novizen hier ausgebildet, sondern auch in Naturwissenschaften, fremden Sprachen, Geographie, Historie, Medizin und Arithmetik. Nach der ersten Hälfte ihrer Ausbildung wählten die Schüler, welchem Orden sie einst beitreten wollten. Viele entschieden sich für die Zauberer des Turmes, da diese in der Akademie die Führung innehatten; der Lehrstoff wurde entsprechend ausgewählt und regelmäßig mit Schauergeschichten über die Dunkle Magie unterfüttert. Doch da die meisten Novizen aus Nordgard stammten, wo sie noch gute Erfahrungen mit den Zauberern des Feuers gemacht hatten, tauschten ebenso viele ihre braunen Kutten gegen schwarze aus, um anschließend im Oktron in den Grundzügen der Dunklen Magie unterwiesen zu werden. So war es um des Friedens willen vor vielen Jahren entschieden worden, nachdem die Zauberer des Turmes die Entstehung des konkurrierenden Ordens nicht mehr hatten verhindern können. Das zerbrechliche Gleichgewicht war erst mit dem Ordenskrieg gekippt worden.

Als Eara den Turm der Erleuchtung betrat, war sie noch immer keiner Menschenseele begegnet. Hier befanden sich die Schlafsäle der Schüler ebenso wie die Lehrsäle. Die Bibliothek war hier untergebracht und auch der Speisesaal, der im Falle der letzten Zusammenkunft der Zwei Orden allerdings als Versammlungshalle umfunktioniert worden war. Eara vermutete, dass es diesmal ebenso war.
Plötzlich bemerkte sie die drei Novizen, die in ein Würfelspiel vertieft waren. Sie waren so beschäftigt, dass sie die Ankunft der Dunklen Magierin noch gar nicht bemerkt hatten. Ihre Schlieren fegten die Würfel samt Becher beiseite. Die Schüler zuckten zusammen und wandten die Köpfe um. Beim Anblick Earas erbleichten sie und versuchten vergeblich, mit einem letzten Rest an Würde so zu wirken, als hätten sie eifrig Wache geschoben.
„Wie kann es sein, dass ich bis hierher kam, ohne auch nur ein einziges mal gesehen worden zu sein? Was, wenn ich ein Nachtgor gewesen wäre?“ Ihre Stimme hob sie nicht, doch das war auch nicht nötig. Die Schüler hatten schon längst angefangen, furchtsam zu zittern. Einer versuchte etwas zu sagen, klappte seine Mund jedoch nur wortlos auf und zu wie ein Fisch, da ihm keine auch nur halbwegs glaubwürdige Ausrede einfiel.
„Ich hole jemanden aus der Versammlung.“, nuschelte er schließlich und stand auf, aber Eara schüttelte stumm den Kopf und der Schüler plumpste wieder zurück auf den Hocker.
„Ko-Kommt, lasst uns abhauen.“, sagte einer der anderen unsicher. „Draußen ist es vielleicht kalt, aber da erfüllen wir zumindest unsere Aufgabe und es ist immer noch besser als hier.“
Die drei sprangen blitzschnell auf und verzogen sich auf ihre Posten. Eara blickte ihnen nicht hinterher, sie würden sich wohl kaum trauen, jetzt etwas anderes als ihre Pflicht zu tun. Wo blieb nur die Disziplin der drei? Und wo eine Autoritätsperson, die ihnen sagte, was sie zu tun hatten?

Vor dem Eingang der Versammlungshalle stand Boridas Wache, ein Zauberer des Turmes mit dichtem braunen Haar und Vollbart, noch recht jung, allerdings begabt, beliebt und ehrgeizig. Er sollte wohl Störenfriede und Lauscher von hier vertreiben, bei ihrem Anblick riss er jedoch überrascht die Augen auf. Sie versuchte, an ihm vorbei zu treten, doch er streckte schnell seinen Stab aus.
„Eara!“, krächzte er. „Ihr seid wieder hier!“ Dann räusperte er sich und fuhr mit normaler Stimme fort: „Es tut mir leid, aber ich darf Euch nicht durchlassen. Meine Befehle sind eindeutig.“
Eara musterte ihn kalt. „Boridas, wer hat dich im vorletzten Sommer davor bewahrt, von einem hungrigen Meerestroll gefressen zu werden?“
Boridas griff seinen Stab fester. „Ich habe meine Befehle. Die Anführer beider Orden haben mir eindeutig gesagt, was im Fall Eures Erscheinens zu unternehmen ist.“
Eara fasste den Stab und drehte ihn behutsam beiseite. „Dann kann ich dich beruhigen.“, sagte sie. „Ich bin in meiner Position problemlos in der Lage, die Befehle der beiden Obersten zu entkräften. Du darfst mich also getrost durchlassen.“
Boridas schluckte und runzelte die Stirn. Schließlich senkte er jedoch seinen Stab und blickte sie betreten an. Ihm war wohl klar, dass er sich ihr im Zweifelsfall ohnehin nicht in den Weg stellen könnte. Eara trat an die Holzpforte, blieb dann jedoch davor stehen. Hier war alles, was drinnen beschlossen wurde, genau zu verstehen.
„… etwas gegen diese Diebe unternehmen.“, schrie die erboste Stimme eines Zauberers des Feuers. „Sie werden bald den kompletten Eiswald abgeholzt haben, während ihr Zauberer des Turmes … unseren Orden von einem Eingreifen abhaltet. Ich verlange, dass wir zur Abschreckung Dunkle Magie verwenden. Wir müssen ein Exempel statuieren und dem Volk zeigen, dass es sich nicht alles erlauben kann. Wir müssen mit aller Härte vorgehen, damit die Gerüchte entkräftet werden, diese Zusammenkunft sei nicht zu Entscheidungen imstande.“
Ihm antwortete eine andere Stimme: „Ich muss vehement widersprechen.“ Diese Worte kamen dermaßen gelangweilt und müde, dass die Aussage schon durch den Tonfall widerlegt wurde. „Wir müssen auch Gnade zeigen können. Zudem ist der Einsatz von Dunkler Magie schon generell bedenklich, ohne Not jedoch verwerflich. Ich schlage vor, wir senden in nächster Zeit eine Abordnung, mit deren Hilfe wir ermitteln, wer unsere Abwesenheit ausnutzt, um unerlaubterweise Holz zu schlagen.“
„Nein! Es muss etwas Deutlicheres geschehen. Ich bin für eine Abstimmung! Wer ist dafür, dass wir diese Verbrecher unter Einsatz von Dunkler Magie richten?“ Nach einer kurzen Pause antwortete die andere Stimme: „Zehn dafür, zehn dagegen. So wie immer.“
„Aber wenn wir nichts tun, wer soll dann etwas unternehmen?“
Auch wenn dies nur als rhetorische Frage gedacht war, nutzte Eara dieses Stichwort. Die Flügel des Portals öffneten sich blitzschnell und stießen wie ein Paukenschlag gegen die Wände. Von Schatten umwoben betrat Eara gemessenen Schrittes den Speisesaal und ließ ihren Blick über die versammelten Zauberer gleiten.
Es war ein Bild des Jammers! Je zehn Zauberer aus beiden Orden saßen sich gegenüber, die schwarzen und braunen Roben unordentlich und zerknittert. Die beiden Obersten Torven und Variah waren damit beschäftigt, mit ihren Blicken ein stummes Duell auszutragen, wer von beiden zuerst wegsah. Neben ihnen saßen die entsprechenden Stellvertreter, Sarakal für den Orden des Turmes und Ventor für den des Feuers, beide desinteressiert.
Der wütende Redner, ein muskulöser Zauberer des Feuers namens Dolor, welcher für seinen fanatischen Hass gegenüber den Zauberern des Turmes berüchtigt war, war der einzige, der aufmerksam wirkte. Widersprochen hatte Selarsa, eine alte Zauberin, Hüterin des Protokolls und höchste Richterin Hadrias, deren linkes Auge unter einer Augenklappe verborgen war. Ihre Wachsamkeit war nur äußerst gering, damit allerdings noch immer überdurchschnittlich. Vier Zauberer des Turmes führten ein anregendes Gespräch über die Möglichkeiten zur Heilung des Giftes von Forinkäfern, der alte Koraph las ein dickes Buch, Sialla, eine Zauberin in eleganten braunen Gewändern, betrachtete ihr Antlitz kritisch im Spiegel. Drei Magierinnen des Feuers spielten ein kompliziertes Kartenspiel und giggelten dabei immer wieder, zwei Magier führten sich gegenseitig Feuertricks vor, einer namens Mortol kaute auf einem ominösen braunen Klumpen und Harus schlief sogar, wobei über ihm in flammender Schrift die Worte Ich stimme für die Zauberer des Feuers schwebten. Die beiden Hitars rissen in Zeichensprache Witze über die übrigen Anwesenden.
Mit Earas Auftauchen schreckten alle zusammen. Das Duell zwischen Variah und Torven endete mit einem unentschieden, da beide zugleich zur Tür sahen. Koraph schlug sein Buch zu und zwinkerte ihr zu, Siallas Spiegel fiel zu Boden und zerbrach, Mortol verschluckte den braunen Klumpen, Harus´ Kopf schnellte in die Höhe und verbrannte sich an der Schrift darüber und die vier Hände der Hitars verschwanden blitzschnell unter den Tischen.
Eara ging stumm in die Mitte zwischen die beiden Reihen von Zauberern und wandte sich dann an alle Versammelten. „Ich werde etwas unternehmen!“, antwortete sie auf Dolors Frage. „Zwei von euch nichtsnutzigen Zauberern brechen jetzt augenblicklich zum Eiswald auf und suchen die Schuldigen. Der Einsatz von Dunkler Magie ist genau dann gestattet, wenn sie sich wehren. Die Anzahl der Wachposten von Yra wird auf alte Größe erhöht. Der Besuch von Varkurs Grab ist für jeden, ganz gleich ob Hoher Zauberer oder einfacher Novize, untersagt, bis ich einige Dinge überprüft habe. Die Lehrkräfte unter euch gehen jetzt sofort ihre Novizen suchen und beginnen mit dem Unterricht. Und der Rest bringt bitte Mortol in die Krankenstube, ich glaube, er bekommt keine Luft mehr. Diese Zusammenkunft ist hiermit beendet, denn ich, Eara, Souveränin Hadrias, bin zurückgekehrt. Von nun an weht hier wieder ein anderer Wind!“

Als die Zauberer den Raum verließen, Torven nicht ohne Boridas vor dem Tor einen bösen Blick zuzuwerfen, hielt Eara Hitar und Hitar an. Mit ihren glatten schwarzen Haaren und den türkisen Augen glichen sich die beiden wie ein Ei dem anderen, was zu den aufregendsten Theorien über ihre Verwandtschaft geführt hatte. Tatsächlich hatte Eara dort noch keine Verbindung gefunden, doch die Gerüchte wollten nicht aus der Welt verschwinden, zumal sie zufälligerweise auch noch den gleichen Namen trugen. Sie hatten gemeinsam in Yra studiert und waren unzertrennlich gewesen. Alle Zauberer konnten nur spekulieren, welchem Orden die beiden sich anschließen wollten, doch als der Tag der Entscheidung gekommen war, überraschten sie so ziemlich jeden, indem der eine zu den Zauberern des Turmes und der andere zu den Zauberern des Feuers ging.
Das war zwar schon vor Earas Zeit als Novizin gewesen und inzwischen waren beide zu weisen Männern um die fünfzig gereift, ihre Freundschaft aber hatten sie sich bewahrt. Als der Krieg zwischen den beiden Orden nahte, hatten diese beiden von den Hohen Zauberern am stärksten auf Verständigung und Frieden gepocht, wenn auch ergebnislos. Nun hoffte Eara, von ihnen zu erfahren, was genau sich während ihrer Abwesenheit in Hadria zugetragen hatte.
Die Hitars klärten sie bereitwillig auf. Nur an die Angewohnheit der beiden, die Sätze des jeweils anderen zu beenden, musste Eara sich erst wieder gewöhnen.
Infolge des Ordenskrieges waren beide Orden zu geschwächt gewesen, um ihre Aufgaben so wie früher fortzusetzen. Unter Earas Führung waren die Probleme gelöst worden, indem die Orden sie sinnvoll untereinander aufteilten und unter Umständen auch zusammenarbeiteten, nach ihrer Abreise hatte dieses Konstrukt nicht mehr gehalten. Also hatten die Zauberer sich erneut in Yra getroffen, um die wichtigsten Fragen zu klären. Allerdings hatten die Obersten beide gehofft, ihr Orden könnte das Machtvakuum, das Earas Abwesenheit hinterließ, ausfüllen. Da keiner sich durchsetzen konnten, führte das zu einer Pattsituation ohne Aussicht auf Lösung. Die stärksten Magier beider Orden waren in Yra gebunden, um jederzeit in den wichtigen Abstimmungen für ihre Seite zu stimmen. Beide Orden warteten darauf, dass der jeweils andere nachgeben würde, doch keiner ging den ersten Schritt. Fast ein Jahr lang tagten die Zauberer in Yra, ohne ein Ergebnis zu erzielen. Eara schüttelte den Kopf. Es glich einem Wunder, dass kein Krieg ausgebrochen war.


Später Nachmittag, 21. Herbsttag 76 A.Z.
Speisesaal in der Feste von Yra, Hadria

Die Obersten erwarteten sie vor dem Portal. Eara fragte sich, was die beiden wohl gemacht hätten, wenn sie den anderen Ausgang über den Balkon in den Innenhof genommen hätte.
„Das ist ungeheuerlich!“, rief Torven erbost. Sein buschiger grauer Bart zitterte bei seinen Worten und seine Augenbrauen rückten erbost zusammen, bis sie sich zu einer einzigen vereinigten. Torven war jemand, der automatisch Respekt einflößte und dem man ganz von alleine vertraute, so stand auch der Wächter Boridas etwas abseits und versuchte, unsichtbar zu wirken. Früher war Eara vom jetzigen Obersten des Turmes ausgebildet worden, hatte sein Lob begehrt und seine strafenden Blicke gefürchtet. Ihr alter Mentor hatte ihr einst sehr viel bedeutet und sie waren einander gute Freunde gewesen, doch diese Zeiten waren vorbei, seit sie begonnen hatte, Dunkle Magie zu wirken. Eara respektierte ihn, aber seine Autorität vermochte sie nicht mehr zu beeindrucken.
„Welch ungewöhnliche Situation, mein alter Feind: Ich muss dir zustimmen!“, ergänzte Variah. Ihre schulterlangen Haare waren rot wie das Feuer, das ihr Orden im Namen trug. Sie war eine brillante Rednerin, die andere Menschen von fast allem überzeugen konnte. Eara blickte die beiden an und wartete auf konkrete Vorwürfe.
„Du kannst nicht einfach hierherkommen und diese Versammlung auflösen!“, rief Torven.
„Wie man sieht, kann ich das sehr wohl.“
Variah verzog das Gesicht. „Wieso gebt Ihr einfach Befehle, als ob Ihr noch immer Souveränin wärt? Im Namen des Feuers lege ich Protest gegen Eure Anordnungen ein.“
Eara stampfte mit ihrem Stab auf den Boden. „Um eines klarzustellen: Ich bin noch immer Souveränin. Die Wahl der beiden Orden war unbefristet.“
„Das ist doch lächerlich!“, polterte Torven. „Du hast Hadria für ein Jahr verlassen. Du kannst nicht erwarten, dass wir dich jetzt noch als Souveränin anerkennen.“
„Ich wiederhole: Die Wahl war unbefristet. Ich bin die Souveränin Hadrias, ihr könnt mich nicht absetzen, es sei denn, ihr brecht die Regeln, die unsere Vorfahren aufgestellt haben, um den Frieden des Landes zu garantieren. Und außerdem: Wenn ich nicht wäre, wer würde dann regieren?“
„Die Zusammenkunft der beiden Orden!“, giftete Variah.
Eara ließ die Schatten um sich herum anschwellen und sagte bewusst laut: „Das, was diese Versammlung bisher getan hat, ist wohl kaum als Regieren zu bezeichnen. Ihr sitzt in diesem Saal und wartet, dass einer von beiden aufgibt, aber in Wahrheit wisst ihr ganz genau, dass beide viel zu stur dafür sind. Wenn die Versammlung weiterhin regiert, dann kenne ich das Ergebnis: Stagnation! Verelendung! Feindschaft!“
Variah schüttelte verächtlich den Kopf. „Ihr kommt hierher und pocht auf Rechte, die Euch nur zustehen, weil wir vor zwei Jahren unsere Worte missverständlich formuliert haben. Und dann überschreitet Ihr auch noch Eure Befugnisse. Mir ist nicht bekannt, dass ein Souverän das Recht hat, eine Versammlung der Orden aufzulösen.“
Eara nickte. „Das habe ich auch nicht. Aber jede Entscheidung der Versammlung kann ich negieren, und außerdem kann ich den beiden Orden beliebige Aufgaben erteilen. Wenn ich wollte, könnte ich euch mit Arbeit überschwemmen, sodass ihr nicht mehr dazu kommt, Regierung zu spielen. Aber das habe ich nicht nötig. Ich werde dafür sorgen, dass die Dinge in Hadria wieder ihren gewohnten Gang gehen, wenn ihr euch darüber hinaus weiterhin mit dieser ergebnislosen Versammlung quälen wollt, dann bitte!“
Torven runzelte die Stirn und zeterte: „Du magst formal Souveränin sein, aber ohne die Unterstützung der Zauberer bringt dir das auch nicht viel.“
„Wie einträchtig die Obersten der beiden Orden plötzlich sind, wenn es um den Erhalt ihrer Macht geht. Was meint ihr, wen werden die Zauberer eher unterstützen, diese unnötige Versammlung, die ihnen allen schon zum Halse heraushängt, oder mich? Ich weiß, ihr beide denkt, das Richtige zu tun, aber ihr müsst doch auch erkennen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.“
„Dann tretet zurück und lass die Orden eine Lösung finden!“, schlug Variah vor. „Wir werden von nun an konstruktiv zusammenarbeiten.“
Eara schüttelte den Kopf, doch Torven kam ihrer Antwort zuvor: „Was willst du? Macht? Pass nur auf, wir können dich sehr wohl absetzen! Wir sind berechtigt, einen anderen Souverän zu bestimmen; solange er regiert, sind dir die Hände gebunden!“
Eara lächelte falsch. „Ich habe mich gefragt, wann einer von euch auf diese Möglichkeit zu sprechen kommt. Also dann, nennt mir jemanden! Wer soll an meiner statt über Hadria herrschen, wer soll der neue Souverän werden? Torven? Variah? Einer von euch?“
Die beiden Obersten blickten sich an. Keiner von ihnen war von Earas Auftauchen sonderlich begeistert, aber zugleich waren sie auch froh, dass die vorherige Situation vorbei war. Sie waren schließlich keine Narren. Doch am liebsten hätten sie einige der Vollmachten, die Eara besaß, zurückgenommen, in der Hoffnung, ihrem Orden dadurch mehr Macht zu verleihen. Das konnten sie allerdings nicht, weshalb ein neuer Souverän die einzige Möglichkeit wäre, Eara loszuwerden. Ein solcher benötigte allerdings die Zustimmung beider Orden, und eben das war die Krux: Eara war unparteiisch. Sie war eine Zauberin des Turmes und gleichzeitig eine Dunkle Magierin, sie stand nicht klar auf einer Seite. Jeder andere, der als Souverän infrage käme, gehörte aber zu einem der beiden Orden und würde deshalb niemals vom Obersten des anderen akzeptiert, dazu war das Amt zu mächtig.
Da keiner der beiden antwortete sagte Eara eindringlich: „Ich möchte keine Macht, ich möchte Einigkeit! Die beiden Zaubererorden sind wie zwei Kinder, die auf einem verschneitem Feld spielen und Schneemänner bauen. Zusammen könnten sie ein großes und prachtvolles Exemplar entstehen lassen, aber stattdessen baut jeder seinen eigenen, in der Hoffnung, er möge zumindest größer sein als der des anderen. Das muss ein Ende finden! Nennt mir jemanden, den ihr als Souverän möchtet, und ich weiß, dass ihr auch zusammenarbeiten könnt. Ansonsten werde ich in meinem Amt bleiben und die Orden zur Zusammenarbeit zwingen. Ihr wollt wissen, was ich möchte? Ich verrate es euch: Ich möchte, dass die beiden Orden in ihrer jetzigen Form ein Ende finden. Ich möchte einen großen Orden, in dem alle Zauberer mitwirken, jeder nach seinen Fähigkeiten. Wenn euch das nicht passt, dann müsst ihr euch wohl auf einen neuen Souverän einigen!“
Beide Obersten erbleichten. „Das ist Wahnsinn!“, schimpfte Torven. „Wir sind schon verfeindet seit es die ersten Zauberer des Feuers gab, diesen Zwist wirst du niemals beseitigen können!“
„Wenn du dir da so sicher bist, mein Mentor, dann solltest du anfangen, mit Variah zusammenzuarbeiten. Ihr müsst selbst nach einer Lösung zu suchen, wenn die meine euch nicht gefällt. Ich habe alles gesagt, was es zu sagen gibt!“
Die beiden Obersten starrten sie entsetzt an, doch schließlich sahen sie ein, dass sie hier nichts mehr ausrichten konnten und zogen grummelnd von dannen.
Mit ihrer Ankündigung hatte Eara sich jegliche Sympathien der beiden verspielt, sie hassten den jeweils anderen Orden und würden sich nicht vereinen lassen. Von nun an würde sie gegen die beiden Obersten arbeiten müssen. Vielleicht würden Variah und Torven sich sogar auf einen neuen Souverän einigen. Natürlich nicht einen von ihnen, beide waren zu verfeindet und erfahren, sie könnten den anderen Orden mit ihrer Macht zerschlagen. Aber vielleicht Ventor oder Sarakal, die Stellvertreter der Orden?
Bis dahin würde auf jeden Fall noch viel Zeit vergehen. Zeit, die Eara nicht ungenutzt lassen würde. Sie könnte eine Einigung der beiden Obersten vereiteln, denn natürlich würde sie nicht akzeptieren, wenn sie einen anderen Souverän bestimmten. Es wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung, aber das genügte Eara nicht. Sie wollte die Orden nicht nur annähern, sie wollte sie auflösen. Orweyns Prophezeiung ließ sich am besten aufhalten, indem es Feuer und Turm, die miteinander ringen könnten, nicht mehr gab. Leander konnte noch so oft behaupten, dass das Verhindern einer Weissagung unmöglich war, Orweyns Prophezeiung begann mit einem Wenn. Ihr Eintreffen war vom reinen Wortlaut her nicht vorbestimmt.
„Was meinst du?“, fragte sie Boridas, der noch immer unbehaglich an der Tür stand.
„Ich finde es gut, dass diese sinnlose Versammlung nicht mehr die Macht in Hadria hat.“, antwortete er ausweichend.
„Und zu meinem Vorschlag? Was hältst du von einer Fusion der beiden Orden?“
Boridas hob das Kinn und blickte sie fest an. „Wenn es gelingt, dann wäre es brillant. Aber es wird nicht gelingen! Eure Idee wird Hadria in den Abgrund treiben, das spüre ich. Schlimmstenfalls bekommen wir wieder eine Versammlung wie die letzte. Bitte, Eara, haltet ein mit Eurem Plan!“
Die Dunkle Magierin betrachtete den Wächter enttäuscht. Nicht gerade ermutigende Worte. Aber dennoch, ihr Plan musste gelingen!

Auf ihrem Weg durch die Korridore Yras erkannte sie, dass ihre Chancen gar nicht so schlecht standen. Durch ihre Sturheit und ihre Verbitterung hatten die Hohen der Orden sich immer weiter entzweit, doch die einfachen Zauberer hatten sich im Laufe des Jahres, das sie gemeinsam hier verbracht hatten, kennen und schätzen gelernt. Zudem saßen ihnen allen die Schrecken des Ordenskrieges noch in den Knochen.
Eara sah alte Freunde aus Studienzeiten zusammensitzen, sah Zauberer aus beiden Orden, die sich angefreundet hatten. Als sie in die eiskalten Gärten Yras trat, bemerkte sie hinter einem verschneiten Busch sogar einen Zauberer des Feuers und eine Zauberin des Turmes, die sich leidenschaftlich küssten.
Normalerweise hätte sie dazwischengehen müssen, in der Vergangenheit hatten Beziehungen zwischen den Orden, die über bloße Freundschaft hinausgingen, großen Schaden verursacht, doch jetzt ignorierte sie die beiden. Solche Fälle kamen ihr gerade recht!
Schließlich erreichte sie den Grund für ihren Besuch in den Gärten: Eine große quadratische Lichtung, in deren Mitte sich ein Hügel aus Schnee erhob. Sie blieb genau davor stehen und ballte langsam ihre Hand zur Faust. Dann spreizte sie blitzschnell ihre Finger und fühlte sich wie in einen Schneesturm geraten. Ein weißer Vorhang erhob sich, der Schnee wirbelte um sie herum und wurde davongeschleudert, landete sacht in einigen Schritt Entfernung. Um Eara herum hatte sich ein makelloser Kreis von zwölf Schritt Durchmesser gebildet, in welchem kein einziger Eiskristall mehr lag.
Vor ihr, wo sich eben noch der Schneehügel aufgetürmt hatte, stand nun ein brusthoher Quader aus glattem, schwarzem Marmor. Varkurs Grab. Das Bild aus Leanders Vision. Die beiden kreisrunden Embleme von Feuer und Turm waren eingraviert, darunter befanden sich zwei Schriftzüge, einer in der Gemeinen Sprache und einer in der Sprache des Nordens, die in Hadria noch immer vermehrt gesprochen wurde.

Hier ruht Varkur, Sohn des Varkmar
Sein Streben nach Macht richtete ihn zugrunde
Sein Hass kostete unzählige Leben
Seinen Tod verdanken wir den Helden aus dem fernen Lande Andor
Möge er von nun an in Frieden ruhen
Möge sein Geist uns verschonen
Möget ihr aus seinem Schicksal lernen

Ir kurest Varkur, Varkmar atan
Dan sytor foria run satal iuderat
Dan malor nosalar atanar pekuerat
Danan kur heroar a sultor dalon Andor gratisumus
Ardes a nu in pak kuresse
Ardes dan svrattor mear reliesse
Ardeste tuar a danan fator studesse


An dem Mahnmal war nichts Auffälliges zu entdecken. Aber irgendetwas musste es doch bedeuten! Eara ging um den Stein herum und deutete mit dem gegabelten Ende ihres Stabes auf die steinerne Platte im Boden. Mit einem vernehmlichen Knirschen öffnete sie sich und gab den Blick auf eine schwarze Treppe frei, die in die finstere Gruft führte.
Eara stieg sie hinab und betrat den kalten Flur, der sich unten anschloss. Sie ließ eine dunkelblaue Lichtkugel auf ihrem Stab entflammen und sah den Gang hinunter. Er war etwa drei Schritt hoch und so schmal, dass zwei Personen ihn nicht nebeneinander entlanggehen konnten. Der gesamte Boden, die Wände und die Decke waren mit schwarzen Kacheln bedeckt, die diesen Ort selbst bei grellem Licht noch dunkel wirken ließen.
Eara folgte dem Gang und gelangte in die quadratische Grabkammer. Ein Raum mit einer Seitenlänge von genau sieben Schritt, auch hier alles mit den schwarzen Kacheln gepflastert, in der Mitte ein großer, schmuckloser Sarg aus Basalt, so schwarz wie die Magie, die das Wesen, welches darin lag, verwendet hatte.
Einige hatten protestiert, dass ausgerechnet der finstere Magier Varkur das größte Grab erhielt, das jemals für einen Zauberer errichtet worden war. Doch eigentlich war dies vor allem ein Ort, an dem der düsteren Zeit des Ordenskrieges gedacht werden sollte. Die vollkommene Schwärze schuf eine bedrückende Stimmung, was vom Architekten durchaus so geplant worden war. Allerdings sorgte das dafür, dass niemals jemand hierher kam, etwas, was der Erbauer nicht erwartet hatte. So kam es, dass dieser Ort immer verlassen war.
Auch hier unten war kein Hinweis darauf zu erkennen, welche Bedeutung dieses Mahnmal in Zukunft haben könnte, also stieg Eara wieder nach draußen. Hier schloss sie die Augen und untersuchte die arkane Struktur des Ortes. Jedes Wirken von Zauberei, jedes Entfesseln von Dunkler Magie, hinterließ eine Spur in der Welt. Zauberei stärkte die natürliche Ordnung in den allen Dingen, die Dunkle Magie dagegen vernichtete sie, damit der Magier sie durch seinen eigenen Willen ersetzen konnte. Jeder, der für Magie begabt war, konnte ihre Auswirkungen schwach erspüren, wenn er sich konzentrierte. Die Dunkle Magie hatte Varkur bei seinem Tode verlassen, ein Artefakt war nicht bei ihm gewesen, und wenn doch, so hätten die Zauberer der beiden Orden es längst entdeckt. Nur der schneelose Kreis war von Eara mittels Magie geschaffen worden und sie konnte einen frischen Anflug von Kälte und Dunkelheit wahrnehmen, der sich langsam verflüchtigte.
Eara gönnte sich eine kurze Frist der Ruhe, in welcher sie überdachte, welche Bedeutung dieser Ort haben könnte. Dann schritt sie den Kreis drei mal ab und murmelte dabei einige alte Formeln.
Einen Bannkreis zu schaffen, dessen Schöpfer gewarnt wurde, wenn ein Lebewesen hineintrat, war simpel. Doch Eara hatte kein Interesse, jedes mal in ihrer Arbeit unterbrochen zu werden, wenn eine Maus, welche sich ihren Weg in die Gruft gegraben hatte, ihre Gänge durchquerte. Ihr Zauber würde sie warnen, wenn ein Verstand an diesen Ort kam, ein umständlicher und kräftezehrender Bann, aber in ihrem Fall deutlich hilfreicher.


Abenddämmerung, 21. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

Den Rest des Nachmittags verbrachte sie in den Fingertürmen, dem Ort Yras, an dem die einflussreichsten Zauberer des Turmes und der Lehrstuhl der Akademie untergebracht waren, außerdem Gäste, momentan alle Hohen Zauberer aus dem Orden des Feuers. Auch ihre eigenen Gemächer, die des Souveräns, waren hier zu finden.
Von einem Novizen namens Gundeyn ließ Eara sich berichten, was im letzten Jahr genau vorgefallen war. Gundeyn war ein dicker, rothaariger Junge, die Sommersprossen in seinem Gesicht waren von seinen Pickeln kaum zu unterscheiden. Er war nicht übermäßig intelligent, aber äußerst ehrgeizig. Er verstand sich meisterlich auf alles, was mit großen Menschenmassen im Zusammenhang stand, besäße er kein magisches Talent, er wäre eines Tages ein Demagoge geworden. Gundeyn konnte mühelos so ziemlich alles herausfinden, in Windeseile Gerüchte verbreiten und Menschen nach seinen Zielen beeinflussen.
In ihrer letzten Periode als Souveränin hatte Eara ihn entdeckt und er hatte sich als extrem nützlich erwiesen. Gundeyn hatte schnell erkannt, welchen Aufstieg es für ihn bedeuten würde, wenn er der Souveränin persönlich diente und erfüllte jeden ihrer Wünsche mit Bravour. Dafür verdiente er sich ihre Gunst. Earas Dunkle Magie ängstigte ihn nicht, ihre Macht faszinierte ihn nur. Dass er sich nach Abschluss seines Studiums den Zauberern das Feuers anschließen würde, galt als sicher. Natürlich nur, wenn dieser Orden bis dahin noch existieren würde…
Bis zum Abend war Eara damit beschäftigt, neue Befehle zu geben, alte zu reaktivieren und sicherzustellen, dass wirklich jeder von ihrem Verbot erfuhr, Varkurs Grab aufzusuchen. Als ein großer Glockenschlag durch Yra hallte, gingen die Zauberer zum Abendmahl in die Speisehalle. Eara hatte selbst schon länger keine Zeit zum essen gefunden, doch sie hatte zu viel zu tun. Sie nutzte ihre Zeit stattdessen, um einen anderen Bewohner der Fingertürme aufzusuchen, der für gewöhnlich auch nicht zum Essen erschien.
Neben der schlichten Holztür des Mechanicus hing ein Faden herab, darunter stand auf einem Schild: Bitte ziehen. Eara zögerte kurz, dann ließ sie ihren dunklen Nebel vorschnellen und leicht an der Schnur zupfen. Sie hatte erwartet, dass nun ein Glöckchen schellen würde, doch stattdessen öffnete sich direkt die Tür. Eara starrte sie verwundert an, sie hatte wohl kaum mit genug Kraft gezogen, um sie zu öffnen.
Das Rätsel klärte sich auf, nachdem sie durch die Tür geschritten war. Auf der Innenseite hing neben ihr eine Gerätschaft, bei der mit dem Zug am Faden ein Gewicht herabgezogen wurde, welches die Tür öffnete. Eine reichlich überflüssige Konstruktion, zumal das Gewicht nach jedem Einsatz wieder in die Halterung gehängt werden musste. Aber immerhin eindrucksvoll.
Allerdings hätte dieser Raum es nicht nötig, eindrucksvoll zu wirken, denn es war schon auf den ersten Blick zu erkennen, dass er ebenso außergewöhnlich wie sein Bewohner war. Das Laboratorium, Refugium von Hedal. Der Raum befand sich genau in der Turmspitze und besaß zwei kleine Fenster, das Licht von außen wurde durch eine komplizierte Konstruktion aus Spiegeln im ganzen Raum verteilt. Auch diese Apparatur war unnötig kompliziert, denn man musste sie regelmäßig dem Stand der Sonne und des Mondes anpassen, und bei Neumond versagte sie ebenso wie bei bewölktem Himmel. Jetzt allerdings nahm sie das Licht der untergehenden Sonne perfekt auf und warf es in den ganzen Raum. Überall blinkten die Kleinteile aus Bronze, Eisen und Glas, die in langen Ketten von der Decke hingen, in unübersichtlichen Stapeln auf dem Boden lagen und alle Wände bedeckten. In der Mitte des Raumes stand ein großes Teleskop, auf eine geschlossene Klappe in der Decke gerichtet. An den Seiten des Raumes befanden sich drei große Werkbänke, an einer davon stand der Mechanicus und tüftelte an irgendeiner seiner wahnwitzigen Erfindungen.
Hedal war ein junger Zauberer des Turms mit aschblonden Haaren und abstehenden Ohren. Auf seinem Gebiet war er ein unübertroffenes Genie, ansonsten allerdings weltfremd, seine Freundlichkeit reichte bis zur Naivität. Seine geschickten Finger waren unablässig mit irgendwelchen Schrauben beschäftigt, was im Gespräch mit ihm fast so verwirrend war wie seine mitunter sehr plötzlichen Stimmungsschwankungen. In einem Moment war ein ruhiger und besonnener Zuhörer, im nächsten konnte er kaum stillstehen und seine Gedanken rasten so schnell, dass er einer normalen Konversation nur noch mit Mühe folgen konnte.
Bei Earas Eintreffen drehte er sich um und lächelte sie so freundlich an wie noch niemand heute. Allerdings hatte sie den Verdacht, er hätte auch eine Kakerlake freundlich angelächelt…
„Eara! Bist du hier, um mir ein Präsent zu dedizieren?“
Die Dunkle Magierin stellte sich neben ihn und fragte: „Wie wäre es mit einer Begrüßung? Einem netten: Schön, dass du da bist Eara?
Hedal lachte nervös. „Als ob das heute schon jemand konstatiert hätte. Die sind doch alle noch viel zu perplex, um deine Visite adäquat zu prämiieren.“
„Trotzdem wäre es nett gewesen.“, beharrte Eara, dann gab sie nach und warf dem Mechanicus den Beutel zu, den sie mitgebracht hatte.
„Was ist darin?“, fragte Hedal gespannt.
„Runensteine aus Andor. Du wolltest sie doch schon lange erforschen.“
Hedal jauchzte begeistert, dann legte er den Beutel behutsam beiseite und widmete sich wieder seiner Arbeit.
„Was baust du gerade?“
Hedal fuhr überrascht hoch und starrte sie überrascht an, scheinbar hatte er ihre Anwesenheit schon vergessen. Dann klärte sich sein Blick und er verkündete stolz: „Ich möchte ein Feuer mittels Zauberei temperieren!“
Mit der Dunklen Magie war es eine der einfachsten Übungen, etwas anzuzünden. Doch die Zauberei war dazu ungeeignet; etwas zu verbrennen zerstörte immer die Ordnung darin. Zu mehr als blauen Flammen, die nur Licht, jedoch keine Wärme spenden konnten, war die Zauberei nicht imstande. Für die Zauberer des Feuers, die sich ihren Namen nicht ohne Grund gegeben hatten, war das ein Beweis, dass die Dunkle Magie der Zauberei überlegen war. Für die Zauberer des Turms zeigte es, dass man manche Dinge einfach per Hand erledigen sollte…
Hedal zog die letzte Schraube an seiner Gerätschaft fest, dann trat er zu Eara und rief: „Illuminiere das Laboratorium!“ Niemand anderes hätte es gewagt, so mit ihr zu sprechen, aber Hedal machte sich über irgendwelche belanglosen Hierarchien nur wenige Gedanken. Also gehorchte Eara seiner Aufforderung und ließ die dunkelblau leuchtende Kugel zwischen den Enden ihres Stabes aufleuchten.
Hadal schnappte sich ihre Hand und hielt sie über die Lichtkugel. „Perzipierst du es?“, fragte er.
„Sie ist warm. Aber das genügt niemals um ein Feuer zu entzünden!“
„Wenn man einen Wassertropfen irgendwo platziert hat, dann ist das darunter extensiv zu erkennen. Jetzt stell dir vor, ich konstruiere so einen Wassertropfen aus Glas …“
„Das betreffende Objekt nennt man Linse. Hedal, auch ich wurde in den Grundlagen der Physik ausgebildet. Ich nehme an, du möchtest das Licht des Stabes mit einer Linse einfangen? Aber das genügt nicht für ein Feuer.“
Hedal sprang vergnügt zum Werktisch. „Oh doch, man muss nur alles aggregieren!“, rief er und hob das Objekt hoch, an dem er gebaut hatte. Es handelte sich um einen halbkugelförmigen Spiegel auf der einen und eine große Linse auf der anderen Seite, alles lückenlos geschlossen, nur unten war ein Loch mit einigen geöffneten Klammern. Hedal steckte das Gerät auf seinen eigenen Stab und holte dann eine andere Erfindung aus seiner Tasche, ein auf einer Seite offenes kupfernes Rohr mit einem Hebel oben. Er hielt das Rohr an die Klammern und zog am Hebel, woraufhin ein Hammerkopf hervorschnellte, die Klammer ein Stück verbog und wieder im Rohr verschwand, ein Vorgang, den Hedal mehrfach wiederholte, bis alle Klammern fest saßen.
Der Mechanicus hob den Stab und richtet die Linse auf Earas Robe. „Nicht bewegen!“, befahl er, dann leuchtete die Linse auf. Hedal ging einige Schritte hin und her, bis auf ihrem Gewand nur noch ein kleiner Lichtpunkt zu sehen war, so wartete er.
Nach einiger Zeit begann ihre Robe zu glimmen und Eara musste schließlich einen Schritt zur Seite machen.
„Nein! Du hast das Experiment annulliert! Warum?“
„Hedal, du hättest fast meine Robe angezündet!“ Der Mechanicus war gelegentlich etwas voreilig. Um die Konsequenzen seiner Handlung machte er sich in der Regel keine Gedanken. Wenn irgendwo ein Knopf mit der Aufschrift Nicht drücken! angebracht wäre, Drücken wäre das erste, was er täte.
„Sie ist dräniert und aus einem entzündlichen Material. Zudem ist sie schwarz, andere Nuancen reflektieren zu exorbitant.“, verteidigte sich Hedal. Er wurde nicht mal rot. Nein, er war nicht bösartig, nicht einmal dumm, nur unbedacht.
„Hattest du nicht den Grundsatz, dass keine deiner Erfindungen als Waffe missbraucht werden können soll?“, fragte Eara nach.
„Aber Eara, man muss kontinuierlich an einer prädestinierten Lokalität stehen und akzidentell auch noch schwarz tragen, um überhaupt etwas zu registrieren.“
Eara schüttelte den Kopf. „Ich spreche nicht von der Linse, sondern von diesem Hammer.“
Hedal blickte überrascht auf das Rohr in seiner Hand. „Das ist mein Federhammer. Hier, der Hebel katapultiert den Hammerkopf an einer Spiralfeder heraus, und sobald er mit einer Barriere kollidiert, öffnet sich hinten eine Klappe und alles wird zurück ins Rohr expediert. Man kann Nägel mit maximierter Rasanz installieren, man muss nur alle zwanzig Schläge die Klappen öffnen und die Feder wieder repetieren. Alle wollen so ein Objekt haben, es ist populär. Ich bin populär! Aber man kann einen Menschen damit nicht besser lädieren als mit einem profanen Hammer, man kann schließlich nur marginal ausholen. Selbst, wenn man den Hammer anspitzt, ist es deutlich komfortabler, jemanden mit einem Messer zu blessieren.“
„Und wenn man den Hammerkopf durch einen Bolzen ersetzen würde?“
Hedal erstarrte. „Aber wer würde so etwas realisieren? Damit wäre die Kreation defekt! Wem wäre ein deplorabler Bolzenwerfer lieber als mein Federhammer?“
Der Mechanicus war einfach zu gut für diese Welt, dachte sich Eara, während Hedal fortfuhr: „Er ist ein Meisterwerk, mechanische Kunst! Wenn man den Hammerkopf durch ein Projektil substituiert, wären die ganzen Klappen geradezu konträr. Es sei denn natürlich, man würde sie zum schnelleren Nachladen verwenden… Aber halt, vorne habe ich einen Haken implementiert, um den Hammerkopf zu blockieren. Der würde dem Projektil die Vehemenz nehmen! Es besteht also kein Risiko!“
Hedal war so glücklich mit dieser Erkenntnis, dass Eara ihn nicht darauf hinwies, dass man diesen Haken auch entfernen könnte. Der Mechanicus drehte sich wieder um und entfernter die Linse von seinem Stab, die Konversation war für ihn wohl bereits beendet.
Als Eara zur Tür des Laboratoriums ging und sie öffnete, stand davor ein alter Zauberer des Turmes und zog entnervt an der Schnur, und sie erkannte, dass sie das Gewicht wieder in die Halterung hätte hängen müssen.
Der Zauberer war Marnus, der Bibliothekar. Von allen Zauberern Hadrias war nur Koraph noch älter, doch Marnus sah man sein Alter deutlicher an. Im Ordenskrieg war seine Frau von einem Zauberer des Feuers ermordet worden, aber der Täter war in den Kämpfen selbst umgekommen. Also richtete sich Marnus´ Hass gegen alle Zauberer des Feuers, gegen generell alle, die Dunkle Magie verwendeten.
Vor vielen Jahren war er Eara wie ein freundlicher Großvater erschienen, nach dem Tod seiner Frau wie ein unendlich trauriger alter Mann, nachdem sie selbst begonnen hatte, Dunkle Magie zu verwenden, wie ein verbitterter Greis.
Bei ihrem Anblick verwandelte sich das von Falten durchzogene Gesicht in eine unfreundliche Grimasse, und Marnus versuchte, an ihr vorbei durch die Tür zu treten. Doch Eara hatte nicht vor, ihn einfach passieren zu lassen, dass sie ihn hier traf, war ein zu günstiger Zufall.
„Marnus! Ich brauche eine Schrift aus der Bibliothek, einen religiösen Text der Missionare, geschrieben von einem Priester namens Themauras. Er handelt von der Schöpfung der Welt durch Mutter Natur. Suche ihn bis morgen für mich heraus!“ Die Möglichkeit, dass der Text des Sehers gar nicht in der Bibliothek zu finden war, erwähnte sie nicht.
Marnus Gesicht verzog sich zu einer verkniffenen Maske der Gehorsamkeit. „Selbstverständlich, Souveränin!“, murrte er, dann drängelte er sich an ihr vorbei, hängte das Gewicht hinter der Tür wieder in die Halterung, und zog die Tür mit einem lauten Knall zu.
Von der anderen Seite konnte Eara noch seine alte Stimme hören: „Hedal, mein Federhammer macht Probleme.“ Anscheinend war die Erfindung doch nicht so ein Meisterwerk, wie der Mechanicus behauptet hatte.

Als Eara wieder in ihre Gemächer kam, war das Abendmahl offensichtlich schon vorbei, denn sie wurde von Gundeyn erwartet. „Gefährliche Gerüchte machen die Runde. Es heißt, du wollest die beiden Zaubererorden vernichten, sie vereinen wie zwei nicht zueinander passende Menschen in einer Ehe, die nur unglücklich enden kann!“
Eara wünschte, sie hätte den beiden Obersten gesagt, sie sollten ihre Pläne noch nicht verbreiten. Zu einem späteren Zeitpunkt, mit entsprechender Vorarbeit, wäre es besser gewesen. Doch vermutlich wäre einem der beiden ohnehin etwas entrutscht. Wer wohl den Vergleich mit dem Ehepaar erfunden hatte? Vermutlich Torven, Variah konnte besser mit Worten umgehen, ihr wäre etwas Bedrohlicheres eingefallen.
„Stimmen die Gerüchte? Und soll ich etwas gegen sie unternehmen?“ Es war äußerst typisch für Gundeyn, diese Frage nicht mit einem oder zu formulieren, für ihn könnten die Antworten auch gut beide Ja lauten.
„Es stimmt! Unternimm nichts, sonst wirken wir später unglaubwürdig. Wie ist die Stimmung?“
„Die Novizen sind größtenteils dafür, von den einfachen Zauberern findet ein Drittel die Idee gut, ebenso viele sind der Meinung, sie sei katastrophal, der Rest ist tendenziell eher dagegen. Die Hohen sind fast alle entsetzt, nur Koraph und Mortol wollen sich noch nicht festlegen und die Hitars sprechen sich offen dafür aus.“
Eara fragte nicht nach, woher ein einfacher Novize wusste, wie die Hohen Zauberer zu dem Thema dachten. „Versuche, die einfachen Zauberer von der Vereinigung zu überzeugen. Ansonsten tue vorerst nichts!“
Gundeyn verbeugte sich zackig und die weite Kutte brachte seine Statur nicht eben vorteilhaft zur Geltung, dann drehte er sich wortlos um und verließ ihre Gemächer. Eara war noch bis spät in die Nacht mit ihren Regierungsgeschäften beschäftigt, bis sie sich schließlich schlafen legte.


Mondhoch, 21. Herbsttag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

In dieser Nacht wurde Eara plötzlich durch etwas geweckt, das wie ein Zerren an ihrem Unterbewusstsein wirkte. Sie schlug die Augen auf und versuchte, die Ursache zu ergründen. Es gab weder verdächtige Geräusche noch sonstige Störungen. Sie setze sich auf und wartete kurz, ohne etwas zu bemerken, dann begriff sie: Es war der Bannkreis, den sie um Varkurs Grab gezogen hatte. Jemand hatte ihn durchbrochen und sandte jetzt unaufhörlich Signale zu ihr. Wenn das irgendein Zauberer war, der sich über ihr Verbot hinwegsetzte, dann hatte er mit einer strengen Strafe zu rechnen. Wenn nicht, dann sollte sie sich besser beeilen…
Rasch griff ihren Stab, warf sich ihre schwarze Robe über und trat in das silberne Viereck, das der Mondschein durch ihr Fenster auf den Boden malte. Sie schloss die Augen, blendete die Signale ihres Zaubers aus und konzentrierte sich. Die diffusen Schlieren, die sie auch im Schlaf stets umgaben, verflüssigten sich, flossen in ihrem Schatten zusammen, wie eine tiefschwarze Pfütze auf dem Boden. Sie konnte sich vorstellen, wie sich der flache Schatten in die Luft erhob, dort kurz schwebte wie ein Scherenschnitt und dann zu einer plastischen Gestalt wurde. Noch immer hielt Eara die Augen geschlossen, doch jetzt verblassten alle Geräusche zu einem fernen Rauschen im Hintergrund. Dann erkannte sie ein farbloses Bild: Sie sah sich selbst, die Haare noch unordentlich vom Schlaf, die Augen geschlossen, im Mondlicht stehend, alles ausschließlich in schwarzweiß. Wie sie da stand, im Licht und doch keinen Schatten werfend, wirkte sie fast schon surreal. Doch sie war jetzt ihr Schatten.
Sie stürzte sich aus dem verglasten Fenster in die Nacht. Von der Kälte bemerkte sie in ihrer jetzigen Form nichts, doch einige durch die Luft trudelnde Schneeflocken glühten weiß im Mondlicht. Dann verschwand das silberne Oval hinter den Wolken und Eara wurde klar, dass sie großes Glück gehabt hatte. Ohne ein natürliches Licht war es nicht möglich, die Dunkle Magie in einem Schatten zu vereinen.
Sie raste durch die Nacht, immer auf das Grabmal zu. Durch die wenigen Bäume in den Gärten flog sie einfach hindurch. Hinter dem Gebüsch, welches am Tage noch die beiden verliebten Zauberer als Versteck genutzt hatten, saßen nun sechs dunkle Gestalten, drei Mäntel schwarz, drei anders schwarz. Eara wusste, dass diese anderen drei braun waren, durch ihre Schattensicht nahm sie die Farben lediglich anders wahr. Was taten je drei Zauberer aus beiden Orden mitten in der Nacht in den Gärten? Eara fand das äußerst verdächtig, doch jetzt war nicht die Zeit, es herauszufinden.

Über Varkurs Grab hatte sich bereits wieder eine dünne Schneedecke gelegt, die allerdings noch unangetastet aussah. Drumherum war der Schnee jedoch komplett zerwühlt, ihr Verbot, das Mahnmal zu besuchen, hatte viel Neugierde ausgelöst. Auch ihr Schatten durchflog die unsichtbare Grenze des Bannkreises und im nächsten Moment wurde sie gewarnt, dass jetzt zwei Wesen mit Verstand in ihrem Zauber waren. Kein Wunder, schließlich befand sich ihr Bewusstsein momentan im Schatten, ihr normaler Körper war vollkommen wehrlos.
Nachdenklich hielt Eara inne. Der Eindringling hielt sich noch immer im Bereich ihres Zaubers auf, doch es war nichts zu sehen. Über den unberührten Neuschnee wäre ein Zauberer auch mittels eines Levitationszaubers gekommen, doch wo wäre er dann? Schließlich wurde ihr klar, dass es nur eine logische Antwort gab und sie schoss nach unten, genau auf die Klappe im Boden zu.
Sie durchstieß sie ohne eine Spur zu hinterlassen. War das die Antwort? War noch ein Schatten eines mächtigen Dunklen Magiers hier? Earas immaterieller Körper flog durch den gekachelten Gang auf die Grabkammer zu. Und tatsächlich, halb im Sarg schwebte eine schattenhafte Gestalt. Ohne zu zögern wandte Eara den wohl anstrengendsten und gefährlichsten Zauber an, zu dem sie imstande war: Den Schattentausch.
Es war ein riskanter Schritt, denn sie war ohnehin nicht mehr im Vollbesitz ihrer magischen Kräfte, doch der Schatten eines fremden Dunklen Magiers könnte ihr nichts anhaben, es sei denn, der Fremde stellte sich ihr. In diesem Fall müsste jedoch auch er diesen Zauber anwenden und wäre, falls es zum Kampf käme, ebenso geschwächt wie sie.
Ihre farblose Sicht verdunkelte sich, gewann mehr Schärfe. Dann sah sie nichts mehr und wäre fast zusammengebrochen. Sie entzündete die dunkelblaue Lichtkugel, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der andere Schatten sich umdrehte. Und erst jetzt erkannte sie ihren Fehler.
Zwei weiße glühende, nadelspitze Punkte. Ein lichtloser Umhang, über einer schwarzen Rüstung in nicht vorhandenem Wind flatternd. Eine bedrohliche Maske, matt schimmernd und von funkelnden Zacken gekrönt.
„Eara! Sei gegrüßt, meine teure Feindin!“, rief der Schwarze Herold in dröhnendem Bass, der laut von den gekachelten Wänden widerhallte.
Die Dunkle Magierin verschwendete keine Zeit mit einer Antwort. Sie streckte ihre linke Hand gespreizt nach vorne und von den Wänden lösten sich die schwarzen Kacheln, schossen rasend schnell durch die Gestalt des Schwarzen Herolds, ohne den geringsten Schaden anzurichten.
„Ach Eara, das hatten wir doch schon! Ich stärke eure Feinde, dann besiegt ihr sie trotzdem, anschließend könnt ihr mich nicht verletzen und ich euch nicht. Doch glücklicherweise sind diese Zeiten nun vorbei. Ich bin noch immer unverwundbar, aber ihr seid es nicht länger! Ich besitze eine Macht, die mir früher nicht zu eigen war.“ Der Schwarze Herold erhob sich aus dem Sarg und schwebte in die Luft darüber.
Eara drehte ihre offene Hand und die Kacheln prasselten zu Boden. Dann presste sie ihre Fingerspitzen aufeinander und die Luft um den Schwarzen Herold entwich. Das künstliche Vakuum beeindruckte ihn nicht.
„Was ist, willst du mir nicht anbieten, Gnade walten zu lassen, wenn ich mich jetzt ergebe? Willst du nicht die ehrenhafte Heldin spielen? Nicht von Gerechtigkeit faseln?“
Eara ballte ihre Hand zur Faust und aus der Spitze ihres Stabes schoss eine kleine Kugel aus Feuer auf den Schwarzen Herold zu. Ehe sie ihn erreichte, verpuffte sie allerdings einfach wirkungslos. Magisches Feuer benötigte kein Brennmaterial, war aber immer noch auf Sauerstoff angewiesen.
„Ich verrate dir ein kleines Geheimnis.“, verkündete der Schwarze Herold. „Es gibt keine Gerechtigkeit. Nur Rache!“
Eara ließ die Luft wieder zurückströmen und schickte probehalber einen weiteren Feuerball zum Schwarzen Herold. Als er einfach ohne Widerstand hindurchflog, stellte sie ihre fruchtlosen Versuche, den Herold zu besiegen, ein.
„Klug erkannt. Allerdings etwas spät!“ Mit diesen Worten hob der Herold seine gepanzerte Faust und zwischen den Fingern drang ein blaues Glühen hervor, das sich immer mehr verstärkte. Es erfüllte den ganzen Raum … und erlosch. „Wo ist eigentlich Chada? Sitzt sie schon auf dem hölzernen Thron der Rietburg? Trägt sie bereits die Rietgraskrone? Oder … wahrscheinlich wäre es deutlich gerechter, wenn diese Ehre nicht bei einer Person bleibt, nur weil ihr Vater zufälligerweise König war. Immerhin seid ihr alle offiziell Fürsten von Andor. Was ist, teilt ihr euch die Krone?“
In diesem Moment bemerkte Eara die beiden kleinen Gegenstände, die vor dem Schwarzen Herold in der Luft schwebten: Ein goldenes Haar und ein kleiner Knochen.
Das Wort Geister war schon immer mehrdeutig, da auch die Elementargeister dieser Welt so bezeichnet werden. Eindeutiger ist das Wort Gespenst oder Svrattor. Svrattar besitzen den Gerüchten nach keine feste Gestalt und können durch Gegenstände oder gar massives Erdreich einfach hindurch, physische Gewalt vermag ihnen ebenso wenig zu schaden wie Zauberei. Auch sie selbst können auf ihre Umwelt nur indirekt Einfluss nehmen. Sie sollen in der Lage sein, kleine und leichte Gegenstände telekinetisch zu beeinflussen oder ihnen zeitweise die Materie zu rauben. Dies kann sowohl geschehen, um anderen zu helfen, als auch, um ihnen Schaden zuzufügen.
Wer hätte gedacht, dass Torvens Lektion aus ihrer Zeit als Novizin ihr eines Tages noch nützlich sein könnte. Es war unmöglich, einen Svrattor direkt zu verletzen. Aber warum war der Schwarze Herold wohl hier? Es ging ihm um einen Knochen von Varkur, deshalb hatte er zur Hälfte im Sarg geschwebt! Und auch wenn der Geist selbst unzerstörbar sein mochte, ein Haufen Knochen war das nicht.
Eara ballte ihre Hand erneut zur Faust und zwei gut gezielte Murmeln aus Glut verließen die Spitzen ihres Stabes. Sie flogen zu schnell auf den Schwarzen Herold zu und verbrannten Knochen und Haar sofort zu Asche.
„Nein!“, kreischte der Schwarze Herold zornentbrannt auf. Während Eara erneut eine Faust bildete, senkte der Schatten sich zurück in den Sarg. In dem Moment, in dem der gigantische Feuerball aus ihrem Stab auf den Basaltsarg zuschoss, hatte der Schwarze Herold ihn erreicht. Der Feuerschein spiegelte sich in der schwarzen Maske und ließ sie unheilvoll aufleuchten. Der Herold zog seine Hand einfach durch den Stein und hatte sofort einen kleinen Knochen darin, der halb transparent wirkte. Im nächsten Moment schlug der das Feuer ohrenbetäubend auf den Sarg auf und verwandelte ihn in ein Krematorium. Der Schwarze Herold flog gemächlich nach oben und verschwand durch die Decke, den durchscheinenden Knochen in der Hand und Eara Abschiedsworte zubrüllend.
Dann war er verschwunden und die Grabkammer wurde zu einem glühenden Inferno. Die Wucht des Feuerballs verursachte eine gewaltige Explosion, die sich rasend schnelle ausbreitete. Die Kacheln an den Wänden schmolzen, der Boden dampfte, Flammen leckten am zerberstenden Basaltsarg hoch und eine gewaltige, rot glühende Walze schob sich auf Eara zu, fauchend wie ein monströses Raubtier. Mit letzter Kraft wirkte Eara einen Schutzzauber um sich, dann hatten die Flammen sie erreicht. Und die Anstrengung der letzten Tage, die beschleunigte Reise nach Hadria, der Mangel an Essen und Schlaf, der Bannkreis um Varkurs Grab und der kräftezehrende Schattentausch forderten nun unbarmherzig ihren Tribut. Eara wankte und verlor dann das Bewusstsein, die letzten Worte des Schwarzen Herolds noch im Ohr: „Ich habe leider noch eine Verabredung. Aber sei unbesorgt, dich vergesse ich nicht!“