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Story: Der Ewige Rat

H - Die Himmelssäule

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:19

H – Die Himmelssäule

Morgendämmerung, 8. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See nördlich von Thakkum, Stürmischer Ozean

Ken Dorr lehnte im Bug an der Reling des Schiffes und blickte nach Osten, in Richtung der aufgehenden Sonne. Der Dieb lächelte friedlich, doch Drukil spürte die Verderbnis, die von ihm ausging. Er war gefährlich, das wusste er. Kurz berührte er das Schwert, das die Bewahrer ihm vor ihrem Aufbruch gegeben hatten. Und nicht nur ihm: Auch Ken Dorr durfte nun eines tragen. Drukil hatte protestiert, aber die anderen waren der Meinung gewesen, der Dieb habe unter Beweis gestellt, dass er ihnen nicht mit Waffengewalt in den Rücken fallen werde. Drukil war sich da nicht so sicher. Er würde wachsam bleiben.
Eara trat an Deck, gefolgt von Leander und Chada. Die Magierin hatte nicht nur ihren neuen Stab dabei, sondern auch einen großen Beutel. Sie speisten immer an Deck, wenn das Wetter es erlaubte. In der beengten Kajüte war es verdammt ungemütlich, außerdem konnte so auch die Person am Steuer mit ihnen essen.
Zu viert setzten sie sich um Thorn, der die letzten Stunden am Steuer verbracht und auf Ken Dorrs Rufe gehört hatte. Der Dieb behauptete, sich recht gut mit der Seefahrt auszukennen, da er einige Jahre in Werftheim gelebt hatte und sein Onkel angeblich sogar Kapitän gewesen war. Leider schien die Geschichte zu stimmen, und so sehr es Drukil auch wurmte, Kens Anweisungen zu folgen, er musste zugeben, dass er sich geschickter anstellte als Chada und Thorn bei ihrer letzten Fahrt an Bord der Aldebaran II.
Auch jetzt blieb Ken Dorr im Bug stehen. Da sie durch ihnen unbekannte Gewässer fuhren, hatten sie vereinbart, dass immer jemand auf Hindernisse achtete, auch wenn Leander behauptete, der Stürmische Ozean sei deutlich tiefer als das Hadrische Meer. Diese Worte hatten Drukils Abneigung gegenüber dem Salzigen Wasser nicht gerade vermindert. Aber er hatte kein Problem damit, dass Ken Dorr heute nicht mit ihnen essen würde.
Drukil nahm skeptisch die Vorräte entgegen, die Eara ihm hinhielt. Es waren die Früchte des Baumes der Lieder, von denen die Bewahrer nach der Herbsternte noch große Mengen übrig gehabt hatten. Sie erinnerten Drukil an übergroße Apfelnüsse, allerdings war ihre Schale ungleich härter und im Inneren war kein nussiges Fruchtfleisch, sondern ein zähflüssiger weißer Saft, der süß und klebrig wie Honig war und erstaunlich gut sättigte. Der Bär hatte ihre neuen Vorräte sofort gemocht, doch Drukil blieb misstrauisch. Ein Baum sollte keine Früchte produzieren, aus denen niemals etwas keimen konnte. Auch wenn sie stets frisch waren, waren ihre Vorräte noch toter als die Frucht, nach der sie suchten. Drukil runzelte die Stirn. Noch toter? Konnte man das sagen?
„Eintrag ins Logbuch: Elfter Morgen ohne Vorkommnisse.“, rief Thorn aus vollem Halse. Die halbe Nacht am Steuer schien ihn kaum ermüdet zu haben. „Der Stürmische Ozean scheint seinen Namen zu Unrecht zu tragen. Die einzige Plage ist die Langeweile. Die gemeinen Matrosen speisen zu den Füßen des stolzen Kapitäns …“
Drukil stöhnte. Wenn Thorn am Steuer wachte, führte er sich immer auf wie ein großer Entdecker. „Woher weißt du überhaupt, dass wir diesen Stürmischen Ozean schon erreicht haben?“, unterbrach Drukil ihn.
Thorn blinzelte und überlegte eine Weile. „Merrik hat von neun Tagesreisen gesprochen, und die sind vorbei.“, erwiderte der Krieger kleinlaut. „Außerdem … weiß Leander dazu sicher noch mehr.“
Der Seher lächelte dünn und leckte sich noch etwas weißen Saft von seinen Lippen, ehe er antwortete: „Das Wasser ist tiefer, aber zugleich spürbar wärmer. Die glaubwürdigste Theorie erklärt die hohe Temperatur mit vulkanischer Aktivität am Meeresgrund. Außerdem haben wir, wenn ich euren Aussagen glauben schenken kann, die Küste des Wachsamen Waldes endgültig hinter uns gelassen.“
Der Seher deutete zu der weit entfernten Küstenlinie im Süden. Mit dem Fernrohr konnte man schwarze Klippen vor einer nebelverhangenen Steppe erkennen, aber keine Bäume.
„Wir sind also im Stürmischen Ozean.“, knurrte Drukil. „Aber von der Himmelssäule keine Spur. Euer Freund hat gesagt, wir müssen uns nur in Küstennähe halten, dann stoßen wir darauf. Wir haben nichts gefunden. Wahrscheinlich ist sie schon wieder verschwunden. Ich glaube, wir verschwenden hier unsere Zeit.“
„Und ich glaube, du willst gar nicht, dass wir die tote Frucht finden. Ich glaube, du bist einfach nicht bereit, einen Plan umzusetzen, den Ken Dorr entwickelt hat.“, entgegnete Eara kühl. „Deine Aversion mag begründet sein, aber sie ist hinderlich.“
Drukil funkelte die Magierin finster an. Sie erwiderte seinen Blick ungerührt und in ihren dunkelblauen Augen lag etwas, das Drukil erschaudern ließ. „Wir sollen in siebzehn Tagen wieder bei den Zwergen sein.“, erwiderte Drukil. „Allein der Rückweg verschlingt elf Tage, und einen weiteren für jeden, den wir jetzt noch nach Osten segeln. Wenn dann auch noch ein Sturm kommt, der uns weiter nach Osten treibt, verpassen wir dieses Sternbild und damit unsere einzige Chance, zum Ewigen Rat zu gelangen.“
Er hatte sie fast so weit! Zumindest Chada und Thorn blickten sich zweifelnd an, und sogar Leander hatte sein Lächeln verloren. Nur Eara ließ wie immer keine Regung erkennen.
„Leander, wie groß ist der Stürmische Ozean?“, fragte Chada verhalten.
„Unmöglich zu sagen. Die Barbaren waren nie große Seefahrer und die Entdecker von den Nebelinseln sind nicht weit genug nach Osten vorgestoßen, um ein Ende festzustellen. Er könnte theoretisch unendlich groß sein. Zumindest wenn man die Hinweise ignoriert, die darauf hindeuten, dass unsere Welt wie eine Kugel geformt ist.“
Drukil versuchte, nicht weiter über den letzten Satz nachzudenken.
„Der bekannte Teil des Stürmischen Ozeans jedenfalls misst etwa siebentausend Quadratmeilen. Aber wenn wir bedenken, dass die Himmelssäule angeblich von der Küste aus sichtbar ist, schrumpft diese Fläche um ein gutes Stück zusammen.“
Chada säbelte langsam ihre Frucht auf. „Das klingt trotzdem nach … viel.“
„Ich glaube, Ken Dorr möchte uns etwas mitteilen.“, bemerkte Eara plötzlich.
Drukil drehte verärgert seinen Kopf. In der Tat ruderte der Dieb aufgeregt mit den Armen, winkte sie zu sich und deutete mit seinem Fernrohr nach Nordosten. „Da ist sie!“, rief er ihnen zu. „Die Himmelssäule! Ich kann sie sehen!“
Drukil unterdrückte einen Fluch.

Es dauerte einige Herzschläge, bis auch er sie erspähte. Der Seegang erschwerte es, das Fernrohr ruhig zu halten und sie war kaum mehr als ein dünner weißer Strich, der neben dem viel zu hellen Sonnenlicht verblasste und irgendwann mit den Wolken verschmolz. „Kümmerlich“, murrte er. „Ich hätte mir dir Birke beeindruckender vorgestellt!“
„Aber sie ragt wirklich schnurgerade bis in den Himmel?“, fragte Leander neugierig.
„Ja. Bis in die Wolken.“
„Merkwürdig.“, murmelte der Seher versonnen. „Das hätte ich für eine Übertreibung gehalten.“
„An die Leinen, Männer!“, rief Möchtegernkapitän Thorn euphorisch. „Ähm, und Frauen. Die Nacht ist vorüber, wir können wieder volles Segel setzen. Ich möchte bis heute Abend dort sein!“


Später Nachmittag, 10. Wintertag 77 A.Z.
Westlich der Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Letztendlich mussten sie doch noch zwei Nächte auf dem Schiff verbringen. Am Abend war es eben erst möglich gewesen, die Himmelssäule auch mit bloßem Auge zu erkennen. Am folgenden Tag schien sie über die Stunden kaum näherzurücken und ragte bei Sonnenuntergang noch immer in weiter Ferne auf, während die Besatzung der Aldebaran II langsam begriff, wie riesig sie wirklich war.
Erst jetzt, fast einen weiteren Tag später, konnte Drukil das Fundament der Himmelssäule erkennen. „Das ist keine Birke, die ins Meer wächst.“, murrte er Leander zu, der neben ihn an der Reling lehnte. „Da ist eine schwarze Insel mit einem schwarzen Berg, der Wolken spuckt.“
„Ein Vulkan.“, erwiderte Leander. „Wie zu erwarten war. Sie ließen Flammen vom Himmel regnen und die Erde erbeben, die ganze Insel ächzte und versank dann in den eisigen Tiefen des Meeres.
Drukil wusste nicht, was ein Vulkan war, aber er schämte sich seiner Ahnungslosigkeit. „Wenn die Insel versunken ist, warum ist sie dann jetzt wieder oben?“, fragte er stattdessen.
„Im Feuer liegt große Kraft. Die Schildzwerge forschen an Maschinen, die über Dampf betrieben werden. Man füllt Wasser und Steinkohle in große Kessel und sie setzen sich in Bewegung. Mag sein, dass das Feuer unter unseren Füßen genügt, um auch eine Insel anzuheben.“
Drukil sah nach unten. Unter seinen Füßen waren nur die hölzernen Planken des Schiffes und dann das Salzige Wasser. Wo bildete Leander sich Feuer ein?
„Und warum gerade alle fünfhundert Jahre?“, fragte er.
Leander lächelte erwartungsvoll. „Das ist das Rätsel, das zu lösen wir hierhergekommen sind.“

Als sie der Himmelssäule noch näher kamen, erlosch plötzlich der Wind, der sie bisher nach Osten gebracht hatte. Das große Segel hing schlaff herab und sogar der grüne Wimpel am Mast regte sich kaum noch.
„Deshalb!“, rief Leander mit diebischer Freude. „Deshalb ragt der Rauch bis in den Himmel! Es weht kein Wind, der ihn auflösen könnte.“
„Das ist kein Rauch.“, merkte Eara an. Sie stellte sich zu ihnen an die Reling und der Bär in Drukil kauerte sich wimmernd zusammen. „Es ist Wasserdampf. Irgendwo muss eine Verbindung vom Meer in den Krater bestehen.“
Drukil legte den Kopf in den Nacken und betrachtete der Himmelssäule. Inzwischen sah sie überhaupt nicht mehr wie eine Birke aus. Sie war breit und uneben.
„Genug geredet!“, rief Thorn ihnen zu, der sich schon wieder ans Steuer gestellt hatte. „Es weht kein Wind mehr, das Segel muss runter!“
„Diese Flaute ist nicht natürlichen Ursprungs. Von alleine kommen wir nicht weiter.“, antwortete Eara ruhig. „Ich werde einen Wind entfachen.“ Die Magierin starrte auf ihre neue dunkle Hand, die sie aufs Holz gelegt hatte, und holte tief Luft. Dann schloss sie die Augen und hob ihren schwarzen Stab.
„Halt!“, schrie Drukil hastig und deutete schnell aufs Wasser. „Die Strömung zieht uns genau zur Himmelssäule.“, knurrte er. „Wir brauchen die Dunkelheit nicht.“
Eara besah sich blinzelnd die Wasseroberfläche und nickte dann langsam. In ihren kalten Augen glänzte etwas, das Drukil erst nicht zuordnen konnte. Erleichterung?


Frühe Nacht, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Kaum war die Aldebaran II an einem Felszacken unmittelbar vor dem Ufer vertäut, sprang Drukil von Bord. Das Salzige Wasser war so warm, dass er sich fast verbrühte, doch nur knietief. Als seine Stiefel auf den schwarzen Sand trafen, wankte er kurz. Es war ungewohnt, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ungewohnt, aber irgendwie beruhigend.
„Wohin jetzt?“, fragte Thorn, nachdem sie alle an Land gewatet waren und ihre Stiefel ausgeleert hatten. Sie standen im Schatten des Berges auf einem kahlen Strand aus pechschwarzem Sand, der sich in beide Richtungen erstreckte und irgendwann hinter dem dunklen Fels verschwand. „Einmal die Insel umrunden?“
Chada kniff in der Dunkelheit die Augen zusammen und blickte die bedrohlich anmutenden Bergflanken hoch. „Lasst uns erst den Gipfel besuchen. Falls wir dort oben nichts finden, können wir immer noch den Strand entlang wandern.“
Der dunkle Stein war vom Wasser so glattgeschliffen, dass sich die Sterne verschwommen darin spiegelten. Kurz versuchte Drukil, das Sternbild zu finden, das ihnen den Weg zum Herold öffnen würde. Leander sagte, zwei der fünf Sterne standen bereits in einer Reihe, doch Drukil fand sie nicht.
Da der Berg flach anstieg, war der Aufstieg leicht zu bewältigen. Die Luft war so warm, dass ihre Kleider auf dem Weg nach oben von alleine trocken wurden. Anfangs sah Drukil nur schwarzen, glatten Stein und grauen Sand, auf dem lediglich einige abgestorbene Algen lagen. Doch als sie den leblosen Strand hinter sich gelassen hatten und sich langsam zum Gipfel des Berges aufmachten, entstand sogar fast so etwas wie Vegetation. Es waren nur magere Kräuter, die die allgegenwärtige Hitze ertrugen und denen die Überreste der Wasserpflanzen zum Wachsen genügten. Bäume fanden sie keine, schließlich hatte dieses Eiland angeblich die letzten fünfhundert Jahre unter Wasser verbracht. Dennoch war der Bär beruhigt, nicht auf einer vollkommen toten Insel umherzuwandern und regte sich trotz des Vollmondes kaum in ihm.
Je näher sie dem Gipfel und damit der eigentlichen Himmelssäule kamen, desto heißer und schwüler wurde es, bis die Kraxelei zur Tortur verkam. Drukil kämpfte sich vorwärts. Er hoffte auf einen kühlen Wind, bis er sich der merkwürdigen Windstille rund um die Insel erinnerte. Tatsächlich erwarteten ihn, als er den Gipfel erreichte, nur drückende Hitze, der Gestank von faulen Eiern und ein großes Loch.
Die Himmelssäule drang aus einem unregelmäßig geformten Abgrund von vielleicht dreißig Schritt Durchmesser hervor. Sie war eine wabernde, sich ewig wandelnde Wolke, die im Mondlicht silbern leuchtete. Ein Abstand von zwei Schritt lag zwischen ihr und dem steilen Kraterrand. Aus der Tiefe drang ein schwaches rotes Glühen und als Drukil vorsichtig seinen Arm über den Rand hielt, meinte er, seine Haut müsse verbrennen, so heiß war die Luft.
Eara trat unbeeindruckt direkt an den Krater und lugte hinunter. Drukil behielt Ken Dorr im Auge, falls der Dieb auf die Idee käme, sie hinunterzustoßen. „Der Wasserdampf versperrt die Sicht auf alles, was dort unten sein könnte. Aber die tote Frucht finden wir hier oben sowieso nicht. Vielleicht wurde sie am schwarzen Strand angespült.“
Drukil musterte besorgt die aufsteigenden Wolkenfetzen. „Die Strömung, die unser Schiff zur Insel gezogen hat, kommt von dem Wasser, das im Berg verschwindet und die Himmelssäule formt? Müsste diese Strömung dann nicht auch die tote Frucht dort hineingezogen haben?“
Ken Dorr riss seine grauen Augen auf, aber Eara zuckte nur mit den Achseln. „Wenn sie wirklich in den Vulkan gefallen ist, ist nichts mehr von ihr übrig, das wir finden könnten. Schauen wir erst einmal, was der Strand zu bieten hat.“
Schweigend traten sie den Rückweg an. Die Hitze und die öde Umgebung drückten ihnen allen aufs Gemüt, sodass Drukil fast froh war, als sie wieder am schwarzen Strand ankamen. Dann bemerkte er, dass er nicht länger schwarz war. Der Sand schillerte bunt im Licht des vollen Mondes, der inzwischen weitergewandert war. Drukil beugte sich hinab und hob eine Handvoll des bunten Sandes an. Er war so fein, dass er durch seine Finger rieselte, aber darin war ein fingernagelgroßes Etwas verborgen. Behutsam befreite er es vom schillernden Sand. War das ein winziges Ei? Er rollte die schwach durchsichtige Kugel zwischen seinen Fingern und hielt sie gegen das Mondlicht. Kein Ei! Drukil konnte darin nichts erkennen, was eines Tages ein neues Leben formen könnte. Am ehesten wäre dieser Stein mit einem kleinen Bernstein zu vergleichen, bloß dass er nicht goldgelb, sondern hellgrün schimmerte. Als Drukil ihn mit seinen Händen abschirmte, stellte er überrascht fest, dass er für kurze Zeit noch ein schwaches grünes Licht abgab.
Die anderen waren bereits aufgebrochen, um den gesamten Strand abzulaufen. Unwillkürlich hatten sie den Weg nach Süden gewählt, zum Mondlicht hin. Den seltsam schillernden Sand hatten sie entweder noch nicht bemerkt oder sie dachten sich nichts dabei. Kurz zögerte Drukil, dann hockte er sich hin und ließ die anderen weiterlaufen. Allzu groß war die Insel ja nicht. Er buddelte im Sand und förderte noch weitere der leuchtenden Steine zutage. Einige glühten grün wie der, den er zuerst gefunden hatte, andere rot oder blau. Der größte Stein, den er ausfindig machen konnte, war blau, fast so lang wie sein Daumen und auch ähnlich geformt. Wenn er vom Mondlicht abgeschnitten wurde, konnte er noch deutlich länger weiterglühen als die kleineren Exemplare. Das bedeutete dann wohl, dass zu kleine Steinchen im Dunkeln fast gar nicht nachglühen würden…
Er legte sich etwas Sand auf seine Handfläche und hielt sie ins Licht. Bei weitem nicht jedes Sandkorn glänzte rot, grün oder blau, aber gewiss der dritte Teil. Er schüttelte den Sand ab und stand auf. Er hatte schon viel zu lange getrödelt, es wurde Zeit, seinen Freunden von seinen Erkenntnissen zu berichten. Vielleicht konnte er es sogar so einrichten, dass Ken Dorr nichts davon mitbekam.
Er eilte den Strand entlang und seine Besorgnis wuchs, als er den schwarzen Berg fast zur Hälfte umrundet und sie noch immer nicht eingeholt hatte. Auf der Ostseite ging der Strand zurück und es gab steile Vorsprünge von bis zu drei Schritt Höhe. Bald hätte er ins heiße Wasser steigen müssen, um weiterhin auf Sand zu laufen, also kletterte er stattdessen ein paar Schritt höher. Der Berg war hier steiler, aber der Fels war deutlich rauer und bot besseren Halt.
Sollte er nach ihnen rufen? Ehe Drukil sich entscheiden konnte, lief er um einen Zacken und entdeckte sie nur wenige Schritt vor sich auf der Klippe stehen. Entsetzt bemerkte er, dass sie im Halbkreis um einen reglosen Körper standen. Hastig überprüfte Drukil die Gestalten. Thorn, Chada und Eara drehten ihm den Rücken zu und Leander stand mit dem Gesicht zu ihm, ohne ihn bemerkt zu haben. Es ging ihnen allen gut! Erleichterung durchflutete ihn. Wer auch immer da zwischen ihn lag, es war keiner von ihnen. Leider auch nicht Ken Dorr, der Dieb stand am Rand der Klippe und starrte wütend auf das Ding.
„Nun, das war nicht Drukil.“, rief Thorn resigniert.
„Ich bin hier!“, machte der Hautwandler auf sich aufmerksam und trat neugierig näher. Jetzt erst erkannte er, dass der Körper zwischen ihnen nur dem ersten Anschein nach einem Menschen gehörte. Wenn man die Stacheln am Rückgrat und den Unterarmen nicht bemerkte, mochte man den nackten Oberkörper trotz der grünstichigen Hautfarbe einem Menschen zuordnen. Ab der Hüfte jedoch ging die Haut in einen schlangenartigen Unterleib mit grünen, fischähnlichen Schuppen und einem Stachelkamm über, und oberhalb des Halses fielen neben den beiden stoßzahnähnlichen, aus dem Hinterkopf ragenden Sicheln und dem flachen Gesicht mit zu breitem Mund und leeren gelben Augen vor allem die glitschigen Tentakel auf, die Haare und Bart ersetzten. Neben dem toten Wesen lagen zwei seltsam gezackte Klingen aus einem Drukil unbekannten Material in einer Lache aus dunklem Blut.
„Drukil! Wo warst du?“, rief Chada, eine Mischung aus Zorn und Erleichterung in ihrer Stimme. „Wir dachten, du wärest schon vorgelaufen.“
„Im Gegenteil.“, brummte er und musterte die erfreuten Gesichter der anderen. Ken Dorrs Lächeln wirkte in keiner Weise erzwungen, was für Drukil der Beweis war, dass jedes seiner Lächeln nur vorgetäuscht war. „Was ist das für ein Vieh?“
„Du weiß nicht, wie ein Nerax aussieht?“, entgegnete Ken Dorr. Drukil war sich nicht sicher, ob der Dieb belustigt oder nur verblüfft war.
„Ach, ein Nerax.“, erwiderte er und versuchte, sich seine Unwissenheit nicht anmerken zu lassen.
„Ja! Diese verdammten Kreaturen sind einfach überall!“, sagte Ken Dorr zu niemand bestimmtem. Abscheu lag in seinen grauen Augen. „Ich wünschte, sie wären ausgerottet! Gors, Skrale, Trolle, Nerax … wenn es nach mir ginge, könnten sie alle verrecken! Endlich Frieden für die Menschheit!“
„Wenn die Angriffe der Kreaturen uns nicht geeint hätten, würden wir uns doch nur gegenseitig bekriegen.“, behauptete Leander. Er lächelte traurig. „Nur die Toten haben Frieden. Und was du dir wünschst, Ken Dorr, ist ein Völkermord unbeschreiblichen Ausmaßes. Ich möchte nicht sagen, dass die Welt ohne die Kreaturen ein schlechterer Ort wäre. Aber gewiss wäre sie ärmer. Die Nerax etwa sind ebenso intelligent wie Menschen. Sie haben eine eigene Sprache und Schrift, eine eigene Kultur, sie haben unterseeische Gebäude und Kunstwerke hinterlassen, es wurden sogar Tempel gefunden, die von ihnen erbaut wurden, gewidmet ihrem Gottkönig Warx. Die Nerax sind blutrünstig, gnadenlose Jäger, verachten alle, die nicht zu ihnen gehören … Im Grunde sind sie also genau wie wir.“
„Das stimmt nicht, Leander!“, empörte sich Thorn. „Auch Menschen und Zwerge haben ihre Schwächen, aber wir sind nicht wie die Kreaturen.“
„Ein Frieden mit den Geschuppten ist unmöglich.“, ergänzte Ken Dorr. „Es bleibt eine hypothetische Überlegung, aber wenn ich sie alle vernichten könnte, dann würde ich es tun.“
Drukil platzte der Kragen. „Das wäre falsch!“, schnauzte er den Dieb an. „Sie sind auch Teil dieser Welt. Und anders als die Krahder verleugnen sie nicht ihre Natur, sondern gehorchen ihr einfach.“
Ken Dorrs Augen verengten sich. „Das macht es nicht wirklich besser. Die Andori erzählen sich noch heute Geschichten über die Zeit, ehe der Unterirdische Krieg entbrannte, ehe die Kreaturen der Tiefe ins Drachenland kamen und die wenigen Menschen terrorisierten. Damals streiften die Wölfe durch das goldene Land, die Bewahrer hatten nur mit vereinzelten Trollen zu kämpfen und kaum einer musste fürchten, schon den nächsten Tag nicht mehr zu erleben. Dann erschienen plötzlich Heerscharen von Gors, Skralen, Wardraks … und alles änderte sich. So viel wurde zerstört, weil nichts und niemand darauf vorbereitet war.“
„Sie gehören nicht hierher.“, gab Drukil zu. „Hier gefährden sie das natürliche Gleichgewicht. Aber ihr habt mir von diesem Ort namens Krahal berichtet. So schrecklich es auch ist, dass Kreaturen von dort hierher gekommen sind, es wäre ebenso schrecklich, wenn sie dort fehlen würden.“ Drukil konnte seine Gewissheit nicht erklären. Er wusste, dass die Kreaturen hier, in der Obenwelt, großen Schaden angerichtet hatten. Aber er spürte, dass kein System bestehen konnte, das von sich aus im Ungleichgewicht war. Wenn die Kreaturen über Jahrtausende hinweg in Krahal gelebt hatten, würde ihre plötzliche Vernichtung eine riesige Lücke reißen. Sie gehörten dorthin. Und die Kreaturen, die schon immer hier gelebt hatten, mussten auch weiterhin hier leben. „Und es wäre erst recht falsch, die Trolle auszulöschen. Sie verhindern, dass es zu viele Wildtiere gibt, die sonst die Wälder kahlfressen. Oder zu viele Menschen.“
Alle Spannung fiel von Ken Dorr ab. Nun wirkte er nur noch müde. „Du hast die Trollkriege nicht erlebt, Drukil.“, flüsterte er. „Du hast die verbrannten Dörfer nicht gesehen, nicht die Felder voller Leichen, über denen sich die Krähen sammelten, nicht die Gebrochenen – so nannten wir die Wenigen, die aus den Vorratskammern der Trolle befreit werden konnten. Du hast nicht das Blut gesehen, das die Narne rot färbte. Du hast nicht das Brüllen gehört, das eine Kriegshorde vor dem Angriff auf wehrlose Gehöfte ausstieß. Weil wir die Trollkriege gewonnen haben und weil es heute keine Kriegshorden mehr gibt. Du kannst nicht davon sprechen, wie wichtig das natürliche Gleichgewicht ist, wenn du nicht wenigstens einen kleinen Bruchteil der Opfer dieses Gleichgewichts gekannt hast. So viel ging verloren.“
Ken Dorrs Augen glänzten leicht. Sie waren Drukil selten weniger kalt vorgekommen. Sicher, der Dieb war verdorben, von Eigennutz zerfressen und von widernatürlicher Hexerei berührt. Aber womöglich erinnerte er sich jetzt einer Zeit, in der er noch ein anderer, ein Besserer gewesen war. Auch wenn Ken Dorr noch – wieder – am Leben war, vermutete Drukil, dass er ebenso ein Opfer dieser Kriege war wie die Felder voller Leichen. Zum ersten Mal verspürte er Mitleid mit dem, der Ken Dorr einst gewesen sein mochte.
„So faszinierend diese Überlegungen auch sind, mich würde interessieren, woher dieser Nerax kam.“, warf Eara ohne ein Anzeichen von Betroffenheit ein. „Er hat sich plötzlich von dort oben auf uns gestürzt.“ Sie deutete mit ihrer dunklen Hand den Berg empor. „Doch was wollte er überhaupt dort? Im Wasser gibt es Fische, aber auf einem fast toten Berg? Er muss einen Grund gehabt haben, sich dort aufzuhalten, und da ihr den Nerax so voreilig erschlagen habt, müssen wir wohl selbst suchen.“
Ohne ein Antwort abzuwarten, schritt sie sicheren Trittes die Bergflanke hoch. Eine Kugel aus dunkelblauem Feuer entflammte zwischen den drei gewölbten Spitzen ihres schwarzen Stabes und erhellte die Umgebung.
Ohne den Nerax wären sie wohl daran vorbeigelaufen, dem suchenden Auge jedoch konnte sich das gezackte Loch nicht lange entziehen. Es wurde von einem großen Vorsprung in tiefe Schatten getaucht, war kaum mehr als mannshoch und sah aus, als sei etwas mit brachialer Gewalt in den Berg eingedrungen. Oder daraus ausgebrochen…
Da Earas Zauber Licht spendete, kletterte sie als erstes hinein. Drukil hingegen wartete, bis auch Ken Dorr hinabgestiegen war. Keinesfalls würde er dem Dieb den Rücken zuwenden! Erst als die Gestalt Ken Dorrs fast verschwunden war, schenkte er der toten Insel einen letzten sehnsüchtigen Blick und trat in die stickige Dunkelheit.


Mondhoch, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Aus den Wänden ragten spitze Zacken, die unheimliche Schatten warfen, wenn Earas Licht nicht gerade vom schwarzen Fels verschluckt wurde oder hinter einer der vielen Windungen des gezackten Ganges verschwand. Diesen Weg hatte nicht das Wasser geformt, aber auch keine Werkzeuge oder Tiere. Es schien, als habe der Berg sich einfach entschieden, an dieser Stelle auseinanderzubrechen. Der Boden dagegen war glatt genug, dass wohl auch ein Nerax sich hier entlangschlängeln könnte.
Sie mussten sich nicht lange durch die Dunkelheit zwängen. Schon nach kurzer Zeit erstrahlte vor ihnen ein kaltes weißes Licht, dessen Quelle sich ihnen erschloss, nachdem sie um eine weitere Ecke traten: Ihr Weg mündete in einen kreisrunden Gang, der schnurgerade durch den Berg führte wie ein riesiger Schlauch. Die Wände bestanden aus dem allgegenwärtigen schwarzen Stein, der Boden und die Decke hingegen glühten blendend weiß.
„Was ist das?“, hauchte Chada. Ihr Gesicht schimmerte blass im kalten Licht. Vorsichtig kletterte sie noch vor Eara aus dem Spalt in den abschüssigen Gang, kniete sie sich hin und betrachtete den Boden. „Glas?“
Drukil geduldete sich, bis die anderen hindurch waren, dann presste er sich durch den Riss in der runden Wand und sah den Gang hinauf und hinunter. Nach oben endete der Korridor an einer großen schwarzen Tür, die den ganzen Gang ausfüllte und glänzte wie polierter Marmor. Ohne die Fuge, die sich mittig durch durch den glatten Fels zog, hätte sie ebenso gut eine Wand sein können. Nach unten jedoch setzte sich das weiße Glühen ein gutes Stück fort, ehe es sich zweiteilte – vermutlich eine Kreuzung.
Der weiß leuchtende Boden bestand aus glatten Kacheln, deren quadratische Form Drukil nicht sehen, sondern nur ertasten konnte, wenn er über die gewölbte Oberfläche strich. Dieses weiße Licht bereitete ihm Unbehagen. Trotz der Hitze wirkte es eisig, glatt, leblos. Es flackerte nicht, veränderte sich nicht, schimmerte nur in perfekter, starrer Einheit. Die Kacheln waren weniger heiß als der Stein ringsum, und jede glich der anderen. Makellos, monoton, in Form gezwängt. Unnatürlich.
In unregelmäßigen Abständen prangten beruhigende Lücken im sonst so reinen Licht. Es waren erloschene Kacheln, der Beweis, dass auch die gelungenste Schöpfung den Lauf der Natur nicht überwinden konnte. Bei einigen war die Oberfläche gesprungen oder gar vollkommen zerstört, andere hatten ohne ersichtlichen Grund zu leuchten aufgehört. Drukil betrachtete eine davon genauer. Sie war nicht weiß, sondern bestand aus miteinander verwachsenen Mustern, die allesamt entweder rot, grün oder blau schimmerten. Überrascht holte Drukil den daumengroßen blauen Stein aus seiner Tasche, den er am Strand gefunden hatte. Die Farbe war identisch.
„Kein Glas.“, flüsterte er. Aus irgendwelchen Gründen wagte er es nicht, die unheimliche Stille dieses Ortes mit lauten Worten zu durchbrechen. Stockend berichtete er den anderen von seinen Erkenntnissen unten am Strand.
„Sie können Licht speichern?“, vergewisserte sich Thorn. „Aber woher kam so viel Licht, dass die Platten hier drinnen noch nach Jahrtausenden leuchten können?“
„Licht. Wärme. Bewegung. Alles ist dasselbe.“ Eara trat zu Drukil; die Kacheln zu ihren Füßen flimmerten und verdunkelten sich, wo sie sie berührte. „Wir befinden uns in einem aktiven Vulkan. Vielleicht können diese Steine Hitze in Licht umwandeln.“ Sie deutete mit ihren schattenhaften Fingern auffordernd auf den Stein in Drukils Hand. Missmutig überreichte Drukil ihr seinen Fund und achtete dabei darauf, die Dunkelheit nicht zu berühren.
Kaum war der Stein in ihre finstere Hand gefallen, erhob er sich auch schon, von dunklen Schlieren gehalten, und rotierte leicht vor Earas Augen, sodass sie ihn von allen Seiten betrachten konnte. Drukil wandte sich ab, um den Anblick der Finsternis nicht mehr ertragen zu müssen, die alle Harmonie zerstörte.
„Interessant.“, klang die kalte Stimme der Magierin durch den verlassenen Gang. „Ich habe Derartiges früher schon gesehen.“
Der blaue Stein schwebte an Drukils Nasenspitze vorbei und kam zwischen Thorn und Chada zum Halten. „Vor elfeinhalb Jahren.“
Chada betastete die vom Sand glattgeschmirgelte Oberfläche und runzelte besorgt die Stirn. „Der Drache?“
„Nicht Tarok! Kurz nach seinem Tod besuchten uns Fremde aus dem Westen, die Steine wie diese dabei hatten.“
„Mera!“, rief Thorn aus und das Echo seines Rufes schien erst nach einer Ewigkeit zu verklingen. Besorgt spähte Drukil den Gang hinunter.
„So nannten sie es wohl.“ Eara schritt viel zu nahe an Drukil vorbei und betrachtete die zersprungene Kachel zu seinen Füßen. „Ich frage mich was es zu bedeuten hat, dass wir ausgerechnet hier wieder darauf stoßen. Die Menschen, die diesen Ort erbauten, hatten offensichtlich genug davon zur Verfügung.“
„Falls es Menschen waren.“, murmelte Ken Dorr düster.
Da keiner von ihnen eine Möglichkeit fand, das schwarze Tor zu öffnen, folgten sie dem Gang nach unten. Schnell gelangten sie an das, was Drukil schon aus der Entfernung als Weggabelung identifiziert hatte. Der Gang teilte sich in zwei identische Wege auf, die beide schräg vor ihnen lagen und in die Tiefe führten.
Nach einer Weile wählten sie auf gut Glück den rechten Gang, entschlossen, im Zweifelsfall Leanders Strategie und somit immer einer Wand zu folgen. Drukil lauschte, ob irgendetwas einen Hinweis gab, welche Richtung sie in diesen eintönigen Gängen einschlagen sollten, doch hörte einzig sich selbst und die anderen. Ihre Schritte klangen seltsam auf dem glatten Untergrund, das Echo verzerrte die Geräusche noch zusätzlich. Ansonsten war es geradezu unheimlich still, nur Eara berichtete Leander leise, wie ihre Umgebung aussah. Hatte der Blinde bisher ratlos geschwiegen, so ließ ihn seine unersättliche Wissbegierde nun unaufhörlich flüstern. „… eine geschickte Verflechtung der drei Grundfarben des Lichts also, um insgesamt das weiße Leuchten zu erzeugen. Wenn die Baumeister wirklich gut waren, haben sie eine Möglichkeit eingebaut, die verschiedenen Farben einzeln zu steuern, dann könnten sie den Gang in jeder beliebigen Farbe erhellen. Was genau ist dieses Mera denn? Ein Edelstein? Kristallstrukturen? Organische Sedimente?“
„Die Tulgori nannten es Stein und behaupteten, sie schlügen es mühsam aus dem Gebirge.“, antwortete Eara flüsternd. „Aber ich glaube nicht, dass es möglich wäre, gefundene Edelsteine derart fein zu schleifen, dass die Überlagerung in den Kacheln weißes Licht erzeugt. Entweder man kann sie wachsen lassen wie Kristalle oder es muss möglich sein, sie zu schmelzen, zu vermischen und in Form zu gießen wie Glas. Ich kann aber nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich wirklich um Mera handelt oder nur um ein sehr ähnliches Material.“
„Die Erbauer dieser Gänge müssen großes Wissen und Geschick besessen haben. Zumal Solantis womöglich schon vor über viertausend Jahren unterging.“
„Solantis!“, schnaubte Eara. „Vertraust du nicht etwas zu sehr auf dieses alte Märchen?“
Die Dächer bestanden aus reinem Diamant und in den Straßen blühten Blumen aus leuchtendem Glas.“, zitierte der Seher. „Es sind keine Blumen und vielleicht ist es auch kein Glas, aber eine gewisse Wahrheit scheint sich in der Sage zu verbergen. Gibt es irgendwelche Indizien dafür, dass wirklich Menschen diesen Ort erbaut haben, wie es in der Geschichte heißt?“
„Keine Ahnung. Vielleicht kannst du etwas mit den Schriftzeichen an den Wänden anfangen.“
Drukil stockte und betrachtete den schwarzen Stein neben sich genauer. Bisher hatte er sich hauptsächlich auf die weiß leuchtenden Kacheln konzentriert und den unscheinbaren Wänden keine Beachtung geschenkt, daher bemerkte er sie erst jetzt: Verschlungene Symbole, knapp aus dem Fels ragend, die im kalten Licht verworrene Schatten warfen. Feine Gravuren, die sich eng aneinanderschmiegten und die ganze Wand bedeckten, die einander verspielt ergänzten und sich in alle Richtungen immer weiter fortsetzten, ein Wald aus Linien und Spiralen, steingewordenes Wissen, ein Muster des Vergangenen. Jedes Zeichen schien mit jedem anderen verbunden, sofern es denn überhaupt Zeichen waren. Drukil trat einen Schritt zurück und bestaunte das Gesamtbild, das sich aus all den Linien zusammensetzte. War das ein abstraktes Gesicht, dort hinten die Wellen des Meeres, oder waren es nur dicht gesetzte Formen, die den Anschein von Struktur übermittelten, obwohl sie scheinbar ohne Richtung aus sich selbst herauswucherten? Waren das Schriftzeichen, die sich so zu einem Gesamten formten, dass auch Drukil einen Sinn in ihnen sehen konnte, ohne die Feinheiten zu begreifen, und wenn ja, wie waren sie zu lesen?
Leander überreichte Eara seinen Stab und betastete die Reliefs mit beiden Händen, strich vorsichtig über das verflochtene Labyrinth aus undurchschaubaren Schleifen. Chada, Thorn und Ken Dorr, die weiter unten ebenfalls angehalten hatten, kehrten zu ihnen zurück. Chada hielt irgendetwas in ihren Händen, aber Drukil konnte sich nicht von den fortlaufenden Linien an der Wand lösen. Seine Augen huschten über Hunderte von Verflechtungen, folgten den ehrwürdigen Zeugen einer versunkenen Kultur.
„Das erinnert an die Glyphenschrift der Nerax, die ich einigermaßen übersetzten könnte, allerdings in einer ungleich kunstvolleren Form.“
„Gibt es irgendeine erlernbare Sprache, die du nicht beherrschst?“, fragte Drukil fassungslos.
„Ur-Tulgorisch.“, antwortete Leander abwesend. „Entsetzliche Sprache. Zwanzig verschiedene Wortarten, acht Geschlechter, vierzehn Fälle, elf Tempi, jedes zweite Verb unregelmäßig, die Satzstellung bestenfalls willkürlich… Aha!“ Plötzlich glitten Leanders blaue Finger gezielt über die kuriose Schrift. „Ich verstehe! Das ist definitiv eine Urform der Neraxglyphen. Die Aktivkonstruktionen werden um Verknüpfungen mit den Bezugspersonen versehen, anschließend in Teilabschnitte der Hauptknoten transformiert …“
„Kannst du es übersetzen?“, unterbrach Drukil seinen verwirrenden Redeschwall.
„Übersetzen? Bei der Vorsehung, nichts würde ich lieber tun. Ich bräuchte nur einige Folianten, einen zahmen Nerax zur Überprüfung einiger Theorien und ein paar Jahrzehnte Zeit.“
„Vielleicht lieber heute noch.“, schlug Eara vor.
„Heute? Ich werde Stunden brauchen, allein um diesen Quadratschritt Wand vollständig zu ertasten und mir das Bild einzuprägen. Mit meinem jetzigen Kenntnisstand kann ich höchstens begründet raten.“
„Dann rate mal!“, forderte Drukil.
Leander seufzte. „Die gesamte Passage scheint eine Lobpreisung zu sein, und zwar für mehrere Personen oder Wesen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob sie sich an die Machthaber, etwa das Königshaus, oder an irgendwelche Götter richtet. Womöglich beides. Anscheinend gehören diese Gänge hier entweder zu einem Palast oder zu einem Tempel.“
„Nein.“, flüsterte Chada und hob das Objekt in ihren Händen: Einen gelben Schädel, aus dessen Hinterkopf zwei brüchige Sicheln ragten. „Zu einer Gruft.“

Eine große kugelförmige Kammer zweigte nur wenige Schritt weiter unten vom Gang ab und erklärte, was Chada, Thorn und Ken Dorr aufgehalten hatte. Hier bestanden Boden und Decke ebenfalls aus mit Schrift übersätem schwarzen Stein, nur einige Dutzend harmonisch von Glyphen umrankte Kacheln in der Wand spendeten blasses Licht. Der eigentliche Zweck des Raumes war nicht mehr zu erkennen, da der Boden von uralten Gebeinen bedeckt war. Insgesamt waren bestimmt an die zweihundert Nerax hier begraben. Sie lagen und saßen an den Wänden, in der Mulde im Zentrum sammelten sich hinabgerollte Einzelteile. Drukil entdeckte keine gespaltenen Schädel oder zerborstenen Knochen, nur vorsichtig drapierte Arme und skelettierte Schlangenleiber. Diese Nerax waren hier langsam verendet.
Die warme Luft war trocken und kratzte in seinem Hals. Leere Augenhöhlen verfolgten jeden seiner behutsamen Schritte. Dieser ganze Raum vermittelte eine Schwere und Endgültigkeit, der er sich nicht entziehen konnte. Die versammelten Toten wirkten nicht mehr wie blutrünstige Kreaturen, nur wie die schwermütigen Überreste einer vergangenen Zivilisation, eine Schar der Verzweifelten, die sich wie zum Schlafen auf den warmen Stein gebettet hatten, in Gedanken nur die kompromisslose Gewissheit, nie wieder zu erwachen.
Ein unvorsichtiger Schritt auf dem abschüssigen Untergrund brachte Drukil ins Stolpern und nur mit Mühe konnte er einen Sturz vermeiden. Sein Fuß traf einen ausgestreckten Arm, der unter der Berührung ohne den geringsten Widerstand zu braunem Pulver zerstob. Das Echo seines aufstampfenden Fußes erhob sich zwischen den Gebeinen, traf auf die runden Wände und wurde zwischen den verworrenen Schriftzeichen hin- und hergeworfen, umkreiste das Massengrab. Die vorwurfsvollen Blicke der Verschiedenen trafen ihn von allen Seiten.
„Der Vulkan brach aus, doch all das hier überdauerte. Der Berg selbst schützte die Gänge, während alles andere zerstört wurde. Vielleicht gelang es irgendeinem schnellen Wächter, das schwarze Tor rechtzeitig zu versiegeln.“, vermutete Eara. Sie sprach nur leise, aber an diesem Ort klang selbst das noch wie ein gellender Schrei. Der kugelförmige Raum vervielfachte ihre kalte Stimme zu einem Chor der scheinbaren Gleichgültigkeit. „Die Nerax, die sich hier unten aufhielten, müssen sich zerrissen gefühlt haben. Auf der einen Seite die Ungewissheit, was jenseits dieser Hallen geschehen war. Hatte Solantis überdauert? Hatte irgendjemand da draußen überlebt? Aber auf der anderen Seite die Freude noch am Leben zu sein. Doch wie schnell wich die Freude der Verzweiflung, als ihnen aufging, dass der Stein, dem sie ihr Leben verdankten, zugleich zum Kerker geworden war. Als sie bemerkten, dass sie nur überlebt hatten, weil sie buchstäblich abgeriegelt waren und dass sie das schwarze Tor nicht mehr öffnen konnten. Als ihnen klar wurde, dass all ihre Vorräte nicht für eine Ewigkeit reichen würden. Der Riss, durch den wir hier eindrangen, wird damals noch nicht existiert haben.“
Die Dunkle Magierin stand vor einem besonders gut erhaltenen Skelett, dessen Oberkörper seltsam verschoben aussah. „Sie zogen sich hierher zurück, um Frieden zu finden. Um mit dem Leben abzuschließen und auf den Tod zu warten. Vielleicht hat der ein oder andere auf Hilfe von außen gehofft, aber eigentlich war allen klar, dass diese Hilfe nicht kommen würde. Sie waren eingeschlossen von erhärtetem Stein und kochendem Wasser. Sie hätten übereinander herfallen können, um sich gegenseitig das Blut aus den Adern zu saugen und einige Stunden überleben zu können. Aber wozu das Unvermeidliche hinauszögern?“
Drukil trat näher zu Eara und begriff nun, was mit dem Skelett nicht stimmte. Ein weiteres Gerippe lag auf seiner Brust, klein und zusammengerollt. Ein Kind, kaum geboren, kaum zum Leben erwacht, um dieses Leben schon wieder aushauchen zu müssen.
Plötzlich erstrahlte im Zentrum der runden Kammer ein flackerndes Licht von orangeroter Farbe. Drukil wich zurück. Hatte dir Rote Katze sich der vertrockneten Gebeine bemächtigt?
Zwischen den Skeletten formte sich ein grauer Umriss, der von einem sanften roten Schimmer umgeben war. Ein nebelhafter Schemen, zwei weiß glühende Augen… Ein Geist! Doch der Unterkörper mündete in einen langgezogenen Schwanz, der sich schwach über die Knochen schlängelte. Er war ein Nerax! Ein Gespenst aus vergangenen Zeitaltern, ein Zeuge der einstigen Pracht dieser Insel. Die Seele eines Ermordeten, der in dieser Welt noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte.
Auf der Brust des Gespenstes strahlte ein rotes Dreieck. Es glühte heller als die weißen Kacheln und schien im Gegensatz zum Geist selbst aus fester Materie zu bestehen, gleichzeitig aber ein Teil von ihm zu sein.
Der Nerax schwebte über den Knochen unter der Kuppel und drehte langsam den Kopf. Der stechende Blick aus seinen weißen Augen schien durch die Eindringlinge einfach hindurchzugleiten und nur die unzähligen Gebeine zu sehen.
Zserrana!“ Drukil zuckte zusammen, als die Gestalt ein klagendes Wispern ausstieß. Dann unterdrückte er sein Unbehagen, und näherte sich langsam dem Geist, besonders vorsichtig darauf bedacht, keine weiteren Körperteile zu pulverisieren. Die anderen blieben vorsichtig hinten und der Bär kratzte wild an seinen Ketten, wollte von dem Toten fortkommen, aber Drukil reihte einen behutsamen Schritt an den anderen, bis er nicht mehr weiter hätte gehen können, ohne Skelette zu zerstören.
„Hallo!“, brachte er hervor und unterdrückte die Bilder der entsetzlichen Wunden, die die geisterhafte Sporne im Gebirge hatte schlagen können. Der Nerax jedoch reagierte nicht. Er schwebte ziellos im Kreis, seine weißen Augen flackerten. „Zserrana!“ Lähmende Verzweiflung lag in diesem tonlosen Wort. Ohnmächtiger Zorn. Trauer, schwarz wie die Tiefe des Ozeans. Eine Ruhe jenseits des Wahns. Die schiere Unbegreiflichkeit der Katastrophe. Schuld, schwerer als das Meer. Verlorene Hoffnung.
Drukil streckte seine Hand aus, um den Geist auf sich aufmerksam zu machen, ohne zu wissen, ob das wirklich eine gute Idee war. Doch unmittelbar bevor seine Fingerspitzen in den grauen Dunst eintauchen konnten, zuckte der Nerax plötzlich zurück. Seine Augen zitterten, stolperten über die einsamen Gestalten, umgeben von Tod.
Zserrana!“ Unglaube. Fassungslosigkeit. Hoffnung? Der Nerax verschwamm und bildete eine formlose Wolke, in deren Zentrum das rote Dreieck schwebte. Dann floh er wie der Schweif eines grauen Kometen zum Eingang der Kammer und bildete sich erneut. „Zserrana!“ Fast auffordernd klang sein Ruf.
„Ich glaube, der Geist möchte, dass wir ihm folgen.“, sprach Thorn aus, was auch Drukil vermutete. „Ich bin mir nur nicht sicher, wie klug das wäre.“
Und wer reinen Herzens ist, kann die strahlende Stadt betreten, den Gesängen der Geister lauschen.“, flüsterte Leander. „Diese Höhlen könnten riesig sein, sich bis weit unter den Meeresspiegel fortsetzen. Unsere Zeit aber ist begrenzt.“


Mondhoch, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Nachdem sie Leander ihren gespenstischen Führer beschrieben hatten, schwiegen sie, einzig der Nerax selbst gab immer wieder ein ungeduldiges Zserrana von sich. Der Geist führte sie zielstrebig durch die schlauchartigen Gänge. Vermutlich hatte er in den letzten Jahrtausenden nichts anderes zu tun gehabt, als diesen Ort auswendigzulernen. An keiner der Abzweigungen zögerte er; zumeist wählte er denjenigen Weg, der am steilsten in die Tiefe führte, sodass sie immer weiter nach unten vorstießen. Die Hitze nahm mit jedem Schritt zu.
Sie durchquerten nicht nur kahle Gänge, sondern passierten auch wundersame Räume, in denen der tote Nerax keinen Herzschlag verweilte. Ein spiralförmiger Brunnen, aus dem eine goldene Flüssigkeit sprudelte. Einen Saal mit detaillierten Figuren ganz aus Licht. Ein ausgetrocknetes Becken, in dem das Gerippe einer dreiköpfigen Schlange lag. Eine dunkle Höhle, an deren Wänden spitze Kristalle in unterschiedlichen Farben funkelten. Ein üppiger Garten voller seltsamer Pilze und roter Ranken, die in den vielen Jahrhunderten ihre angestammten Töpfe verlassen und alles andere überwuchert hatten, bewässert durch ein System aus Rohren, die Wasserdampf versprühten. Ein mit Spiegeln verkleideter Raum voller durchscheinender Konstruktionen, in denen stürmische Schatten waberten und die Drukil so schnell wie möglich hinter sich ließ. Eine Werkstatt, in der übergroße Rüstungen aus schwarzem Stein reglos um Tische voller metallener Schalen standen. Ein Gewölbe aus Eis inmitten der gewaltigen Hitze.
Schließlich erreichten sie eine Tür aus blau glühendem Mera, die zu einem Spalt offen stand, die halbrunden Türflügel hatten sich einfach in die gewölbte Wand hineingeschoben. Dahinter lag ein Raum, der sich von den übrigen zuallererst dadurch abhob, dass er nicht rund war, sondern die Form eines Würfels hatte. Die weißen Kacheln endeten an der blauen Tür, dafür wuchs in jeder Ecke des Raums ein weiß leuchtender Kristall. Dass die obligatorischen Schriftzeichen auf dem schwarzen Boden ebenso ausgeprägt waren wie an Wänden und Decke deutete darauf hin, dass kaum eine Schuppe sie abgeschmirgelt hatte. Hier war nicht oft jemand gewesen.
Zserrana!“ Der Geist des Nerax´ wartete in der Tür und drehte sich zu ihnen um. Als seine Schwanzspitze sich dabei in den Raum schob, leuchtete das rote Dreieck auf seiner Brust plötzlich auf und orangene Blitze zuckten über seinen schemenhaften Leib. Der Geist zog sich gequält zusammen und verschwamm, pulsierte in der Luft, während das rote Dreieck unverändert glühte. Ein schrilles Zischen entwich dem Gespenst, ehe es rasch zurückwich und sich wieder ausformte.
„Du kannst nicht weiter?“, fragte Drukil erstaunt.
Zserrana!“ Zwar schien der Nerax ihn nicht zu verstehen, doch seine ganze Haltung drückte sengenden Schmerz aus, dazu eine explosive Mischung aus Verzweiflung und Entschlossenheit. Er deutete mit einem nebligen Arm auf die gegenüberliegenden Seite der Kammer. Zwei Gänge führten noch weiter ins Herz des Berges: Der linke Eingang war reich mit Reliefs verziert und dreieckig geformt, sodass die schwarzen Wände wie zu einem Dach zusammenliefen. Ein schwaches türkises Licht schimmerte aus ihm hervor.
Der andere Weg war unregelmäßig geformt wie gewachsen, die von unzähligen Rissen durchzogenen Wände glommen rot. Er führte steil nach unten und verströmte eine solche Hitze, dass Drukil sich ihm nicht zu lange zuwenden konnte.
Zwischen den beiden Eingängen, von den verschlungenen Glyphen umrankt, schimmerte etwas Rundes im Zwielicht. Ein schwarzer Spiegel? Ohne einen Gedanken an die orangenen Blitze zu verschwenden, trat er näher. Er starrte auf das Ding, das sich aus dem Halbdunkel schälte: Ein symmetrischer Stein, schwarz funkelnd, von gezackten Sprüngen durchzogen, stellenweise waren Splitter herausgebrochen, die nirgendwo zu finden waren. Und der geborstene Stein starrte zurück. Eine grässliche Kreatur blinzelte ihm entgegen, ein symmetrisches Ungeheuer, das Spiegelbild seiner selbst, von den feinen Facetten in Millionen kleiner Splitter aufgeteilt und neu zusammengesetzt. Doch in der Dunkelheit verbarg sich noch mehr, lauernd, beobachtend, wartend, planend. Etwas toste innerhalb des schwarzen Steins, ein Sturm jenseits der Stille, eine Dunkelheit älter als das Licht, ewige Finsternis in einer stetigen Verwandlung.
Der Bär schrie gequält, alle seine Instinkte widersetzten sich dem dunklen Sog. zerstörte ordnung! falscher schein!
Drukil wollte sich abwenden und konnte es nicht. Eine düstere Faszination ging von diesem Stein aus, etwas zog ihn immer näher. Die Schwärze flüsterte verheißungsvoll.
Die Fassung des funkelnden Steins formte keinen Kreis, wie Drukil anfangs gedacht hatte, sondern war annähernd achteckig. Doch die acht Kanten waren nicht gerade, sondern rund, zusammengesetzt aus acht weiteren Linien, die sich aus noch winzigeren Ecken ergaben. Dieses Muster setzte sich immer weiter fort, bildete Oberfläche und Aufbau des Steins. Er war schillernde Dunkelheit, jede klare Kante war bei genauerer Betrachtung ein Mosaik aus runden Strukturen, die eigentlich selbst nur eckig waren.
vernichtung! dunkelheit! zerstörung! Die panischen Triebe des Bären versanken in den Schatten des Steins, wurden von den immer kleineren Facetten in Einzelteile zerlegt und unschädlich gemacht. Drukil hatte gar keine andere Wahl, als sich immer näher vor die schwarze Oberfläche zu beugen. Sein Blick stürzten zusammen mit den schimmernden Mustern in immer dünnere Strukturen, winziger als die Ewigkeit. Seine goldbraunen Augen wurden von einer gleißenden Finsternis aufgesogen. Seine Nasenspitze berührte den Stein.
Er floh durch enge Gänge, das silberne Echo gleichförmiger Schritte ließ die Welt in seinem Herzen erbeben und ein Regen aus Perlmutt ging auf ihn nieder.
Ein flammender Dämon verging Jahrhunderte vor seiner Zeit, und eine Dunkelheit, die jedes Mitleid verschlungen hatte, verweigerte der Unschuld die Erlösung.
Ein Ring aus Silber schimmerte durch glitzerndes Wasser, Dunkelheit verschlang die Kette der Einheit.
Ein roter Stein, ein glühendes Dreieck, saugte Blut auf, und eine verlorene Seele fand in die Freiheit.
Er stand in einem Kreis schweigender Zeugen, brüllte vor Zorn, während eine Schlange sich in seine Seite fraß und ein Bär die weit geöffneten Türen eines zerbrochenen Kerkers verließ.
Er kauerte auf einer Lichtung in einem Wald aus kahlem Stein, wo der Sturm sein blindes Auge auf ihn richtete, schrie von sich den Schmerz des Verrats, dessen Opfer der Ungehörnte geworden war.
Er starrte in ein schwarzes Auge, erblickte das Grauen des Kommenden und schrie, schrie vor Schmerz, schrie vor Verzweiflung, schrie vor Zorn, schrie ohne Grund, während Hände ihn fortzerrten, schrie noch immer, als die Stimmen seiner Freunde langsam zu ihm durchdrangen, schrie und schrie …
Drukil verstummte und blinzelte ins Zwielicht. Langsam erkannte er die Helden von Andor, die sich besorgt über ihn beugten. „Drukil!“, flüsterte Chada heiser. „Beruhige dich! Wir sind da. Alles ist gut.“
Er keuchte und setzte sich langsam auf. „Was … Was ist geschehen?“
„Ich dachte, du könntest uns das sagen… Du bist einfach durch den Raum gegangen, zu diesem seltsamen Stein, dann hast du hineingeschaut und plötzlich angefangen zu schreien.“
Drukil sah sich um und sofort fiel sein Blick wieder auf den zersprungenen Stein. Die Facetten funkelten bösartig und lockend zugleich. Drukil schloss die Augen. „Dieser schwarze Stein hat mir seltsame Bilder gezeigt, die ich selbst nicht verstehe. Es war … vielleicht die Zukunft? Aber so verworren…“ Er legte seine Hand auf den Schwertgriff und hörte sogleich, wie die anderen zurückwichen. Er konnte es ihnen nicht verdenken, sie wussten nicht, was in ihn gefahren war. Er wusste es ja selbst nicht.
Langsam öffnete er die Augen wieder und vermied es, zum Stein zu blicken. „Ich habe mich selbst gesehen. Ich habe geschrien. Aber da war noch mehr, Dinge, die sich mir entziehen. Ach, ich weiß es nicht!“ Er rappelte sich auf. „Nur eines habe ich wirklich erkannt: Ein rotes Dreieck, das Blut aufsaugt. Ein Dreieck, das exakt so aussah wie das auf der Brust unseres toten Führers.“ Drukil zeigte zitternd auf das Gespenst, das noch immer unbeeindruckt in der blauen Tür schwebte.
Leander lachte leise. „Und wenn er den Göttern sein Blut opfert, so werden die Toten erlöst, und er selbst kann die Schätze von Solantis bergen.
„Du meinst, wir sollten unser Blut auf das rote Dreieck geben, um den Geist zu erlösen?“, fragte Ken Dorr zögernd. „Brauchen wir ihn nicht noch?“
„Ich weiß nicht, was wir tun sollten!“, schrie Drukil. „Ich glaube, dieses Dreieck verhindert, dass der Nerax noch weiter kann. Und ich glaube, wenn wir es mit genug Blut benetzen, wird diese Grenze aufgehoben. Aber es war dieser Stein, der mir das gezeigt hat, und dem vertraue ich noch weniger als dir.“ Ken Dorrs graue Augen verengten sich beleidigt.
„Leander, weißt du, was dieses Wort bedeutet, dass er die ganze Zeit von sich gibt?“, fragte Eara teilnahmslos. „Oder könntest du etwas aus der Gemeinen in seine Sprache übersetzen, damit wir mit ihm kommunizieren könnten? Er scheint uns nicht zu verstehen.“
Der Seher schüttelte bedauernd den Kopf. Eara musterte den Geist und fragte langsam: „Was wolltest du uns zeigen? Warum sind wir hier?“
Zserrana!
„Zwecklos.“, murmelte Thorn. „Ich schlage vor, wir machen das mit dem Blut. Er scheint uns nicht schaden zu wollen.“
Drukil biss sich auf die Lippe. „Also gut.“, sagte er verhalten. Er zog sein Schwert ein kleines Stück aus der Scheide und drückte seine Hand in die Schneide.
Mit ausgestreckter Hand näherte er sich dem Geist in der blauen Tür. Die beiden weiß glühenden Augen richteten sich auf das Blut, das über seine Handfläche rann. Der Nerax waberte unruhig und reckte ihm das glühende Dreieck entgegen. Offensichtlich wollte er befreit werden.
Drukil zögerte, seine Hand unmittelbar hinter der unsichtbaren Grenze, die der Nerax nicht überschreiten konnte. „Was geschieht, wenn ich das tue?“, fragte er.
Zserrana!
Mit seiner unblutigen Hand tastete nach dem roten Dreieck. Es war tatsächlich eine flache Scheibe, die dort in der Luft schwebte, warm, aber nicht heiß.
Zserrana!“, fauchte der Nerax, die Augen gierig auf das Blut gerichtet. Drukil tastete sich durch die Barriere, die für ihn nicht existierte. Der Geist versuchte vergeblich, nach dem Blut auf seiner Hand zu haschen. In dem Moment, in dem der neblige Arm in Drukils Haut verschwand, wurde er plötzlich in einen Strudel gerissen. Er sah Bilder, Erinnerungen, die nicht seine eigenen waren. Ein von Tentakeln umrahmtes Gesicht, das zu ihm sprach. Ein Sonnenaufgang am Fuße eines schwarzen Berges, auf dem sich durchscheinende Gebäude drängten. Lange Prozessionen von Nerax, die sich zum Gebet versammelten. Und zwei orangefarbene Augen in der Dunkelheit.


Frühe Nacht, Tag des Lichten Ausgleichs 4648 v.A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean
Mrr-Slaol schlängelte sich durch das Allerheiligste, die Drei Wände setzten sich vor und hinter ihm scheinbar ewig fort. Vorsichtig blickte er sich um, seine Tentakeln ringelten sich über den dreieckigen Leuchtkristall auf seiner Brust. Niemand war in der Nähe. Das Volk feierte weiter oben die Nacht, die lang wie der Tag war. Oder besser, die kümmerlichen Überreste des Volkes, die sich nicht abschrecken ließen von den Bildern, die der Schwarze Stein ihm gezeigt hatte.
Mrr-Slaol erschauderte. Das Unheil durfte nicht geschehen! Der Schwarze Stein hatte ihm nicht nur die Vernichtung gezeigt, sondern auch die Hoffnung. Es war seine Aufgabe, alles zu retten, selbst zu diesem Preis.
Nochmals blickte er über seine Schulter. Kein anderer Nerax war ihm gefolgt. Wieso auch? Er war der Hohepriester, der Hüter des Schwarzen Steins, das Sprachrohr der Götter, der Höchste Kristallomant, der Flammenberührte. Niemand würde ihm misstrauen.
Er glitt in die Kammer des Schwarzen Steins und in den Roten Gang, den er erst in über zweihundert Jahren hatte betreten wollen.
„Du solltest nicht hier sein.“
Mrr-Slaol erstarrte und drehte sich um. Zwei orangene Augen schwebten wie glimmende Kohlen in der Dunkelheit. „Erneuerin!“, hauchte er. „Meine Herrin! Meine Göttin!“
„Gib dir keine Mühe, wir wissen von deinen Taten.“, sprach sie. Trauer lag in ihrer reinen Stimme. Sie hob eine Hand, und darin lag der tote Samen, den er nicht gut genug verborgen hatte. Ein einzelner roter Leuchtkristall hatte sich in seiner verschrumpelten Schale verfangen. „Fast zu spät hätten wir davon erfahren. Hast du das Wasser der Zeit bereits mit Gift versetzt?“
Mrr-Slaol sagte nichts. Er konnte sie nicht anlügen. Der Versuch wäre töricht, sie durchschaute jede Täuschung.
„Also ist der Baum des Anbeginns nicht mehr zu retten. Und den Samen hast du hierhergebracht, um ihn ebenfalls zu zerstören, nicht wahr?“
„Es war die einzige Option!“, kreischte er verzweifelt. „Ich habe gesehen, was uns erwartet. Ich habe Eure Machtlosigkeit gesehen. Wenn nicht einmal die Götter uns erretten konnten, wer dann? So lange habe ich die Zukunft durchsucht, so lange habe ich nach einem anderen Ausweg geforscht, aber wozu? Der Schwarze Stein kann nicht lügen.“
„Du verwechselst Möglichkeit mit Wirklichkeit, Hohepriester. Du bist so vermessen, dass du zu verstehen glaubst, was nicht zu verstehen ist. Auch wir wurden geblendet. Wir haben den Wohlstand gesehen, den der Schwarze Stein diesem Ort bescheren würde, nicht aber die Verheerung.“
Mrr-Slaol blickte seine Göttin an. „Bitte! Lasst nicht zu, dass all das hier untergeht. Ich habe die Ehernen Gesetze stets geachtet, habe den Baum gepflegt und alle Leuchtkristalle auf der Insel belassen. Aber jetzt steht mehr auf dem Spiel. Bitte, befreit uns von euren Regeln!“
Sie glitt elegant aus den Schatten und wartete neben dem Schwarzen Stein. „Es steht mehr auf dem Spiel, als du dir überhaupt vorstellen kannst, kleiner Nerax. Du willst Freiheit? Du weißt nicht, was dieses Wort überhaupt bedeutet. Du kennst keine Freiheit. Wir aber, wir sind zu ihr gezwungen.“
Sie presste eine Hand auf den Schwarzen Stein. Es knackte, Risse zuckten durch die Dunkelheit. Der finstere Kristall platzte auf, die schwarzen Splitter verwandelten sich noch während ihres Sturzes in dunklen Nebel, den die Göttin mit ihrem Atem einfing. Ein Zucken durchlief sie. Etwas verließ sie, hinterließ nur Leere. Mrr-Slaol spürte, wie sich etwas veränderte. Wie sich alles veränderte.
Plötzlich schrie sie gequält. Ihre Augen öffneten sich und gewaltiges Entsetzen flackerte darin. „Dies also ist der Weg des Schicksals. Diese Prüfung also ist uns auferlegt. Du hast recht, Hohepriester. Die Ehernen Gesetze haben zu lange gegolten.“ Ihr Blick richtete sich auf den Samen in ihren Händen. „Es wird Zeit, den zukünftigen Baum des Anbeginns in Sicherheit zu bringen. An eine fremde Küste, wo das Feuer ihm nichts anhaben kann.“
Mrr-Slaol hechtete vor, sein geschuppter Schwanz stieß sich kraftvoll vom schwarzen Untergrund ab. Er durfte das nicht zulassen. Er musste den Samen vernichten!
Ihr Stab durchbohrte ihn noch im Sprung. Es hieß, er sei aus der Rinde des Baumes selbst gefertigt. Die Göttin hatte sein Leben mit einem heiligen Artefakt beendet, unter anderen Umständen eine große Ehre. Doch jetzt überkam ihn nur Verzweiflung. „Muss ihn … vernichten …“, röchelte er.
Ein grüner Blitz, und die Göttin verschwand. Zusammen mit dem Samen und dem roten Leuchtkristall. Mrr-Slaol stürzte zu Boden, da kein Stab ihn mehr hielt. An eine fremde Küste… Die Göttin hatte ihr eigenes Gesetz gebrochen! Kein Leuchtkristall durfte die Insel verlassen, ansonsten …
Ein grauenhaftes Knirschen ertönte, ein Schwall aus Hitze traf ihn von hinten, aus Richtung des Roten Ganges. Ner-Vaagsela war frei! Es war nicht das Ende, das der Schwarze Stein ihm offenbart hatte, aber es war ebenso ein Ende. Alles war verloren. Mrr-Slaol hatte versagt. Seine Kiemen blähten sich ein letztes Mal, ein letztes Wort entwich seinem Mund. Er wünschte so sehr, er hätte es geschafft. Den Samen zu … „Vernichten!“



Späte Nacht, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Drukil riss seine Hand zurück. Blickte in die weiß glühenden Augen des Geistes. „Zserrana!“, hauchte der Nerax. Hauchte Mrr-Slaol. Drukil wankte zurück in die Kammer, wohin der Geist ihm nicht folgen konnte. Die anderen warfen ihm befremdete Blicke zu, aber Drukil wusste, was er tat. Das Gespenst durfte um keinen Preis freikommen! Die Seele eines Ermordeten, der in dieser Welt noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Der Nerax hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Aufgabe, der er sich ganz und gar verschrieben hatte. Zserrana. Vernichten.
„Eine kluge Entscheidung.“, flüsterte eine beißende Stimme aus dem Halbdunkel. Fassungslos hob Drukil den Blick zum dreieckigen Gang. Auch die anderen fuhren herum. Sie mochten erstaunt sein, aber höchstens Ken Dorr erkannte vielleicht die Stimme, die zu einem Wesen gehörte, das Drukil nur aus Beschreibungen kannte. Und aus einer Erinnerung, die nicht seine eigene war.
Zwei orangene Augen schwebten wie glimmende Kohlen in der Dunkelheit. Mrr-Slaol fauchte und krümmte sich zusammen, das rote Dreieck blitzte auf.
„Weniger klug war es dagegen, hierherzukommen.“, ergänzte Kenvilar, die Tückische.
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I - Freiheit und Meeresschaum

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:19

I – Freiheit und Meeresschaum

Späte Nacht, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Thorn hatte sein Schwert in der Hand, noch ehe er wirklich realisiert hatte, wer da aus dem Zwielicht zu ihnen sprach.
„Warum seid ihr hier? Geht es euch um den zukünftigen Baum des Anbeginns?“, erscholl die unangenehme Stimme erneut, dann glitt ein Schatten ins spärliche Licht der weißen Kristalle. Ein übergroßer Körper mit hellblauer Haut. Listige Augen voller Bosheit, orange glühend, über einer feinen Nase mit geschlitzten Nasenlöchern und einem schwarzen Mund voller nadelspitzer Zähne. Haare, die wie verrottender Seetang über nackte Schultern fielen. Ein gewundener Stab, doppelt so groß wie Thorn, aus dunklem Holz gewachsen. Ein riesiger, schlangenartiger Leib, von glitschigen blauen Schuppen bedeckt, der sich in der Dunkelheit verlor.
Erinnerungen stiegen in Thorn auf, an eine geschnitzte Tafel in einem Raum aus Ziegeln, die eine Frau mit Schlangenkörper zeigte, ein großes Schwert in ihrer Hand. An Ken Dorr, wie er ihnen ausführlich alles beschrieb, was er über jedes einzelne Mitglied des Ewigen Rates wusste, ohne die faszinierende Arglist zu erwähnen, die sie mit jeder Faser ausstrahlte, die Thorn zugleich in ihren Bann schlug und abstieß. Und Erinnerungen an ein unsauberes Dreieck auf einer Luke im Boden – ein Dreieck wie das, welches der tote Nerax auf seiner Brust trug.
„Hat der Dieb euch dazu angestiftet, oder war es eure eigene Dummheit?“, fuhr Kenvilar fort. Dass sie mittlerweile alle ihre Waffe gezogen hatten – sogar Ken Dorr – schien sie nicht im Mindesten zu beeindrucken.
„Warum seid Ihr denn hier?“, fragte Chada mit fester Stimme. „Ebenfalls auf der Suche nach der toten Frucht?“ Sie umklammerte ihren Bogen und hatte einen Pfeil in der anderen Hand.
„Euretwegen!“, behauptete die Tückische höhnisch grinsend. „Eigentlich wollten wir euch meiden, damit der Schwarze Herold nicht argwöhnisch wird, aber wenn ihr schon bis hierher kommt… nun, das müssen wir natürlich nutzen.“
Sie deutete beiläufig auf Ken Dorr und die weißen Kristalle in den Ecken des Raums wuchsen rasend schnell, falteten sich auseinander, mauerten ihn ein. Der Dieb hatte kaum Zeit, den Mund zu öffnen, dann war er unter einer durchsichtigen Kuppel gefangen. Durch den Kristall sah Thorn verzerrt, wie er vergeblich an die Wand klopfte und etwas schrie, aber kein Laut kam hindurch.
Thorn wich entsetzt zurück und versuchte, Abstand von den Kristallen zu halten, nur um festzustellen, dass sie plötzlich überall waren. Sie breiteten sich aus wie gläsernes Unkraut, wie ein weißer See, der sich in den Raum ergoss. Den orientierungslosen Leander erwischte es zuerst, die Kristalle umgaben seine Füße und wuchsen an ihm empor, bis er sich nicht mehr bewegen konnte. Sie waren zu schnell, der Boden war schon größtenteils bedeckt … Durch Ausweichen allein würden sie nicht gewinnen. Kenvilar musste ausgeschaltet werden, ehe sie alle eingeschlossen wären!
Doch als Thorn den Kopf hob, waren da gleich fünf dreieckige Gänge anstatt einem, und eine identische Kenvilar in jedem davon. Als der Moment der Verwirrung verstrich, hatten die Kristalle seine Füße bereits erreicht und umschlangen seine Beine. Thorn wollte sie zerschlagen, aber plötzlich sah er keine Kristalle mehr, sondern Chadas Gesicht, zehntausendmal reflektiert, in Stein erstarrt, ihre grünen Augen sahen ihn furchtsam an.
Eine Illusion! Es ist nur eine Illusion! Thorn schloss die Augen und schlug mit seinem Schwert nach dem Panzer um seine Beine. Die Waffe wurde ihm aus der Hand gerissen und ein schriller Schrei erklang, in Chadas Stimme, voll von Schmerz und bitterer Enttäuschung. Thorn erstarrte entsetzt und merkte kaum, wie etwas immer weiter an ihm hochwuchs. Langsam veränderte sich der Ton, aus dem Schrei wurde ein glasiges Klirren und als er die Augen wieder aufschlug, waren Chadas Gesichter verschwunden und er war bis zum Hals von weißem Kristall eingeschlossen wie von einer funkelnden Rüstung. Wo sein Schwert getroffen hatte, zeigte sich nicht einmal ein Kratzer. Verzweifelt blickte er sich um und hoffte auf die anderen.
Drukil und Eara waren inzwischen ebenfalls gefangen, Chadas Oberkörper noch frei, sodass es ihr zumindest noch gelang, einen Pfeil auf eine der fünf Kenvilars abzufeuern. Das Geschoss durchquerte sie ungehindert und prallte irgendwo hinter ihr gegen eine unsichtbare Wand. Das Trugbild kräuselte sich und der falsche Gang verschwand, zusammen mit drei anderen. Doch auch die verbliebene Kenvilar im echten Gang löste sich auf, dafür echote ihre Stimme ohne erkennbaren Ausgangsort durch den Raum: „Die Quelle! Was ist sie? Wo ist sie?“
Verzweifelt wandte Thorn seinen Kopf hin und her. Mit Ausnahme von Ken Dorr, der hilflos unter der Kristallkuppel stand und versuchte, mit seinem Dolch ein Loch hineinzuschlagen, waren auch die anderen nur bis zum Hals eingeschlossen. Anscheinend ging es Kenvilar nicht darum, sie zu töten.
„Welche Quelle?“, fragte Leander ruhiger, als Thorn es gekonnt hätte.
„Die Quelle des Schwarzen Herolds!“, flüsterte ihre Stimme plötzlich direkt an Thorns Ohr. Er keuchte und drehte seinen Hals, soweit er es vermochte. Sie befand sich unmittelbar hinter ihm, ihren geschuppten Schlangenkörper hatte sie auf dem von Kristallen bedeckten Boden eingerollt, sodass ihre leuchtenden Augen genau auf Höhe von seinen waren. Verachtung verzerrte ihre fast menschlichen Gesichtszüge. „Bitte sagt nicht, dass ihr keine Ahnung habt, wovon ich rede. Bitte sagt nicht, dass ihr eure Zeit für eine Reise hierher verschwendet habt, ohne seine Quelle aufgespürt zu haben.“
Plötzlich brach ein Sturm aus Dunkelheit über ihn herein, schwarzer Nebel verschluckte den Kristall und toste auf Kenvilar zu. Klingen formten sich aus der Schwärze, jede einzelne davon auf sie gerichtet, und alle zugleich stießen zu. Doch die Dunkelheit verdampfte, wo sie die blaue Haut berührte. Die wirbelnden Schatten zischten und und tobten, wirbelten umeinander und wichen zurück. Eara schrie auf, Thorn wusste nicht ob vor Überraschung oder Schmerz. Sie zeigte schon zu lange kein Gefühl mehr, als dass er sie noch einschätzen konnte.
„Dunkle Magie? An diesem Ort?“, fauchte Kenvilar zornig. „Ausgerechnet gegen mich? Wie kannst du Ahnungslose es wagen?“ Die Haut der Tückischen begann blau zu glühen, die Dunkelheit zog sich zu Eara zurück. Die Magierin riss ihren Kopf hin und her, ihre Haare flatterten in einem Wind, den Thorn nicht spürte. Er sah, wie ihre schwarze Hand sich unter dem Kristall verformte und verkrampfte, wie die Dunkelheit sich ohne Befehl in Schmerzen wand und die Finger zu formlosen Schemen verwischten.
„Hört auf!“, verlangte Chada, nur Thorn hörte ihre Verzweiflung.
Kenvilar kicherte hämisch. „Das Lustige ist, dass ich gar nichts tue. Die Finsternis verkraftet meine Gegenwart nicht.“
Das blaue Glühen ließ nach und Eara erschlaffte in ihrer Kristallhülle, ihr Kopf sank herab. „Arkanum.“, hauchte sie schwach. „Hätte es wissen können.“
„Können wir jetzt reden?“, fragte Kenvilar gelangweilt. Sie ließ ihren kalten Blick über die im Kristall Eingeschlossenen schweifen und eine tiefe Belustigung lag darin. Als amüsiere sie sich über einen Witz, den nur sie selbst verstand. „Ich frage zum letzten Mal: Was wisst ihr über die Quelle des Schwarzen Herolds? Wo ist sie? Habt ihr sie hier?“
„Wir suchen selbst nach ihr.“, behauptete Leander, eine beeindruckend glaubwürdige Niedergeschlagenheit lag in seiner Stimme.
„Diese offensichtlichen Lügen öden mich an!“, fauchte Kenvilar abfällig. „Ich durchschaue dich besser als die, die du Freunde nennst. Niemand kann mich täuschen! Ihr wisst etwas darüber, ihr habt sie bereits aufgespürt. Was ist sie? Oder … wer? Ist einer von euch die Quelle? Weigert der Schwarze Herold sich deswegen noch immer, euch einfach zu töten? Weil er damit auch sich selbst vernichten würde?“
Sie musterte die Gefangenen nacheinander und schien dabei mehr zu untersuchen als nur ihr Äußeres. „Nein, keiner von euch. Sein Mörder vielleicht, dieser Wolfskrieger? Oder die Rietburg, die er so unbedingt einnehmen möchte? Antwortet!“
Sie ließ sich am zersprungenen schwarzen Stein nieder, sodass sie von ihnen allen zugleich gesehen wurde. „Warum wollt ihr nichts sagen? Seht ihr nicht, dass wir auf derselben Seite stehen? Dass auch die Mächte des Meeres kein Interesse an einem Ewigen Rat haben, der die Welt aufteilt? Dass wir nur das Gleichgewicht bewahren wollen?“
Ihre Stimme säuselte wie eine sanfte Meeresbrise, eine betörende Melodie schwang darin mit. Plötzlich wurde Thorn von einer sanften Wärme eingelullt, von der Gewissheit durchströmt, dass er Kenvilar vertrauen konnte. Sie war Jahrtausende alt, weise und klug, eine gütige Göttin, was zählte dagegen schon sein schwacher Geist? Wie vermessen war es von ihm, gegen sie aufbegehren zu wollen? Rückblickend erschien ihm sein Verhalten wie das eines bockigen kleinen Kindes! Warum erzählten sie ihr nicht einfach von der Krone, die sie mit Kommandant Mart zur Rietburg geschickt hatten? Kenvilar wollte doch das gleiche wie sie. Sie würde besser wissen, was zu tun war. Es wäre nicht mehr Verantwortung der Helden von Andor, den Ewigen Rat aufzuhalten. Weshalb sollte er sich diese Last aufbürden, wo er doch nur Frieden wollte?
„Wisst ihr, was die Quelle des Schwarzen Herolds ist?“, fragte Kenvilar unendlich sanft. Sofort nickte Thorn, die anderen taten es ihm gleich.
Zserrana!“, kreischte der Geist in der Tür, nur zwei Schritt von Thorn entfernt. Kenvilar warf ihm einen strafenden Blick zu, orangene Blitze zuckten aus dem Dreieck und flackerten durch den Nerax. Die Fassade der vertrauenswürdigen Göttin bekam Risse. Doch nein, eine gute Mutter musste Aufsässigkeit bestrafen, das war nur richtig so.
„Habt ihr die Quelle hier?“
Thorn begann schwerfällig mit dem Kopf zu schütteln, da sah er Chada. Sie hielt die Augen geschlossen und zitterte am ganzen Leib, ihr Gesichtsausdruck kündete von großem Schmerz. Was lehnte sie sich auch auf? Die Aufsässigen mussten bestraft werden…
Das sind nicht deine Gedanken! Kurz schreckte er aus seiner Benommenheit auf. Er bemerkte das verklärte Lächeln auf seinem Gesicht, spürte, dass der Bann schon wieder mit aller Macht zurückkehrte. Er biss sich in die Wange, bis Blut in seinen Mund strömte, aber auch der Schmerz konnte das blinde Vertrauen nicht beseitigen, das ihn erneut auszufüllen begann wie einen leeren Krug. Er musste schnell handeln! Sein Blick huschte umher, fiel auf die widerspenstige Chada, auf Kenvilar, wunderschön und vertrauenswürdig, alt wie das Meer – Nein, nicht zu Kenvilar! Schau woandershin! – auf Drukil, in dessen Augen blinde Verehrung und rohe Wildheit miteinander kämpften, auf den Geist in der Tür und das rote Dreieck auf dessen Brust – Nur zwei Schritt entfernt! Mach schon, bevor es zu spät ist! – und er biss noch fester zu, ohne die Teilnahmslosigkeit vertreiben zu können, er neigte seinen Kopf und konnte schon nicht mehr sagen weshalb, begann wieder mit einem stupiden Kopfschütteln – er schürzte seine Lippen und spuckte aus.
Kurz traf ihn Kenvilars ungeteilte Aufmerksamkeit und der Wunsch nach Unterwerfung durchflutete ihn. Wenn der Kristall ihn nicht gehalten hätte, er hätte sich zu Boden geworfen. Dann war es schlagartig vorbei.
„Du Narr!“, kreischte die falsche Göttin empört. Thorn blinzelte zum Geist, der im Türrahmen schwebte. Sah das Blut, das in dem roten Dreieck verschwand und die Risse, die den Stein plötzlich durchzogen. Die orangenen Blitze lösten sich auf und das rote Glühen flackerte und erlosch. Die Überreste des Dreiecks rieselten zu Boden.
Das Gespenst stieß ein triumphierendes „Zserrana!“ aus, seine weißen Augen erstrahlten. Dann verdichtete es sich zu einer grauen Kugel und floh den Gang hinauf. Etwas durchlief Thorn, passierte ihn ungehindert und erreichte den Geist. Der Tunnel veränderte, verzerrte sich, dehnte sich aus. Aus einem Schritt wurden zwei, zehn, hundert. Die verschlungenen Schriftzeichen schlugen Wellen, die Steigung am anderen Ende des Ganges rückte in immer weitere Fernen, je schneller der Geist sich bewegte. Verblüfft sah Thorn zu Kenvilar. Sie hatte die Augen geschlossen und ihre Lippen bewegten sich stumm.
„Liegt euch etwas am Baum des Anbeginns?“, erklang plötzlich ihre unangenehme Stimme. Die Worte entsprangen nicht ihrem Mund. „Der Geist, den ihr so voreilig entfesselt habt, möchte ihn vernichten. Wenn ihr ihn aufhalten wollt, bringt mir einen Stein aus dem Roten Gang. Aber beeilt euch, ich kann ihn nicht mehr lange zurückhalten!“
Thorn blinzelte. Der Baum des Anbeginns … Kenvilar sprach vom Baum der Lieder! Aber wenn überhaupt wäre seine Zerstörung in ihrem Interesse! „Ihr lügt doch!“, rief Thorn kopfschüttelnd, mehr konnte er noch immer nicht bewegen.
„Sie sagt die Wahrheit!“, entgegnete Drukil bedrückt. Skeptisch betrachtete Thorn den Hautwandler. Seit er in diesen zersprungenen schwarzen Stein gesehen hatte, verhielt er sich seltsam. Wurde er womöglich von Kenvilar kontrolliert?
Nein! Sie durften einander nicht misstrauen. Ihre unverwüstliche gegenseitige Treue, ihre Loyalität, ihre Geschlossenheit, das unterschied sie vom Ewigen Rat. Sie konnten nur gewinnen, wenn sie zusammenhielten, während er sich aufspaltete. Vielleicht hatte Drukil es gesehen, als er in den Stein blickte, vielleicht als er das Gespenst berührte. Thorn musste ihm einfach glauben.
„Aber wie sollen wir einen solchen Stein holen?“, fragte Chada verzweifelt. Sie schien zu einem ähnliche Schluss gekommen zu sein wie Thorn.
Dunkler Nebel wallte auf und kroch zum viel zu heißen Gang, Earas Augen waren fest auf das rote Gleißen gerichtet. Doch da erscholl erneut Kenvilars Stimme, schneidend und zornig: „Keine Dunkle Magie an diesem Ort!“
„Anders können wir diesen Stein nicht holen! Die Kristalle halten uns.“, empörte sich Thorn.
„Kristalle? Welche Kristalle?“, fragte Kenvilars körperlose Stimme voll von Hohn, den ersten Anzeichen der Anstrengung in ihrem alterslosen Gesicht zum Trotz.
Fassungslos starrte Thorn auf den glitzernden Panzer, der ihn einschloss. Auf die Kristalle überall im Raum. Das konnte doch unmöglich … Als hätte jemand einen Schleier gehoben, sah er plötzlich nur noch schwarzen Stein vor sich. Die weißen Kristalle leuchteten stumm und harmlos in ihren Ecken. In seinen Muskeln verklang nur langsam eine ungeheure Spannung. Thorn suchte das Schwert, das ihm beim Schlag gegen den Kristall aus der Hand gerissen worden war, nur um festzustellen, dass er es noch immer in der Hand hielt. Die anderen standen starr und schienen nicht fähig, mehr als ihre Köpfe zu bewegen. Ken Dorr stocherte mit seinem Dolch in der Luft herum, bearbeitete ein Gefängnis, das nicht existierte.
Thorn hob einen Fuß. Es war die einfachste Sache der Welt. Seine Freunde öffneten fassungslos die Münder, als er zwischen ihnen hindurch zum rot leuchtenden Gang eilte. Was sie wohl sahen?
Der Gang stürzte steil abwärts und war durchzogen von wenig vertrauenerweckenden Rissen, die dem flimmernden roten Gleißen so etwas wie Struktur verliehen. Die sengende Hitze, die ihm entgegenschlug, ließ jeden Atemzug schmerzen.
Er ließ sich auf die Knie fallen, die angesichts der hohen Temperatur sofort lautstark protestierten. Da seine Augen in der Hitze tränten und ihm nicht weiterhelfen konnten, versuchte Thorn, einen kleinen Stein zu ertasten, doch seine Hände zuckten reflexhaft zurück, sobald er den Untergrund berührte. Er strich immer wieder kurz über den Boden, der von den Rissen abgesehen viel zu glatt war. Schließlich gestand er sich ein, dass er so nicht weiterkommen würde. Seine Hand hielt über einem der Risse an. Wo, wenn nicht dort unten, wo der Stein zertrümmert war, würde er einen geeigneten Brocken finden? Er senkte seine Finger, doch die fühlten sich sofort an, als würden sie in Flammen stehen.
Alle Herausforderungen des Körpers werden vom Kopf entschieden! Du kannst nicht siegen, wenn du nicht daran glaubst.
Thorn biss die Zähne zusammen und griff beherzt nach unten. Kurz konnte er lockere Steinchen ertasten, ehe die Haut nur noch Hitze vermeldete. Ohne etwas zu spüren, schloss er seine Hand und zog sie stöhnend aus dem Spalt. Dann sprang er auf und hastete blind aus der Gluthitze des Ganges. Erst als der Schmerz nachließ und sich seine tränenden Augen beruhigten, sodass er unscharf die ersten Brandblasen erkannte, traute er sich, seine Faust zu öffnen. Darin lagen drei rot leuchtende Steinchen.
Er wankte zu Kenvilar. Sie stützte sich schwer auf ihren langen Stab, ihr Gesicht war zu einer Grimasse verkrampft, ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich. Der tote Nerax war längst aus Thorns Sichtweite verschwunden, aber vermutlich hielt er sich noch immer im stets wachsenden Gang auf. Die Glyphen waren inzwischen nicht mehr zu erkennen, so gestreckt war die runde Wand hinter der blauen Tür. Die haarfeinen Fugen zwischen den weißen Kacheln waren zu Abgründen geworden.
Thorn hob einen der roten Steine und zögerte. Wie weit konnte er Kenvilar vertrauen. „Gib schon her!“, fauchte ihre Stimme, verzerrt und wie aus weiter Ferne.
„Und dann? Wenn der Geist wie auch immer wieder besiegt ist, wie geht es dann weiter?“
„Wir reden! Keine Tricks mehr, keine Täuschungen!“, versprach Kenvilar. „Nur gib mir den Stein!“
Er holte tief Luft und legte den Stein in ihre ausgestreckte Hand. Wenn er Drukil vertrauen wollte, welche Wahl hatte er dann schon?
In dem Moment, in dem der rote Stein ihre blaue Haut berührte, veränderte der gedehnte Gang sich erneut. Zunächst hielt Thorn es für eine Sinnestäuschung, bis die lautlose Veränderung immer auffälliger wurde: Der Gang krümmte sich, zog sich zur einen Seite hin zusammen, und blieb zugleich schnurgerade. Einen Wimpernschlag lang sah Thorn den Gang entlang, Windung um Windung, immer wieder dieselben Passagen, im steten Kreislauf, und am anderen Ende der Unendlichkeit sah er sich selbst, fasziniert in die eigenen Augen blickend. Dann war der Moment vorbei und die Verformung des Tunnels endete mit einem plötzlichen Ruck, mit dem die Realität wieder in ihre Ordnung zurückfand. Eine graue Kugel schoss aus dem Gang genau in ihre Kammer, wirbelte verwirrt umher, schwach war der Umriss eines Nerax´ zu erkennen, aus dessen weißen Augen Entsetzen glühte, dann streckte Kenvilar ihren Arm vor und schlug den roten Stein in den Geist hinein. Orangene Blitze zuckten hervor, breiteten sich in dem Geist, aber auch über ihren Arm aus. Beide wurden umsponnen von flackernden Fäden aus Licht, Kenvilar öffnete ihre Augen und sie leuchteten blendend hell. Thorn wich zurück, aber nicht schnell genug. Ein einzelner Blitz zuckte auch zu ihm herüber und er spürte nur noch SCHMERZ, unerträglich, brennend, brüllend. Weißes Licht erstrahlte vor seinen Augen und er krümmte sich zusammen, schrie gequält auf.
Langsam wich die Pein. Er spürte Hände auf seinem Gesicht und als das weiße Glühen verklang, beugte sich Chada über ihn. Anscheinend war es auch ihr endlich gelungen, die Illusion zu durchbrechen. Keuchend setze Thorn sich auf, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Kenvilar den roten Stein durch die blaue Tür schleuderte und das Netz orangener Blitze sich auflöste. Dann sank sie entkräftet zu Boden, ihr geschuppter Schwanz zuckte leicht. Was musste sie durchleiden, wenn schon ein einzelner Blitz…?
Zserrana!“, hauchte der Geist, der sich vor der Tür ausgeformt hatte. Er starrte in die Kammer, sein Blick voll Zorn und Niedergeschlagenheit. Dann verdichtete er sich und flog geschlagen davon, das Licht des neuen roten Steins in seinem Zentrum war schon bald nicht mehr zu sehen.
Nach und nach entkamen auch die anderen aus ihrer Starre, zum Schluss trat Ken Dorr durch die Wand, die nur noch er sehen konnte. Er schritt zu Kenvilar, die sich langsam zusammenrollte und schwach den Kopf hob. „Was machen wir mit ihr?“, fragte er mit gerunzelter Stirn und hob sein Schwert.
Thorn sah ihr in die orangenen Augen und seufzte: „Wir reden.“


Späte Nacht, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

„Folgt mir!“, flüsterte Kenvilar, nachdem sie sich einigermaßen erholt hatte. Thorn war sich nicht sicher, ob es wirklich richtig gewesen war, sie ausruhen zu lassen, aber sie zeigte keine Feindseligkeit. Schwerfällig glitt sie voran in den dreieckigen Gang. Er war hoch und breit genug, dass sie sich zumindest in der Mitte nicht zu ducken brauchte.
Sie waren erst wenige Schritt weit gekommen, da stoppte Kenvilar plötzlich und warf ihnen einen missbilligenden Blick zu. „Diese beiden nicht.“, verlangte sie und deutete auf Eara und Ken Dorr, die hinten liefen.
„Wir lassen niemanden zurück.“, erwiderte Chada unbeugsam.
Kenvilar lächelte verächtlich. „Das ist ein Fehler. Ken Dorr ist nicht vertrauenswürdig und die Dunkle Magierin wird sich der Finsternis nicht mehr lange verweigern können. Eines Tages wird sie ihr erliegen.“
„Ich werde nicht zulassen, dass es so weit kommt.“, verkündete Eara ernst. Thorn wusste nicht genau, was sie damit meinte, doch etwas an dieser Aussage weckte Sorge in ihm. Eara war gnadenlos, gegenüber anderen, aber auch gegenüber sich selbst.
Kenvilar verharrte kurz, dann nickte sie langsam und fixierte Ken Dorr. „Bleibt der Dieb. Ihr seid sicher, dass er mitkommen muss?“
Drukil reagierte nicht, doch alle anderen zeigten mehr oder weniger deutliche Zeichen der Zustimmung. Ken Dorr schien davon am überraschtesten zu sein. „Das bedeutet mir wirklich …“
Weiter kam er nicht. Kenvilar presste ihre Hand auf seine Stirn, er schrie kurz auf und verstummte dann, sein Gesicht verlor jegliche Regung. Als Kenvilar ihn losließ, prangte ein kleiner, schwach glühender grüner Edelstein auf seiner Stirn.
„Was habt Ihr mit ihm gemacht?“, rief Chada entsetzt.
„Sein wacher Geist schläft nun. Er hört und sieht nichts mehr von dem, was um ihn herum geschieht.“ Kenvilar wandte sich ab folgte dem Gang.„Ihr solltet Ken Dorr nicht vertrauen. Er spielt ein dreifaches Spiel und benutzt euch und den Ewigen Rat, um seine Ziele zu erreichen.“, ergänzte sie. „Hat er erwähnt, dass er im Auftrag des Ewigen Rates bei euch ist? Dass er von jedem von euch ein Haar entwendet und es dem Schwarzen Herold überreicht hat?“
Sie warf einen kurzen Blick über ihre Schulter. Zweifelsohne entgingen ihr nicht die misstrauischen Blicke, die sie alle dem stumpfsinnig hinter ihnen hertrottenden Dieb zuwarfen.
Thorn stellte seine argwöhnischen Gedanken hintenan. Sie sollten nicht über Ken Dorr urteilen, während der Dieb selbst nichts dazu sagen konnte, und Kenvilar durfte sie nicht spalten. „Jetzt geht es nicht darum, wie weit wir ihm trauen können“, erwiderte er schließlich, „sondern wie weit wir Euch trauen können. Ihr sagtet, keine Tricks mehr, aber der Kristall auf Kens Stirn spricht eine andere Sprache. Woher wissen wir, dass Ihr uns nicht wieder blendet? Woher wissen wir, dass nicht das alles hier eine weitere verdammte Sinnestäuschung ist?“
„Eure Sinne sind derart jämmerlich, dass es kaum einen Unterschied machen dürfte, ob ich sie täusche oder nicht.“, antwortete Kenvilar abfällig. „Wenn überhaupt würde ich euren Verstand verwirren. Aber erstens wäre ich noch nicht in der Verfassung dazu, zweitens habe ich entschieden, es mit Kooperation zu probieren. Genügt das?“
Thorn schwieg. Was sollte er schon fragen? Es gab keine Möglichkeit für ihn, festzustellen, ob er die Wirklichkeit vor sich sah. Ihm blieb nichts anderes, als Kenvilar zumindest hierbei zu vertrauen. Sie alle hatten sich entschlossen, ihr zu folgen, ohne zu wissen, ob sie zu einer Falle oder einem Friedensangebot geführt wurden.
Nachdenklich musterte Thorn seine Umgebung, suchte nach Ungereimtheiten, die auf einen Trick hindeuteten. Die allgegenwärtigen Schriftzeichen bedeckten auch hier alle drei Wände, obwohl die Künstler offensichtlich Schwierigkeiten gehabt hatten, die verschlungenen Formen über die Ecken hinweg fortzusetzen. Beleuchtet wurde der Gang durch ein blaugrünes Licht, das seinen Ursprung weiter vorne hatte und das immer heller wurde, je weiter sie gingen.
„Hat einer von euch in den Schwarzen Stein geblickt?“, wollte Kenvilar plötzlich wissen, ohne innezuhalten.
„Ja! Ich!“ Drukil klang, als gestehe er ein schändliches Verbrechen.
„Dann wäre es besser, wenn ich dich töte.“, überlegte Kenvilar beiläufig.
Thorn verspannte sich und legte einen Hand auf den Griff seines Schwertes. „Wir werden das nicht zulassen!“, drohte er. „Was soll so schlimm sein an diesem Stein?“
„Die in Kristall gezwängte Freiheit offenbart die Möglichkeit des Kommenden nicht ohne Grund.“ Sie seufzte schwermütig. „Doch ihr habt ohnehin schon miteinander kommuniziert, ob er jetzt weiterlebt oder stirbt ist von untergeordneter Bedeutung.“ Sie schien nicht gewillt, Drukil anzugreifen und Thorn entspannte sich etwas. Sein Schwert jedoch ließ er nicht wieder los.
„Dieser Geist … weshalb wollte er den Baum der Lieder zerstören? Und weshalb wolltet Ihr das nicht?“, fragte Chada misstrauisch.
„Vor seinem Tod glaubte er, diesen Ort dadurch retten zu könne.“, erklärte Kenvilar verhalten. „Sicher, jetzt wäre er längst zu spät. Doch für die Gestorbenen gelten andere Regeln. Sie kümmern sich kaum noch um die Gründe ihrer Wünsche. Sie tun alles, um ihr Ziel zu erreichen, selbst wenn dieses Ziel jeden Sinn verloren hat. Noch ein Grund, weshalb der sogenannte Schwarze Herold so gefährlich ist.“
Sie stampfte mit ihrem Stab auf, als sie den Herold erwähnte, und fuhr dann fort: „Die Quelle dieses Geistes jedenfalls ist der Baum des Anbeginns selbst, daher konnten wir ihn nicht einfach vernichten. Sicher, als der Zyklus vollendet war und ein neues Samenkorn existierte, hätten wir es zulassen können. Doch wann immer einer der Bäume zerstört wird, wird die Ordnung der Welt geschwächt. Weshalb hätten wir das zulassen sollen? Unter großen Mühen ketteten wir ihn an diese Insel. Eine Möglichkeit, die für einen gewissen anderen Geist leider ausscheidet, solange er den Baum des Vergehens kontrolliert.“
Die letzten Worte murmelte sie leise für sich, ehe sie ganz verstummte, dennoch zweifelte Thorn nicht daran, dass sie nichts gesagt hätte, von dem sie nicht wollte, dass es gehört wurde. Sie durften sich nicht von ihr beeinflussen oder ablenken lassen! Schweigend richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Umgebung.
Etwa alle zehn Schritt bemerkte er ein seltsamen Muster an beiden Wänden und dazwischen auf dem Boden, das sich von dem schwarzen Stein und den verworrenen Glyphen abhob. Ein gleichseitiges Dreieck, gebildet aus drei kleinen Edelsteinen, die zwei unteren Ecken grün und blau, die Spitze rot. Von jeder der Ecken zeigte eine weitere Linie zum Mittelpunkt des Dreiecks. Wo sie sich trafen, war ein kunstvoller goldener Baum in den Stein eingelassen, in dessen Zentrum eine merkwürdige Vertiefung war. Eine leere Halterung womöglich?
Chada folgte seinem Blick und runzelte ihre Stirn, als sie das Symbol bemerkte. „Der Goldene Baum… das ist das Zeichen von Mutter Natur!“
„Nein, ist es nicht!“ Kenvilar blickte müde über ihre Schulter und winkte sie weiter. „Die Dreieinigkeit führte den Goldenen Baum in ihrem Siegel, Jahrtausende bevor ein sogenannter Prophet eure Religion erfand. Und auch wir waren nicht die ersten Götter mit diesem Symbol.“
„Du behauptest, Mutter Natur sei eine Erfindung? Woher kannst du das wissen?“, fragte Leander voll aufrichtiger Neugierde.
„Dass irgendeine Entsprechung existiert, möchte ich nicht ausschließen. Es gibt Indizien, Einmischungen ohne Urheber, ungelöste Rätsel, für die sie eine Antwort böte. Aber wenn sie existiert hat sie nicht viel gemein mit der Gottheit, zu der ihr betet.“
„Und was hat es mit Eurem Siegel auf sich?“, wollte der Seher wissen.
„Diese Welt kann nur bestehen durch ein Gleichgewicht von Werden und Vergehen, von Erneuerung und Verfall. Ich, Kenvilar, die Tückische, bin die Jüngste der Drei Mächte. Ich schuf mich selbst aus Meeresschaum und einer Prise Freiheit. Ich bin die Erneuerin, die Schaffende, ich schütze und vertrete den Anbeginn.“ Sie hob ihre Hand und eine Kugel aus grünem Licht erschien darin, schwebte im stets gleichen Abstand vor ihr.
„Auf der anderen Seite ist Oktohan, der König der Tiefe, dessen Volk schon vor Äonen verging. Er kennt die Vernichtung und ihre Notwendigkeit. Er reinigt das Meer, sorgt dafür, dass das Entstehende niemals Überhand gewinnt.“ Sie platzierte ein blaues Licht neben dem grünen.
„Auf dem Fundament von Schöpfung und Auslöschung beruht die Ewigkeit. Sie benötigt das Gleichgewicht, und ist zugleich seine Bedingung. Arkteron, der Herr der Stürme, Erster unter den Geistern des Windes, wählte die Ewigkeit für sich, sie zu behüten und zu bewahren, obgleich sie immer unerreichbar blieb.“ Sie setzte ein drittes Licht, rot wie Blut, über die beiden ersten.
„Wir drei schlossen ein Bündnis, festigten die Balance des Meeres. Wir schworen, uns mit all unserer Macht für den Erhalt der Ordnung einzusetzen, was es auch kosten möge. Keiner von uns ahnte, wie sehr wir die letzten Worte bereuen würden. Wir sind Götter, doch wir sind auch fehlbar.“ Blasse Linien verbanden die drei Lichter zu einem Dreieck.
„Ihr seid keine Götter!“, protestierte Chada.
Kenvilar lachte höhnisch. „Ach nein? Und warum nicht? Weil wir sterben können? Weil wir grausam sind? Nichts davon macht uns mehr oder weniger zu Göttern! Was bedeutet es, ein Gott zu sein?“ Sie wandte ihr Gesicht zu Chada, ihre Augen glühten bedrohlich. „Es bedeutet, das Gleichgewicht zu achten und zu bewahren. Es bedeutet, frei von irdischen Zwängen zu sein. Es bedeutet, Ordnung aus dem Chaos zu schaffen. Nicht mehr und nicht weniger.“
Ohne eine Antwort abzuwarten widmete Kenvilar sich wieder dem vor ihr schwebenden Dreieck. „Anfang, Ende und Ewigkeit beruhen allesamt auf dem Gefüge der Zeit. Entstehen bedeutet, dass etwas wird, das zuvor nicht war, Vergehen bezeichnet das Gegenteil dessen, und die Ewigkeit gewinnt erst durch das Verstreichen von Zeit an Bedeutung.“ Im Zentrum des Dreiecks bildete sich das gelb leuchtende Abbild eines Baumes.
„Der Goldene Baum ist also ein Symbol für die Zeit?“, hakte Thorn nach.
„Ja, aber auch für mehr. Für das Bringen von Opfern. Für die Ordnung. Für alles. In eurer Religion heißt es, Mutter Natur habe die Welt aus dem Chaos geschaffen, doch das ist eine Irrlehre. Es war die Dunkelheit, die das Licht gebar. Ein Licht, so hell, dass die Finsternis weichen musste. Ein Licht, so hell, dass alles hätte weichen müssen, wäre es nicht freiwillig verblasst, um das Gleichgewicht zu wahren. Der Goldene Baum steht für dieses Licht, oder für den letzten Schimmer, der noch davon verblieben ist.“
Sie verfielen in Schweigen. An den Wänden, in den sich wiederholenden Zeichen der Mächte des Meeres, erhellten inzwischen Lichter ihren Weg, grün an der linken und blau an der rechten Wand. Thorn besah sich eines der Lichter näher. In der Mitte des Goldenen Baumes, wo weiter vorne eine leere Vertiefung gewesen war, leuchtete hier ein zersplitterter Kristall, vom Fels selbst in Form gehalten. Behutsam strich Thorn über die scharfkantige Oberfläche. Kurz meinte er, mehr zu spüren als nur die Kühle des Kristalls. Da war ein Anflug von vergangener Macht, ein Gefühl von Vitalität, das Erkennen ungenutzter Möglichkeiten…
Thorn atmete aus und die Empfindung verschwand. Was war das? Auch wenn das Licht identisch war, hatten diese Kristalle hier nichts zu tun mit den Merasteinen oder den Lichtquellen im Raum mit dem Schwarzen Stein. Sie waren nicht einfach nur Lampen.
„Hört auf zu trödeln!“, rief Kenvilar genervt und Thorn ließ seine Hand widerwillig sinken. Zögernd betrachtete er die Reihen aus Kristallen an beiden Wänden und die leeren Dreiecke auf dem Boden. Dann folgte er ihr.


Späte Nacht, 10. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Eine weitere Tür aus blauem Mera beendete den dreieckigen Gang. „Ich habe euch hierhergeführt, um euch die Augen zu öffnen. Um euch zu beweisen, dass der Ewige Rat auch unser Feind ist.“, erklärte Kenvilar ernst. Sie berührte die Tür mit ihrem Stab und die beiden Flügel öffneten sich lautlos. Dahinter lag ein riesiges Gewölbe, in tiefe Dunkelheit getaucht. Die Tückische glitt hinein, die Helden folgten ihr argwöhnisch.
Eara hob ihren Stab und ein dunkelblaues Feuer flackerte auf. Kurz sah Thorn die Schatten gigantischer Äste, dann blickte Kenvilar erbost über ihre Schulter und das Licht wurde gewaltsam abgewürgt.
Eara keuchte auf. „Das war keine Dunkle Magie!“, protestierte sie schwach.
„Dunkle Magie und Zauberei sind einander ähnlicher, als euch weisgemacht wird. Beide beeinflussen das Wesen aller Dinge. Vom Verstärken der Ordnung zu ihrer Vernichtung ist es nur ein kleiner Schritt. Was glaubt ihr, weshalb die Zauberei ausgerechnet in Hadria so verbreitet ist? Was glaubt ihr, warum wir die Insel über viele Jahrhunderte hinweg mit Stürmen und anderen Plagen heimsuchten?“
Kenvilar schien keine Antwort zu erwarten. Sie entfachte ein klares grünes Licht, das aus der Spitze ihres Stabes strahlte und die Grotte erhellte. Sie standen vor dem Skelett ein kolossalen Baumes, der die gesamte Höhle ausfüllte und dessen Wurzeln sich in den Stein gruben.
„Was wisst ihr über diesen Ort hier?“, fragte Kenvilar in die Runde.
„Wissen? Nichts!“ Leander schüttelte den Kopf. „Wir kennen nur eine alte Geschichte. Solantis, die Gleißende Stadt, war eine frühe Hochkultur, die jedoch eines Tages im Meer versank, als der Ewige König Myranon sich gegen seine Götter auflehnte. Wie sieht Eure Version der Geschichte aus?“
Kenvilar lächelte schwach. „Der Name Solantis ist nur eine Wortneuschöpfung aus verschiedenen Begriffen der Sprache des Nordens. Und die Nerax, die an diesem Ort lebten, wären entsetzt gewesen, dass ihre stolze Republik in den Geschichten von einem König beherrscht werden würde. Das nur am Rande.“
Schlagartig erlosch ihr Lächeln. Trauer senkte sich über ihr Gesicht. „Als wir Mächte des Meeres uns zur Dreieinigkeit zusammenschlossen, waren wir schon Jahrtausende alt und hatten unzählige Fehler mitangesehen. Wir wollten die Jungen Völker davor schützen, dieselben Fehler zu begehen. Also offenbarten wir uns einigen Nixenwesen, gaben ihnen Ratschläge, lehrten sie lange verschollenes Wissen, bis sie uns nach ein paar Jahrhunderten als ihre Götter akzeptierten. Dann brachten wir sie zu dieser Insel, zum Baum des Anbeginns.“
Mit ihrem Stab deutete Kenvilar auf den toten Baum. „Wir weihten unser neues Volk in die Geheimnisse dieses Ortes ein. Wir nutzten die Macht des Baumes, schufen Frieden und vergrößerten unser Einflussgebiet. Damals glaubten wir, wenn wir über viele Anhänger befehlen könnten, könnten wir diese Macht benutzen, um das Gleichgewicht zu wahren. Wir glaubten, auch die Sterblichen würden die Zerbrechlichkeit dieser Welt begreifen. Wir hielten Wissen und Fortschritt für etwas Gutes, bestärkten die Nerax in ihrer Suche danach. Wir glaubten, das Bestehende verbessern zu müssen, anstatt es zu erhalten. Wir waren vielen Irrtümern erlegen. Unser größter Fehler jedoch war es, mit der Macht des Baumes den Schwarzen Stein zu schaffen. Wir Narren dachten, auch Ausschnitte des Kommenden würden es uns ermöglichen, die Zukunft zu formen. Wir gewährten sogar unseren treuesten Dienern Blicke in den Schwarzen Stein, und während unser Reich erblühte, bekamen wir alle nur gezeigt, was wir sehen sollten.“
Kenvilar setzte sich in Bewegung, glitt langsam auf einen großen Riss in der Rinde des toten Baumes zu. Ihre Stimme war schwer von Schuld. „Schließlich wurde einer unserer Hohepriester, dessen Geist ihr vorhin begegnet seid, getäuscht. Er glaubte, den Baum des Anbeginns und dessen Samenkorn zerstören zu müssen. Ohne den Schwarzen Stein oder das Wissen, welches wir ihm verrieten, hätte es so weit nicht kommen können, so aber vergiftete er den Baum und war kurz davor, auch den Samen zu vernichten. Kein Plan konnte uns helfen, doch das Schicksal wies uns den Weg: Um alles zu retten, mussten wir opfern, was uns am meisten bedeutete. Unser Reich, unsere Stadt, übergaben wir den Flammen. Wir befreiten das Feuer, dessen Energien dieser Ort anzapfte, aus seinem kristallenen Kerker. Als wir es wieder in seine Schranken gewiesen hatten, waren wir verändert. Um unser Opfer zu ertragen, mussten wir alles Gute von uns stoßen. Unsere Herzen waren gebrochen, unsere naiven Vorstellungen ausgebrannt, und wir erneuerten unseren Schwur. Wir hatten begriffen, dass wir nicht gleichzeitig all die kleinen Leiden dieser Welt und das Ende der Ordnung bekämpfen können. Dass Wissen nicht zu Verständnis führt, dass die Gier der Sterblichen ihre Vernunft immer übertrumpfen wird. Wir suchten all unsere Diener auf, die wir in die Ferne geschickt hatten, und ermordeten sie. Wir zerschlugen unseren eigenen Glauben, vernichteten alle, die etwas über die Bäume wusste. Wir bereinigten unsere Fehler, beseitigten jeden, der der Ordnung gefährlich werden könnte und sorgten dafür, dass das alte Wissen wieder in Vergessenheit geriet.“
Sie senkte ihren Kopf und die dunklen Haare verbargen den Ausdruck in ihren Augen. „Heute weiß kaum jemand mehr über uns als einige Schauermärchen. Unsere Untaten sind bekannt, nicht aber unsere Ziele. Wenn Arkterons kalter Atem ganze Landstriche verwüstet, wenn Oktohan Schiffe zerschlägt und Flotten auf den Meeresgrund zieht, wenn ich Zwietracht säe und Konflikte anheize, dann niemals ohne Grund.“
„Welcher Grund soll das sein?“, fragte Thorn ungläubig. „Wenn auch nur ein Bruchteil dessen stimmt, was über die Mächte des Meeres erzählt wird, dann gibt es dafür keine Rechtfertigung!“
„Niemals ohne Grund!“, wiederholte Kenvilar kalt. „Die Ordnung der Welt ist alt und brüchig, wie die dünne Farbschicht eines Gemäldes. Sie braucht Pflege und Aufmerksamkeit, sonst wird sie rissig. Ganze Stücke brechen auf und von den Rändern her verschwindet sie ganz, bis nur noch die leere Leinwand bleibt. Und glaubt mir, niemand von uns kann das wollen. Wenn wir Seher verfolgen und töten, dann weil sie zu viel sehen könnten. Wenn wir alte Schriften suchen und verbrennen, dann weil wir genau so etwas wie den Ewigen Rat verhindern wollen. Wenn wir unsere Schöpfung Warx, den König der Nerax, anweisen, sein Volk in den Krieg gegen die Menschen zu führen, dann weil Frieden zu Wohlstand führt, Wohlstand zu Fortschritt, Fortschritt zu Wissen! Zu viel Wissen aber führt euch in den Untergang, lässt euch die gleichen Fehler wiederholen. Und wir können nicht immer zur Stelle sein.“
„Also tötet ihr unzählige Menschen, damit wir dumm bleiben?“, resümierte Eara skeptisch.
„Euer Leid ist euer Schutz. Was kümmern uns irgendwelche Menschen, oder Zwerge, oder Nerax? So viele Kulturen sind vergangen, so viele Völker ausgelöscht, auch ihr werdet dieses Schicksal eines Tages teilen. Was wisst ihr noch über die Temm, die Titanen, die Vitaa-Rii, die Zschzchrah? Ihr seid kleine Kinder, die im Badezuber planschten und jetzt glauben, den Ozean zu kennen! Wenn ihr ein Spiel spielt, dann sorgt ihr euch nicht darum, wie viele Spielsteine geschlagen werden, sondern nur um den Sieg.“
„Das ist kein Spiel! Es ist die Wirklichkeit!“, hauchte Chada.
Kenvilar seufzte leise und duckte sich, um durch den Riss im Holz zu passen. Dahinter war der Baum ausgehöhlt, nur die Rinde existierte noch. In der Mitte standen die zerstörten Überreste eines großen grünen Kristalls. „Die Wirklichkeit ist ein Spiel, Bogenschützin! Doch wir sind nicht die einzigen, die es spielen. Wie besiegt ihr einen Feind, den ihr nicht kennt, der euch jedoch ganz genau kennt? Der von jedem eurer Gedanken, jedem eurer Pläne, jeder eurer Ideen schon weiß, ehe sie in eurem Kopf entstanden? Der weiß, wie ihr handelt und was ihr seid, wie ihr euch verhaltet und wie ihr reagiert? Wie besiegt ihr einen Feind, der euch besser kennt als ihr selbst, der die Welt versteht, wo ihr raten müsst? Der alles versteht außer sich selbst? Wie besiegt ihr einen Feind, der jede Regel des Spiels begreift, und der die Position aller Steine kennt? Der weiß, dass die Steine den Regeln folgen müssen und nur entlang bestimmter Wege gezogen werden dürfen? Der weiß, welche Steine er setzen muss, um dem Spiel sein Ende aufzuzwingen?“
Sie schüttelte bedächtig den Kopf und näherte sich dem Kristall. „Güte und Erbarmen machen die Niederlage zur Gewissheit. Vertraut mir, die Dreieinigkeit spielt dieses Spiel schon zu lange. Wir sind Wächter im Verborgenen, die sich nur noch gelegentlich einmischen. Wir sind Götter, die jeden Spielstein aus dem Spiel nehmen, der am falschen Platz ist. Und der Ewige Rat ist ein solcher Spielstein.“
Das Licht auf ihrem Stab erlosch, der zerstörte Kristall leuchtete hell genug. „Wir wollen das Hadrische Meer nicht beherrschen! Das taten wir früher, und es lenkte uns nur ab. Wir wollen keine Macht! Was nützte sie uns, als all das hier zugrundeging? Die Zerstörung des Baumes öffnete uns die Augen. Wir hatten den Samen, der alle Macht beherbergte, aber wir pflanzten ihn in die Küste eures Waldes. Wir woben einen Fluch über die Bäume, denn kein anderer Gott sollte unseren Fehler wiederholen und die Macht eines Baumes missbrauchen.“
Kenvilar senkte ihre Stimme. „Schon seit Ewigkeiten bringen wir die Samen vom Baum des Anbeginns und des Vergehens in Sicherheit, verbergen und bewachen sie hier. Ihr habt ihre Überreste auf dem Weg hierher in unseren Siegeln gesehen. Seit der Katastrophe gibt es kein besseres Versteck als eine Insel, die nur eines von fünfhundert Jahren auftaucht.“
Thorn stockte der Atem. Er dachte zurück an die Kristalle an den Wänden, blau und grün. Werden und Vergehen. An die leeren Vertiefungen, die noch darauf warteten, gefüllt zu werden. Und an die unzähligen Nischen, in denen ein solcher Kristall bereits spross. Zehn Schritt, fünfhundert Jahre. Wie lange schon …?
„Und wie hängt dieses Auftauchen mit den Samenkörnern zusammen?“, hakte Leander nach.
„Sterbliche!“, stöhnte Kenvilar. „Überall seht ihr einen Zusammenhang! Die Ordnung dieser Welt ruht auf mehr als einer Säule, und sie alle müssen regelmäßig erneuert werden. Eine nützliche Koinzidenz, mehr nicht.“
Kenvilar stoppte vor dem Kristall. Thorn bemerkte, dass er ausgehöhlt war, im Inneren lag eine dunkle Kugel, nur verschwommen zu erkennen.
„Ich habe euch hergeführt, um euch das hier zu zeigen: Dies ist der Samen, den zu suchen der Schwarze Herold uns beauftragt hat. Den Samen vom Baum des Vergehens fand er vor uns, diese Frucht aber hatten wir schon längst hierhergebracht. Wir widersetzen uns dem Ewigen Rat auf unsere Weise. Er verbreitet das Wissen um die Bäume, missbraucht die Macht des Vergehens, ist eine Bedrohung für das Gleichgewicht – er ist auch unser Feind. Es gibt nichts, was er uns bieten könnte.“
„Keine Macht vielleicht.“, überlegte Thorn. „Aber Rache für den Tod Oktohans.“
„Wir wollen keine Rache.“, versicherte Kenvilar. „Wir wussten von euch, schon ehe ihr in den Norden kamt. Ihr habt gegen den mächtigsten Dunklen Magier aller Zeiten gekämpft und den letzten Drachen getötet. Ihr habt das entflohene Eis besiegt, und obwohl noch ein Dutzend Jahre zur vollen Pentahektode fehlten, habt ihr damit nur den Fehler anderer beseitigt und die Temm wussten, was sie zu tun hatten. Doch euren Sieg über den König der Tiefe verdankt ihr nicht eurem Geschick, nicht eurer Kraft, nur einer ungünstigen Verstrickung verschiedener Kausalketten. Ihr habt nur euren vorbereiteten Weg beschritten, seid einem Plan gefolgt, den ihr nicht verstandet. Ihr wart nur … Spielsteine. Ja, ihr habt die Waagschalen ins Ungleichgewicht gebracht, ihr habt die Balance des Meeres zerstört, und nur diesem größenwahnsinnigen Geist ist es zu verdanken, dass sie jetzt wiederhergestellt ist. Doch wir hassen euch eben so wenig wie das Wetter an jenem Tag.“
„Dass Ihr den Ewigen Rat nicht mögt bedeutet nicht, dass Ihr Euch gegen ihn auflehnt. Der Schwarze Herold hat bereits angedroht, die Mächte des Meeres zu vernichten.“, stellte Eara fest.
„Aus diesem Grund geben wir vor, auf seiner Seite zu stehen. Doch wir würden niemals eine solche Störung einfach tolerieren! Wenn wir uns mit ihm arrangieren, wenn wir von unserem jetzigen Pfad abweichen würden, dann wäre unser Opfer sinnlos geworden! Versteht ihr nicht? Es würde dem, was wir aufgaben, seine Bedeutung nehmen! Alle an diesem Ort wären umsonst gestorben, wenn wir zulassen, dass das Wissen um die Bäume wieder Verbreitung findet. Wir könnten das nicht dulden! Wir könnten nicht schon wieder alles verlieren, was uns ausmacht!“
Ihre Stimme brach. Thorn bezweifelte, dass das unabsichtlich geschah, dennoch musste er feststellen, dass er ihr glaubte.
„Sagt mir, was die Quelle des Schwarzen Herolds ist.“, bat Kenvilar. „Die Dreieinigkeit wird den Ewigen Rat zum geeigneten Zeitpunkt zerschlagen und den Baum des Vergehens in Sicherheit bringen, das schwöre ich.“
Thorn wechselte einen unsicheren Blick mit Chada. Die Mächte des Meeres hatten Schreckliches getan und würden es auch weiterhin tun. Doch standen sie in dieser Sache nicht auf derselben Seite?
„Was wird aus uns?“, fragte Leander zaghaft. „Ihr habt über Jahrhunderte jeden vernichtet, der etwas über die Herzen der Mutter wusste. Wir gehören dazu. Viele unserer Freunde und Verbündeten gehören dazu. Warum solltet Ihr uns verschonen, wenn wir erst von der Quelle berichtet haben?“
„Du bist so klug, Seher!“, zischte Kenvilar verächtlich. „Ja, ich kann es nicht leugnen: Alle Eingeweihten müssen vergessen. Wir können ihre Erinnerungen manipulieren. Doch wer sich dem verweigert, muss sterben.“
Thorns Hand schloss sich fester um den Griff seines Schwertes. Chada zog einen Pfeil aus ihrem Köcher und erklärte ernst: „Ich fürchte, das kommt nicht in Frage. Und auch die tote Frucht können wir euch nicht überlassen, wenn ihr sie verwenden wollt, um das Wissen um die Herzen auszumerzen.“
„Ihr habt noch immer nicht begriffen!“, fauchte die Tückische zornig. „Der Samen ist bei uns am sichersten! Wir haben unsere Lektion gelernt, wir können und werden die Macht keines Baumes mehr anwenden. Doch ich muss euch ein letztes Mal bitten, mir den Ort der Quelle zu …“
Ein dumpfes Grollen ertönte. Der grüne Kristall erzitterte, der ausgehöhlte Baum erbebte und ächzte besorgniserregend. In Kenvilars Augen flammte etwas auf, für einen kurzen Moment nur: Furcht! Thorn war sich sicher, soeben zum ersten Mal eine Regung gesehen zu haben, die er nicht bewusst gezeigt bekommen hatte.
„Ich habe es ihnen verboten!“, flüsterte Kenvilar entsetzt. Sie sah durch die Wand des Baumes, vermutlich erblickte sie mehr als nur totes Holz. „Die Situation hat sich soeben geändert.“, erklärte sie gepresst. „Ich bin bereit, euch den Samen zu überlassen, wenn ihr etwas für mich erledigt.“
„Was ist geschehen?“, fragte Eara ruhig.
Kenvilar richtete ihren Blick auf die Magierin. „Das Feuer wurde befreit. Wenn niemand es aufhält, wird die Welt in einem Flammensturm vergehen. Ihr müsst es besiegen!“
„Kenvilar, die Tückische, die uralte Göttin, ist auf unsere Hilfe angewiesen?“, bezweifelte Leander.
„Der Geist hat mich geschwächt, und meine Macht wird anderweitig benötigt, wenn das hier nicht in eine Katastrophe münden soll. Das Feuer muss eingefangen werden, aber es darf nicht sterben. Dafür bin ich zuständig.“
Sie tippte den Kristall an und er zerfiel in hunderte Splitter. Darin lag eine schwarze Kugel, ähnlich einer Frucht vom Baum der Lieder, doch schwarz und rissig, wie verkohlt. Aus dem Inneren strahlte ein grünes Licht hervor. „Das ist der Samen, den zu erlangen ihr hergekommen seid! Tut, was ich von euch verlange, und er gehört euch.“
Thorn schüttelte den Kopf. „Wie sollen wir ein Feuer bekämpfen können? Und woher sollen wir wissen, dass es wirklich so gefährlich ist, wie Ihr behauptet?“
„Eilt zum Roten Gang, und all eure Fragen werden sich aufklären!“, versprach Kenvilar ungeduldig. „Jetzt ist keine Zeit für langes Reden! Ein Dämon erwartet euch! Wenn ihr gewonnen habt, folgt dem Roten Gang. Wir treffen uns am Abgrund!“
Sie beugte sich herab und nahm den Samen. Dann zögerte sie kurz und flüsterte etwas, woraufhin der Edelstein auf Ken Dorrs Stirn kurz aufblinkte und der Dieb aufkeuchte. Er wankte und sah sich verwirrt um. „Was ist …“ Sein Blick fiel auf Kenvilar mit der toten Frucht in der Hand und er wich zurück.
„Verratet ihm nicht mehr, als nötig ist.“, verlangte sie. „Und vergiss nicht, Eara!“, ergänzte sie mit hörbarer Verachtung. Es war das erste Mal, dass sie einen von ihnen mit Namen ansprach, bemerkte Thorn. „Keine Dunkle Magie an diesem Ort!“
Die Göttin aus Freiheit und Meeresschaum leuchtete grün auf, dann waren sie und die tote Frucht verschwunden.


Morgendämmerung, 11. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Keuchend verließ Thorn den dreieckigen Gang und stützte sich an der Wand der Kammer ab, wobei er darauf achtete, dem Schwarzen Stein nicht zu nahe zu kommen. Da der gesamte Berg immer stärker erzitterte, hatten sie zu rennen begonnen, nur dass zugleich auch die Temperatur anstieg. Thorn fluchte, als seine Hand zu schmerzen begann, weil sie an der viel zu heißen Wand lag. Jede Oberfläche glühte, eine drückende Hitze erfüllte die ausgestorbenen Gänge und der Schweiß verdampfte noch auf seiner Haut. Er hatte Durst, doch sie hatten ihre Vorräte auf dem Schiff gelassen.
„Wo bleibt Ken Dorr?“, fragte Thorn ungehalten, nachdem alle anderen ebenfalls die Kammer erreicht hatten
„Komme schon!“, keuchte seine hohe Stimme, dann wankte auch er in die Kammer. „Ihr glaubt nicht wirklich, dass Kenvilar uns die tote Frucht überlassen wird, oder?“ Anscheinend hatte irgendjemand ihn bereits in aller Kürze aufgeklärt.
„Wir werden sehen.“, erwiderte Chada beherzt, dann wandte sie sich dem Roten Gang zu, der nicht länger rot war. Das Gleißen seiner Wände war so hell, dass er weiß schien, strahlend wie die Sonne. Thorn konnte ihn nicht lange ansehen, sondern musste rasch seine Augen zusammenkneifen. Das blendende Licht flutete die Kammer und überstrahlte die Kristalle in den Ecken bei weitem.
Plötzlich erklang eine Stimme aus der Tiefe, fauchend und unmenschlich: „Nein, nicht … nicht wehtun … will nicht! Niemandem! Wir sind viele, wir sind einsam, ich bin einsam. Allein mit den Stimmen! Alleeeiiin!“
Eine plötzliche Hitzewelle schlug ihnen entgegen und der gequälte Schrei erstarb. „Ja! Ja, ja, ja! Fort! Fort von den Flammen! Aber sie folgen uns. Nein, tun sie nicht! Sie sind überall! Um uns, bei uns, in uns! Wir müssen uns von ihnen befreien! Den Schmerz bekämpfen! Bekämpfen? Wie? Er ist überwältigend!! Allgegenwärtig … unendlich … fünfhundert Jahre der Qual …“
„Wer ist da?“, rief Chada. Ihre Ruhe und Entschlossenheit gab auch Thorn Zuversicht.
„Was? Stimmen, nicht aus meinem Kopf? Fremde! Eindringlinge! Wir müssen sie verbrennen… Nein! Ich will nicht wehtun! Es sind Besucher! Freunde! Sie feiern unsere Freiheit! Hallo, Freunde! Wir sind … das ewige Feuer! Der Schmerz! Ich bin … wir sind … Mirak…selaaaaa!“ Die Stimme kreischte gepeinigt.
„Still, still! Es sind Wächter! Siehst du nicht, dass der da ihr Zeichen trägt? Der grüne Stein da! Sie hat sie geschickt! Sie sollen uns aufhalten! Wieder einsperren! Dem Schmerz überlassen! Nein, das … Stimmt das? Hat sie euch geschickt?“
„Wer?“, fragte Thorn, auch wenn er sich die Antwort denken konnte.
„Die Schlangenfrau! Die Verführerin! Die mich hierherbrachte … die mir große Macht versprach und ein Jahrhunderte währendes Leben … wenn ich nur das Feuer annähme! Die Lügnerin, die mir die Stimmen verschwieg. Und die Gefangenschaft. Und den Schmerz!“, zischte die Stimme hasserfüllt. „Ein Jahr erst ist um von fünfhundert … und wenn die ewigen Schmerzen verstrichen sind, wird auch Mirak nur eine der Stimmen sein. Dazu verdammt, den Schmerz aller Sela zu durchleiden!“
Jemand trat aus dem gleißenden Gang, der Umriss eines Mannes zeichnete sich gegen das weiße Licht ab. Die Hitze ließ sie alle zurückweichen. Allmählich erkannte Thorn eine rot glühende Gestalt, von weißen Flammen umzüngelt, um die herum die Luft flimmerte. Wo sie einen Fuß hinsetzte, verformte sich der schwarze Fels.
„Ich wurde … aus meiner Heimat gerissen … habe den Clan verlassen … alle Totems entehrt … ist das hier meine Strafe? Nein! Nein, nein! Dieser Schmerz … immer … überall! Das Feuer wütet in uns! Brennt und brennt! Immer hungrig, immer zornig, immer heeeeeiiiiiiiß!“
Die Gestalt schien zu explodieren. Feuer entflammte und brandete ihnen entgegen. Im letzten Moment glitten Schatten in den Weg und das Meer aus rauchlosen Flammen teilte sich, umspülte sie, loderte hell auf. Eara hatte sich augenscheinlich über Kenvilars Mahnung hinweggesetzt. Die Flammen schlugen gegen die Wände, der Berg erbebte heftig wie nie zuvor, die Kristalle in den Ecken saugten das Feuer ein, gleißten auf und zersprangen kurz darauf.
„Ja! Ja! Fort mit dem Schmerz!“, kreischte Miraksela euphorisch. „Aus uns heraus! Irgendwohin, nur nicht in uns! Und fort mit dem Kristall! Tausend kleine Nadeln! Die Fischmenschen versprachen Erlösung! Aber sie raubten uns nicht den Schmerz, nur die Kraft. Und der Schmerz kehrt immer zurück! Immer! Nein, nein, nein, nein, neeeiiin!“
Das Feuer erstarb und die Gestalt kauerte sich zusammen und wiegte sich hin und her. Sie strahlte zu hell, als dass Thorn den Gesichtsausdruck hätte erkennen können, aber in der fauchenden Stimme lag tiefe Qual. „Ich will nicht wehtun! Miraksela … das sind nicht wir! Das bin nur ich! Aber Feuer und Schmerz sind so stark… Bitte, geht!“
Miraksela hob den Kopf. „Wir sind frei, frei, frei! Ein Stein unseres Kerkers wurde entfernt! Ihr wart hier, in meiner Einsamkeit. Ich will nicht wehtun! Ich warte, bis ihr fort seid, dann stoße ich das Feuer und den Schmerz von mir! Von uns! Entfessele die Flammen! Für einen Moment der Erlösung! Und für noch einen … und noch einen …“
Er begann zu schluchzen. Thorn wurde bewusst, dass er nicht gegen den Brennenden kämpfen wollte. Auch er war nur ein Opfer Kenvilars.
„Selbstsüchtig, werdet ihr sagen.“, zischte Miraksela schließlich. „Du bist ein Dämon, Miraksela! Tausende werden sterben! Das Feuer wird um sich greifen … die Welt verbrennen … der Schmerz, den du fortschickst, wird andere treffen… Aber ihr habt den Schmerz nicht gespürt! So groß, so unerträglich! Ihr habt die Stimmen nicht gehört! Sie haben Jahrtausende des Feuers hinter sich … sie haben jedes Gefühl außer den Schmerz vergessen … sie wissen nicht mehr, was Freude ist … wollen nur den Schmerz loswerden … wir wollen das…“
„Wir können nicht zulassen, dass du das Feuer auf die Welt loslässt.“, verkündete Eara ohne ein Anzeichen von Mitgefühl. „Wenn du dich nicht beherrschen kannst, musst du wieder zurück, woher du kamst.“
„Nein, nein, nein! Wir sind frei! Wir wollen nicht zurück! Fort, fort!“ Die Flammen um seinen glühenden Körper schlugen in die Höhe. „Bitte! Es wird nicht ewig sein. Nur fünf Jahrhunderte … dann übernimmt ein anderer diesen Platz … vielleicht stark genug, zurückzukehren … gegen die Stimmen … mit dem Schmerz…“
„Und wenn nicht?“, fragte Thorn leise. „Wir dein Feuer dann solange alles niederbrennen, bis kein Leben mehr existiert? Wirst du alles andere auslöschen und schließlich, wenn niemand mehr da ist, um diesen Platz einzunehmen, auch dich selbst?“
„Mich … selbst?“, Die Gestalt erstarrte und stand langsam auf. Die Feuer flackerten hektisch. „Ja, ihr habt recht! Wenn nichts mehr lebt … kann nichts das Feuer weitertragen. Keine Stimmen mehr. Kein Schmerz. Nur Frieden! Erlösung!“
Thorn riss die Augen auf und kniff sie wegen Helligkeit und Hitze gleich wieder zusammen. „Was? Nein, so meinte ich das …“
„Wir danken euch! Danke, Freunde! Ihr habt uns etwas geschenkt … Hoffnung … ein Ziel … eine Mission … das Ende allen Lebens … das Ende aller Sela … das Ende allen Schmerzes! Oh danke! Ich wünschte, wir könnten euch zurückbeschenken! Aber auch ihr … seid Leben. Ihr … eure Kinder … ich kann euch nicht mehr gehen lassen … ich schenke euch … einen schnellen Tod!“
Flammen stürzten ihnen entgegen. Erneut wob Eara einen Schutzwall aus Schatten, doch zu langsam. Das Feuer suchte sich seinen Weg, durch das Geflecht aus Dunkler Magie hindurch, flackerte ihnen entgegen, rote Finger griffen nach ihnen. Thorn spürte nur noch die Hitze, an seiner Kleidung, auf seiner Haut, in seinem Kopf.
Er brannte!
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J - Brennendes Silber

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:19

J – Brennendes Silber

Morgendämmerung, 11. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Drukil taumelte zurück, als die Rotze Katze ihre Klauen in seine Brust schlug. Sengende Hitze brannte sich in seine Haut, Flammen tanzten vor seinen Augen. Die Hitze ließ ihn schwindeln, das orangene Licht raubte ihm jede Orientierung. Drukil sank auf die Knie, hinein in das Meer aus Flammen.
Die Rote Katze verschlang ihn, umhüllte ihn, verbrannte ihn. Sie fraß sich an ihm empor und über ihn hinweg. Sie brüllte und wuchs, unaufhaltsam und grauenvoll. Drukil kauerte sich zusammen, um den Flammen möglichst wenig Oberfläche preiszugeben. Er war erstaunt, wie harmlos die Rote Katze war. Ja, sie war heiß, auch schmerzhaft, aber nicht annähernd so qualvoll wie er erwartet hatte. Durch das flackernde Licht erhaschte Drukil einen Blick auf Thorn, in eine weiße Flammensäule gehüllt und trotzdem unbewegt dastehend.
Als die Flammen langsam zusammenschrumpften bemerkte Drukil, dass zwar Thorns Kleidung zu Fetzen verbrannt, seine Haut jedoch unverletzt geblieben war. Erstaunt blickte er an sich herab, nur um festzustellen, dass es bei ihm selbst nicht anders war. Sein einziges unversehrtes Kleidungsstück war der silberne Armreif, der im Flammenschein leuchtete.
„Die Schlangenfrau … hat euch geschützt…“, fauchte Miraksela zornig. Die brennende Gestalt schüttelte kraftlos ihren leuchtenden Kopf. „Oder zumindest … einige von euch.“
Drukil fuhr zusammen und beäuge ängstlich die anderen. Thorn starrte fassungslos auf die glimmenden Überreste seiner Kleidung, deren Fetzen langsam zu Boden sanken, offensichtlich erstaunt, noch am Leben zu sein. Leander betastete seinen brennenden Umhang, während Chada ihren verkohlten Köcher nach einem intakten Pfeil durchsuchte, bis auch ihr auffiel, dass die Sehne ihres Bogens der Hitze nicht standgehalten hatte.
Sein Blick wanderte weiter zu Ken Dorr und Eara, die von der Dunklen Magie weitestgehend geschützt worden und dennoch weniger glimpflich davongekommen waren. Der Dieb hatte Brandwunden am Arm und verzog vor Schmerz das Gesicht, die Magierin erstickte soeben die letzten Flammen in ihren Haaren. Drukil tastete über seinen eigenen, unversehrten Schopf. Er verspürte Erleichterung, dass nur diese beiden nicht von Kenvilars Schutz betroffen waren, und schämte sich sogleich dafür. Die Tückische hatte selbst zugegeben, nichts ohne Grund zu tun. Wenn sie ausgerechnet die beiden sterben ließ, die auch ihm am wenigsten bedeuteten, was machte das dann aus ihm?
„Es tut mir leid!“, schrie der Flammendämon bedauernd und riss Drukil aus seinen Überlegungen. „Es wird enden wie damals … langsam … qualvoll … das Feuer wird sich seinen Weg in die Freiheit suchen, und nichts an diesem Ort wird überleben … ich wollte es euch ersparen … aber wir konnten es nicht … genießt eure letzten Stunden … und den ewigen Frieden jenseits des Schmerzes…“
Drukil griff nach dem Schwert, das er fallengelassen hatte. Doch Miraksela wandte sich ab und schritt zur blauen Tür und den Gängen nach draußen, ohne ihnen weitere Beachtung zu schenken. Zugleich erscholl ein dumpfes Dröhnen und die Kammer erbebte.
Unmittelbar vor Miraksela, zwischen den blau leuchtenden Türflügeln, wallte dunkler Nebel auf, die Schatten verflochten sich zu einer festen Barriere. Die Flammen um den Dämon flackerten auf und er drehte den Kopf zu Eara, auf deren Stab ein dunkelblaues Licht aufglühte. „Wir wollen euch nur … vom Schmerz erlösen …“, erklang seine fauchende Stimme beleidigt. Er legte eine leuchtende Hand auf die schwarze Wand und Eara keuchte auf und klammerte sich an ihren Stab. Sie schenkte jedem von ihnen einen ernsten Blick und schloss ihre Augen.
Chada rief etwas, aber Drukil verstand kein Wort, da der Lärm nur immer weiter anschwoll. Sie deutete entschlossen auf den Dämon und befreite ihre Dolche von dem, was einmal Lederscheiden gewesen waren.
Drukil hätte sich am liebsten zusammengekauert. Der Bär fürchtete die Rote Katze und hasste den Schwarzen Stein in seinem Rücken ebenso sehr wie die Dunkle Magie vor ihm. Auch du besitzt einzigartige Fähigkeiten, und ich spreche nicht nur vom Bären. Drukil straffte sich. Er war Bär und Pelzloser zugleich, das Unbehagen des einen durfte nicht den anderen lähmen! Er hob sein Schwert, stürmte auf Miraksela zu und brüllte die Furcht des Bären von sich.
Flammen züngelten aus dem nackten Stein, rote Schlangen wanden sich ihm entgegen und versuchten, ihn aufzufressen. Drukil blendete die Hitze und das flackernde Licht aus, konzentrierte sich einzig auf den Flammenmann, der ihn wehmütig aus weiß brennenden Augen betrachtete. Die Furcht verblasste und hinterließ nur Entschlossenheit.
Schritt für Schritt kämpfte Drukil sich vorwärts, den entgegenströmenden Flammen entgegen. Die Rote Katze brüllte zornig und tobte um ihn herum, aber konnte ihn nicht verbrennen. Je näher er Miraksela kam, desto unangenehmer wurde die Hitze selbst durch Kenvilars Schutz hindurch. Die letzten Rest seiner Kleidung flammten auf und verbrannten. Seine Haut färbte sich rot wie nach vielen Stunden in der sengenden Sonne.
Dann war er da. Miraksela blickte ihm ungerührt entgegen und Drukil erkannte hinter dem gleißenden Licht, um die glühenden Augen herum, ein Gesicht. Nicht unmenschlich, bösartig, dämonisch. Es war das Gesicht eines Mannes, mit breiter Nase und schiefem Mund, dazwischen Reste von etwas, was einmal ein Bart gewesen sein mochte. Ein Gesicht mit rot glimmender Haut und brennenden Augen, umgeben von Flammen und in der Hitze flimmernd, aber dennoch das Gesicht eines Menschen. Verzerrt von Gram und Schmerz.
Es tut mir leid! Drukil wollte sprechen, aber sein Mund war viel zu ausgetrocknet, um noch Worte hervorzubringen. Also hob er sein Schwert und bohrte es mit aller Kraft in die Brust des Flammenmannes.
Der metallene Schwertgriff begann rot zu glühen, die darum gewickelten Lederbänder vertrockneten und wurden unter seinem Griff zu Asche zermahlen. Das Metall lag an seiner Haut und einzig Kenvilars Schutz rettete seine Hand.
Miraksela richtete seinen Blick nicht von ihm. Die glühenden Augen glichen denen eines Menschen in nichts mehr und Drukil konnte kein Gefühl darin lesen, doch kurz meinte er, Trauer in seinen Zügen aufflackern zu sehen. Dann hob der Flammenmann die freie Hand und fegte Drukil mit übernatürlicher Kraft beiseite. Er wurde quer durch den Raum geschleudert und prallte neben dem unheimlichen Schwarzen Stein an die Wand. In seinem Mund breitete sich der Geschmack von Blut aus. Er rutschte zu Boden und starrte benommen auf den noch immer glühenden Schwertgriff in seiner Hand. Von der Klinge war nur die unterste Handbreit übrig, sie endete in einer verzerrten Kante aus langsam erstarrendem Stahl. Fassungslos hob Drukil den Blick. Der Flammenmann stand noch immer an der blauen Tür und brannte mit einer Hand die Schatten aus seinem Weg. Seine glühende Brust schien unversehrt, doch zu seinen Füßen sammelte sich eine Pfütze aus geschmolzenem Metall.
Drukil stöhnte, ließ den nutzlosen Griff fallen und rappelte sich auf. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Chada sich auf den Flammenmann stürzte und mit einer beiläufigen Handbewegung in die Ecke geschlagen wurde. Auch die Klinge eines ihrer Dolche war hinweggeschmolzen. Dann richtete Miraksela seinen Blick auf den anstürmenden Thorn und streckte seine Hand aus. Eine Flammenlanze brach aus seiner Handfläche hervor und trieb den Krieger zurück.
„Gewöhnliche Waffen … können uns nicht töten. Ansonsten hätte ich es schon selbst beendet.“, fauchte Mirakselas über den Lärm der Roten Katze und des bebenden Berges hinweg. „Wir sehnen uns doch nur nach … der ewigen Ruhe … zu jedem Preis…“
Drukil brüllte und rannte wieder los. Der Flammenmann schenkte ihm einen bedauernden Blick. „Warum widersetzt ihr euch? Wir wollen nur … Freiheit!“
Beim letzten Wort zerriss der Schleier aus Dunkler Magie, der Miraksela den Weg versperrte. Eara, die noch immer im Zentrum der Kammer stand, wankte kurz und hob ihren dunklen Stab. Nur wenige Schritt weiter entstand eine neue Barriere, doch sie bestand nur aus dünnen Fasern von Dunkelheit, mehr ein Netz als eine Wand.
Drukil fühlte sich kraftlos. Sie verloren! Der Flammenmann war unverwundbar, ihre Waffen vergingen, noch ehe sie ihn berührten, seine Kraft war der ihren um ein Vielfaches überlegen.
„Ich hätte euch ein anderes Schicksal gewünscht.“, sprach Miraksela getragen und wandte sich ab. „Aber dennoch … beneide ich euch. Sterbt wohl, meine … Freunde.“
Die gesamte Berg erzitterte, gezackte Risse zeigten sich im Stein. Mit der Kraft der Verzweiflung sprang Drukil den Dämon an, versuchte, ihn mit bloßen Händen zu Boden zu ringen. Miraksela jedoch stand unbeweglich wie ein Fels. Im Feuer liegt große Kraft. Erneut brannte sich der Widerschein des gequälten Gesichts in Drukils Augen ein. Er knurrte zornig und bemühte sich vergeblich, seinen Gegner zumindest ins Wanken zu bringen.
„Du bist stark.“, fauchte Miraksela. „Aber meine Kraft … übertrifft die jedes Menschen.“
Drukil hielt inne. Der Flammenmann war eindeutig stärker als jeder Mensch. Aber Drukil war mehr als nur ein Mensch…
Er spürte in sich hinein, fand den Bären in seinem unruhigen Schlaf. Drukil hatte in seinem Inneren einen Kerker errichtet. Eine Höhle ohne Ausgang. Er fürchtete den Bären und hatte ihn eingeschlossen, auch wenn der innere Kampf ihm Nerven und Schlaf raubte und die Trennung seiner selbst ihn aufzehrte. Er konnte nicht zulassen, dass die verletzt wurden, die er liebte. Doch jetzt musste Drukil erkennen, dass sie auch ohne den Bären verletzt werden würden. Er hatte seine mächtigste Waffe eingeschlossen. Er hatte sich selbst eingeschlossen. Es war an der Zeit, sich freizulassen.
grelles, zuckendes, blitzendes licht, das ihn zusammenschrecken lässt! tosender lärm, ein fernes donnern und ein gieriges fauchen! die luft voll von sengender, brodelnder hitze und beißendem, drückendem rauch und dem dumpfen gestank von schmerz und wahn. die rote katze! sie ist frei, voller zorn, umgibt ihn! sie ist überall. sie raubt ihm oben und unten, verwirrt die sinne, die nicht seine sinne sind. der bär erkennt die verstopfte nase und die viel zu bunten bilder. er ist wieder gefangen im körper des pelzlosen! die rote katze ragt um ihn empor. warum frisst sie ihn nicht? verwirrung und angst füllen den kleinen, zerbrechlichen, schrecklich fremden körper aus. er muss fort! wohin soll er flüchten? der bär spürt die verdrehte dunkelheit zu allen seiten, und vor ihm steht ein pelzloser, der die rote katze in sich trägt. weg! nur weg! aber er kann nicht! der pelzlose ist so nahe! der bär kann nicht flüchten. er muss sich verteidigen. den pelzlosen vertreiben. aus angst wird wut.
Drukil sog tief Luft ein, zum ersten Mal seit vielen Tagen, und es störte ihn nicht, dass die Hitze seinen Rachen verbrannte oder der spärliche Rauch in seiner Lunge kratzte. Ein einziger, kostbarer Atemzug. Ein Atemzug der Vollendung und der Erlösung. Ein Atemzug voll Freiheit. Ein Atemzug wie gefrorener Mondschein und brennendes Silber.
Die wilde Kraft des Bären durchströmte ihn und Drukil bekämpfte sie nicht mehr, sondern empfing sie. Die Triebe des Bären durchdrangen ihn und der Geist des Pelzlosen lenkte sie. Die unzähligen Sorgen verklangen in der ungebändigten Harmonie, die in seinem Inneren tobte. Er verschmolz mit sich selbst. Er war nicht länger Drukil, der Mensch. Er war nicht länger ein Bär, vom Verstand eines Pelzlosen geplagt. Er war mehr.
Im flackernden Licht tanzten die Gravuren seines Armreifs. Dies, mein Freund, wird dich immer an dein wahres Selbst erinnern. Und plötzlich verstand er, weshalb sein Geschenk den Menschen zurückrief, wenn der Bär zu stark wurde, und ihn doch zugleich an den Frieden seiner ersten Tage erinnerte. Sein wahres Selbst, das war weder der Bär noch der Mensch. Er war kein Bär mehr, seit der Fluch der Waldgeister ihn getroffen hatte. Und ein Mensch war er nie gewesen. Er war ein Hautwandler, ein Gestaltwechsler, er trug die Freiheit des Bären und die Namen des Menschen in sich. Er war er selbst, ganz gleich ob in Fell oder Haut, ganz gleich welcher Geist ihn vorwärtstrug.
Er hob den Blick und sah Miraksela grimmig an. Der Dämon legte den Kopf schief. „Bernstein … in deinem Blick! Woher kommt er?“
Drukil brüllte und ließ die frische Kraft aus sich herausbrechen. Der Flammenmann taumelte erstaunt zurück und fiel in die Tür aus blauem Mera. Wo er den blauen Kristall berührte, wurden die Flammen von seinem gleißenden Körper ins Innere gesogen. Er kreischte gequält auf und sein Widerstand erstarb. Die blaue Tür begann immer heller aufzuleuchten und Drukil musste seine Augen schließen. Vor sich sah er wieder die Flammen auf sich zurollen, die Miraksela nicht mehr hatte zurückhalten können, und er sah sie in den weiß leuchtenden Kristallen verschwinden. Er hörte erneut die fauchende Stimme. Fort mit dem Kristall! Tausend kleine Nadeln! Drukil verspürte nichts als Mitleid, während die Hitze langsam zurückging und das blendende Licht sich durch seine Lider zwängte. Sie raubten uns nicht den Schmerz, nur die Kraft.
Plötzlich erklang das entsetzliche Klirren zerbrochener Hoffnung. Von einem Moment auf den anderen erlosch das Glühen hinter seinen Augen. Dutzende brennende Striche flammten über seine Brust und etwas floss warm über seine Haut. Er schrie vor Schmerz auf und öffnete die Augen.
Bruchstücke aus blauem Kristall hatten sich durch den ganzen Raum verteilt. Nur noch ein glitzernder Berg gläserner Splitter lag, wo zuvor ein gigantischer Türflügel gewesen war. Davor kauerte ein glimmende Gestalt auf dem Boden. Ein nackter Mann, unter dessen Haut rot glühende Adern verliefen und dessen Augen brannten. Flammen wanderten über seine Haut und hüllten ihn in einen goldenen Mantel, die Hitze kehrte zurück und er richtete sich mühsam auf.
„Nein, nein, nein!“, flüsterte Drukil entsetzt.Wenn nicht einmal ein Kristall von solcher Größe die geballte Energie Mirakselas aufnehmen konnte, wie sollten sie ihn dann jemals aufhalten? Er wich zurück, doch nicht schnell genug. Mirakselas Schlag war schwächer als zuvor, aber ließ ihn noch immer zwei Schritt weit fliegen. Auch Drukil hatte keine Kraft mehr. Er merkte, wie sein Selbst sich beim Aufschlag wieder aufspaltete und konnte zumindest noch den Bären vorläufig in seinen Kerker zurückschicken, auch wenn es ihm mehr Schmerzen bereitete als die Kristalle in seiner Brust. Dann hörte er Schritte neben sich und eine fauchende Stimme.
„Warum … dieser Schmerz? Warum … gönnt ihr uns unsere Freiheit nicht? Warum … widersetzt ihr euch?“
Langsam öffnete Drukil seine Augen und blickte erneut in das von Flammen umrahmte Gesicht des Dämons. „Keine Kraft mehr. Nur noch Schmerz. Kann mich … nicht mehr … widersetzen. Nur noch … Stimmen. Ich … bin … Wir … sind … frei!“ Die Trauer in Mirakselas Zügen verwandelte sich in Hass. „Sie hat euch vor unserem Feuer geschützt. Aber nicht vor dessen Kraft!“, zischte der Flammenmann höhnisch und fast meinte Drukil, er höre nicht mehr eine fauchende Stimme, sondern Tausende, die sich zu einer einzigen vereinten. Ein brennender Fuß setzte sich auf seine Stirn und drückte langsam, aber beständig, zu. Er konnte nur noch stöhnen, obwohl sein Schädel zu zerspringen schien – und es wahrscheinlich auch bald tun würde.
Plötzlich ließ der Druck nach. Aus weiter Ferne hörte ein empörtes Fauchen. Verschwommen sah er den Flammenmann zur Seite taumeln, dann sah er den flüchtigen Schatten ein blauen Steins, der den Brennenden an der Schulter traf und ihm erneut einen Laut des Schmerzes entlockte. Und am Rande, wo sein Sichtfeld in schwarze Tentakel zerfaserte, sah er eine schlanke Gestalt, die einen weiteren Brocken warf.
Die Überraschung riss ihn aus seiner Benommenheit. Er keuchte, als er begriff, was geschah. Ken Dorr lenkte den Dämon ab! Ken Dorr, für den Drukil niemals mehr als Verachtung übriggehabt hatte. Ken Dorr, der Lügner, der Dieb, der Folterknecht. Ken Dorr, der Bleiche König, der nicht mehr leben durfte, der von der dunklen Macht des Schwarzen Herolds verseucht war. Ken Dorr, den Kenvilars Schutz nicht betraf. Den eine einzige Flammenzunge einäschern konnte.
Der Flammenmann streckte zornig seine Hand aus, da sprang plötzlich Thorn ihm entgegen und rammte einen langen Kristallsplitter in den leuchtenden Körper. Die provisorische Waffe zersplitterte sofort, aber genügte, damit Miraksela den Dieb vergaß und seinen Zorn stattdessen auf den Krieger richtete. Ein einziger Schlag ließ ihn zu Boden gehen.
„Narren! Wir sind das Feuer der Tiefe! Die Ewige Flamme, die sich dem Eis entgegenstellt! Die Kraft, die allen Fels zerreißt! Wir sind unwiderstehlich, hungrig und gnadenlos. Wir brauchen nicht gegen euch zu kämpfen! Wir müssen nur entfesseln, was in der Tiefe ruht!“
Miraksela breitete seine brennenden Arme aus und ein Beben lief durch den Fels, auf dem Drukil lag. Aus dem entfernten Grollen wurde ein Donnern, das jedes andere Geräusch verschluckte. Drukil rollte sich auf die Seite und holte zischend Luft, als Schmerz in sengenden Wellen durch seine aufgeschlitzte Haut lief. Kraftlos ließ er sich zurücksinken und konnte nur hilflos mitansehen, wie sich Risse durch alle Wände ausbreiteten.
Da erschien Eara neben dem Dämon. Obwohl der Flammenmann noch immer geschwächt war, begannen ihre Kleidung und ihr hellblondes Haar in seiner Gegenwart zu glühen. In ihrer schwarzen Hand hielt sie einen weiteren Kristallsplitter, durchscheinend blau und fast so lang wie der dunkle Stab, der sich in ihrer anderen Hand befand. Zielgenau trieb sie den Kristall in die brennende Brust, wo bei einem Menschen das Herz sah. Ihr Ärmel entflammte, die Rote Katze kletterte an ihrer trockenen Robe entlang, doch Eara ertrug die Flammen ohne einen Schmerzenslaut.
Rund um den Einstich wurde das rote Glühen aus Mirakselas Haut in den Kristall gesogen, der sofort aufglühte und erzitterte. Doch ehe er zerspringen konnte, hob Eara ihren Stab und ein klares, hellblaues Licht überstrahlte die Rote Katze und den glühenden Kristall. Selbst auf die Entfernung konnte Drukil spüren, wie Eara Kraft aus sich schöpfte und damit die Ordnung des blauen Kristalls stärkte. Stränge aus blauer Energie wanden sich ihren Arm empor, flossen über sie hinweg und durch sie hindurch, in die immer heller werdende Lichtkugel zwischen den gewölbten Spitzen ihres Stabes. Earas Haut verkohlte und vertrocknete unter der Energie, die sie aus dem Kristall leitete.
Der Flammenmann fauchte entsetzt, als der Kristall in seiner Brust sich zu bersten weigerte. Er stolperte zurück, doch Eara folgte unerbittlich. Drukil konnte nur verschwommen erkennen, wie ihr unter den Flammen ihre ungeschützte Haut heruntergebrannt wurde, aber sie wankte nicht einmal.
Der Dämon stieß mit dem Rücken an den anderen Flügel der blauen Tür und kreischte entsetzt, als die letzten Flammen aus seinem Körper gesogen wurden. Das Brennen in seinen Augen erlosch. Die tausend fauchenden Stimmen verklangen und nur ein einziger gequälter, brüchiger Schrei blieb zurück, der Schrei einer normalen, menschlichen Stimme. Miraksela sank zu Boden und die Magierin ließ den Kristall in seiner Brust los und trat einige wackelige Schritte zurück, ehe auch sie zusammenbrach. Das Licht auf ihrem Stab erlosch. Die Kammer erzitterte nicht länger und das ferne Grollen löste sich auf. Das Licht aus dem Roten Gang ging zurück, die weißen Kacheln jenseits der Tür flackerten und glühten nur noch schwach, sodass die Kammer, ihrer Lichtquellen beraubt, in ein mattes Zwielicht getaucht wurde. Die letzten Flammen, die um Earas Körper tanzten, erloschen.
In der folgenden Stille kehrte der Schmerz mit voller Wucht zurück. Die Schnittwunden, die seine komplette Vorderseite überzogen, machten Drukil jede Regung unmöglich. Nur am Rande bekam er mit, wie Chada sich neben Eara sinken ließ, dicht gefolgt von Thorn. Dann glitten kühle Finger über die Schnitte und ließen ihn aufstöhnen. „Sieh dir seine Wunden an.“, erklang eine hohe kalte Stimme. „Verzeihung! Ich meinte, ertaste sie. Oder was auch immer du …“
„Ich brauche Verbände.“, unterbrach Leander besorgt. Etwas zwängte sich in seinen Mund und bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus. „Kau das Gallenkraut gut durch und schluck es dann, das wird den Schmerz lindern und dir Kraft geben.“
Drukil folgte der Anweisung und augenblicklich gewann die Welt an Schärfe zurück. Er registrierte Leander, der neben ihm hockte und Ken Dorr, der dahinter stand und eben Fetzen von seiner verkohlten Kleidung abriss und sie dem Seher reichte. Der Schmerz wurde zu einem dumpfen Pochen. „Es geht schon!“, keuchte Drukil. Er glaubte nicht, dass er es ertragen würde, den Stoff an sich spüren, den Ken Dorr getragen hatte. „Kümmert euch lieber um Eara!“
Leander zögerte und half noch Drukil auf die Beine. Ihm war schwindelig, aber abgesehen davon ging es ihm überraschend gut. Ihm graute allerdings schon vor dem Zeitpunkt, zu dem die Wirkung von Leanders Kraut nachlassen würde.
Gemeinsam traten sie zur schwach atmenden Magierin. Sie kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Thorn traurig den Kopf schüttelte, während Chada leise sagte: „Nein, Thorn! Ich tue es selbst.“
Sie presste Eara eine Hand auf die verkohlte Stirn. Im nächsten Moment drang silbernes Licht unter ihre Handfläche hervor und Earas Haut verjüngte sich von der Stirn ausgehend. Die Bogenschützin begann zu zittern und eine Strähne ihres schwarzen Haares färbte sich vor Drukils Augen grau, aber sie ließ nicht los, bis die Magierin vollständig wiederhergestellt war. Nur Haare und Kleidung regenerierten sich nicht und einige verschlungene schwarze Linien zogen sich über die frische Haut in ihren gesunden Arm; die Spuren, die die gewaltigen Energieströme hinterlassen hatten. Dann erst hob Chada schwach ihre Hand, in der ein silbernes Amulett in Form einer Raute ruhte.
Eara schlug keuchend ihre blauen Augen auf. Dunkelheit wallte um sie auf und die verschwommenen Schlieren unter ihrer linken Schulter bildeten erneut die Form eines Arms. Drukil konnte sich nicht von dem Anblick lösen. Normalerweise verbarg ein Ärmel den Anblick, daher hatte er gedacht, dass nur ihre Hand aus Dunkler Magie bestand und nicht fast der gesamte Arm. War das schon immer so gewesen?
Earas Blick irrte rastlos umher, bis er auf Chadas Amulett fiel. „Du hast behauptet, es funktioniert nur bei denen, die der Träger liebt.“, hauchte sie.
Tränen glitzerten in Chadas grünen Augen. „Ich kenne dich jetzt schon seit so vielen Jahren.“, wisperte sie zitternd, ihre Lippen hatten sich blau gefärbt. „Du warst immer eine treue Freundin. Natürlich liebe ich dich! Du magst dich verändert haben in den letzten Jahren, aber nichts könnte das ändern.“
Eara blinzelte und kroch zurück, echtes Erstaunen in ihrem Blick. „Das ist ein Fehler!“, sagte sie mit neuer Kraft. Kälte schlich in ihre Stimme. „Ich bin nicht mehr die, die du kennst. Nichts Gutes erwartet die, die mich lieben.“
Sie griff nach ihrem Stab, der die Hitze im Gegensatz zu ihrer Kleidung überstanden hatte, und stand etwas steif auf. Sie wandte offensichtlich verwirrt ihren Kopf und tastete über ihren kahlen Hinterkopf. Dann schüttelte sie sich und die letzten Anzeichen von Verletzlichkeit fielen von ihr ab. Sie kümmerte sich nicht weiter um die am ganzen Leib zitternde Chada, die behutsam von Thorn in die Arme genommen wurde, und trat zu der reglosen Gestalt am Eingang. „Miraksela!“, sagte sie eisig.
Der Angesprochene hustete trocken und zerrte vergeblich am blauen Kristallsplitter, der seinen Oberkörper durchbohrt hatte. „Nur noch … Mirak!“, zischte der Sterbende gepresst. „Die Stimmen sind fort. Der Schmerz ist fort. Ich danke Euch. Und es tut mir leid.“ Er hob den Kopf und seine Augenlider flatterten. Darunter befanden sich nur ausgebrannte Höhlen.
„Bitte, lasst mich vergehen! Lasst das Feuer erlöschen! Lasst nicht zu, dass die Schlangenfrau den Flammen ein weiteres Leben opfert!“ Er sank zurück. „Niemand … hat dieses Schicksal verdient. Fünfhundert Jahre des Schmerzes … Seht nur, was schon nach einem einzigen aus mir geworden ist! Bitte, beendet es! Ich … will keine der Stimmen werden. Ich will nur Ruhe …“
Drukils Magen zog sich zusammen. Doch Eara schenkte dem sterbenden Dämon nur einen langen Blick und wandte sich dann ab. „Kenvilar hat uns gesagt, wir sollen dem Roten Gang folgen, wenn wir das Feuer besiegt haben.“, meinte sie auffordernd.
„Warte!“, forderte Leander. „Ist das wirklich eine gute Idee? Was, wenn sie uns wieder zwingen möchte, ihr die Quelle des Schwarzen Herolds zu offenbaren? Sie hatte Zeit, sich zu erholen, wir dagegen sind noch geschwächt vom Kampf gegen Miraksela.“
„Ein Kampf, an dem du dich nicht beteiligt hast.“, stellte Eara kühl fest.
Leander zuckte betroffen zusammen. „Dennoch! Was könnten wir gegen sie ausrichten?“
„Wir würden verlieren.“, entgegnete Eara ungerührt. „Aber das würden wir auch, wenn wir jetzt noch eine Stunde warten. Wenn sie es wollte, würde die Tückische uns auch einholen, wenn wir stattdessen zum Schiff zurückkehren. Gehen wir lieber direkt zu ihr, sie schuldet uns noch das junge Herz der Geburt.“
„Du glaubst doch nicht etwa, dass sie uns die Frucht jemals geben wollte?“, vergewisserte sich Drukil. „Wenn sie es ernst gemeint hätte, dann hätte sie das doch schon im Voraus tun können.“
„Damit sie ebenso verbrennt wie unsere Kleidung?“
Drukil verschränkte die Arme vor der nackten Brust. „Lass wenigstens Chada etwas Zeit, sich zu erholen. Es hat sie offensichtlich ausgelaugt, dein Leben zu retten.“
Kurz schimmerte etwas Dunkles in Earas Augen. Drukil meinte Verletzlichkeit zu erkennen, tief empfundene, ehrliche Sorge und die widerstreitenden Wünsche, die Lebensretterin zu umarmen und so viel Abstand wie möglich einzuhalten. Da ergriff Chada das Wort und Earas Augen glänzten wieder kalt und gefühllos wie blaues Eis. „Nein, Drukil … Eara hat recht. Wir sollten aufbrechen.“
Die Bogenschützin rückte sich die löchrigen Reste ihrer grünen Kleidung zurecht, nahm ihren nutzlosen Bogen und ließ sich von Thorn auf die Beine helfen. Der Krieger vergewisserte sich, dass sie sicher stand, dann trat er einen Schritt zurück. Er blickte an sich herab und Röte stieg seine Wangen hinauf, als er das Fehlen jeglicher Kleidung bemerkte. Ken Dorr reichte ihm wortlos den eigenen verkokelten Umhang, in den Thorn sich dankbar einhüllte.
Drukil schnaubte verständnislos. Bei diesen Temperaturen würde er niemals freiwillig wieder etwas anziehen. Manche Gewohnheiten der Pelzlosen würden ihm für immer ein Rätsel bleiben. Kopfschüttelnd folgte er Eara den Roten Gang hinunter.


Früher Vormittag, 11. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Auch wenn es seit ihrem Sieg über Miraksela nicht mehr ganz so unerträglich heiß war, so machte ihnen doch eine drückende Hitze zu schaffen, je weiter sie vorstießen. Die Luft war unangenehm schwül und bald glänzte Drukils Haut im roten Licht, das aus allen Wänden drang, ohne dass er sagen konnte, ob es Schweiß war oder der seltsame Nebel, der immer dichter wurde. Der Dampf erschwerte es Drukil, den breiten Rissen im Boden auszuweichen, und machte das Atmen fast unmöglich, zumal sich wieder der Gestank von faulen Eiern breitmachte, den er schon oben am Krater festgestellt hatte. Es war einer der seltenen Momente, in denen er die feine Nase des Bären nicht vermisste.
Schließlich öffnete sich der Gang. Vor ihnen lag ein gigantischer Schlot, von dessen Grund orangenes Licht und mörderische Hitze drangen. Brodelnder weißer Dampf erfüllte die Luft und stieg am schwarzen Fels entlang in die Höhe. Wasser rann über die glatten Wände, es quoll aus unzähligen feinsten Rissen, vereinigte sich zu klaren Strömen und sprudelte an ihrem Eingang vorbei in die Tiefe. An einigen Stellen hatte sich Salz abgelagert, es schimmerte weiß auf dem dunklen Stein wie Sterne am nächtlichen Himmelstuch. War dieses Wasser etwa … Meerwasser? Drukil kniff die Augen zusammen und legte den Kopf in den Nacken. Soweit er durch den Dunst nach oben sehen konnte, drang Wasser aus dem Fels. Wie tief unten waren sie?
Weit, weit oben schimmerte Tageslicht durch die Himmelssäule hindurch, und Sehnsucht nach frischer Luft und freiem Himmel machte sich in ihm breit. Drukil schüttelte den Kopf. Sie mussten hoffentlich nicht mehr lange hier verweilen.
Eine schmale Brücke aus rotem Kristall ragte vor ihnen in die Mitte und verschwand im wogenden Dampf. Eara trat ohne zu zögern darauf und Drukil folgte, als sie nicht einzustürzen schien. Der Untergrund war durchscheinend und zeigte ihm in aller Deutlichkeit die schwindelnde Tiefe, in die es herabging. Er versuchte zu vergessen, das kein Geländer an den Seiten des zerbrechlich wirkenden Steges angebracht war und hob den Blick, entschlossen, nicht mehr nach unten zu schauen. Überrascht stellte er fest, dass er sich bereits direkt vor der Wand aus wirbelndem Dampf befand. Drukil zögerte kurz, ehe er weiterging.
Die Welt um ihn wurde verschluckt. Strudelnder Nebel legte sich wie ein dickes Tuch über sein Gesicht. Es gab nur noch ihn in einem brodelnden weißen Nichts. Der heiße Dampf umströmte ihn und ohne die rote Brücke hätte er nicht mehr gewusst, aus welcher Richtung er kam. Kurz berührte er seinen Armreif und balancierte Schritt für Schritt vorwärts.
So plötzlich, wie die Himmelssäule ihn umgeben hatte, so plötzlich trat er wieder hinaus. Er stand auf einer breiten Plattform aus rotem Kristall, die anscheinend ausschließlich durch die schmale Brücke gestützt wurde. Sie war umgeben von den Nebeln der Himmelssäule, die sich aus irgendwelchen Gründen auflösten, sobald sie sich dem Kristall näherten.
Kenvilar erwartete sie bereits. Ihr Schlangenleib hatte sich zusammengerollt und glänzte trotz der Hitze feucht. Und sie war nicht allein. Neben ihr stand ein seltsames Mädchen, das Drukil auf elf Sommer geschätzt hätte, wenn er gewusst hätte, ob es überhaupt ein Mensch war. Sie hatte glatte, dunkle Haut, wie er es noch nie gesehen hatte, kaum heller als der Stein des Berges. Ihre dünne Kleidung ließ nur Hände und Kopf frei und glänzte wie Silber, raschelte jedoch leise, als sie sich bewegte. Unter einem Vorhang aus lockigem schwarzen Haar lächelte sie ihm scheu entgegen und ihre Zähne schimmerten wie Perlen.
„Wer bist du?“, fragte Chada behutsam, die soeben als letztes aus dem Dampf getreten war.
„Gib dir keine Mühe, Bogenschützin. Sie versteht diese Sprache nicht.“, entgegnete Kenvilar abfällig. „Sie ist hier, weil ich gedenke, meinen Teil der Abmachung einzuhalten. Kimbu wird das Feuer weitertragen.“ Das Mädchen blickte verhalten auf, als es seinen Namen hörte.
Drukil blickte ihr in die dunklen Augen und hörte erneut Miraks Stimme: Lasst nicht zu, dass die Schlangenfrau den Flammen ein weiteres Leben opfert!
„Ihr wollt sie zu dem Monster machen, das wir soeben besiegt haben?“, fragte Thorn zornig. „Sie ist ein unschuldiges Kind! Sie hat dieses Schicksal nicht verdient!“
Kimbu zuckte erschrocken zusammen, als der Krieger die Stimme erhob, Kenvilar jedoch lächelte nur bösartig. „Das Schicksal kennt keine Gerechtigkeit. Es widerfährt uns, beschenkt den einen und bestiehlt den anderen, und wir können es nur ertragen und uns vorgaukeln, wir hätten jemals eine Wahl gehabt.“
Die Tückische legte dem Kind eine Hand auf die Schulter. „Was Kimbu betrifft, so gab es nicht viele anderen Möglichkeiten. Das Feuer ist wählerisch, nur wenige Flammenberührte kommen in Frage. Und es musste ein Kind sein, naiv genug, mir schon nach kurzer Zeit zu vertrauen.“
Drukils Hände ballten sich zu Fäusten. „Sie hat also keine Ahnung!“
Kenvilar verdrehte die orangenen Augen. „Natürlich nicht! Wer würde schon freiwillig eine Ewigkeit der Schmerzen auf sich nehmen? Sie darf sich dem Feuer nicht verschließen, doch in welcher Erwartung sie die Flammen in sich aufnimmt, ist egal.“
Chada trat einen Schritt vor. „Das kommt nicht infrage!“, verkündete sie entschlossen. „Wir werden das nicht zulassen!“
Kanvilar beugte sich herab und grinste höhnisch. „Ich verstehe! Ich wollt also stattdessen zulassen, dass das Feuer der Tiefe erlischt, dass nichts mehr sich der Kälte von Himmel und See entgegenstellt. Ihr wollt lieber eine endlose Nacht in Kauf nehmen und das Ewige Eis, das sich um die Welt legt, das alle Völker verschlingt und jedes Leben unter sich begräbt, als euer reines Gewissen zu beschmutzen.“
„Ihr spielt mit uns!“, zischte Leander. „Ihr hättet das Kind schon lange selbst opfern können. Aber Ihr habt gewartet, damit wir uns schuldig fühlen für das Unvermeidliche. Damit wir zweifeln und leiden und streiten. Damit wir das Blut an unseren Händen kleben fühlen, das Ihr vergießt. Woher sollen wir wissen, dass das hier wirklich notwendig ist?“
Kenvilar schüttelte in falschem Bedauern den Kopf. „Sucht nach einem anderen Weg, wenn ihr mögt. Die Dreieinigkeit hat ihn in den letzten Jahrtausenden nicht gefunden, aber ich halte euch nicht auf. Ihr habt bestimmt noch ein paar hundert Herzschläge, ehe Miraksela endgültig stirbt und nichts mehr das Ende aufhalten kann.“
Das Mitleid wich wieder ihrem hämischen Lächeln. „Oder akzeptiert, dass ihr keine Wahl habt. Heute nicht, und auch sonst niemals. Die Zukunft ist ein dunkler Schleier, der nur selten gelüftet wird, und der Träumer wird ihn nicht zerreißen, solange er schläft. Der Fluss der Zeit fließt in nur eine Richtung, und er verlässt niemals sein Bett.“
Ein dunkler Schleier. Drukil war sich sicher, diese Worte nicht zum ersten Mal zu hören.
„Es muss eine andere Möglichkeit geben.“, erwiderte Chada unbeugsam.
Kenvilars Augen erglühten und es schien Drukil, als hätte die falsche Göttin hierauf nur gewartet. „Wenn ihr so sehr darauf beharrt, dann will ich euch es nicht mehr verschweigen: Wie es das Schicksal so will, befindet sich auch in eurer Mitte eine, die die Bürde auf sich nehmen könnte.“ Sie nahm ihre Hand von Kimbus Schulter und deutete auf Eara. „Was sagst du, Zauberin? Dein Leben für das Kimbus? Das Feuer wird dich von aller Finsternis läutern.“
Eara kniff ihre Augen zusammen. Kalte Verachtung lag in ihrem Blick. „Das war von Anfang an dein Plan, nicht wahr? Du kamst zu dem Schluss, dass wir dir die Quelle des Schwarzen Heroldes nicht offenbaren würden, also wolltest du uns zu deinem Werkzeug machen, damit wir sie selbst zerstören. Einem Werkzeug, das genau deinen Vorstellungen entspricht – ohne direkten Kontakt zum Ewigen Rat und ohne Dunkle Magie!“ Bei diesen Worten deutete sie erst auf Ken Dorr und dann auf sich selbst.
„Deshalb sollten wir gegen Miraksela kämpfen: Weil du gehofft hast, er könnte uns beide, die du nicht geschützt hast, aus dem Weg schaffen. Und deshalb hast du mit dem Opfern des Kindes auf uns gewartet. Damit du etwas von mir verlangen könntest, das kein Held ablehnen könnte.“
Thorn legte Eara eine Hand auf den gesunden Arm und bat leise: „Tu es nicht!“ Drukil war sich nicht sicher, auf welche Option er sich damit bezog. Eara reagierte jedoch ohnehin nicht und ließ Kenvilar nicht aus den Augen.
„Ich könnte jetzt behaupten, dass es gute Gründe gab, euch beide nicht zu schützen.“, erwiderte die Tückische kühl. „Dass der Stein, den ich in Ken Dorrs Stirn pflanzte, mir manche Dinge ermöglicht und andere verbietet. Und dass meine Macht die Dunkelheit, die ein Teil von dir geworden ist, zerreißen würde. Doch ich habe es nicht nötig, mich vor euch zu rechtfertigen. Ich brauche eure Sympathien nicht! Nur so viel habe ich zu deinen Anschuldigungen zu sagen: Wenn ich dich unbedingt hätte loswerden wollen, warum hätte ich Kimbu dann überhaupt hierhergebracht?“
„Eine Forderung, die kein Held ablehnen könnte…“, wiederholte Eara. „Doch ich bin kein Held. Ich spiele dein Spiel nicht mit, Kenvilar.“ Die kalten Augen der Magierin ließen Kenvilar jetzt endlich los und richteten sich auf Kimbu, und kurz schien es Drukil, als würden ihre Gesichtszüge weicher werden. Dann verkündete sie kalt: „Ich stehe über falschem Mitleid. Opfere das Mädchen!“
Drukil biss die Zähne zusammen. „Eara! Das können wir nicht!“, zischte er wütend.
„Du musst dich nicht damit belasten. Diese Entscheidung habe ich getroffen.“, meinte Eara, ohne ihn auch nur anzusehen.
Kenvilar neigte andeutungsweise den Kopf und sagte etwas in einer seltsamen plätschernden Sprache. Kimbu stellte sich mit dem Rücken an den Rand der Plattform und antwortete schüchtern in derselben Sprache. Kenvilar lächelte warm und schüttelte knapp den Kopf. Gleichzeitig erklärte sie schadenfroh: „Sie hat gefragt, ob es schmerzhaft wird, stellt euch das vor. Ein Ja wäre dem, was sie erwartet, nicht einmal nahegekommen.“
Eine Hitze wie von der Roten Katze breitete sich in Drukil aus. Fünfhundert Jahre des Schmerzes … Seht nur, was schon nach einem einzigen aus mir geworden ist! Er ließ seinen Blick über die anderen schweifen. Chada starrte Kimbu entsetzt an, unfähig den Blick von ihr zu nehmen. Thorn hatte die Hände zu Fäusten geballt und zitterte am ganzen Leib. Leander schüttelte unter seiner Kapuze den Kopf, Ken Dorr hatte bedauernd den Kopf abgewandt und Eara blickte Kimbu ungerührt an. In diesem Moment wurde ihm klar, dass niemand eingreifen würde. Die stolzen Helden von Andor, seine neue Familie, würden zulassen, dass ein unschuldiges Kind sich in ein Schicksal stürzte, schlimmer als der Tod. Sie würden ihre Ideale verraten und ihr Gewissen ignorieren und es würde sie vernichten.
Er schrie auf und stürmte vor, um Kimbu aufzuhalten. Das Mädchen blickte ihn erschrocken aus ihren dunklen Augen an. Ehe er sie erreichen konnte, schlang sich schwarzer Nebel um seine Beine und hielt ihn zurück. „Lass mich los, Eara!“, brüllte er wütend.
„Sobald geschehen ist, was geschehen muss.“, antwortete die Magierin ruhig. „Ich halte dich nur davon ab, einen schrecklichen Fehler zu begehen.“
Drukil kämpfte vergeblich gegen die dunklen Fesseln an und fixierte Kimbu, schüttelte eindringlich den Kopf. Er sah ihr Zögern, und dann ihre Entscheidung. Sie überkreuzte die Arme vor der Brust und ließ sich nach hinten fallen. Der dunkle Nebel löste sich auf und Drukil stürzte zum Rand.
Er sah eben noch, wie ihre ebenholzfarbene Haut Blasen schlug, wie ihr Haar und ihre silberne Kleidung in Flammen aufgingen und wie die unschuldige Entschlossenheit in ihren dunklen Augen erst dem Schmerz wich und dann der Roten Katze, die sich in sie hineinfraß, während sich rot glühende Adern durch ihr Gesicht zogen. Dann verbargen die weißen Schwaden der Himmelssäule Kimbu für immer vor seinem Blick.
Die Rote Katze in seinem Inneren wurde durch eine überwältigende Kälte ersetzt. Er holte zitternd Luft. Ein einziger, vernichtender Atemzug. Ein Atemzug des Versagens und des Verrats. Ein Atemzug voller Schmerz. Ein Atemzug wie erloschene Sterne und eisige Klingen in seiner Brust.
„Kimbu ist tot! Lang lebe Kimbusela!“, rief Kenvilar höhnisch. „Gratulation, Helden von Andor: Ihr habt soeben die Welt gerettet!“
Die Tückische verschwand in einem grünen Blitz, während ein Beben die rote Plattform erschütterte und Hitze ihnen entgegenschlug. Für einen kurzen Moment klarte der Dampf auf und Drukil sah, wie Ströme aus Wasser aus immer höheren Spalten in der Kraterwand schossen.
„Wir wurden hintergangen!“, rief Thorn fassungslos. „Die Insel geht unter!“
Plötzlich breitete sich Schwindel in Drukil aus. Der rote Kristall unter seinen Füßen schien sich von ihm zu entfernen und kurz befürchtete er, die Wirkung von Leanders Kraut lasse nach. Er blinzelte und bemerkte, dass die Plattform sich tatsächlich von ihm entfernte. Oder eher andersherum: Er schwebte empor.
Natürlich! Kenvilar wollte, dass sie die Quelle des Schwarzen Heroldes für sie vernichteten. Die Tückische brauchte sie noch, konnte sie unmöglich alle sterben lassen. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gebracht, fiel sein Blick auf die rote Plattform, von der er sich in die Luft erhoben hatte. Chada, Thorn und Leander entschwebten ebenfalls, Eara und Ken Dorr jedoch standen fest auf dem Kristall und beobachteten sie verblüfft. Drukil schluckte. Er hatte recht behalten. Kenvilar konnte sie nicht alle sterben lassen.
Eara reagierte zuerst. Sie sprang in die Höhe und der Schmerz, der dabei durch Drukils Kopf brannte, berichtete ihm von der Dunklen Magie, mit der sie ihre Kraft verstärkt hatte. Sie erhaschte Leanders Umhang und krallte sich fest in den groben Stoff, bis der Seher sie zu sich zog.
Ken Dorrs Augen weiteten sich und er sprang mit ausgestreckten Armen hinter Drukil her. Ehe er darüber nachdenken konnte, hatte Drukil bereits seine Hand ausgestreckt, wobei sein Körper sich in der Luft umdrehte und er nunmehr an den Füßen in die Höhe gezogen wurde. Ken Dorrs bleiche Finger legten sich kühl in seine Hand. Drukil zuckte zurück, als Übelkeit ihn erfüllte. Mit jeder Faser seines Körpers konnte er verdorbene Macht spüren, die den Dieb zum Leben erweckt hatte. Die unnatürliche Hexerei der Krahder, vom Schwarzen Herold um ein Vielfaches verstärkt. Die alte Narbe in seiner Seite, die Ken Dorr ihm einst als Bleicher König beigebracht hatte, begann wieder zu schmerzen, begleitet vom Stechen der frischen Wunden auf seiner Brust.
Der Dieb konnte sich nur mit Mühe halten. Seine schlanken Finger rutschten langsam ab, da Drukil sich keine Mühe gab, sie zu halten. Ein flehender Ausdruck trat in die so verhassten grauen Augen.
Drukil erstarrte. Stimmen brachen aus seiner Erinnerung hervor. Ich glaube, es war ein Kampf zwischen Drukil und Ken Dorr. Jetzt war seine Gelegenheit, den Dieb zu verstoßen. Alle wirst du verraten, jeden belügen, um deine Ziele zu erreichen. Jetzt konnte er sich und seine Freunde vor der verdorbenen Ausstrahlung und dem unweigerlichen Verrat schützen. Er spielt ein dreifaches Spiel und benutzt euch und den Ewigen Rat, um seine Ziele zu erreichen. Das hier war Drukils Chance, Ken Dorr endlich loszuwerden. Er war ein Dieb, ein Mörder, ein Verräter und ein Folterknecht, der Schlimmeres verdient hätte als einen Tod, der nicht einmal von Dauer wäre. Er war eine Gefahr für ihre Mission. Und Drukil müsste nicht einmal etwas tun. Er müsste nur abwarten. Es wäre so einfach. Und er wusste, noch vor wenigen Stunden hätte er es getan. Jetzt jedoch stieg ein Bild vor seinem inneren Auge auf. Das Bild von Ken Dorr, der blaue Kristalle nach einer brennenden Gestalt warf. Der ohne Zögern sein Leben riskierte, um ausgerechnet ihn zu retten.
Im letzten Moment griff Drukil zu und nahm seine andere Hand zu Hilfe, um den Dieb hochzuziehen. Ken Dorr nickte ihm dankbar zu und klammerte sich an ihn. Drukil hätte sich am liebsten übergeben und konnte den Ekel nur mit Mühe bekämpfen.
Kurz bevor sie am Kraterrand vorbeischweben konnten, glitt die Spitze der Insel unter den Meeresspiegel und gewaltige Wassermassen donnerten ihnen entgegen. Drukil schloss angespannt die Augen, doch der erwartete Wasserschwall blieb aus, das Salzige Wasser von allen Seiten traf erst unter ihnen zusammen und sie entkamen trocken in die Freiheit, während die Himmelssäule hinter ihnen für die nächsten fünfhundert Jahre in den Fluten versank. Dennoch fühlte Drukil keine Freude. Ein gequälter Schrei holte ihn ein, ehe sich das Meer endgültig schloss. Der Schmerzensschrei einer fauchenden Stimme, in der dennoch die plätschernden Worte des Mädchens mit ebenholzfarbener Haut nachklangen. Ein Schrei, der Drukil noch verfolgte, als er schon lange verklungen war.
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J - Brennendes Silber (Fortsetzung)

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:20

Früher Vormittag, 11. Wintertag 77 A.Z.
Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Kenvilars Zauber setzte sie sanft an Bord der Aldebaran II ab. Ihr Schiff hatte sich wohl von dem versinkenden Felszacken losgerissen, an den es vertäut gewesen war. Es war dem Kraterrand bedenklich nahegekommen, doch die Himmelssäule war versunken, ehe es den Fluten in den Krater hatte folgen können, und die Turbulenzen im Wasser hatten nicht ausgereicht, um es zum Kentern zu bringen.
Kaum berührten seine Füße die Planken, riss Drukil sich von Ken Dorr los und taumelte zurück. Kraftlos stützte er sich auf die Reling und holte tief Luft. Er genoss es, keine Hitze mehr einatmen zu müssen und langsam wich die Übelkeit. Mühsam drehte er sich zu Eara um. „Du hast Kimbu umgebracht!“, knurrte er aufgebracht.
„Was, glaubst du, wäre sonst mit ihr geschehen?“, erwiderte Eara ruhig. „Sie hat zu viel gesehen. Denkst du, Kenvilar hätte sie einfach ziehen lassen, wenn ich mich an ihrer Stelle hinabgestürzt hätte?“
Drukil drehte sich wutschnaubend wieder dem Wasser zu, als sonst niemand das Wort ergriff. Die anderen waren erschüttert, aber keiner widersprach Eara. Was war aus den Helden von einst geworden?
Er bemerkte einen langen Schatten, der unter den Wellen auf ihr Schiff zuglitt. Majestätisch schob sich ein Schlangenleib aus dem Wasser und ein Gesicht mit orangefarbenen Augen erhob sich in den Sonnenschein, bis es leicht auf sie herabblicken konnte. Wassertropfen glitzerten auf Kenvilars hellblauer Haut und ein bösartiges Lächeln lag auf ihren Lippen.
„Was willst du hier?“, rief Drukil voll mühsam beherrschtem Zorn, während die anderen sich neben ihm versammelten.
„Meinen Teil der Abmachung einhalten. Ihr habt doch nicht etwa an mir gezweifelt?“, meinte die Tückische in gespieltem Erstaunen. In einer grazilen Bewegung hob sie eine Hand und warf ihnen etwas zu.
Reflexartig fing Drukil den Gegenstand auf und betrachtete die schwarze Kugel in seiner Hand. Er erkannte die Form einer Frucht des Baumes Lieder, strich über die verschrumpelte schwarze Rinde unter seinen Fingern. Aus feinen Rissen glomm ein gebrochenes grünes Licht. Er spürte ein sanftes Vibrieren unter seinen Fingerspitzen, die Ahnung eines Anfangs erfüllte ihn und ein Hauch von Frühling stieg in seine Nase. Kurz ergriff ihn die ungebändigte Harmonie, die er schon im Kampf gegen Miraksela verspürt hatte.
Jemand griff nach der toten Frucht und Drukil ließ sie widerstrebend gehen – was er augenblicklich bereute, als er bemerkte, dass die andere Hand aus tiefster Finsternis bestand. „Dieses Potential … diese Macht!“, flüsterte Eara. „Kein Zweifel: Dies ist das zukünftige Herz der Geburt und keine Fälschung.“
Kurz blitzte Missbilligung in Kenvilars Augen auf, als sie die Frucht in Earas dunkler Hand betrachtete. „Die Bäume sind Säulen der Ordnung, die Zentren gewaltiger Macht, stumme Hüter des Gleichgewichts. Doch die Bezeichnung Herz habe ich nie gemocht.“, zischte sie abfällig. „Aber ja, es ist der echte Samen. Die Dreieinigkeit hat ihr Wort noch nie gebrochen. Und ich habe noch mehr für euch.“
Etwas materialisierte sich über ihrer ausgestreckten Handfläche. Eine kleine, einen Spalt weit geöffnete Truhe, ganz aus einem bläulich schimmernden Metall, über und über mit silbernen Ornamenten verziert. Drukil meinte, den Geruch von Algen und eine kühle Brise in der unbewegten Luft wahrzunehmen, wie aus weiter Ferne hörte er das Brausen eines Sturmes, Wellenrauschen und verängstigte Schreie. Eara keuchte und ließ die tote Frucht aufs Deck fallen, als ihre dunkle Hand sich zu einem kalten Schatten verflüchtigte. Schwarzer Nebel stieg um sie auf und flackerte unruhig. Ihr Schattenriss auf den hölzernen Planken wurde zu einem zerfledderten Fetzen zerrissen und flatterte wie in einem unfühlbaren Sturm. Mit nichts als ihrem Blick ließ Kenvilar den Deckel der Truhe zuschnappen und die fernen Geräusche erstarben, Earas Dunkelheit beruhigte sich.
„Eine Truhe aus Arkanum, gefüllt mit der Essenz aller drei Mächte. Sie mag euch einst gegen den Dunklen Magier helfen. Doch öffnet sie nur, wenn die Lage aussichtslos scheint.“ Mit diesen Worten warf Kenvilar ihnen ihr Geschenk zu und Chada fing es mit Leichtigkeit auf. Anscheinend war die Truhe weniger schwer, als sie aussah.
„Und was kriegen wir noch?“, fragte Thorn mit ablehnender Neugier.
Kenvilar stieß ein bitteres Lachen voller Verachtung aus. „Gierige Sterbliche! Das hier ist kein dummes Märchen, in dem die geheimnisvolle Weise euch drei magische Geschenke darbringt. Gebt euch mit dem zufrieden, was ihr bereits bekommen habt.“
Kenvilars Gesichtszüge glätteten sich, die Herablassung wich einem düsteren Ernst. „Und ich will, dass auch ihr mir etwas gebt: ein Versprechen. Versprecht, dass ihr niemals zulassen werdet, dass der Dunkle Magier einen der Bäume in seinen Besitz bekommt. Versprecht, dass ihr den Ewigen Rat zerschlagen werdet, ehe ein Unheil geschehen kann. Versprecht, dass ihr nicht … scheitert!“
Ihre glimmenden Augen bohrten sich in jeden von ihnen hinein. Drukil schüttelte sich. „Wir werden es versuchen, reicht das?“, brummte er.
„Nein!“ Erstaunt fuhr Drukil herum, als er Chadas Stimme vernahm. Sie stand mit hoch erhobenem Kopf da und umklammerte die kleine Truhe, ihre grünen Augen waren fest auf die Tückische gerichtet. „Nein, das reicht nicht.“, antwortete sie entschlossen. „Wir werden es nicht nur versuchen. Wir werden erfolgreich sein. Wir werden den Ewigen Rat besiegen, wir werden die Herzen der Mutter beschützen, wir werden unser Ziel erreichen. Das verspreche ich.“
Ein sanftes Lächeln legte sich auf Kenvilars Lippen, ein Lächeln frei von Hinterlist und Verachtung, nur getragen von Trauer und einer Sehnsucht, alt wie das Meer. Stumm hob sie ihren gewundenen Stab und versank zwischen den Wellen, während aus dem Nichts ein Wind kam, so stark, dass er die Aldebaran II trotz ihres kahlen Mastes ergriff und langsam nach Westen trieb. Drukil wurde bewusst, dass Kenvilar ihnen zuletzt doch noch ein drittes Geschenk gemacht hatte: Den Wind, der sie nach Hause brachte.


Abenddämmerung, 11. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See westlich der Himmelssäule, Stürmischer Ozean

Drukil trat an Deck. Die frischen Kleider, in die er sich gezwängt hatte, kratzten unangenehm auf seiner Haut und seine Wunden schmerzten unter dem Verband. Leander, Chada und Thorn begleiteten ihn und als Eara sie bemerkte, ließ sie das Steuerrad los und begab sich ebenfalls zu ihnen. Sie trug eine frische Robe, aber ihr kahler Schädel sah in Drukils Augen noch immer merkwürdig fremd aus. Gemeinsam traten sie zu Ken Dorr, der im Bug stand und nach Hindernissen im fremden Wasser Ausschau hielt.
„Wir müssen reden!“, knurrte Drukil barsch und der Dieb hob verwirrt die Augenbrauen.
„Es geht um etwas, das Kenvilar uns anvertraute.“, ergänzte Leander etwas weniger unfreundlich. „Sie sagte, du hättest Haare von uns gestohlen, damit der Schwarze Herold uns jederzeit töten kann.“
„Und Ihr glaubt dieser falschen Schlange?“, vergewisserte sich Ken Dorr ablehnend, während er den grünen Edelstein in seiner Stirn betastete. „Offensichtlich geht es ihr nur darum, uns auseinanderzubringen. Sie mag sich gegen den Ewigen Rat gewandt haben, aber sie steht auch nicht auf unserer Seite, das sollte Euch klar sein.“ Er sprach die Worte ruhig aus, doch seine grauen Augen zuckten nervös hin und her und sein verächtliches Lächeln konnte die Unsicherheit nicht ganz verbergen.
Leander schüttelte bedauernd den Kopf. „Mach es für dich nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist. Warum hat der Schwarze Herold dich damals in den Ewigen Rat geholt? Er kannte dich nicht persönlich, im Gegensatz zu den anderen Ratsmitgliedern verfügst du über keinerlei magische Fähigkeiten und du wusstest auch nichts über die Herzen der Mutter. Du hast keine Armee, bist schwach und stellst ein Risiko dar. Er hätte dich nur zurückgeholt, wenn er einen erfahrenen Dieb bräuchte. Einen Dieb, den er ausgerechnet zu uns schickt, wo es außer uns selbst nicht viel zu holen gibt. Wir hätten schon viel früher misstrauisch werden müssen. Du hast uns belogen, Ken Dorr. Nun wenigstens sag uns die volle Wahrheit.“
Der Dieb erbleichte, die untergehende Sonne spiegelte sich im Schweiß auf seiner kahlen Stirn. „Also gut!“, versprach er schwach. „Ihr wollt die Wahrheit? Ich sage sie euch: Ihr wart Narren, habt mir von Anfang an misstraut, mich ausgeschlossen und mit nichts als Verachtung betrachtet! Wenn ich Euch gesagt hätte, weshalb der Schwarze Herold mich wirklich zu Euch geschickt hätte, dann wäret Ihr meinem Rat nie gefolgt. Ihr brauchtet mich, und ich brauchte Euch, aber die Wahrheit hätte Euch abgeschreckt! Ich habe Euch belogen, um Euch zu helfen!“
Ken Dorr ballte seine schlanken Finger zu Fäusten, in seinen Augen tanzten silberne Flammen. Jede Unsicherheit war verschwunden. „Ja, ich habe für den Schwarzen Herold je ein Teil von euch entwendet. Weil es die einzige Möglichkeit war, wie wir überhaupt siegen können. Ich habe euch alles über den Ewigen Rat enthüllt, wenn ich dann noch in meiner Aufgabe gescheitert wäre, glaubt Ihr, ich wäre jetzt noch am Leben? Nur mit meiner Hilfe könnt Ihr den Rat vielleicht zerschlagen, nur wenn ich sie schon jetzt auseinanderbringe! Ich hatte keine andere Wahl!“
„Die hattest du.“, widersprach Thorn zornig. „Ich kann fast nachvollziehen, warum du uns nicht von Anfang an eingeweiht hast. Aber weshalb nicht in der langen Zeit, die seither verstrichen ist? Wir hätten darüber beraten können, vielleicht hätten wir dir sogar freiwillig geholfen. Was hielt dich davon ab?“
Ken Dorr senkte den Blick. „Könnt Ihr es Euch nicht denken? Meint Ihr, ich hätte Eure naiven Ideen von Vertrauen und Gemeinschaft nicht bemerkt? Euch nicht dafür belächelt? Und Euch nicht darum … beneidet?“
Ein leiser Seufzer entwich seinen Lippen. „Einzig meine Eltern haben je so bedingungslos zu mir gehalten, wie ich es unter Euch erlebt habe, und ich hielt zu ihnen. Ich habe für sie gesorgt, für sie gestohlen, doch als die Trolle uns in den letzten Kriegstagen erneut heimsuchten, haben sie mir befohlen, davonzulaufen. Ich habe ihre Leichen nie gesehen. Aber ich habe mir geschworen, mich nie wieder an irgendjemanden zu binden, nie wieder für irgendjemanden zu sorgen, als für mich selbst. Ich habe geschworen, um niemanden mehr trauern zu müssen. Ich weiß, was ich getan habe, was Ihr von mir haltet. Ich weiß, dass ich kein Verständnis erwarten kann. Keine Zugehörigkeit. Keine Anerkennung. Kein Vertrauen. Schon gar keine Freundschaft. Ich kann nicht benennen, was ich stattdessen erwarte. Doch was immer es ist, ich habe einen Ahnung davon gespürt. Und ich wollte diese Ahnung nicht zerstören. Nicht zugeben, dass ich Euch von Anfang an belogen hatte, selbst wenn es auch für Euch geschah.
Ich weiß, dass ich nicht zu Euch gehöre. Dass ich anders bin als Ihr. Ich bin kein Held, kein Krieger und kein Feldherr. Wenn man sich meiner dereinst überhaupt erinnert, dann als Dieb, als Schurke, als Mörder. Mein Name wird Kindern Angst einjagen, mein Bild niemals neben Euren hängen. Aber zumindest würde das bedeuten, dass die Menschen jener Zeit noch Bilder haben von Euch. Dass die Kinder eine Kindheit haben, in der ein harmloser Dieb wie ich sie noch schrecken kann. Dass der Schwarze Herold gescheitert ist und dass nicht eine ganze Welt in Finsternis getaucht wird, nur für seine Rache. Dein Plan wird sich erfüllen und du wirst qualvoll daran zugrunde gehen, das haben die Drei Schwestern mir prophezeit. Und so sehr ich auch auf ein anderes Ende hoffe, so werde ich, falls sie recht behalten, doch zumindest mit der Genugtuung sterben, dass mein Tod nicht umsonst ist.“
Drukil konnte sehen, wie die Härte aus den Gesichtern der anderen wich. Er konnte es nicht fassen! Sie hatten den Dieb beim Lügen erwischt und anstatt ihn zu verstoßen, verfielen sie erneut seiner Tücke. „Denkst du, wir haben die anderen Worte des Orakels vergessen?“, spie er dem Heuchler entgegen. „Du scherst dich nicht um das weitere Schicksal dieser Welt, das hast du noch nie getan. Dir geht es nur um dich selbst! Das hast du oft genug zugegeben!“
Ken Dorr hob schwach den Kopf. „Das Orakel der Geister sagte, ich werde jeden belügen, um meine Ziele zu erreichen. Aber meine Ziele sind auch Eure Ziele. Mein Plan ist auch Euer Plan. Ich habe den Ewigen Rat belogen, und ja, ich habe auch Euch belogen. Vor allem aber habe ich mich selbst belogen. Ich habe immer gewusst, dass unser Gewissen nicht mehr als eine Fessel ist, die es abzustreifen gilt, und die Moral nur eine Erfindung, die mich meiner Freiheit beraubt. Dass einzig ich selbst darüber zu urteilen habe, was gut ist und was schlecht und dass jeder nur sich selbst als Sinn und Zweck allen Strebens hat. Warum also habe ich mich für die Taten des Bleichen Königs geschämt? Und warum gab es außer der Macht, die der Schwarze Herold über mich hatte, noch etwas, das ich an seinen Plänen verabscheute? Es hätte mir gleichgültig sein müssen, welches Schicksal diese Welt nach meinem endgültigen Tod erwartet! Aber … das war es nicht.“
Langsam sackte der Dieb zusammen, seine bleichen Finger gruben sich in das feuchte Holz der Reling. „Und das machte mir Angst. Wenn die Welt nach meinem Tod von Bedeutung ist für mich, dann bedeutet das, es gibt etwas Wichtiges darin, das nicht ich ist. Es bedeutet, gut und schlecht sind mehr als nur Erfindungen. Und das bedeutet, dass die Untaten meiner Vergangenheit nicht schlau waren, sondern … falsch. Und ich wusste nicht, wie ich das ertragen sollte. Ich weiß es noch immer nicht.“
Ken Dorr zitterte und atmete tief durch, ehe er sich straffte und das Holz losließ. Ernst betrachtete er die Helden, die sich vor ihm aufgebaut hatten.
„Chada.“, flüsterte er. „Wenn Ihr nach allem, was Ihr gesehen habt, nach allem, was ich getan habe, noch immer daran glauben könnt, dass Menschen sich ändern können… Wenn Ihr zumindest erahnen könnt, dass der Junge, der sich um seine Eltern sorgte, noch immer hier drinnen steckt… dann bitte ich Euch, gebt mir eine zweite Chance! Ich habe keine Vergebung verdient, aber wenn Ihr Euch meiner Lügen erinnert, und meiner Verbrechen … dann gedenkt auch meiner Hilfe. Erinnert Euch, dass alles, was ich tat, zuletzt nicht nur für mich geschah, sondern für … den Frieden.“
Ohne eine Antwort abzuwarten fixierte er den nächsten in der Reihe. „Thorn. Ihr wollt das gleiche wie ich. Auch Ihr sehnt Euch nach dem Frieden, nach einem Neuanfang. Und doch seid Ihr nicht bereit, loszulassen, das Leid dieser Welt einfach hinzunehmen. Ich verstehe euch. Und vielleicht werdet Ihr auch eines Tages mich verstehen.“
Ein trauriges Lächeln huschte über die Lippen des Diebes, ehe sein Blick weiterwanderte. „Eara. Ich habe Euer Versprechen nicht vergessen, doch Ihr werdet es nicht einhalten müssen. Zum ersten Mal stehe ich in einem Kampf nicht nur auf meiner eigenen Seite. Ich werde Euch nicht erneut hintergehen, Euch nichts mehr verheimlichen. Ich bin nicht weniger ein Monster als Ihr. Doch vielleicht ist es möglich, Monster und Held zugleich zu sein.“
Eara musterte den Dieb aus ihren kalten blauen Augen und zeigte keine Reaktion, während Ken Dorr erneut den Kopf wandte. „Leander. Von allen hier könnt Ihr am besten verstehen, wie es einen verändern kann, Gemeinschaft zu erfahren. Von allen hier wisst Ihr am besten, dass es mehr gibt als nur Wahrheit und Lüge. Ihr kennt die tausend Wege, die dazwischen liegen, und ihr wisst, wie schwer es ist, den Weg der Wahrheit zu beschreiten. Ihr könnt nachvollziehen, dass man auch lügen kann, nicht um zu schaden, sondern einzig, weil man sich diesem Weg nicht gewachsen sieht.“
Der Seher schwankte leicht und umklammerte seinen Stab so fest, dass die blaue Haut seiner Finger sich fast weiß färbte. Ehe Drukil genauer darüber nachdenken konnte, was Ken Dorr mit diesen Worten gemeint hatte, traf ihn der Blick seiner grauen Augen.
„Drukil.“, sagte der Dieb ernst. „Ich weiß, dass Ihr mir nicht vertrauen könnt. Dass Ihr noch immer die Dunkelheit spürt, die auf mir liegt. Doch ich habe es mir nicht ausgesucht, von den Krahdern zu einem Untoten Sklaven gemacht zu werden. Es war nicht meine Entscheidung, in den Ewigen Rat gerufen zu werden. Ich habe viel Schuld auf mich geladen, doch hierfür kann ich nichts. Und wenn wir gesiegt haben, werdet Ihr mich nicht mehr ertragen müssen. Entweder werde ich freiwillig gehen, einen neuen Anfang wagen … oder die Drei Schwestern werden recht behalten.“
Drukil spürte wieder die Übelkeit in sich aufsteigen, die Ken Dorrs Anwesenheit verursachte. Er stellte fest, dass er dem Dieb nicht glauben wollte, dass er wieder nach der Nervosität von vorhin Ausschau hielt. Doch so sehr er auch suchte, er fand nur unauslöschliche Einsamkeit und ehrliches Bedauern wie brennendes Silber in seinem Blick.
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Zwischenspiel XIV - Ein dreifaches Spiel

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:20

Zwischenspiel XIV – Ein dreifaches Spiel

Frühe Nacht, 15. Wintertag 77 A.Z.
Danwar, Hadrisches Meer

Danwar, die Insel der widerstreitenden Elemente, ragte wie eine steingewordene Flutwelle aus der stürmischen See. Die aufbrausenden Wellen schlugen selbst in das geschützte Becken unter dem Fels und brachten die kleinen Fischerboote ebenso ins Schaukeln wie die verwaiste Aldebaran II. Regen verdampfte auf dem heißen Gestein und peitschte gegen die windschiefen Hütten auf dem hochgelegenen Plateau des Eilands. Es war eine dieser Nächte, in denen niemand freiwillig vor die Tür ging. Und doch flackerte unweit ein unruhiges Feuer, das sich nur mühsam gegen die niederprasselnden Tropfen und die hektischen Böen behaupten konnte. Eine einsame Gestalt saß daran und wärmte die bleichen Finger an den sterbenden Flammen. Das zuckende Licht wurde nach nur wenigen Schritt von der Dunkelheit der Nacht verschluckt und war eben hell genug, um ein schlankes Gesicht mit Halbglatze und eisgrauen Augen aus der Finsternis zu reißen.
Ken Dorr rückte schaudernd noch etwas näher ans Feuer, als ein eisiger Windhauch unter seine Kleider fuhr. Dass die Natur aufdringliche Besucher und allzu aufmerksame Gefährten in dieser Nacht noch besser von ihm fernhalten würde als all seine Vorkehrungen, hatte auch seinen Preis. Dennoch war er bereit, dieses Preis zu zahlen. Wenn die Helden von Andor ihn jetzt sähen, würde es ihm niemals gelingen, ihr Misstrauen erneut zu zerstreuen. Schon vor vier Tagen hatte er sein ganzes Können anwenden müssen.
Ein guter Lügner log nicht mit Worten. Er log mit allem was er war, mit seiner Stimme, seiner Haltung und seinem Blick. Er konnte die Wahrheit so sprechen, dass niemand sie glaubte, und die Lüge zur neuen Wahrheit erklären. Er lebte seine Lüge und glaubte selbst an sie, solange es ihm nützlich war. Ein guter Lügner zeichnete sich dadurch aus, dass er niemals log – er sprach die Unwahrheit aus voller Überzeugung. Und Ken war schon immer ein guter Lügner gewesen.
Eine gute Lüge glich einem guten Diebstahl, durch den das Opfer der Wahrheit beraubt wurde. Bei einem guten Diebstahl hinterließ man keine Spuren, nahm nur unauffällig und ersetzte das Fehlende durch eine Kopie, die erst erkannt wurde, wenn es keine Rolle mehr spielte. Die Wahrheit war stets komplex, vielschichtig, mehrdeutig. Eine gute Lüge wurde so tief unter Gerüchten, Vorurteilen und Details vergraben, dass sie nicht mehr aufzuspüren war, und war zugleich so simpel, dass die Wahrheit neben ihr lächerlich und absurd erschien. Für die selbstgerechten Helden von Andor, die so sehr von sich überzeugt waren, war es nur naheliegend, dass auch ein Schurke wie er durch ihre Gegenwart verändert wurde. Wieso sollte ihnen jemals in den Sinn kommen, dass er sich auch aus sich selbst heraus ändern konnte? Dass er seine Vergangenheit bereuen konnte, ohne an die gleiche Zukunft zu glauben wie sie? Dass er gegen den Ewigen Rat kämpfen konnte, ohne ihren Pfad zu beschreiten? Sie hatten keine Ahnung, was seine wahren Pläne waren, was er längst vorbereitet hatte. Er dachte an jenen Abend in Cavern zurück, an dem er ihren Pfad endgültig verlassen und den ersten Schritt auf seinem eigenen gewagt hatte.


Mondhoch, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Stahlgassen in Schwarzeisenstein, Cavern
Ken Dorr blieb vor einer niedrigen Tür aus blankpoliertem Kupfer stehen und nutzte die spiegelnde Fläche, um die engen Gassen hinter sich nach Verfolgern abzusuchen. Natürlich war da niemand im Schein der Fackeln. Den ganzen Tag hatte Drukil ihn mit seinem üblichen Misstrauen beäugt, also hatte er sich auf dem Willkommensfestmahl schlafend gestellt, bis der Hautwandler in seiner Aufmerksamkeit nachgelassen und ein Gespräch mit Leander begonnen hatte, eine Gelegenheit, die Ken genutzt hatte, um sich unauffällig abzusetzen.
Er zog seinen Dolch und hämmerte mit dem Knauf einen komplizierten Rhythmus an die Kupfertür. Er war zum ersten Mal persönlich in Cavern, doch in der Mine lebten alte Bekannte von ihm. Lautlos öffnete sich die schwere Tür. Ein älterer Zwerg mit prächtigem weißem Bart blinzelte ihm misstrauisch entgegen und entblößte seine Goldzähne beim missglückten Versuch eines warmen Lächelns, als er seinen Besucher erkannte. „Ken Dorr!“, staunte der Zwerg. „Es hieß, du seist tot.“
„Sei gegrüßt, Xerom, mein alter Freund.“, erwiderte Ken leise. Xerom war ein Händler mit weitreichenden Verbindungen, der sich durch einen Sinn für gute Geschäfte und einen beachtenswerten Mangel an Zurückhaltung auszeichnete, wenn ihm jemand im Weg stand. „Ich habe leider keine Zeit für lange Geschichten. Erinnerst du dich noch an die Pläne der Rietburg, die ich dir beschafft habe? Nun, heute will ich meine Gegenleistung.“
In Xeroms blauen Augen blitzte es, als der Zwerg abwog, ob es sich lohnen mochte, die Gefälligkeit von damals zu erwidern. Offensichtlich kam er zu dem Schluss, dass noch einige gute Geschäfte auf ihn warteten, denn er nickte knapp. „Was kann ich für dich tun?“
„Ich brauche eine Karte von Silberhall. Aktuell, detailliert, mit allen versteckten Fallen und Gängen. Und noch heute Nacht, ehe ich wieder abreise.“
Xerom zögerte kurz und biss sich auf die breite Unterlippe. Es gab kaum ein schwereres Vergehen für einen Zwerg, als einem Oberweltler Informationen über befreundete Minen anzuvertrauen. Doch seine Unentschlossenheit währte nicht lange. „Komm in zwei Stunden noch mal vorbei.“, raunte Xerom und schloss ohne weitere Abschiedsworte behutsam die Tür.
Ken huschte durch die Gänge und musste sich mehrfach ducken, bis er in die besser ausgebauten Stollen kam. Er suchte sich seinen Weg durch die labyrinthischen Tunnel, bis er vor einer protzigen, mit Blattgold verkleideten Tür stehen blieb, durch die selbst ein Troll gepasst hätte. Er läutete an einem goldenen Glöckchen und wartete, bis die Tür sich, von unsichtbaren Mechanismen gezogen, von selbst öffnete. „Ich habe geschlossen.“, grummelte ein älterer Zwerg in einem mit Goldfäden durchwirkten Nachthemd. In seinen für zwergische Verhältnisse äußerst kurzen, hellbraunen Bart waren Dutzende kleine und zweifellos unverschämt kostbare Edelsteine eingeflochten.
„Spreche ich mit Hildorf, dem erfolgreichsten Schmied Caverns?“, fragte Ken, obgleich er die Antwort längst wusste. „Es heißt, Eure Kunstfertigkeit reiche selbst an die Kreatoks heran, und Eure einzigartigen Drachenartefakte sind weithin berühmt.“
„Schmeicheleien werden mich nicht dazu bringen, länger als nötig auf meinen wohlverdienten Schlaf zu verzichten, schon gar nicht für einen Menschen.“, behauptete Hildorf, doch er gab sich keine Mühe, sein selbstzufriedenes Lächeln zu verbergen. Dann jedoch weiteten sich seine Augen. „Einen Augenblick, Euer Gesicht… Ich weiß wer du bist! Der mysteriöse Mann, den Fürst Kram hat einsperren lassen, ist also niemand anderes als Ken Dorr.“
„Das ist richtig. Aber so gut, wie Ihr informiert seid, werdet Ihr auch wissen, dass ich zusammen mit den Helden von Andor anreiste.“, entgegnete Ken und warf am Schmied vorbei einen Blick in die weitläufige Eingangshalle, wo sich goldene Trophäen und Kunstwerke stapelten.
„Was willst du hier?“, fragte Hildorf argwöhnisch.
„Ich möchte, dass Ihr etwas für mich anfertigt. Und zwar mindestens in Eurer üblichen Perfektion.“, verkündete Ken Dorr und zog einen Pergamentfetzen hervor, auf dem er eine saubere Zeichnung hinterlassen hatte.
„Du vermisst wohl deine erfolgreicheren Zeiten, was?“, spottete der Zwerg. „Vergiss es! Wenn die Helden das wollen, dann sollen sie selbst kommen, ansonsten weigere ich mich. Ich bin reich genug, dass ich mir meine Kunden selbst aussuchen kann.“
Ken setzte ein feines Lächeln auf. „Die Helden wissen nichts davon und brauchen es auch nicht zu erfahren.“ Er ließ seinen Blick über die einzigartigen Wertgegenstände im Vorraum gleiten. Er hatte es mit einem Sammler zu tun, der sich niemals zufriedengeben würde, bis ihm alle Schätze der Welt gehörten. Gier war solch ein zuverlässiger Antrieb.
„Und ich biete dir etwas, das du mit allem Geld der Welt nicht kaufen kannst. Ich biete dir den schönsten Edelstein der Welt: Das Drachenauge!“
Er sah die Gier in den dunklen Augen des Zwerges, aber dann siegte dessen Vernunft. „Das Drachenauge gehört Fürst Grom von Silberhall.“
„Ihr habt schon von mir gehört. Ihr wisst, dass es zu meinen vielfältigen Talenten gehört, Dinge in meinen Besitz zu bringen, die mir nicht gehören sollten.“
Hildorf lief tiefrot an. „Das kommt nicht in Frage!“, brüllte er und legte einen Hebel um, woraufhin das goldene Tor sich langsam zu schließen begann. Die verfluchte Starrköpfigkeit der Zwerge! Anscheinend musste Ken andere Methoden anwenden.
„Zu schade.“, murmelte er wie zu sich selbst. „Dann werde ich es wohl zerstören müssen, in der Hoffnung, dass die Splitter mir wenigstens noch etwas Geld einbringen.“
Hildorf riss den Hebel so fest zurück, dass er fast abbrach. „Das kannst du nicht tun.“, hauchte er fassungslos, Furcht gesellte sich zu der Gier in seinen Augen. „Das Drachenauge ist das Herz eines jeden Zwerges, das Juwel der unvergänglichen Schönheit, ein Traum aus Schatten und Sehnsucht, ein Heiligtum der Erde. Nur einmal durfte ich einen Blick darauf werfen, und niemals werde ich die gleißende Finsternis in seinem Inneren vergessen. Kein Mensch kann seine Vollkommenheit ermessen. Es zu zerstören wäre ein Frevel, ein Verbrechen an der gesamten Zwergenheit.“
„Ich kann es nicht einfach verkaufen.“, meinte Ken bedauernd. „Es ist zu bekannt dafür.“
„Dann kaufe ich es dir ab.“, keuchte der Schmied verzweifelt.
Kens Lächeln vertiefte sich. „So? Den Preis dafür kennt Ihr…“



Mondhoch, 15. Wintertag 77 A.Z.
Danwar, Hadrisches Meer

Ken Dorr lachte leise. Wenn er das Drachenauge erst an sich gebracht hatte, würde der Zwergenschmied ihm aus der Hand fressen. Er zog eine Frucht des Baums der Lieder aus seiner durchnässten Tasche und betrachtete sie lange. War es Wahnsinn, zweimal den gleichen Plan zu verfolgen? Achselzuckend warf er sie in die Flammen. Gierig stürzte sich das Feuer auf die neue Nahrung. Im nächsten Moment platzte die Schale auf ganzer Länge auf und weißlicher Saft spritzte den Flammen entgegen. Ken fluchte und nahm eine andere Frucht, in die er mit seinem Dolch ein Loch bohrte und den Saft abfließen ließ, ehe er auch sie den Flammen übergab. Er beobachtete geduldig, wie die Schale sich zusammenzog und verschrumpelte, während sie vom Ruß schwarz gefärbt wurde. Gerade rechtzeitig angelte er sie mit einem krummen Stock aus dem Feuer. Er zog einen weiteren Gegenstand aus seiner Tasche, einen zersplitterten grünen Kristall, den er in einem dreieckigen Gang aus dem Zentrum eines goldenen Baumes gebrochen hatte. Kurz tastete Ken nach dem Fremdkörper, der neuerdings auch in seiner Stirn prangte, und Unmut stieg in ihm auf. Er würde diese Demütigung nicht vergessen! Seine vom Knacken vieler Schlösser geschulten Finger zwängten den Kristall trotz seines Ärgers ruhig ins Innere der verkohlten Frucht. Das Loch war groß genug und doch zu klein, um auffällig zu sein. Zufrieden betrachtete er sein Werk: Eine schwarze, verschrumpelte, tote Frucht, aus deren feinen Rissen ein gebrochenes grünes Licht glomm.
Lächelnd verstaute er die Frucht und zog ein kleines schwarzes Döschen aus seiner Tasche, dessen Deckel er vorsichtig abnahm. „Wir müssen reden.“, flüsterte er dem Tropfen zu, der im Feuerschein hätte silbern schimmern müssen und stattdessen nur das winzige, verzerrte Abbild eines halbkreisförmigen Saales in sich trug. Fahles, blaues Licht umfloss seinen Körper und überstrahlte die glühenden Überreste eines ertränkten Feuers. Dann wurde alles schwarz.

Ken schlug die Augen auf. Ein Schatten mit gezackter Maske senkte langsam seine blau glühende Faust und blickte aus weiß glühenden, nadelspitzen Augen auf ihn herab. „Es wurde auch Zeit, dass du dich meldest.“, sagte der Schwarze Herold verärgert. „Wie lange wolltest du mir noch verschweigen, dass die Helden von Andor das zukünftige Herz der Geburt gefunden haben?“
„Ich bin seit einem Dutzend Tagen mit ihnen auf einem Schiff eingesperrt und kann keinen Schritt gehen, ohne beobachtet zu werden. Das hier war meine erste Gelegenheit. Woher wisst Ihr es bereits?“
Eine zweite Stimme klang durch die Halle, beißend und hämisch: „Ich berichtete ihm bereits, dass uns die Frucht vor der Nase weggeschnappt wurde, kurz bevor wir sie aufspüren konnten.“
Ken kniff die Augen zusammen und tastete unwillkürlich nach dem Stein in seiner Stirn, während er sich umdrehte. Kenvilar hatte sich im Zentrum des Saales zusammengerollt, hinter ihr der riesige schwarze Spiegel aus Quecksilber. Der Drache, der normalerweise dort lag, war verschwunden. Was machte sie hier?
Wenn jemand diesen Samen findet, dann wir? Ich nehme an, das erste Mitglied des Ewigen Rates war nicht begeistert?“, fragte Ken höhnisch.
„Die Mächte des Meeres haben versagt, doch du ebenfalls, Dieb!“, antwortete die tiefe Stimme des Herolds. „Vertrauen die Helden dir nicht mittlerweile zumindest ein bisschen? Hättest du sie nicht aufhalten können?“
„Es war mir unmöglich, ihnen ihr Vorhaben auszureden.“, meinte Ken bedauernd. „Ich habe sie bis ins Graue Gebirge pilgern lassen, um sie abzulenken. Was kann ich dafür, dass die Mächte des Meeres …“
Plötzlich schoss sengender Schmerz durch seinen Schädel. Der Kristall in seiner Stirn wurde heiß und als er seine schlanken Finger daran hielt, fiel flackerndes grünes Licht darauf. Wähle deine Worte mit Bedacht. Wir beide wissen Dinge, von denen wir nicht wollen, dass der Geist sie erfährt, flüsterte eine körperlose Stimme. Kurz sah er in Kenvilars orangefarbene Augen und unbemerkt vom Schwarzen Herold schlossen sie eine stumme Übereinkunft. „… dass die Mächte des Meeres so langsam waren.“, beendete Ken seinen Satz.
„Ihre Ausflüchte musste ich mir bereits anhören. Und deine kannst du dir sparen.“, antwortete der Schwarze Herold abfällig. „Ihr habt alle versagt. Ich bin mehr als nur enttäuscht. Die Mächte des Meeres waren bisher nutzlos, und du, Dieb, hast den Helden zu viel verraten, nur um an ihre Haare zu kommen.“
„Ich habe mehr von ihnen bekommen als nur Haare.“, meinte Ken lächelnd. „Ich habe einen Ansatz von Vertrauen gewonnen, Informationen und die Möglichkeit, sie zu beeinflussen. Ich weiß, wie sie denken, kenne ihre Tricks, bin in einen Teil ihrer Pläne eingeweiht. Insbesondere einer bereitet mir Sorge: Sie haben erfahren, dass Ihr Euch regelmäßig zur Rietburg begebt und haben dort eine Falle vorbereitet. Lasst Euch auf keinen Fall mehr dort sehen!“
„Nichts kann mir etwas anhaben. Klingen und Zauber passieren mich ohne Widerstand. Wie soll diese Falle funktionieren?“
„Das weiß ich nicht.“, log Ken ungerührt. „Aber ich würde mich nicht zu sehr darauf verlassen, dass Euch nichts geschehen kann. Ich habe vor kurzem eine Geschichte gehört, in der ein Geist von einem Kristall eingekerkert wurde.“ Der Blick, den Kenvilar ihm zuwarf, war mörderisch.
„Eine Falle um die Rietburg also. Deine Aussage deckt sich mit dem Bericht eines von Nomions Spionen. Vielleicht war es ein Fehler, diese Warnung bisher zu ignorieren.“, überlegte der Schwarze Herold. „Nun gut. Ich kann die Rietburg auch aus der Ferne einnehmen lassen. Deine Verbindung zu den Helden hat sich wohl tatsächlich als nützlich erwiesen. Ich bin beeindruckt.“
„Beeindruckt?“, lachte Kenvilar ungläubig. „Wenn diese vage und verspätete Information schon beeindruckend ist, was ist dann erst unser Geschenk?“
Die Tückische wob mit ihren Händen Fäden aus grünem Licht zu einem Fenster in der Luft. Auf der anderen Seite erblickte Ken ein schwarzes Schiff mit dunklen Segeln, das elegant die sturmgepeitschte See durchquerte. Unter den hohen Wellen tummelten sich unzählige geschuppte Leiber und gigantische Arrogs flankierten das Schiff wie lebende Klippen. In der Ferne, von einigen Blitzen in plötzliches Licht getaucht, thronte auf einer kargen Insel eine stolze Festung, an der sich gischtsprühende Wogen brachen.
„Das ist die Schwarze Kogge, die ich nach Klippenwacht gesandt habe, um den Widerstand der Nebelinseln zu brechen. Was haben die Mächte des Meeres damit zu tun?“
„Nur dank unserer Hilfe schlugen die Meereskreaturen sich auf die Seite des Ewigen Rates. Doch darum ging es mir nicht. Achtet auf das Schiff selbst. Seht, wer dort steht. Meine Kinder…“
Lange ruhte Kens Blick auf den Gestalten an Bord. „Ich verstehe.“, sagte er schließlich.
„Das ist … brilliant!“, schrie der Herold triumphierend. „Du hattest recht, Kenvilar: Jedes Wesen zwischen Himmel und Meer wird sie hassen. Unsere Pläne haben sich soeben geändert. Ken Dorr, du hast eine neue Aufgabe: Halte die Helden von Andor davon ab, in die Nähe Klippenwachts zu kommen, ehe die Seefeste gefallen ist. Sowohl die Bewohner der Nebelinseln als auch die Helden müssen im Unklaren gehalten werden. Die Kogge darf sich niemals zeitgleich mit den Helden an einem Ort befinden.“
Die gezackte Maske wippte auf und ab vor Aufregung. „ Besprecht euch miteinander, koordiniert euch. Entscheidet, wo sie als nächstes zuschlägt, und sorgt dafür, dass die Helden stets anderswo sind. Ich erwarte, dass ihr diesmal erfolgreich seid. Diese Chance dürfen wir nicht ungenutzt lassen!Und haltet die Helden vom Baum der Lieder fern. Er muss brennen, sobald die Zeit reif ist.“
Schlagartig erlosch das grüne Licht und das Bild in der Luft verschwand, als Kenvilar erstarrte und ihre Hände den Zauber nicht fortsetzten. „Der Baum des Anbeginns soll brennen? Schon der ursprüngliche Plan sah vor, dass wir ihn nach Möglichkeit erst zerstören, wenn der Ewige Rat den Samen in seinen Besitz gebracht hat. Aber jetzt, wo ausgerechnet unsere Feinde das Samenkorn besitzen, können wir es doch unmöglich riskieren, ihnen die Macht des Anbeginns zu schenken!“
Ihr Tonfall kündete von nicht mehr als neutraler Überraschung, und Ken zollte ihr Respekt dafür, dass selbst er keine verborgenen Absichten in ihrer beißenden Stimme ausmachen konnte. Er wusste, dass sie den Baum der Lieder bewahren wollte, begriff nun, dass sie den Helden dessen Samenkorn wohl einzig aus diesem Grund überlassen hatte, aber nichts an ihr deutete jetzt darauf hin. Sie zeigte nicht ihre Hinterlist, und auch nicht Zorn darüber, dass ihr Plan gescheitert war.
Der Schwarze Herold stieß ein finsteres Lachen aus. „Ihr habt versagt, aber das ändert unsere Pläne nicht. Die Helden werden das Herz mit all ihrer Macht beschützen. Wir müssen nicht mehr riskieren, dass es durch einen dummen Zufall zerstört wird. Und die Macht wird ihnen nicht viel nützen. Oder habt ihr etwa schon wieder vergessen, was ich dem Ewigen Rat sagte, kaum dass ich ihn zusammengerufen hatte?“
„Weder Sterblicher noch Gott kann die volle Macht eines einzelnen Herzens nutzen.“, flüsterte Ken. Er zumindest hatte diese Worte ganz gewiss nicht vergessen. Und nach dem, was er in der Himmelssäule gesehen hatte, vermutete er, dass die Mächte des Meeres alle Geheimnisse der Herzen schon lange vor dem Schwarzen Herold gelüftet hatten.
„Es gibt noch andere Möglichkeiten, die Macht zu nutzen.“, erwiderte Kenvilar. „Ein Gespenst wie du, aber ihnen wohlgesonnen. Die Elementargeister, wenn sie eine Möglichkeit finden, mit einem von ihnen zu kommunizieren. Alle Wesen, die vom Fluch des Alters und dem Fluch der Freiheit zugleich befreit sind, könnten ihnen helfen.“
„Das wird Ken Dorr zu verhindern wissen.“, forderte der Herold. „Der Baum der Lieder muss zerstört werden, das war von Anfang an klar. Meine Entscheidung steht. Kümmert euch um das, was ich euch aufgetragen habe: Entwickelt einen Zeitplan für die Schwarze Kogge. Sorgt dafür, dass den Helden von Andor ihre Überraschung nicht verdorben wird.“
„Wie Ihr wünscht.“, sagte Ken Dorr und verneigte sich leicht.
Den Geist magst du täuschen können, aber mich nicht. Das erste, was du tun wirst, wenn du zurückgeschickt wirst, ist die Helden nach Klippenwacht zu lotsen, klang Kenvilars Stimme aus dem Kristall durch seinen Kopf. Kalte Belustigung flackerte in ihren orangenen Augen. Ken warf der Tückischen einen eisigen Blick zu, während er überlegte, ob es wohl möglich war, den Stein aus seiner Stirn schneiden zu lassen. Du hältst dich für einen guten Lügner, doch schon ein Blick genügt mir, um deine Intrigen zu durchschauen. Ich weiß um das dreifache Spiel, das du spielst. Und du wirst es verlieren. Du bist nur ein armseliger Sterblicher, denkst du wirklich, gegen die Dreieinigkeit bestehen zu können?
Er ignorierte ihren Spott. Auch die falsche Göttin spielte ein dreifaches Spiel, und auch sie hatte schon Niederlagen einstecken müssen. Sie hatte den Baum der Lieder vor dem Ewigen Rat beschützen wollen, und genau das Gegenteil erreicht. Auch sie beging Fehler. Jede deiner Lügen wird einem Feind helfen, dessen Geschick und Macht du nicht gewachsen bist, flüsterten die Drei Schwestern in seiner Erinnerung. Doch die Worte konnten ihn nicht mehr schrecken. Er hatte seinen Pfad gewählt.
Grimmig dachte er: Wir werden ja sehen, wer von uns beiden das Spiel gewinnt.


Und an der tiefsten Stelle in Hadrias Unterwelt, wo der Boden von einem dichten Geflecht von Rissen bedeckt war, brodelte es unheilvoll.
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K - Mosaik der Lügen

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:21

K – Mosaik der Lügen

Mondhoch, 9. Wintertag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

Schon als Janis die Augen öffnete, wusste er, dass er träumte. Er stand am Eingang der Schmiede, über ihm der nichtssagende Himmel aus grauem Nebel, vor ihm der ausgestorbene Burghof. Von Nomion keine Spur. Er blickte sich um und bemerkte endlich einen hageren Schatten, der sich ins Torhaus quetschte. Ungeduldig lief Janis den Hügel hinab zum Hexer, der den Besuch in diesem Traum anscheinend ausnutzte, um die Verteidigungsanlagen der Rietburg zu besichtigen.
„Ah, mein kleiner Verräter! Wie immer eine Freude, dich zu sehen.“, krächzte der Krahder, während er das Gesicht vom Tor wandte und dabei fast mit seinem kahlen Schädel an die Balken des Torturms stieß, unter die er sich duckte.
„Warum wusste ich nichts vom Schwarzen Herzblatt in unseren Vorräten? Wie lange wolltest du mich in Unklaren lassen? Bis ich an einem Herzinfarkt sterbe?“, entgegnete Janis, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
Ein heiseres Lachen ertönte. „Ohhh, bist du etwa beleidigt? Ich habe dir gesagt, dass du Sapian gegen das Fieber nehmen sollst, weshalb hätte ich noch mehr verraten sollen?“
„Weil zeitgleich der Statthalter auf meinen Vorschlag hin Sapian-Knollen in unseren Brunnen schüttete!“, schrie Janis. „Damit er von möglichst vielen Andori dabei beobachtet wird und sie ihn für einen Verräter halten! Ich habe behauptet, jemand hätte unser Wasser mit Schwarzem Herzblatt vergiftet. Wenn ich eingeweiht gewesen wäre, dann hätte ich mir irgendein anderes Gift ausdenken können, anstatt ausgerechnet das zu wählen, das uns tatsächlich verabreicht wird!“
Nomions gelbe Augen glühten bedrohlich aus den Schatten. „Das erklärt, weshalb das Gift bisher kaum Wirkung zeigte. Du bist zornig auf mich, weil ich dir etwas verschweige, aber tust währenddessen genau das gleiche? Weshalb sollte ich im Unrecht sein, Janis?“
„Ich habe nur ein Detail nicht erwähnt, das nicht mehr ist als ein Baustein zum Erfolg. Du dagegen verheimlichst ein Kraut, das auch mich und meine Freunde vergiftet.“
„Du bist nichts als mein Diener, Janis! Es liegt allein in meinem Ermessen, in welchen meiner Pläne ich dich einweihe und in welchen nicht. Deine Schritte aber will ich ausnahmslos kennen. Du bist mir zu absolutem Gehorsam verpflichtet! Du hast doch nicht etwa über diese „Freunde“, die du erwähnt hast, dein eigentliches Ziel vergessen?“ Grünes Feuer entflammte auf dem Boden vor dem Hexer und formte den vagen Umriss einer Frau. Unwillkürlich trat Janis einen Schritt auf sie zu, als sich ein schmerzhaft vertrautes Gesicht aus den Flammen bildete.
„Erfülle deine Aufgabe, und du erhältst das Leben deiner Mutter!“, flüsterte Nomion. „Ich werte das Geschehene als Ausdruck mangelnder Kommunikation. Aber wenn du mir nur noch einmal etwas verschweigst, dann werde ich dem Schwarzen Herold nicht länger vorenthalten, wer sie war!“ Die fahlen Flammen erloschen schlagartig, doch Kheelas Abbild hatte sich in seine Augen gebrannt und schimmerte noch lange nach.
„Wie hast du das Gift in unsere Vorräte bekommen?“, fragte Janis schließlich.
„Denkst du, du bist mein einziger Verräter? Nicht jeder hat Interesse daran, dass Andor fortbesteht. Die Bodenreform hat dem Statthalter viele Verteidiger eingebracht, aber auch einige sehr mächtige Feinde. Es gibt Menschen in Andor, die lieber auf der Seite der Gewinner stehen.“
„Die Großbauern.“, stellte Janis fest. „Von ihnen also stammt das Vieh, das deine Kreaturen ernährt. Sie haben ihr Korn vergiftet, noch bevor sie es überhaupt zur Rietburg brachten, nehme ich an?“
„Oh, nicht sie alle. Nur einer von ihnen besaß den Mut, seine Lehensherren zu hintergehen, noch bevor meine Kreaturen in Andor einmarschierten, und die Übrigen werden noch für ihr Zögern bezahlen.“
Janis schwieg. Er konnte sich vorstellen, wer der Verräter war. Ich habe bereits das Doppelte dessen bereitgestellt, was ich hätte geben müssen. Das attraktive Gesicht eines sonnengebräunten Mannes erschien vor seinem inneren Auge, mit einem Schnurrbart, der sich wie eine fette Made auf seiner Oberlippe wand. Zornige Worte hallten in seinem Schädel wider: Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann bekomme ich es auch! Mit Eurer Hilfe oder ohne! Sadam, der Aufsteiger, war noch nie wie die anderen Großbauern gewesen.
„Genug davon!“, forderte Nomion. „Ich bin aus anderen Gründen hier. Was macht der Statthalter? Wie weit bist du? Ich will die Rietburg endlich einnehmen!“
„Ich komme voran, wenn auch langsam. Vertrau mir nur noch ein bisschen!“ Missbilligung lag in Nomions Blick, doch er schwieg. „Im Übrigen bin ich mir nicht sicher, ob diese Burg so einfach eingenommen werden kann, wie du es dir vorstellst. Die Andori sind zäh. Selbst wenn bisher keiner der Angriffe ernst gemeint war, wir konnten sie alle zurückschlagen. Ich habe bei den Kreaturen nur zerbrechliche Leitern gesehen, keine anderen Belagerungswaffen. Wie sollen wir nur damit überwältigt werden?“
Ein bösartiges Grinsen teilte die grauen Lippen des Krahders. „Wie süß! Du denkst wirklich, eure kümmerliche Verteidigung stellt ein Hindernis für mich dar? Was, denkst du, hält den Schwarzen Herold davon ab, seine Kreaturen beim nächsten Angriff auf eurer Seite der Mauern zu beschwören?“
Janis spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. „Das könnte er nicht.“, hauchte er fassungslos.
„Das Gespenst gebietet über die Macht meines Volkes, über den Tod selbst. Und der Tod achtet nicht auf Grenzen oder Mauern. Nur du stehst dem Ewigen Rat im Weg. Dein Versagen. Dein Zögern. Erfülle deinen Auftrag, diskreditiere den Statthalter, und diese Burg hält keinen Tag mehr. Kheelas Leben ist nicht mehr als einen kleinen Erfolg entfernt. Tue deine Pflicht, und dann endlich kann ich mir das Eigentum meines Volkes zurückholen!“
Der Krahder stockte. „Auch wenn es bedauerlich ist, dass ich die Hälfte der potenziellen Sklaven werde töten müssen. Apropos: Ich erwarte Namen. Los, kleiner Verräter, sage mir, wen ich verschonen soll, wenn diese Burg erst gefallen ist – und wen nicht.“
„Du wirst nichts vergessen, wenn ich jetzt sechshundert Namen herunterrassle?“, bezweifelte Janis.
Nomion schnaubte belustigt. „In dieser Welt gelten andere Gesetze. Fang an!“
Und Janis fing an. Er nannte Sara und Rodur, Readem und Sann, Schmied Warguth und Falkner Casimir, Runenmeisterin Sarit und Baumeister Mard, und alle anderen, die er auf die Liste der Lebenden gesetzt hatte. Verteidiger, Familien, Kinder. Und dann nannte er die andere Hälfte. Die Hälfte, die er nicht retten konnte. Die Hälfte, die er für seine Mutter opferte. Meister Kunar. Kommandantin Daroscha. Mretox, der Schildzwerg. Der Krieger Peta. Barram. Jeder Name brannte wie Essig auf seiner Zunge und durchschnitt die unnatürliche Stille des Traums wie ein Peitschenknall. Es waren so viele, eine endlos scheinende Reihe aus Verlorenen. Aus jenen, die schon tot waren, ohne es zu wissen.
Nomion unterbrach ihn nicht, bis der letzte Name seinen Lippen entwich und gnädige Ruhe einkehrte. Der Hexer musterte ihn stumm und Janis wäre jede Wette eingegangen, dass sein Schmerz ihm nur Freude bereitete.
Schließlich schüttelte der Riese kaum merklich den Kopf. „Du hast weniger Namen bei den Toten als bei den Lebenden aufgezählt.“
„Ohne den Statthalter lebt in der Rietburg seit dem letzten Angriff eine ungerade Anzahl an Personen. Wir können niemanden zur Hälfte töten, also habe ich den Überzähligen zu den Lebenden gezählt.“
„Halte mich nicht für dumm, Janis!“, entgegnete Nomion gefährlich leise. „Ich habe mitgezählt. Die Lebenden waren zwei mehr.“
Janis schluckte. „Das liegt daran, dass ich einen Namen, der auf der Seite der Toten steht, noch nicht erwähnt habe.“
Tu es nicht, mein Schatz! Wie soll ich damit leben können?
Du wirst es nicht erfahren, Mutter. Du wirst nichts von dem erfahren, was ich getan habe. Alles bleibt dir erspart.

Janis blickte fest in Nomions gelb glühende Augen. Jeder einzelne Name auf der Liste der Toten hatte etwas in ihm zerrissen. Doch diesen sprach er ruhig, ohne jedes Bedauern. Wenn er etwas verspürte, dann war es milde Erleichterung. „Der fehlende Name lautet: Janis.“
Der Hexer stieß ein heiseres Keuchen aus. „Was soll das, kleiner Verräter? Weshalb zählst du dich selbst zu den Toten?“
„Weil dann ein anderer an meiner Stelle leben darf. Ich brauche keinen tieferen Grund, auch wenn du das vielleicht nicht nachvollziehen kannst.“, sagte Janis verächtlich. „Wenn ich gehe, kann ein anderer bleiben. Einer, der nicht mit der Schuld leben muss, die ich auf mich lade. Von allen, die sterben müssen, hat niemand es mehr verdient als ich.“
„Du tust das alles hier, nur um ein jämmerliches sterbliches Leben an der Seite deine Mutter verbringen zu dürfen, und jetzt wirfst du dieses Leben auch noch weg?“
„Ich tue das hier nicht für mich! Ich tue es, damit meine Mutter überhaupt ein Leben hat, nicht um es mit ihr zu teilen.“ Er senkte kurz den Blick. „Nach allem, was ich getan habe, könnte ich ihr ohnehin nicht mehr in die Augen sehen.“
Nomion schüttelte belustigt den Kopf. „Ich werde dir deinen Beschluss nicht ausreden. Aber das hier ist deine letzte Chance, die Liste noch zu ändern. Und wenn du winselnd zu mir gelaufen kommst, ich werde deinen Namen nicht mehr verschieben.“
„Meine Entscheidung steht. Eine Ruine, wo einst die Rietburg stand, und meine Mutter, wieder am Leben – das soll alles sein, was von mir bleibt.“


Später Vormittag, 10. Wintertag 77 A.Z.
Siechenhaus der Rietburg, Andor

Rodur setzte die Schale ab und verzog angewidert das Gesicht, während er seinen Kopf wieder ins Kissen fallen ließ. „Stell dich nicht so an, Rodur! Ich weiß, dass Sapian-Knollen kaum Eigengeschmack haben.“, meinte Janis belustigt.
Rodur warf ihm einen finsteren Blick zu und schluckte seine Medizin herunter. „Es geht nicht um den Geschmack! Es geht um den Inhalt. Ich will keinen Durchfall bekommen, während ich das Bett nicht verlassen soll!“
„Du hast einen Eimer.“, erwiderte Janis ungerührt.
„Das ist erniedrigend. Sie beobachtet mich die ganze Zeit.“ Er deutete auf Vara, die reglos hinter seinem Bett stand. „Außerdem seid ihr hier vollkommen überlastet, bis der ausgeleert wird können Stunden vergehen.“ Empört setzte Rodur sich auf. „Sara, sag etwas dazu!“
Die Angesprochene verdrehte ihre Augen und gebärdete: Du. Sollen. Liegen.
„Nicht du auch noch!“, rief Rodur beleidigt. Widerstrebend ließ er sich zurücksinken.
„Morgen lassen wir dich gehen.“, versprach Janis. „Bis dahin sollte das Fieber verschwunden sein, und du hast genug Sapian zu dir genommen, dass Vara nicht dauernd in deiner Nähe bleiben muss.“
„Endlich keine Medizin mehr!“, stieß Rodur erleichtert aus. Janis holte Luft und wusste nicht, was er sagen sollte. Sara senkte den Blick, blaue Schatten verdunkelten das Violett ihrer Augen.
„Ich fürchte doch.“, erklärte Janis schließlich. „Du wirst deine Sapian-Knollen noch weiterhin schlucken müssen. Aber in einem Mond wird sich deine Verdauung daran gewöhnt haben, also kein Durchfall mehr.“
„In einem Mond?!“, fragte Rodur fassungslos. „Wie lange muss ich bitte warten, bis ich keine Kräuter mehr brauche?“
„Das perfide am Schwarzen Herzblatt ist, dass es die Blutgerinnung langfristig verstärkt, wenn man erst genug zu sich genommen hat. Gegen diesen Effekt gibt es kein bekanntes Gegenmittel. Wir können dir nur Kräuter geben, die dein Blut für eine begrenzte Zeit vom Verklumpen abhalten. Um also die Frage zu beantworten, wie lange du warten musst: Bis zum Tod.“
Rodur keuchte. Ein gehetzter Ausdruck trat in seine Augen. „Nein! Du … kannst so was nicht einfach sagen! Nicht so laut …“
Janis verschluckte sich an den Worten, die er ursprünglich hatte sagen wollen. „Das ist deine größte Sorge? Dass jemand davon erfährt? Rodur, niemand kann dir etwas vorwerfen! Sie müssten dir dankbar sein. Nur deinetwegen haben wir überhaupt von dem Schwarzen Herzblatt erfahren.“
Sein Freund nickte hastig. „Genau! Ich bin noch immer nützlich! Keine Bürde! Dass ich Knollen brauche, macht mich nicht schwach. Ich kann kämpfen. Ich kann arbeiten.“ Er wurde immer leiser, seine Stimme klang fast flehend, und Janis musste sich vorbeugen, um die letzten Worte verstehen zu können. „Ich bin keine … Belastung …“
Ein Knall ertönte. Sara hatte sich so plötzlich bewegt, dass Janis erst vor Schreck zusammenzuckte, nachdem sie schon wieder auf ihrem Hocker saß, als wäre nichts geschehen. Rodurs Blick klarte auf. Fassungslos legte er eine Hand an seine Wange, wo Sara ihn geschlagen hatte, und öffnete den Mund, ohne ein Wort hervorzubringen.
Sara starrte Rodur finster an, ihre eisgrauen Augen jagten sogar Janis Angst ein, obwohl er nicht Opfer ihres Zorns war. Sohn-Von-Feuer. Sein. Freund. gebärdete sie entschieden und Rodur brachte vorsichtshalber einen Sicherheitsabstand zwischen ihre Hände und sein Gesicht. Sohn-Von-Feuer. Nein. Belastung. - Niemals.
Rodur blinzelte. Leise sagte er: „Ihr … ihr versteht das nicht. Ihr könnte es nicht verstehen. Ihr seid Freie.“
„Du bist auch frei.“, entgegnete Janis ernst. „Die Krahder sind tot. Eure Sklaverei wurde beendet, eure Ketten zerbrochen, das kann auch dieser Nomion nicht ungeschehen machen.“
Rodur schüttelte schwach den Kopf. „Kein Ambacu ist jemals frei. Die Sklavenschinder dort draußen mögen vergangen sein, aber die Sklavenschinder hier drinnen“, er tippte sich an die Stirn, „werden erst zusammen mit mir sterben. Ich habe euch von den Spielen erzählt, wie wir in Krahd spielten, damit ihr denkt, auch ich hätte eine Kindheit gehabt. Aber das hatte ich nicht. In Krahd endete die Kindheit, wenn man alt genug war, einen Befehl auszuführen. Ihr wurdet in Freiheit geboren, unter einem Himmel voller Sterne. Ihr wurdet nicht angekettet, noch ehe ihr laufen konntet. Ihr habt nicht mitansehen müssen, wie sich die Ambacus mit einem letzten Rest von Stolz ins Lavameer stürzten, damit wenigstens ihre Knochen der Knechtschaft entkommen konnten. Ihr habt nicht die Willkür der Krahder erlebt, seid nicht mit der Ungewissheit eingeschlafen, welche neue Qual euch morgen erwarten wird. Ihr habt nicht Fünfjährigen ihr Essen aus der Hand gerissen, um endlich einmal satt zu werden.“
Rodurs Blick irrte unruhig zwischen den Vorhängen hindurch, doch Janis ahnte, dass er nur ein stickiges Ödland über einem Meer aus Lava sah, enge Stollen und vergitterte Löcher.
„Manche Wunden heilen nicht. Ihr habt keine Ahnung, wie sehr ich noch in Krahd gefangen bin. Warum fresse ich mich wohl bei jeder Gelegenheit so voll, dass ich fast kotzen muss? Aus Hunger?! Nein! Ich tue es, weil in mir noch immer die Ungewissheit schlummert, wie lange ich davon werde zehren müssen! Weil ich weiß, dass keine Vorräte sicher sind vor ausgehungerten Sklaven! Was denkt ihr, weshalb ich so schnell wie möglich aus diesem Bett herauswill? Weil ich immer fürchte, dass gleich ein untoter Diener der Krahder um die Ecke kommt und mich krank hier liegen sieht! Weil ich genau weiß, dass auf Ambacus, die nicht mehr arbeiten können und die für die Krahder nicht mehr als eine Belastung sind, nur ein hungriger Wachtroll wartet!“
Rodur schloss angespannt die Augen und holte tief Luft. „Es ist egal, wie oft ich mir sage, dass diese Zeiten vergangen sind. Es ist egal, wie unvernünftig es ist, diese Ängste noch immer mitzuschleppen. Die Vernunft kommt nicht gegen das an, was unsere Herren uns angetan haben. Es gibt Ketten, die Zeit oder Verstand nicht sprengen können. Kein Ambacu ist jemals frei…“
Rodur verstummte und Janis ließ die Luft entweichen, von der er nicht gemerkt hatte, dass er sie angehalten hatte. Niemand regte sich. Von irgendwo erklang das Stöhnen eines Verwundeten. Janis wechselte einen unsicheren Blick mit Sara. „Rodur …“
Sein Freund schlug die Augen auf und betrachtete ihn zornig. „Ich will kein Mitleid, Janis!“, zischte er verächtlich. „Ich will kein Bedauern! Was vergangen ist, ist vergangen. Ich bin, wer ich bin. Jeder hat sein eigenes Leben zu ertragen. Wenn du mir helfen willst, dann nicht mit leeren Worten.“
Langsam setzte Rodur sich wieder auf, niemand hinderte ihn mehr daran. Er hatte die Fäuste geballt und sah sie beide finster an. Die Feuer Krahds brannten in seinen Augen. „Ich will verhindern, dass so etwas wie Krahd sich wiederholt. Ich will, dass niemals wieder jemandem angetan wird, was uns angetan wurde. Ich will, dass niemand mehr einen Menschen oder Zwerg unterjocht und versklavt, weder der Ewige Rat noch dieser Nomion. Und dazu muss ich wissen, wer dahintersteckt. Wer hat uns vergiftet? Wer ist bereit, uns alle zu verkaufen? Wer ist der Verräter?“
Janis spürte Rodurs Blick sengend heiß auf sich lasten. „Ich weiß es nicht.“, log er, die Worte schmeckten bitter. „Aber vielleicht… Doch du solltest lieber Sara fragen.“
Sara fuhr verblüfft zusammen. Warum. Ich. Als-Frage-Gemeint.
„Weil es ein Rätsel ist, und weil ich niemanden kenne, der besser in Rätseln ist.“
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein. Rätsel. - Nur. Raten. - Zu. Viel. Unbekannt.
Janis holte tief Luft. Es war soweit. Er hatte Lügen gesponnen, Intrigen vorbereitet, falsche Fährten gelegt. Er hatte die bunte, schillernde Wahrheit genommen, sie zu Bruchstücken zertrampelt und die Stücke sorgfältig neu zusammengesetzt, bis sich ein anderes Bild formte. Das Bild eines Helden, der zum Verräter wurde. Sein Mosaik der Lügen.
„Ich glaube nicht, dass es unmöglich ist. Wir wissen nicht, woher der Verräter kommt, welches Geschlecht er hat, wie er aussieht. Aber wir wissen, was er getan hat. Denk nach, Sara! Wer weiß alles, was in den vertraulichen Besprechungen mit dem Statthalter beschlossen wird? Wer hätte eine Möglichkeit gehabt, das Gold für die Söldner direkt unter Orfens Nase zu entwenden? Woher könnte der Statthalter von dem Schwarzen Herzblatt in unseren Vorräten wissen? Und weshalb sollte er uns nichts davon verraten, sondern uns stattdessen im Dunkeln tappen lassen? Es muss jemanden geben, bei dem die losen Enden zusammenlaufen, und du kannst ihn finden. Du kannst uns sagen, wer der Verräter ist. Es ist nur ein weiteres Rätsel.“
Sara verengte ihre Augen. Schillernde Farben flimmerten in ihren Iriden, rasend schnell wechselten bunte Schatten einander ab und verschmolzen langsam zu einem violetten Schimmer. Und dann, plötzlich, erloschen die Farben. Wann immer sie zuvor an den Verräter gedacht hatte war ein eisiges Grau in ihren Blick getreten, doch jetzt war ausschließlich ein unergründliches, tiefes Blau zurückgeblieben, das Janis mehr schmerzte als das kälteste Sturmgrau.
Hilflos hob Sara ihre Hände und ließ sie wieder sinken, ohne etwas gebärdet zu haben. „Was ist? Hast du eine Idee?“, fragte Rodur verwirrt. Saras Blick huschte verzweifelt zwischen ihnen beiden hin und her. Langsam zeichneten ihre Hände ein Wort in die Luft, ihre Finger zitterten und sie sah aus, als fechte sie irgendwo tief in sich einen Kampf mit sich selbst aus: Wolf-Krieger.
In all der Zeit hatte Janis gewusst, dass Sara seine wahre Prüfung war. Sie hatte immer an den Statthalter geglaubt, hatte auf seine Entscheidungen vertraut. Sie war aufmerksam, vergaß nichts und ihre Klugheit war beängstigend. Wenn Janis sie überlisten konnte, sie, die unfehlbare Sara, die Orfens Tortur in der Winterburg miterlebt hatte und die ihm immer loyal gewesen war, dann konnte er jeden überzeugen. Und mit ihren Fähigkeiten an seiner Seite würde ihm alles gelingen! Jetzt hatte er es geschafft! Er hatte sein Ziel erreicht! Er hatte ihre Hoffnung und ihr Vertrauen zerbrochen. Und er schämte sich so sehr dafür.
„Was?!“, entfuhr es Rodur. Zu mehr als einem hysterischen Flüstern war er anscheinend nicht imstande. „Bist du verrückt?“
„Nein.“, antwortete Janis an ihrer Stelle. „Orfen war der letzte, der das Gold für Sechsfinger gesehen hat. Orfen ist bei jeder Besprechung zugegen, er beruft sie sogar erst ein. Orfen wusste vor irgendjemandem sonst vom Schwarzen Herzblatt in unseren Vorräten. Und Nomion selbst hat seinen Kreaturen befohlen, lieber von der Mauer zu flüchten, als gegen Orfen zu kämpfen. Sara hat recht: Es erklärt alles. Wir können diese Möglichkeit nicht einfach außer Acht lassen, nur weil sie uns nicht gefällt.“
„Es erklärt nichts! Orfen ist der Statthalter! Er befiehlt über die Krieger, er überwacht all unsere Bemühungen. Wenn er uns alle umbringen wollte, dann hätte er andere Möglichkeiten!“
„Wenn er uns alle umbringen wollte, dann hätte er kein Gegengift in unseren Brunnen getan.“, bestätigte Janis. „Er will uns nicht alle umbringen, dazu ist er zu sehr ein Held. Die Sapian-Knollen beweisen, dass er sich trotz allem um die Andori sorgt. Wenn er uns umbringen wollte, dann hätte er das längst tun können. Doch wenn er stattdessen erreichen möchte, dass wir die Belagerung mit möglichst wenigen Toten verlieren – dann muss er vorsichtiger vorgehen.“
„Wir sprechen von Orfen! Dem Helden von Andor! Dem Statthalter, der nie nach Macht strebte! Er hat sein ganzes Leben für dieses Land gekämpft, er wurde von den Krahdern verschleppt und gefoltert. Er hat jeden Grund, den Ewigen Rat zu hassen.“
„Ich bin mir sicher, das tut er. Doch der Schwarze Herold kann ihm mehr bieten als Macht oder ein ewiges Leben: Er kann die Toten zurückholen. Habt ihr Orfens Rede vergessen, in der er von seiner verlorenen Liebe sprach? Meint ihr wirklich, er würde ihren Tod nicht ungeschehen machen wollen, wenn er die Möglichkeit dazu hätte?“ Janis vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Fast habe ich Mitleid mit dem Statthalter. Können wir wirklich von uns behaupten, dass wir anders handeln würden, wenn uns diese Möglichkeit angeboten würde? Jeder von uns hat Verluste erlitten. Ist es nicht irgendwie verständlich, weshalb der Statthalter tut, was er tut?“
Zwischen seinen Fingern hindurch spähte er zu seinen Freunden hinüber, hoffte verzweifelt auf eine Bestätigung. Sara saß reglos und mit gesenktem Blick auf ihren Hocker. Doch Rodur starrte hasserfüllt ins Leere. „Nein!“, erwiderte er entschlossen. „Es ist nicht verständlich! Er kann nicht hintergehen, wen er beschützen sollte! Uns jetzt wieder den Fängen der Krahder zu überlassen, nachdem wir endlich den Geschmack der Freiheit kosten durften, ist nur grausam. Wenn wir ihm wirklich noch etwas bedeuten, dann sollte er uns lieber alle sterben lassen.“
Janis schloss die Augen. Er fühlte sich, als hätte Rodur ihn geschlagen.
„Ihr habt recht! Orfen könnte der Verräter sein!“, gab Rodur zu. Plötzlich schien es ihm nicht mehr schwerzufallen. „Aber er ist auch der Statthalter! Was können wir gegen ihn unternehmen?“
„Ich weiß es nicht.“, flüsterte Janis, und diesmal war es die Wahrheit. „Sagt ihr es mir.“
Nachdem sie die ganze Zeit geschwiegen hatte, regte sich Sara nun. Eine unheimliche Leere war in ihre Augen getreten. Stockend gebärdete sie: Wir. Brauchen. Hilfe.


Abenddämmerung, 12. Wintertag 77 A.Z.
Königsgemächer im Kronenturm der Rietburg, Andor

Vorsichtig trat Janis ein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Orfen saß an seinem Schreibtisch, eine Feder in der Hand, und starrte gedankenverloren auf einen Bogen Pergament. Im Schein der flackernden Kerze konnte Janis ein paar Zeilen in der krakeligen Handschrift des Statthalters erkennen, doch es war zu dunkel, um auf diese Entfernung etwas entziffern zu können.
Beim Geräusch der Tür fuhr der Wolfskrieger zusammen. Hastig verdeckte er die Schrift mit dem Ärmel seines beneidenswert dicken Mantels. Es war eisig, die Kammer war nicht geheizt und Janis´ einzige Kleidung bestand nur aus Leinen, außerhalb des geheizten Siechenhauses nicht ansatzweise ausreichend.
„Sajin! Klopf das nächste Mal an!“, knurrte Orfen rau. Er hob den Arm und betrachtete finster die verschmierte Schrift, dann öffnete er eine Schublade in seinem Tisch und verstaute das mysteriöse Pergament behutsam darin. „Du bist früh. Normalerweise triffst du immer als letztes ein.“
„Meister Readem hat mir heute Abend freigegeben. Seit dem letzten Großangriff ist schon einige Zeit vergangen, daher geht es im Siechenhaus vergleichsweise ruhig zu.“, erklärte Janis. „Wo bleiben die anderen?“
Ehe der Statthalter antworten konnte, drangen laute Stimmen durch die Tür, die Janis eben erst geschlossen hatte
„… kann es nicht fassen, dass du dich ausgerechnet auf die Seite dieses arroganten Großmauls stellst! Du hast meinen direkten Befehl ignoriert!“, polterte Daroschas Stimme.
„Mretox besitzt eben mehr Verstand als Ihr, Kommandantin! Wir beide haben die gleiche Befehlsgewalt. Wenn unsere Anweisungen sich widersprechen, weshalb sollte er dann ausgerechnet denen einer jähzornigen Zwergin folgen?“, erwiderte Kunars Stimme belustigt.
Daroscha sagte einige Worte in zwergisch, die nicht eben freundlich klangen. Dann ergänzte sie: „Ich zeige dir gleich, was eine jähzornige Zwergin ist!“
Orfen, der dem Gespräch ebenso aufmerksam gefolgt war wie Janis, murmelte einen leisen Fluch, stand auf und eilte mit grimmigem Gesichtsausdruck zur Tür. Kurz hoffte Janis, er würde den Raum verlassen und ihm einen Blick auf das geheimnisvolle Pergament ermöglichen, doch er riss nur die Tür auf und blieb dann überrascht auf der Schwelle stehen.
Janis blickte am Statthalter vorbei in die Vorkammer. Neben Kommandantin Daroscha und Meister Kunar war noch Mretox anwesend, der aufsässige Schildzwerg, der sich anscheinend endgültig mit Daroscha angelegt hatte und sich in der Nähe Kunars hielt. Den Grund für Orfens Erstaunen stellte jedoch nicht der Zwerg dar, sondern ein junger Menschenkrieger.
Peta hatte kurzes dunkelbraunes Haar und ein rundes, pausbäckiges Gesicht, das ihn stets etwas einfältig wirken ließ, wenn man nicht den aufmerksamen Ausdruck in seinen hellblauen Augen bemerkte. Jetzt stand er mit in die Hüften gestemmten Armen neben Kunar und Daroscha und wachte mit eisiger Miene darüber, wie die beiden sich widerstrebend die Hand reichten.
„Zum Donner, was habe ich bisher falsch gemacht? Die beiden können sich ja doch vertragen!“, entfuhr es Orfen. Peta blickte auf und salutierte. Der junge Krieger öffnete den Mund, aber schien nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte. Kopfschüttelnd drehte Orfen sich um. „Kommt herein, Sajin ist schon da!“, rief er über seine Schulter.
Mretox verabschiedete sich – von Meister Kunar, nicht von Daroscha – und verschwanden die Wendeltreppe herunter. Die beiden Lehrmeister traten ein, nicht ohne sich vorher giftige Blicke zuzuwerfen, und Peta folgte unsicher. Der Krieger streifte sich im Eingang den Schneematsch von den Stiefeln und schloss vorsichtig die Tür, ehe er sich zu ihnen an den Schreibtisch gesellte.
Orfen ließ sich schwer in seinen Stuhl sinken, der Statthalter und das Holz ächzten gleichzeitig. „Also dann!“, knurrte er barsch. „Fangen wir an. Peta!“
„Jawohl, Statthalter!“, erwiderte der Angesprochene eifrig und salutierte erneut.
„Du wunderst dich vielleicht, weshalb ich dich hergerufen habe. Der Grund wurde vor acht Tagen bestattet und trug den Namen Armond.“ Orfen seufzte. „Unser Schwertmeister ist gestorben, und ich möchte dich zu seinem Nachfolger ernennen.“
Peta riss seine Augen so weit auf, dass Janis fürchtete, sie würden ihm gleich aus dem Kopf fallen. „Das … das ist eine außergewöhnliche Ehre, Statthalter!“, stotterte der junge Krieger. „Ich hätte nie erwartet … ich meine, weshalb ausgerechnet ich? Ich habe erst sechsundzwanzig Sommer gesehen. Isim oder Doran haben weitaus mehr Erfahrung.“
„Erfahrung!“, schnaubte Orfen. „Das Alter macht uns nicht klug, bloß stur! Ich habe dich nicht wegen deiner Erfahrung ausgewählt! Du bist entschlossen. Immer Zuversichtlich. Loyal. Streng genug, dass andere dir folgen, und mild genug, dass sie es gerne tun.“
Peta lief rot an. „Ihr seid zu gütig, Statthalter!“, meinte er verlegen.
„In vier Tagen rufen wir alle zusammen, ich werde dich öffentlich befördern, genau fünfundsiebzig Jahre nach der Ernennung von Harthalt, dem ersten Schwertmeister. Der damals übrigens zehn Sommer jünger war als du, also führ dich nicht so auf!“, fuhr Orfen fort. „Irgendwelche Einwände?“
Niemand antwortete.
„Gut! Kommen wir zum nächsten Punkt: Sajin, was gibt es Neues zum Gift?“
„Keine neuen Vorkommnisse! Den Kriegern mit Fieber haben wir vorsichtshalber Sapian-Knollen gegeben, aber es scheint so, als haben wir nur einen ernsten Fall. Ansonsten versuchen wir nach wie vor, das Gift in unseren Vorräten aufzuspüren. Wir gehen davon aus, dass das Schwarze Herzblatt in Teilen unseres Brotes ist, genauer gesagt, dass es vor dem Mahlen zum Korn gemengt wurde. Leider wird es dadurch fast unmöglich, Spuren in den gebackenen Broten zu finden, wir wissen daher noch nicht, was wir gefahrlos essen können. Aktuell versuchen wir, noch ungemahlenes Getreide aus möglichst vielen verschiedenen Gebieten Andors in unseren Speichern zu finden und es zu durchsieben, vielleicht finden wir auf diesem Wege etwas. Aber schnell geht es nicht.“
Janis warf Kommandantin Daroscha einen auffordernden Blick zu. „Wenn dieser Kommandant Mart natürlich inzwischen endlich herausgefunden hätte, welche Andori Nomions Armee mit Verpflegung ausstatten, dann wüssten wir auch, wessen Vorräte wohl vergiftet sind.“
„Du weißt um Marts Verantwortung! Er muss jederzeit bereit sein, falls der Schwarze Herold auftaucht. Nur er kann den Geist besiegen.“, blaffte Daroscha. Peta öffnete unentschlossen den Mund, aber kam nicht dazu, etwas zu fragen, weil Daroscha unbeeindruckt fortfuhr: „Sei gewiss, dass unsere anderen Späher ihr Möglichstes tun, um unauffällig Informationen zu sammeln. Sie müssen vorsichtig sein, der Krahder weiß, dass sie sich im Rietland aufhalten. Und wo wir schon bei Nomions Kenntnisstand sind: Der Gor, den unsere Späher kürzlich gefangen haben, wusste zu berichten, dass Nomion wohl glaubt, der Schwarze Herold werde nicht mehr zur Rietbrug kommen.“ Daroscha verschränkte die Arme vor ihrem Kettenhemd und starrte finster in die Runde.
Meister Kunar runzelte die Stirn. „Das ist doch eine gute Nachricht.“, meinte er schulterzuckend, Geringschätzung lag in seiner Stimme.
Daroschas Gesicht nahm eine ungesunde Farbe an. „Nein, das ist es nicht! Hältst du es für Zufall, dass das ausgerechnet jetzt geschieht, nach Marts Ankunft? Nomion hat irgendwie von der Falle erfahren! So wie von allen anderen sensiblen Informationen! Niemand außer uns hätte davon wissen dürfen! Ich sage, der Verräter hat unser Treffen mitangehört. Und es ist gut möglich, dass er es in diesem Moment wieder tut.“
Innerlich zitterte Janis nicht nur wegen der Kälte. Er musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Äußerlich ruhig betrachtete er die geschlossene Tür zur Wendeltreppe und fragte: „Ihr denkt, es wäre noch nicht aufgefallen, wenn irgendjemand während all unserer Treffen vor der Tür herumschleicht?“
Die Kommandantin beäugte ihn kalt. „Vielleicht. Oder der Verräter befindet sich gar nicht auf der anderen Seite dieser Tür.“
Die Anspannung im Raum war fast greifbar. „Ich will hoffen, dass damit etwas anderes gemeint war, als wonach es klang.“, sagte Meister Kunar gefährlich leise.
„Hast du einen besonderen Grund, das zu hoffen?“, entgegnete Daroscha finster.
Der Bewahrer öffnete zornig den Mund, seine grünen Augen blitzten. „Genug!“, brüllte Orfen rau und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Das reicht jetzt! So kommen wir nicht weiter! Morgen zur gleichen Zeit treffen wir uns erneut, und ich will allen geraten haben, sich bis dahin zu beruhigen!“
Dem Ausdruck in den dunklen Augen des Wolfskriegers mochte sich niemand widersetzen. Wortlos salutierte Peta und begab sich, gefolgt von Daroscha und Kunar, zur Tür. „Du nicht, Janis!“, knurrte Orfen, als auch er sich entfernen wollte. Und aus der Traum vom freien Abend…
Der Statthalter stand aus seinem Sessel auf und holte tief Luft. „Warte auf mich!“, befahl er, dann verließ er ebenfalls den Raum. Kurz konnte Janis sehen, wie Orfen zu Peta aufschloss und ihn ansprach, dann fiel die schwere Tür zu.
Sofort huschte Janis´ Blick zum Schreibtisch und der Schublade, in welcher der Statthalter sein geheimnisvolles Pergament versteckt hatte. Bestimmt könnte es ihm irgendwie helfen…
Janis schloss die Augen und wartete, bis Varas Sinne ihn durchströmten. Er befahl sie zu sich in den Turm, in die Wendeltreppe vor der Tür. Sie verband sich mit der Feuchtigkeit in den Mauerritzen, verschmolz mit den Schatten und hielt Ausschau. Wenn jemand hierher zurückkehrte, würde sie ihn warnen.
Janis schlug die Augen auf und trat um den Schreibtisch herum. Vorsichtig öffnete er die Schublade, holte das Pergament mit verschmierter Schrift heraus, und schloss sie wieder. Um besseres Licht zu haben, trat er ans schmale Fenster, auch wenn die Kälte schneidend war.
Die krakelige Schrift des Statthalters wand sich in schiefen Zeilen über das Pergament. Immer wieder waren einzelne Worte oder ganze Sätze so oft durchgestrichen worden, dass es unmöglich war, noch zu erkennen, was dort einmal gestanden haben mochte.

Ich weiß nicht, ob du diese Zeilen jemals lesen wirst. Und ich weiß nicht, ob ich noch am Leben bin, wenn du es doch tust. Dieser Brief dient also keinem Zweck, außer eine Wahrheit festzuhalten, die wahrscheinlich niemandem mehr nützt. Doch manche Worte können nicht ungesagt bleiben. Dies hier ist ein Geständnis, das ich persönlich machen würde, wenn ich nur wüsste, dass ich die Gelegenheit dazu bekommen werde. Es ist ein Abschied, den ich dir ersparen würde, wenn ich nicht wüsste, dass kein Abschied noch schlimmer ist. Vielleicht wird dieser Brief sich als sinnlos herausstellen und in einem Jahr sitzen wir zusammen, sehen Molli beim Fressen zu und lachen über meine unbeholfenen Worte. Aber vielleicht werden wir kein nächstes Jahr mehr zusammen erleben. In diesem Fall sollst du wissen, wie sehr es mir leidtut, wie wenig Zeit uns vergönnt war, wie sehr es mir leidtut, dass ich all die Jahre nicht fähig war, meiner Einsamkeit zu entkommen, und dass du einen Platz in meinem Herzen einnimmst, von dem ich nicht dachte, dass er jemals wieder gefüllt werden könnte. In diesem Fall sollst du etwas haben, das dich an uns erinnert. In diesem Fall ist dieser Brief alles, was bleibt.
Ich war nie ein Freund großer Worte. Aber da ich nicht ausschließen kann, dass dies die letzten Worte sind, die du von mir bekommen wirst, muss ich


Der Brief endete abrupt. Janis schluckte und verstaute das Pergament wieder so, wie er es vorgefunden hatte. Dieser Brief könnte ihm nur schaden. Alle mussten denken, dass der Statthalter sie verriet, um eine verlorene Liebe zurückzuholen. An wen auch immer dieser Brief bestimmt war, Janis hoffte ehrlich, dass die Person ihn lesen würde. Und niemand sonst.


Frühe Nacht, 12. Wintertag 77 A.Z.
Königsgemächer im Kronenturm der Rietburg, Andor

Pünktlich, als Vara ihn warnte, dass der Statthalter zurückkehrte, hatte Janis seinen Platz wieder eingenommen.
„Weshalb sollte ich warten, Statthalter?“, fragte er, nachdem Orfen sich in seinen Sessel hatte sinken lassen.
„Ich habe ein paar Fragen an dich, die niemand sonst hören sollte.“ Der Statthalter stützte seine Ellenbogen auf die Tischplatte und blickte Janis über die verschränkten Hände hinweg an. „Fangen wir mit dem Gift an. Sehe ich das richtig, dass unsere Vorräte mit demselben Gift wie unser Brunnen vergiftet wurden? Wieso hat dann dein Gegenmittel nicht geholfen?“
„Es hat denen geholfen, die auch aus dem Brunnen tranken. Aber ich habe das nicht getan, Ihr gewiss auch nicht, und viele andere hatten einfach Pech. Wir haben die Sapian-Knollen in den Brunnen getan, weil wir sie eben nicht allen geben wollten, sondern nur denen, die auch das Schwarze Herzblatt zu sich nahmen.“
„Bloß dass dieses Herzblatt verbreiteter war, als wir dachten.“, ergänzte Orfen unwillig. „Ich verstehe. Wurde das Gift im Brunnen wieder aufgefüllt?“
Janis schüttelte den Kopf. Er hatte beschlossen, dass diese Lüge ihren Zweck erfüllt hatte. „Ich nehme an, da wir jetzt jeden, bei dem wir auch nur den leisesten Verdacht einer Vergiftung haben, mit Gegenmitteln versorgen, stellt das für den Verräter nur noch ein unnötiges Risiko dar.“, erklärte er.
Orfen nickte finster. „Wo wir schon beim Verräter sind: Gibt es vielleicht etwas, das du mir sagen möchtest?“
Schlagartig wurde ihm noch kälter. Ahnte der Wolfskrieger etwas?
„Hätte ich das dann nicht eben schon gesagt?“, meinte er und hasste sich dafür, wie unsicher seine Stimme plötzlich klang.
„Es sei denn, du hättest einen Grund, es nicht vor den anderen zu sagen. Ich habe mich lange geweigert, über diese Möglichkeit wirklich nachzudenken, aber was, wenn Daroscha recht hat? Was, wenn Meister Kunar der Verräter ist? Oder sie selbst? Ich werde das niemandem sagen außer dir, aber inzwischen fürchte ich, sogar ihnen beiden nicht mehr vertrauen zu können!“
Janis beruhigte sich ein wenig. „Weshalb vertraut Ihr ausgerechnet mir so sehr?“, platzte es aus ihm heraus.
Orfen runzelte die Stirn. „Ich könnte mit der Bodenreform argumentieren, oder damit, dass du mich vor dem Gift gewarnt hast. Ich könnte sagen, dass die Sorge um deine neuen Freunde offenkundig ist.“ Der Statthalter begann, warm zu lächeln. „Aber die Wahrheit lautet: Ich kannte deine Mutter, und ich sehe sie in dir.“
Beschämt senkte Janis den Blick. Der Statthalter ahnte ja nicht, wie sehr er sich täuschte.
Schrecken! Warnung!
Janis erstarrte und hob eine Hand, um den Statthalter zum Schweigen zu bringen. Vara! Da er ihr noch nichts Gegenteiliges befohlen hatte, verbarg sie sich noch immer im Treppenhaus, um ihn vor Besuchern zu warnen. Sie spürte einen Warmblüter die Treppe hochsteigen, den Vorraum betreten, zur Tür der Gemächer gehen. Sicher nur ein Bote, redete sich Janis ohne rechte Überzeugung ein. Als nach einigen Herzschläge immer noch niemand geklopft hatte wurde sein Verdacht zur Gewissheit. „Jemand ist vor der Tür!“, schrie er so laut er konnte.
Orfens Augen weiteten sich. Ungläubig starrte er Janis an, dann sprang er auf und rannte zur Tür. Zeitgleich nahm Janis durch Varas Sinne wahr, wie der Unbekannte vor der Tür hastig kehrtmachte und die Wendeltreppe heruntereilte.
Janis folgte dem Statthalter nicht. Er warf lediglich einen Blick aus dem schmalen Fenster, das allerdings zur falschen Seite hin geöffnet war, und konzentrierte sich ansonsten auf Vara.
Folge dem Eindringling, aber lass dich nicht sehen! Er spürte, wie der Wassergeist als feiner Nebel aus den Fugen drang und sich an die Fersen des Lauschers heftete.
Kurze Zeit später kam Orfen keuchend zurück. „Fast! FAST!“, brüllte er zornig und warf die Tür mit einem lauten Knall zu. „Ich habe seine Schritte gehört, verdammt! Ausgerechnet heute ist es so scheißkalt, dass niemand im Burghof war, und so dunkel, dass die Wachen von den Mauern aus den Burghof nicht mehr sehen! Aber das war sein letzter Fehler, so wahr ich hier stehe! Wir werden ihn finden!“
Langsam beruhigte sich der Statthalter. Sein hastiger Atem malte kleine Wölkchen in die kalte Luft. „Immerhin wissen wir jetzt, dass Daroscha sich irrt. Der Verräter ist keiner von uns! Er lauscht tatsächlich vor der Tür! Oh, ich will gar nicht wissen, wie oft er heimlich dort stand!“
Orfen runzelte die Stirn. „Sajin, wie hast du ihn bemerkt?“
„Vara.“
Dem Statthalter schien diese Erklärung zu genügen. Erschöpft winkte Janis aus seinen Gemächern. „Du kannst gehen. In dem Treffen morgen Abend werden wir anscheinend einiges zu besprechen haben. Aber das geht alle an.“
Janis warf einen letzten Blick auf den Statthalter, der zusammengesunken auf seinem Lehnstuhl saß und finster die leere Tischplatte anstarrte. Dann schloss er die Tür und lehnte sich nachdenklich dagegen. Wer war der Lauscher? Dass er davongerannt war, glich einem Schuldeingeständnis. Hatte Nomion einen weiteren Spion rekrutiert, weil er Janis nicht mehr vertraute?
In diesem Fall wäre es besser, wenn Janis den Unbekannten ohne Orfen aufspürte. Wie er es beabsichtigt hatte, war sein Ausruf nicht nur dem Statthalter eine Warnung gewesen.
Vara, wo bist du?
Er folgte ihren Wahrnehmungen über den einsamen Burghof. Bei diesen Temperaturen hielt sich jeder vernünftige Mensch in der Nähe eines Kamins auf. Selbst Vara mochte die Kälte nicht, weil sie stets in Bewegung bleiben musste, um nicht Teile ihrer selbst an den Frost zu verlieren und erst mit dem Frühlingstau zurückzugewinnen. Schlotternd zog Janis seine dünne Kleidung enger an sich und vertraute sich Varas Führung an.
Vor einer Reihe von Hütten blieb er stehen. Die meisten davon waren kürzlich erst aufgebaut worden und dienten den Flüchtlingen aus Krahd oder dem Rietland als Unterschlupf. Der Lauscher verbarg sich allerdings nicht in einem der Gebäude, sondern im Schatten einer engen Gasse, die als Durchgang in der Häuserreihe gelassen worden war. Janis blieb davor stehen und spähte vergeblich in die Finsternis. Mit seinen Sinnen hätte Janis den Unbekannten unmöglich finden können. Für Vara hingegen war es ein Kinderspiel. Sie spürte das Blut angespannt durch seine Venen rauschen, vermengte sich mit der Feuchte seines flachen Atems, fühlte den leichten Schweißfilm auf seiner Haut und die Wärme, die er ausstrahlte.
Inzwischen war Janis sich unsicher, ob es so eine gute Idee gewesen war, den Unbekannten alleine zur Rede zu stellen. Was, wenn er sich mit bloßen Händen verteidigen musste?
Du bist nicht allein, mein Schatz. Mit Varas Hilfe kannst du dich gegen jeden Feind verteidigen.
„Du täuschst dich, wenn du meinst, du seist unbemerkt entkommen.“, meinte Janis ruhiger, als er sich fühlte. Sofort sprang zwischen den Hütten jemand auf, allerdings nicht, um ihn anzugreifen, sondern um abzuhauen. Die schnellen Schritte verstummten augenblicklich wieder, als sich am anderen Ende der Gasse eine verschwommene Gestalt aus Wasser bildete. In Varas sanftem blauen Schimmer konnte Janis erstmals einen Blick auf die Gestalt des Anderen erhaschen und musste erstaunt feststellen, dass es sich nicht um einen Menschen, sondern um einen Zwerg handelte! Für Vara wirkten sie alle gleich.
Die Gestalt taumelte zurück und drehte sich um. Janis erhaschte einen Blick auf ein vertrautes Gesicht. Ein Gesicht aus einem struppigen Bart, einer platten Nase und zwei dunklen Augen unter buschigen Augenbrauen.
„B-Barram?!“
Der Zwerg erstarrte und gab seine Versuche auf, das Gesicht zu verbergen. „Sajin … das ist nicht, wonach es aussieht…“, flüsterte er flehend. „Bitte Kleiner, das muss unter uns bleiben!“
Fassungslos bemühte sich Janis, die Situation zu verarbeiten. Bei allen Kreaturen der Tiefe, was wurde hier gespielt?
„Bitte!“, drängte Barram, dessen Gesicht mit jedem Herzschlag, den Janis schwieg, mehr an Farbe verlor. „Ich kann alles erklären!“
„Dann tu das!“, forderte Janis tonlos.
„Das … darf ich nicht … ich darf mit niemandem drüber reden, schon gar nicht …“
„Du bist nicht in der Position, mir etwas zu verschweigen!“, zischte Janis. Zeitgleich zu seinen Worten glitt Vara aus eigenem Antrieb zum Zwerg und drängte sich an ihn. Sie wollte nur ein wenig von seiner Körperwärme aufnehmen, doch Barram quiekte kurz und stolperte furchtsam von ihr fort und auf Janis zu.
„Es ging nicht darum, diese Burg zu verraten! Wir wollten den Verräter finden, das ist alles.“ Janis ließ Vara innehalten. Sie spürte seinen Schrecken und fügte sich sofort.
„Wir?“, wieder holte Janis tonlos. Und da verstand er. Schwindel erfasste ihn. Er musste sich an der Ecke der Hütte abstützen und war froh, dass das Zittern seiner Hände in der Dunkelheit verborgen blieb. Er dachte an Daroscha, die immer wieder mit kaum verhohlenem Misstrauen von den vertraulichen Informationen gesprochen hatte, die Nomion besaß. Wir haben einen Spion in unseren Reihen, und er besitzt beängstigend viel Talent. Oder er hat leichten Zugang zu allen wichtigen Informationen.
Plötzlich erinnerte er sich an die alte Runenmeisterin Sarit, die vor dem Sterbebett Schwertmeister Armonds saß, mit leerem Gesicht, das verborgene Trauer oder bloße Gleichgültigkeit zeigen mochte. Alles Lügen?
An Mretox, den aufmüpfigen Schildzwerg, der Meister Kunar bei jeder Gelegenheit begleitete und zusammen mit ihm über Daroscha scherzte. Eine Freundschaft zwischen Zwerg und Bewahrer, aufbauend auf einer Kommandantin, die Mretox und Kunar angeblich beide nicht ausstehen konnten. Alles Lügen…
Und an Barram. Barram, der jeden Mittag zu Janis ins Siechenhaus kam. Der sich wieder und wieder bemühte, seine Freundschaft zu erringen. Der hinter Vorhängen lauschte und mit mehr als nur Neugierde nach Janis´ Geheimnissen fragte. Alles Lügen!
„Daroscha!“, entfuhr es Janis fassungslos. „Sie hat alle verdächtigt, die der Statthalter zu seinen Besprechungen gerufen hat! Sie hat dich geschickt! Dich, und Sarit, und sogar Mretox! Sie hat … sie hat Schwertmeister Armond ausspionieren lassen, und Meister Kunar … und mich!“
Barram erbleichte, doch widersprach nicht. „Die Kommandantin wird mir den Kopf abreißen!“, flüsterte er schließlich und vergrub sein Gesicht in den Fäustlingen.
Zorn stieg in Janis auf, Zorn auf Barram, aber vor allem Zorn auf sich selbst. Er hatte sich hereinlegen lassen! Das Bild, das er sich von Barram gemacht hatte, war das eines etwas aufdringlichen Zwerges gewesen, nervtötend freundlich und ein wenig naiv. Jetzt zerbarst dieses Bild und aus den Splittern formte sich ein aufmerksamer Zwerg, der als einziger dem echten Verräter auf der Spur war und der mit fast ebenso großer Entschlossenheit wie Perfidität dafür gesorgt hatte, dass Janis in ihm keine Bedrohung sah.
„Du hast mich ausspioniert!“, hauchte Janis. „All die Zeit, die du bei uns warst … es ging dir nicht um Sara, sondern um mich.“
Der Zwerg starrte ihn verständnislos an. „Was hat Sara damit zu tun? Klar, ihr Verstand ist beeindruckend, und ich mag sie auch. Sie ist für mich fast wie eine … na ja, natürlich keine Tochter … aber vielleicht eine Nichte zweiten Grades? Oder dritten?“ Barram schüttelte den Kopf. „Ich habe ihr die zwergische Gebärdensprache beigebracht. Und danach war ich die naheliegende Wahl, um dir auf den Zahn zu fühlen.“
Janis hätte sich verraten und zornig fühlen müssen, doch stattdessen verschwand ein verborgener Groll, den er lange Zeit gehegt hatte, ohne ihn sich erklären zu können. Zurück blieb nur Verwirrung.
Hinter Barrams Bart meinte Janis ein verlegenes Lächeln auszumachen, das unter seinem eisigem Gesichtsausdruck jedoch rasch zusammenschmolz. „Du musst das verstehen, Kleiner! Der Statthalter holt ohne Begründung ein Kind mit unbekanntem Hintergrund in seine Besprechung, und zwei Tage später kennt der Feind all unsere Geheimnisse? Natürlich vertraut die Kommandantin dir nicht! Ich habe nur ihren Auftrag erfüllt!“
Vara näherte sich dem Zwerg und Janis hielt sie nicht mehr zurück, bis ihre schimmernde Gestalt hinter ihm aufragte. Barram blickte sich unbehaglich um, doch in der Gasse gab es keinen Platz mehr, an der er fliehen konnte. „Und wieso den Statthalter belauschen?“, fragte Janis mit einem drohenden Unterton. „Diejenigen meiner Geheimnisse, von denen selbst Orfen weiß, sind für dich wohl kaum von Belang.“
Barram zögerte. „Ich wollte dich entlasten! Der Statthalter wird einen Grund haben, dir zu vertrauen, und den wollte ich herausfinden!“, behauptete der Schildzwerg.
Janis glaubte ihm nicht, dennoch nickte er knapp. „Ich muss mich mit Daroscha treffen.“, verkündete er.
Barram erbleichte. „Nein! Wenn du ihr verrätst, dass ich aufgeflogen bin …“
„Du hast mich und meine Freunde einen Mond lang belogen!“, flüsterte Janis wütend. „Warum sollte ich dir jetzt glauben? Entweder ich lasse mir deine Geschichte von der Kommandantin bestätigen, oder ich gehe mit der ganzen Sache zum Statthalter! Wie erstattest du ihr normalerweise Bericht?“
„Wir … treffen uns in ihrer Kammer … jede dritte Nacht, zu Mondhoch … morgen wäre wieder ein Treffen gewesen …“
„Gut. Wir werden zusammen mit ihr reden.“ Auf einen geistigen Befehl hin löste Vara sich zu feinem Nebel auf und gab Barram den Weg die Gasse hinunter frei. „Und ich hoffe, das wird das letzte Mal sein, dass wir irgendetwas zusammen tun.“
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K - Mosaik der Lügen (Fortsetzung)

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:21

Mondhoch, 13. Wintertag 77 A.Z.
Burggewölbe der Rietburg, Andor

Seine Schritte hallten gedämpft durch den kalten Gang. Nachts wurden die Lichter in den Gängen unter der Burg gelöscht, daher glitt Vara voraus und beleuchtete den Weg. Die Sternblumen auf den grob gewebten Stoffbannern, die vereinzelt seinen Weg säumten, schimmerten bläulich im Schein des Wassergeists.
Vor einer massiven Tür aus dunklem Holz blieb sie stehen. Irgendjemand hatte es als passend empfunden, die Schildzwerge unterirdisch einzuquartieren – womöglich hatten sie es selbst so gewünscht.
Nachdenklich ruhte sein Blick auf Vara. Die Zeit für Heimlichkeiten ist vorbei, entschied Janis. Er klopfte so entschlossen an, dass die angelehnte Tür aufschwang.
Daroscha bewohnte eine kleine Kammer, deren ursprünglicher Zweck Janis ein Rätsel blieb. Die Kommandantin hatte den Raum entsprechend ihrer Bedürfnisse eingerichtet: An der Wand ein kleiner Tisch ohne Sitzgelegenheit, hinten eine kleine Truhe unbekannten Inhalts sowie ein ganzer Waffenständer mit verschiedenen Lanzen, Äxten und Dolchen, davor ein Schemel, auf dem ein grauer Lappen, ein Ölfläschchen, mehrere Schleifsteine und andere Utensilien zur Waffenpflege lagen. Erleichtert entdeckte Janis neben dem Haufen trockenen Strohs, der als Schlafstelle fungierte, eine leere Halterung für ein Kettenhemd – zumindest trug Daroscha es nicht im Schlaf.
Er wurde erwartet. Daroscha, Barram und Mretox standen im Halbkreis um eine dünne Kerze auf dem Boden und blickten ihm schweigend entgegen. Mretox hatte die Arme herausfordernd vor der Brust verschränkt, Barram hingegen versuchte sich an einem schiefen Lächeln, das Janis nicht erwiderte. Daroscha hatte ihre mörderische Doppelaxt mit dem Kopf nach unten vor ihre Füße gestellt und die Hände auf dem Griff gefaltet, ihr Kettenhemd glitzerte im Kerzenschein.
Janis schloss die Tür hinter sich und Vara. „Ich sehe, mein Kommen wurde angekündigt.“
„Mein nichtsnutziger Spion hat von deiner Drohung berichtet.“, blaffte Daroscha unfreundlich. „Er hat mit bemerkenswerter Unfähigkeit versagt, aber ich werde nicht zulassen, dass du ihn an den Statthalter auslieferst. Was willst du von mir?“
„Zusammenarbeit.“
Barram und Mretox wechselten einen erstaunten Blick, Daroscha jedoch schüttelte knapp den Kopf. „Zusammenarbeit beruht auf Vertrauen. Doch nach allem, was Barram mir erzählt hat, bist du der wahrscheinlichste Verräter.“
Verfluchter Zwerg! Janis hätte ihn niemals in seiner Nähe dulden dürfen!
„Das habe ich nie gesagt!“, empörte sich Barram plötzlich.
Daroscha schnaubte. „Selbst jetzt noch willst du Sajin verteidigen, Barram? Du weißt nicht, woher er kommt, wo er seine Fähigkeiten erlangt hat, welche Verbindung er zum Statthalter hat, was es mit ihr auf sich hat“, bei diesen Worten deutete sie mit ihrer Axt auf Vara und hätte Janis dabei fast geköpft, „und du gibst zu, dass er diese Dinge bewusst vor dir geheim hält. Dennoch beharrst du darauf, dass er nicht der Verräter ist? Weshalb?“
„Wegen seiner Freunde. Ich zähle nicht zu ihnen, trotz all meiner Bemühungen. Doch wer Sajin mit Sara und Rodur beobachtet hat, der weiß, wie viel sie ihm bedeuten. Seine Geheimnisse hat er nicht mit mir geteilt, aber mit ihnen. Ein Mädchen, dessen Eltern von den Krahdern ermordet wurden, und ein Junge, der in der Sklaverei aufwuchs. Denkt Ihr, sie würden diese Burg an einen Krahder verraten, Kommandantin? Oder denkt Ihr, Sajin verrät sie? Ich bestreite beides!“
Barram widersetzte sich Daroscha mit einer Entschlossenheit, die Janis selten an ihm beobachtet hatte. Unwillkürlich spürte er, wie sein Bild des Zwergs sich erneut veränderte. Barram hatte ihn vor Daroscha verteidigt, anscheinend schon länger. Hatte der Schildzwerg womöglich doch die Wahrheit gesagt und sein Gespräch mit dem Statthalter nur belauscht, um seine Unschuld zu beweisen? Janis empfand beinahe etwas wie Respekt. Dann jedoch erinnerte er sich daran, dass Barram sich irrte, und die Schuld verdrängte jedes andere Gefühl. Fast hätten seiner Knie nachgegeben, so plötzlich hörte er Kheelas Stimme.
Bitte! Hör auf damit, mein Schatz! Was du tust zerstört dich!
Janis konnte die Tränen in ihrer Stimme hören. Er hatte sie niemals so schwach erlebt, wie sie jetzt klang. Seine Einbildungskraft verselbstständigte sich, seine Erinnerung verschwamm. Es wurde Zeit, Nomions Auftrag zu erfüllen, ehe ein Fantasiegebilde alles ersetzt hatte, was ihm noch von ihr geblieben war.
Ich weiß, Mutter. Ich weiß.
„Ich kann Eure Fragen beantworten, Kommandantin.“, mischte sich Janis ein. „Ich bin der Sohn von Kheela, der Heldin von Andor. Sie unterwies mich im Kampf und in der Heilung; der Wassergeist Vara war ihre Begleiterin und begleitet nun mich. Auch meine Mutter wurde ein Opfer der Krahder, auch ich hasse diesen Nomion. Ich bin nicht der Verräter … aber ich weiß, wer es ist.“
Barram riss die Augen auf, Mretox, der bisher still geblieben war, keuchte auf, Daroscha hingegen nahm seine Ankündigung mit bewundernswerter Gelassenheit hin. Janis konnte ihr ansehen, dass das Misstrauen nicht verschwunden war, aber damit musste er leben. Nach einigen Herzschlägen des Schweigens fragte sie leise: „Wer?“
Janis lächelte. „Warten wir lieber, bis die anderen hier sind.“
Barram blinzelte. „Welche…“
In diesem Moment öffnete sich die Tür.

Es war das erste Mal, dass Janis Peta ohne Rüstung sah. Der zukünftige Schwertmeister hatte sich nur einen Umhang über das Nachthemd geworfen, ein Kurzschwert umgegürtet und war in dicke Fellstiefel geschlüpft. Der aufmerksame Blick seiner wasserblauen Augen huschte durch die Kammer und sog jede Einzelheit auf. Daroscha in voller Kampfmontur, die Kerze auf dem Boden, Mretox und Barram, der Waffenständer, Vara, das Fehlen jeglicher Fluchtwege. Janis zweifelte nicht daran, dass Peta all das verarbeitete. Dieser Mann war gefährlicher, als er wirkte.
„Sajin. Kommandantin.“ Peta trat einen großen Schritt in den kargen Raum und kniff die Augen zusammen. „Weshalb wurde ich zu dieser Stunde von einem Rekruten geweckt?“
Rodur folgte dem Krieger in die Kammer und stellte sich neben Janis. Daroscha warf ihnen beiden einen finsteren Blick zu. Ehe sie zu einer Antwort ansetzen konnte, erschien eine weitere Gestalt im Türrahmen.
Meister Kunar erweckte in keiner Weise den Eindruck, eben erst aus dem Bett gerissen worden zu sein. Sein goldenes Haar legte sich in perfekten Wellen, irgendwie hatte er die Zeit gefunden, sich komplett anzukleiden, natürlich ohne dass sich irgendwo auch nur eine Falte in seinem grünen Wams gezeigt hätte, und sein hochmütiges Stirnrunzeln wirkte wie immer, als sei es stundenlang vor einem Spiegel einstudiert worden.
„Daroscha?“ Kunar wandte das Gesicht mit deutlichen Anzeichen von Verärgerung zu seiner Begleiterin. „Sara, wenn das ein Trick ist, um mich mit ihr zu versöhnen, bist du die längste Zeit meine Lieblingsschülerin gewesen!“
„Hier geht es um mehr als eure Streitereien!“, zischte Janis, während sich auch Sara zu ihm stellte. „Dieser Zwerg hier war der Lauscher, von dem der Statthalter vorhin berichtet hat.“
Barram wand sich unter Janis´ anklagendem Zeigefinger, und Petas Hand wanderte an den Griff seines Schwertes.
„Er ist jedoch nicht der Verräter, sondern tat es in Daroschas Auftrag.“
Meister Kunar hielt plötzlich einen Dolch in der Hand und bedachte die Kommandantin mit einem Blick, in dem sich Überraschung und Genugtuung mischten.
„Steck den Dolch weg, bevor sich jemand daran verletzt.“, bellte Daroscha grimmig. „Was soll das, Sajin? Willst du mich als Verräterin darstellen?“
„Im Gegenteil! Ihr habt mich von Barram ausspionieren lassen, Schwertmeister Armond und Meister Kunar von anderen Zwergen.“
Kunar setzte ein großspuriges Lächeln auf. „Also bitte! Als ob ich das nicht bemerkt hätte! Wer soll …“ Kunars Worte erstarben. Vermutlich fragte der Bewahrer sich soeben zum ersten Mal, weshalb Mretox eigentlich anwesend war.
„Aber ich bin Euch nicht böse, Kommandantin.“, fuhr Janis fort, bevor Kunar einen Streit anzetteln konnte. „Barram vielleicht, aber nicht Euch. Der Feind wusste alles, was in unseren Besprechungen gesagt wurde, dennoch zogen wir es vor, blind zu sein. Ihr habt vor allen anderen akzeptiert, dass der Verräter während unserer Treffen anwesend sein musste. Ihr habt gehandelt, während wir die Wahrheit verleugnet haben. Ihr habt versucht, den Verräter aufzuspüren. Ich respektiere das. Ihr habt nur einen Fehler begangen, Kommandantin. Schwertmeister Armond ist tot, aber der Feind bleibt informiert. Ihr dachtet, dass demnach nur noch Meister Kunar und ich als Verräter in Frage kommen. Doch Ihr habt jemanden vergessen.“
Und dann breitete Janis sein Mosaik der Lügen vor ihnen aus, Stein für Stein. Das Gold für Sechsfinger. Die Sapian-Knollen. Nomions Befehl. Orfens verlorene Liebe. Alles fügte sich zusammen.
Zufrieden beobachtete Janis das Mienenspiel der anderen. Daroschas hervortretende Kiefermuskulatur, Kunars aufgerissene Augen, Petas offensichtliche Empörung.
„Der Statthalter ist ein Held!“, verkündete Peta kalt, nachdem Janis seine Erklärungen beendet hatte. „Niemals würde er Andor verraten. Egal, wen der Ewige Rat von den Toten zurückholen kann, der Statthalter wäre nicht bereit, dafür irgendjemanden zu opfern.“
Daroscha nickte langsam. „Auch ich bin nicht überzeugt, dass Orfen plötzlich bereit wäre, für einen einzigen Menschen ein ganzes Land zu verraten.“
Janis schluckte. Er versuchte, zu widersprechen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen heraus. Hatte er ihnen nicht genug Beweise präsentiert? Hätte er diesen Tag länger vorbereiten müssen?
„Allerdings heißt das nicht, dass der Statthalter uns nicht verraten haben kann.“, fuhr Daroscha nach einer kurzen Pause fort. „Dieser Nomion ist ein Hexer mit anderen Mitteln als bloßer Überzeugungskraft. Er könnte Orfen seinen Willen aufgezwungen haben. Als der Tross der Andori durchs Gebirge zog, hat Nomion eine Begleiterin der Helden kontrolliert, eine entflohene Sklavin mit dunklen Fähigkeiten. Einen halben Mond lang war sie nicht Herrin ihrer selbst und arbeitete im Verborgenen gegen die Andori, bis sie enttarnt und vom Bann befreit wurde. Die ganze Sache wurde natürlich geheim gehalten, doch ich denke unsere Situation rechtfertigt die Offenheit. Wenn der Krahder schon als Geist so mächtig war, wer weiß, was er jetzt kann?“
Janis biss sich auf die Lippen. Das war nicht das erwünschte Ergebnis! Orfen musste als Verräter dastehen! Würde da auch ein Verrat unter einem Zauberbann zählen?
„Wie wurde dieser Bann gelöst?“, erkundigte sich Kunar stockend.
„Ich war nicht dabei. Ich glaube, die arme Verhexte musste erst im Kampf überwunden werden.“
„Ihr gebt doch immer damit an, was für eine tolle Kriegerin Ihr seid, Kommandantin. Vielleicht wird es bald Zeit, Euch zu beweisen.“
„Meister Kunar, bitte!“, sagte Janis eindringlich. „Vergesst für einen Moment, dass Ihr ausspioniert wurdet, das hier ist zu wichtig! Wir können nicht einfach zum Statthalter marschieren und ihn zum Duell fordern! Jeder Krieger würde ohne zu zögern seinem Befehl folgen, er könnte uns einfach ins Verlies werfen lassen! Hierfür müssen wir zusammenarbeiten! Wenn wir die Gemächer des Statthalters stürmen und ihn zur Rede stellen, dann brauchen wir die Schildzwerge und die Bogenschützen der Bewahrer, um uns Zeit zu erkaufen. Vor allem ist Peta ist in drei Tagen Schwertmeister, in Abwesenheit des Statthalters gelten dann seine Befehle. Peta, meint Ihr, Ihr werdet die Rekruten genug unter Kontrolle haben, dass wir den Statthalter entmachten und die Situation klären können, ehe …“
Janis brach ab, als er bemerkte, dass Petas Gesichtsausdruck sich mit jedem Wort weiter verfinsterte.
„Den Statthalter entmachten?“, presste der Krieger hervor. „Seine Gemächer stürmen?! Das ist Hochverrat! Der Statthalter ist der rechtmäßige Regent Andors, sein Wort ist Gesetz, ihm habe ich meinen Eid geschworen! Zweifel an ihm bedeuten Zweifel an Prinzessin Chada, und Zweifel an ihr bedeuten Zweifel an allem, was uns kämpfen lässt.“
Janis öffnete ratlos den Mund. Er ahnte, dass er verloren hatte. In Petas Welt nahmen die Helden von Andor einen Platz ein, der bei anderen Menschen für Götter reserviert war.
„Ich werde mich nicht an dieser Verschwörung beteiligen, nur auf einen bloßen Verdacht hin! Und ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand gegen den Statthalter aufbegehrt! Ich werde jetzt gehen, Wachen vor den Gemächern des Statthalters postieren und ansonsten vergessen, dass dieses Gespräch stattgefunden hat. Und euch rate ich: Tut dasselbe! Wenn ich herausfinde, dass ihr weiter gegen den Statthalter intrigiert, dann wartet mehr als nur das Verlies auf euch.“
Mit diesen Worten stürmte Peta aus der Kammer und warf die Tür mit lautem Knall hinter sich zu. Wie gelähmt blickte Janis in die zitternde Kerzenflamme und versuchte, das eisige Gefühl der Versagens in seinem Inneren zu bezähmen.
„Nun, das war deutlich.“, murmelte Daroscha. „Wir werden vorsichtig sein müssen, dass Peta unseren weiteren Plänen nicht auf die Spur kommt.“
Erstaunt sah Janis auf. Daroscha erwiderte belustigt seinen Blick. „Was? Aufgeben war noch nie meine Stärke, Sajin, das solltest du mittlerweile wissen. Eine Drohung schreckt mich nicht.“
„So merkwürdig das ist, ich muss der Kommandantin beipflichten.“, stellte Kunar fest. Er wirkte selbst am erstauntesten darüber. „Vielleicht behält Peta recht und es gibt eine harmlose Erklärung. Doch ein vielleicht genügt mir nicht! Wir müssen etwas unternehmen!“ Der Bewahrer holte tief Luft und kniff die Augen zusammen. „Peta wird die Gemächer des Statthalters im Auge behalten, der erste Vorschlag scheidet also aus. Wir müssen Orfen anderswo erwischen.“
Daroscha schüttelte den Kopf. „Das funktioniert nicht! Die Nacht verbringt er in seiner Kammer, und tagsüber ist er nie allein. Wir können den Statthalter nicht festsetzen und zur Rede stellen, bevor jemand uns bemerkt.“
„Dann versuchen wir es gar nicht erst.“, erwiderte Meister Kunar lächelnd. „Hinter verschlossenen Türen können wir Orfen nicht konfrontieren, also tun wir es vor aller Augen. Wir tragen allen unsere Anschuldigungen vor, und alle sehen, wie der Statthalter reagiert. Ich bin gut darin, Dinge zu präsentieren.“
„Vorzugsweise dich selbst.“ Kurz befürchtete Janis, der Streit würde erneut hochkochen, doch Kunar ging nicht auf diese Stichelei ein und auch Daroscha hielt sich nicht weiter damit auf und ergänzte: „Sobald wir anfangen, weiß Peta, was wir vorhaben. Selbst wenn der Statthalter unvorbereitet ist, sein Schwertmeister wird uns aufhalten.“
„Ihr habt recht, Kommandantin. Wir müssen einen Zeitpunkt abpassen, zu dem Peta abgelenkt ist.“
„Aber alle anderen aufmerksam und bereit, sich unsere Vorwürfe anzuhören? Vergiss es! Wir müssen einfach schnell sein. Peta wird erst in drei Tagen zum Schwertmeister ernannt, wir schlagen vorher zu.“
„Das könnte funktionieren. Ich positioniere meine Bogenschützen auf den Türmen, und die Schildzwerge …“
Stumm lächelnd ließ Janis das Gespräch weiterlaufen. Er wurde nicht mehr benötigt, Kunar und Daroscha waren erfahrene Kämpfer und Kommandeure. Und sie waren jetzt endlich bereit, ihren Streit ruhen zu lassen, um Andor zu retten.
Oder vielmehr: Um es zu verraten.


Abenddämmerung, 16. Wintertag 77 A.Z.
Burghof der Rietburg, Andor

Der Geruch von Leder und Schweiß überdeckte den Gestank der Jauchegruben. Die dichte Menschenmenge schirmte Janis gegen die Kälte ab. Überall auf dem Burghof wurde gedämpft gesprochen, die Stimmen so unbeschwert wie nur selten in letzter Zeit. Hin und wieder ertönte sogar ein Lachen, ein Geräusch, dessen Klang Janis seltsam unvertraut geworden war. Neugierige Gesichter blickten in Richtung der hölzernen Tribüne, die die Zwerge im Laufe des Tages errichtet hatten.
Die Abendsonne hatte sich endlich zwischen den dunklen Wolken hervorgewagt und tauchte alles in ein sanftes rotes Licht. Vereinzelte Schneeflocken glitzerten in ihrem trudelnden Fall. Janis legte den Kopf in den Nacken und sah ihnen lächelnd entgegen. Unwillkürlich fiel sein Blick auf den Kronenturm, rötlich schimmernd im Abendlicht.
Der Kronenturm der Rietburg wird in rotes Licht getaucht, und neben der Flagge mit der Sternblume hockt ein blutroter Hahn. Janis hatte nie viel auf seine Träume gegeben. Dumme Bilder, der Fantasie eines Schlafenden entsprungen. Doch dann hatte sein Traum vom schwarzen Herzen Rodur gerettet. Ein Traum hatte ihm die Wirklichkeit verraten, und er konnte auch das wiederkehrende Bild des Roten Hahns nicht länger ignorieren. Hatte es eine Bedeutung? Wenn ja, welche?
Janis schüttelte sich. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt abgelenkt zu werden, weder von glitzerndem Schnee noch von irgendwelchen Träumen. Er richtete seinen Blick nach vorne. Dutzende Leiber versperrten seinen Blick auf die Tribüne, also machte er sich daran, sich einen Weg nach vorne zu bahnen. Obwohl er recht rabiat vorging, war es unmöglich, sich im Gewühl rasch nach vorne zu kämpfen. Genau wie erhofft.
Janis hatte es gerade geschafft, sich in die vorderste Reihe zu drängeln, als auch schon der Statthalter erschien. Orfen betrat mit geradem Rücken die hölzerne Bühne und blickte ernst in die Menge vor sich. Trotzdem erkannte Janis, dass auch er sich angesichts der gelösten Stimmung entspannte. Der Statthalter stellte sich zwischen Kunar und Daroscha an den Rand der Bühne und sprach mit lauter Stimme: „Dies ist ein Tag der Trauer! Denn wir müssten uns nicht hier versammeln, wenn nicht vor wenigen Tagen ein guter Mann von uns gegangen wäre. Armond hat Andor über 40 Jahre lang gedient. Er hat bereits König Brandur beraten, war die rechte Hand von Schwertmeister Malin und es schmerzt mich, dass er selbst das Amt des Schwertmeisters kaum mehr als zwei Monde ausführen konnte. Wir werden seine Tapferkeit, seine Treue und seine Klugheit nie vergessen!“
Orfen holte tief Luft und blinzelte in die Sonne, die langsam hinter den Zinnen der Burgmauer verschwand. „Doch dies ist auch ein Tag der Freude! Heute wird ein neuer Schwertmeister ernannt, einer, von dem ich weiß, dass er seine Aufgabe mit ebensolcher Entschlossenheit erfüllen wird. Peta, Krieger von Andor! Tritt vor!“
Der junge Recke löste sich aus der Menge und kletterte etwas umständlich auf die Bühne. Petas Miene war feierlich und stolz, seine aufmerksamen Augen glitten über die Menge und blieben kurz an Janis haften. Dann kniete er sich vor Orfen hin. Janis atmete erleichtert auf und entspannte den Arm, in dem er das kleine Messer verborgen hielt.
Orfen streckte seine Hand aus und Peta reichte ihm mit gesenktem Kopf sein Schwert. Der Statthalter hob es und legte es dem Krieger auf die Schulter.
„Und dies ist noch in anderer Hinsicht ein Tag der Freude und der Trauer.“, rief da plötzlich Kunar, so laut, dass jeder auf dem Platz ihn hören konnte. Mit sichtlicher Irritation starrte Orfen den Bogenschützen an, der das Zeremoniell zu einem so unpassenden Zeitpunkt unterbrach. Kunar beachtete ihn gar nicht und fuhr fort: „Ein Tag der Freude, weil wir endlich einen Verdacht haben, wer der Verräter ist, der seit langem in unserer Mitte sitzt, der dem Feind Informationen weitergibt, uns vergiftet, bestiehlt und ausliefert.“
Daroscha griff nach der Doppelaxt auf ihrem Rücken und ergänzte: „Und ein Tag der Trauer, weil es ein Mann ist, von dem niemand Derartiges vermutet hätte.“
Peta hob ruckartig den Kopf und fasste erneut die Menge ins Auge. Janis konnte sehen, wie Peta innerhalb eines Herzschlags registrierte, dass weder Zwerge noch Bewahrer in der Menge waren und dass keine einzige Treppe von dieser Seite auf die Bühne führte.
„Ich hoffe noch immer, dass wir uns irren.“, rief Kunar mit leidendem Gesichtsausdruck die Worte, die sie eingeübt hatten. „Doch ich verlange eine Erklärung … Statthalter Orfen!“
Und damit brach das Chaos aus.
An drei Stellen öffnete sich die Holzverkleidung der Tribüne und zehn Schildzwerge sowie Rodur sprangen mit gezogenen Waffen heraus und positionierten sich grimmig auf der Bühne. Janis wusste, dass zeitgleich ein Dutzend Bewahrer mit gespannten Bögen aus zwei Türmen heraus auf die Wehrgänge traten.
In der Menge breiteten sich Fassungslosigkeit und Panik aus. Die Menschen versuchten, aus der unmittelbaren Umgebung der Bühne zu fliehen, doch das plötzliche Gedränge war zu dicht. Einige stürzten und standen nicht wieder auf. Kunar trug unbeeindruckt die Anschuldigungen gegen den Statthalter vor, er musste brüllen, um noch gehört zu werden, doch die entsetzten Gesichter in der Menge verrieten Janis, dass die Worte ihre Wirkung nicht verfehlten.
Orfen stolperte perplex einen Schritt zurück und blickte abwechselnd von Meister Kunar zu Kommandantin Daroscha, ohne die Situation wirklich zu begreifen. Peta dagegen reagierte umso schneller, riss dem Statthalter sein Schwert aus der Hand und brüllte noch im Aufstehen: „Alle Krieger und Rekruten zu mir! Das ist ein Putschversuch! Verteidigt den Statt…“
Die Befehle gingen in einen Hustenanfall über, als Janis Vara befahl, auf der Bühne zu erscheinen und und einfach in Peta hineinzutreten. Dennoch führte der Aufruf dazu, dass sich die ersten Rekruten aus ihrer Starre lösten und vergeblich versuchten, gegen den Strom der Menge nach vorne zu gelangen. Einige blieben gleich wieder stehen, offensichtlich verunsichert, doch die Wirkung von Kunars Rede auf die Krieger war geringer als erhofft.
Janis schwang sich auf die Bühne und zückte sein Messer. Es war nur eine dünne, kurze Klinge, dazu gedacht, Verbände und notfalls Haut aufzuschneiden. Unglaublich scharf, aber nicht wirklich für einen Kampf geeignet. Peta war zu schnell gewesen!
Die ersten Krieger erreichten die Bühne und konnten von den Schildzwergen in ihrer erhöhten Position mühelos zurückgedrängt werden. Beide Seiten teilten ihre Schläge nur zögerlich aus. Gestern hatten diejenigen, die heute ihre Klingen kreuzten, noch nebeneinander auf den Mauern gestanden und die Kreaturen abgewehrt. Kaum jemand wollte es riskieren, seinen Gegner ernsthaft zu verletzen.
Janis wandte seinen Blick gen Westen. Von hier konnte er knapp die Gipfel des Fahlen Gebirges über die Burgmauer hinweg ausmachen. Die Sonne berührte soeben die obersten davon und schrumpfte quälend langsam. Nun gut, mein kleiner Verräter! Wenn das letzte Licht der Sonne schwindet, wird deinem Vorschlag Folge geleistet. Wage es nicht, mich oder den Ewigen Rat zu enttäuschen.
Daroscha und Kunar wussten es nicht, doch sie mussten nur bis Sonnenuntergang aushalten. Das würde ihnen gelingen!
„Ihr seid enttarnt, Statthalter! Ihr habt verloren!“, beendete Kunar soeben seinen Monolog. Die brodelnde Menge, die verzweifelt versuchte, sich in Sicherheit zu bringen, schenkte dem Bewahrer keine Aufmerksamkeit mehr. Der einzige, der bis zum Schluss zugehört hatte, war Orfen selbst. Das Gesicht des Statthalters war eingefallen und bleich wie der Tod, seine Beine zitterten.
„Ruft die Krieger zurück!“, verlangte Kunar. „ Wenn noch irgendetwas von einem Helden in euch steckt, dann lasst nicht zu, dass heute noch jemand stirbt!“
Schrecken!
Varas Warnung ließ Janis herumfahren. Die Klinge hinterließ einen brennenden Schnitt auf seiner Wange. Er hätte sich nicht ablenken lassen dürfen! Peta hatte sich aus Varas feuchter Umarmung gelöst und funkelte Janis hasserfüllt an. „Ihr werdet diese Verschwörung bereuen!“, keuchte er und setzte zum nächsten Schlag an. Die Hemmungen seiner Kameraden schien er nicht zu kennen. Janis hob sein winziges Messer, dann überlegte er es sich anders und sprang zur Seite.
Peta riss sein Schwert herum und nur Vara rettete ihn davor, aufgespießt zu werden. Sie stand plötzlich zwischen ihm und Peta und betrachtete unbeeindruckt das Schwert in ihrem durchscheinenden Körper. Peta riss er verärgert heraus und ging erneut zum Angriff über.
„Streckt die Waffen, oder wir töten den Statthalter!“, brüllte plötzlich Daroscha in ihrem üblichen Befehlston über den Burghof. Innerhalb eines Herzschlags verstummte der Kampflärm. Ein Kind schrie in der Menge, sonst war alles still. Janis spürte Angst in sich aufsteigen. Das war ihr Notfallplan gewesen, wenn absehbar war, dass Orfen nicht freiwillig aufgeben würde, ehe sie überwältigt wurden. Doch welchen Grund sollte der Statthalter haben, diesen Kampf nicht zu beenden? Irgendetwas lief ganz gewaltig schief.
Er ließ seinen Blick über das Getümmel gleiten, das mitten im Kampf erstarrt war. Mit Grauen betrachtete er die dichte Menge der Krieger um die Tribüne. Mehr, viel mehr als erwartet. So viele hätten gar nicht bewaffnet sein sollen, geschweige denn in voller Rüstung! Janis hatte nicht den Statthalter falsch eingeschätzt, sondern ihre Angreifer. Das war kein Haufen unvorbereiteter Rekruten!
Der Fast-Schwertmeister hatte ebenfalls im Kampf innegehalten und nahm die Umgebung in sich auf. Janis hielt die Luft an. Er konnte sehen, wie der aufmerksame Blick dieser blauen Augen innerhalb eines Herzschlags systematisch alle Details erfasste. Die Übermacht der Krieger um die Tribüne. Die Bewahrer auf den Mauern. Der Statthalter, eben noch im Gespräch mit Kunar, der jetzt von Barram zu Boden gepresst wurde und einen Dolch an die Kehle gehalten bekam. Peta biss die Zähne zusammen und ließ sein Schwert fallen.
Erleichterung erfasste Janis. Beinahe …
Weiter kamen sein Gedanken nicht. Er hatte kaum Zeit, das helle Sirren als Geräusch einer Bogensehne zu identifizieren, da entglitt der Dolch auch schon Barrams Hand. Entgeistert begutachtete Janis den Pfeil, der aus der Stirn des Zwergs ragte. Barrams dunkle Augen starrte blicklos ins Leere, dann kippte der runde Körper neben Orfen auf die Bretter der Bühne. Sein Kettenhemd rasselte laut in der Stille.
Was hatte das zu bedeuten?! Die Bewahrer auf den Mauern waren als stumme Drohung gedacht gewesen, ihr Eingreifen war nicht vorgesehen, schon gar nicht so! Hatte Kunar sie hintergangen?
Noch einige weitere Pfeile wurde abgeschossen, aus den Augenwinkeln sah Janis einen weiteren der Zwerge zu Boden gehen. Doch sie kamen nicht von den Mauern, sondern von hinter der Menge der schreienden Andori. Ein Dutzend der Rekruten, die Meister Kunar im Bogenschießen ausbildete, stand dort unerreichbar und legte neue Pfeile ein.
Sein Blick huschte zur Sonne, von der noch immer die Hälfte zwischen den Berggipfeln hervorlugte. Wenn das letzte Licht der Sonne schwindet… Jetzt wünschte Janis, er hätte sich vergangene Nacht mit Nomion auf einen früheren Zeitpunkt geeinigt.
Ein trockenes Kratzen erklang, als Peta sein Schwert aufhob. „Habt ihr wirklich geglaubt, ich hätte nicht befürchtet, dass ihr bei einer Gelegenheit wie dieser zuschlagen würdet? Habt ihr gedacht, ich würde keine Maßnahmen zur Sicherheit des Statthalters treffen?“ Peta schüttelte verächtlich den Kopf und rief aus vollem Hals: „Geordneter Vorstoß!“ Er sah Janis über die Schneide seines Schwertes hinweg finster an. „Zeigt keine Gnade mit den Verschwörern! Wer sich widersetzt, wird getötet!“
Die Soldaten stürmten vor. Weitere Pfeile flogen. Die Zwerge setzten sich verbissen zur Wehr und konnten doch nicht verhindern, dass sie immer weiter zurückgedrängt werden und dass immer mehr Angreifer es auf die Tribüne schafften.
Petas Klinge zischte auf ihn nieder. Das Messer in seiner Hand kam Janis schrecklich nutzlos vor. Er versuchte, sich zur Seite zu drehen, doch verlor dabei das Gleichgewicht und schlug hart mit dem Kopf auf die Bretter auf.
Peta trat Janis fest in die Seite und sah dann reglos zu, wie er sich fast übergab. Langsam hob der Krieger das Schwert. „Ich habe euch gewarnt.“
Der Pfeil, der Peta in den Hals fuhr, wurde tatsächlich von den Mauern aus abgeschossen. Das Schwert fiel dumpf auf die Bühne. Peta sank röchelnd in die Knie und tastete mit geweiteten Augen nach dem Schaft unter seinem Kinn. Mehr Pfeile flogen von den Mauern, jedem folgte ein Schmerzensschrei. Die Bewahrer griffen ein! So viel zur stummen Drohung. Doch Janis wusste, dass sie trotzdem bereits verloren hatten.
„Genug!“, brüllte da eine raue Stimme. „Beendet diese sinnlose Gemetzel! Alle!“
Der Statthalter stand hoch aufgerichtet neben Barrams Leichnam, sein grauer Pelzmantel war blutverklebt, seine Augen funkelten.
„Asan bretâca! Casûm finre!“, bellte Kommandantin Daroscha und warf ihre Streitaxt fort. Die fünf Zwerge, die noch standen, folgten ihrem Beispiel. Meister Kunar hob den Arm und machte eine schnelle Geste, welche die Bewahrer auf den Mauern dazu veranlasste, ihre Bögen zu senken.
Langsam kehrte Ruhe ein. Nur die Verwundeten stöhnten und unter den Andori, die sich an die Seiten des Burghofes gedrängt hatten, breitete sich nervöses Getuschel aus. Janis rappelte sich auf und blickte sich um. Peta, der heute zum Schwertmeister hatte ernannt werden wollen, lag tot zu seinen Füßen. Er zählte die Leichen von mindestens fünf Rekruten, dazu drei tote Schildzwerge inklusive Barram. Janis kannte sie alle. Kurz fragte er sich, was wohl aus Barrams taubstummem Vater werden würde. Dann stellte er fest, dass er nicht einmal wusste, ob der Zwerg noch mehr Familie gehabt hatte.
Janis schloss die Augen, sein Kopf schmerzte. Wie hatte es nur so weit kommen können? Niemand hatte heute sterben sollen!
„Holt Readem! Wer kann, kümmert sich um die Verwundeten! Alle Verwundeten, egal auf welcher Seite sie standen!“, rief Orfen und Janis schlug seine Augen wieder auf. Ein flaues Gefühl stieg in ihm auf, als ihm auffiel, dass er Rodur nirgendwo gesehen hatte. Schließlich entdeckte er seinen Freund benommen am Rand der Bühne sitzen, zwei Krieger bedrohten ihn mit ihren Schwertern. Zumindest schwebte er nicht in unmittelbarer Gefahr.
Der Statthalter wartete, bis seine Anweisungen befolgt wurden, dann sprach er: „Volk von Andor, hört mich an! Heute mussten wir mitansehen, wie Freunde und Verbündete einander erschlugen. Verursacht wurde das von einer Gruppe Verschwörer, die mich mit Gewalt entmachten wollten, anstatt mit ihrem Misstrauen direkt zu mir zu kommen.“ Der Statthalter zog langsam sein Schwert. Mit unbewegtem Gesicht sah er die Klinge an.
Kommandantin Daroscha trat ruhig vor Orfen. „Ich fürchtete, Ihr könntet der Verräter sein.“, rief sie mit fester Stimme. Dann kniete sie sich hin und senkte den Kopf. „Doch jetzt erkenne ich meinen Irrtum! Ich werde jede Strafe ertragen, Statthalter!“
Meister Kunar schüttelte traurig den Kopf und kniete sich wortlos neben sie.
Orfen hob sein Schwert und rammte es mit alle Kraft zwischen zwei Bretter in die Bühne. „Ich wünschte, ich könnte euch böse sein! Doch ich kann es nicht! Was heute geschehen ist, fußt auf einem schrecklichen, schrecklichen Missverständnis! Ich schwöre, ich bin nicht der Verräter! Wir werden diesen Anschuldigungen nachgehen. Wir werden schauen, was dahintersteckt. Doch für heute ist genug Blut vergossen worden.“
Janis spürte, wie sich kollektive Erleichterung ausbreitete. Es gab niemanden, der Orfens Worten keinen Glauben schenkte. Wir werden schauen, was dahintersteckt. Janis wurde kalt. Sie würden es herausfinden. Die Geschichten, die er Orfen und seinen Freunden aufgetischt hatte, passten nicht zusammen. Er konnte förmlich sehen, wie sein Mosaik der Lügen in sich zusammenfiel.
Er hob den Blick. Nur ein winziger Fleck war noch von der Sonne übrig. Wenn das letzte Licht der Sonne schwindet…
Janis, ich flehe dich an, tu das nicht!
Ich bin diesen Weg zu weit gegangen, um noch umzukehren. Was auch immer geschieht: Ich liebe dich, Mutter.

Janis trat Schritt für Schritt vor, bis er zwischen Kunar und Daroscha vor dem Statthalter stand. In Orfens Blick lag bittere Enttäuschung. Selbst du, Sajin, schien er zu sagen.
„Es tut mir leid, Statthalter!“, rief Janis laut. Er spürte hunderte Blicke auf sich lasten, die Blicke von Rekruten, mit denen er trainiert hatte, von Schutzsuchenden, die sich langsam wieder zur Tribüne wagten, von Sara auf den Mauern und Rodur am Rand der Bühne. Den Blick von Vara, die als feiner Dampf hinter ihm schwebte, und vielleicht auch den Blick Kheelas von irgendwo jenseits dieser Welt. „Es tut mir leid, doch ich habe zu viel gesehen, was gegen Euch spricht! Ich kann Euch nicht glauben!“
Orfen sah ihn flehend an, als wäre es der Statthalter, der etwas falsch gemacht hatte. „Du denkst, ich wäre bereit, Andor zu verraten, nur für eine Frau?“, fragte Orfen so leise, dass höchstens noch Kunar und Daroscha ihn verstehen konnten. Er war sichtlich betroffen.
„Ihr nicht.“, hauchte Janis lautlos. „Aber ich.“ Und er konnte sehen, dass Orfen die Bewegungen seiner Lippen verstand. Dass er endlich begriff, dass Janis doch nicht mehr als eine flackernde Kerze war. Entsetzen breitete sich auf seinen Zügen aus.
Dann brach ein Schwall Wasser auf ihn nieder, Varas verzweifelter Widerstand, nicht gegen Kheelas alten Gefährten vorzugehen, zerbrach unter der Macht seiner Trauer. Und Janis schnellte vor. Er spürte Daroschas stahlharten Griff an seinem Bein, der zu spät kam, um ihn noch aufzuhalten. Das kleine Messer, das nicht zum Kampf geeignet war, bohrte sich tief in den Hals des Statthalters.
Dann wurde er zu Boden geworfen. Sein Arm wurde verdreht, bis er das Messer loslassen musste. „Warum? Warum?!“, herrschte ihn Daroscha zornig an. Aus weiter Ferne hörte Janis die entsetzten Schreie der Andori. Doch er hatte nur Augen für den Statthalter. Orfen versuchte zu sprechen und hustete nur Blut. In den dunklen Augen sah Janis eine Anklage, die mehr schmerzte als sein verdrehter Arm – und das Spiegelbild des letzten Sonnenstrahls, der hinter dem Fahlen Gebirge erlosch.
„Weil es nur einen gibt, der ihn von dieser Wunde heilen kann.“, keuchte Janis. Langsam formte sich ein fahler, blauer Schimmer um den Körper des sterbenden Statthalters. Eine unnatürliche Kälte stieg auf. Plötzlich erstrahlte blaues Licht, so hell, dass Janis die Augen zusammenkneifen musste.
Dann war es auch schon vorbei. Wo der Statthalter gestanden hatte, rieselte trockener grauer Staub zu Boden und vermischte sich mit Barrams Blut. Daroschas Hand ließ ihn los. Stille senkte sich über die Rietburg als die Andori auf das starrten, was von ihrem Statthalter geblieben war. Blaues Licht und grauer Staub – sie alle kannten das. Sie hatten es schon gesehen, bei den Kreaturen vor dem Tor. Wann immer der Schwarze Herold ihre Körper auflöste, um sie an anderer Stelle von den Toten zurückzuholen.
Orfen, der Wolfskrieger, Held von Andor, Statthalter der Königin. Von der dunklen Macht des Ewigen Rates im Moment seines Todes aus der Rietburg gerettet. Es gab nur eine Deutung, die das erklären konnte. Janis wusste, dass sie verstehen würden.


Morgendämmerung, 17. Wintertag 77 A.Z.
Königsgemächer im Kronenturm der Rietburg, Andor

Insgesamt waren es elf Tote und gut drei Dutzend, die schwer genug verwundet waren, dass sich Janis und Readem um sie kümmern mussten. Ein Bilanz, die sich kaum von einem von Nomions Angriffen unterschied. Janis fühlte all die Tode schwer auf sich lasten. Er hatte sie geopfert, um den Statthalter als Verräter darzustellen. Und doch wusste er, dass diese Tode unbedeutend waren. Erfülle deinen Auftrag, diskreditiere den Statthalter, und diese Burg hält keinen Tag mehr. Wie lange noch, bis Nomion zuschlagen und jedes zweite Leben auf dieser Burg auslöschen würde?
Erst im Morgengrauen war es Janis gelungen, sich von seinen Pflichten zu lösen und sich zu den Gemächern des Statthalters zu begeben. Als er eintrat, merkte er, dass er diese Idee nicht als erstes gehabt hatte.
Sara hing auf dem schweren Lehnstuhl, auf dem Orfen so oft gesessen hatte. Ihr Kopf lag auf der Tischplatte, ihr goldenes Haar schimmerte im Morgenlicht. Ihre Lippen waren blau angelaufen, doch die Kälte schien sie nicht zu stören.
Janis stellte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wir haben es geschafft.“, flüsterte er sanft. „Wir haben den Verräter gefunden. Wir sind Helden.“
Sara blickte schwer zu ihm auf. Sie zeigte keinerlei Freude über ihren Sieg. Janis hatte sie schon viel zu oft voll Trauer erlebt, wenn ihre Augen das Blau des Nachthimmels annahmen. Doch was er jetzt sah war schlimmer. Es gelang ihm nicht mehr, Iris von Pupille zu trennen. Ein unergründliches, schreckliches Schwarz raubte ihrem Blick jede Farbe. Ein Schwarz, tief und kalt wie der Ozean und von nichts erfüllt als unbarmherziger Leere.
Sara hatte gehofft, wurde Janis klar. Sie hasste nichts so sehr, wie sich zu irren, dennoch hatte sie auf einen Irrtum gehofft. Gehofft, dass der Statthalter der Held bleiben konnte, der er für sie so lange gewesen war. Trotz all ihrer Vorbereitungen, trotz der Verschwörung, hatte ein Stück von ihr bis zum Schluss an Orfen geglaubt, und dieses Stück von ihr war zerbrochen.
Sara stand steif auf, sah Janis reglos an, ohne dass ein Licht in ihre Augen zurückkehrte, und verließ dann wortlos die Kammer.
Janis stand lange da, kraftlos auf die Tischplatte gestützt. Schließlich durchwühlte er die Schublade, in der Orfens Brief gelegen hatte, und fand keine Spur davon. Der Brief war abgeschickt worden und Janis wusste, irgendwo trauerte gerade noch jemand um Orfen. Nicht um den Statthalter, nicht um den Helden, nicht um den Wolfskrieger, sondern um den echten Orfen. Um den Orfen, der mit krakeliger Handschrift in vielen Stunden wenige Zeilen zu Papier brachte, der Zurückgezogenheit wollte und keine Aufmerksamkeit, und der doch tat, was getan werden musste. Um den Orfen, von dem Janis noch immer kaum etwas wusste.
Er hatte sein Ziel erreicht. Kheela war so kurz davor, ins Leben zurückgeholt zu werden, wie nie zuvor. Doch der Sieg schmeckte nach nichts als Asche.
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Zwischenspiel XV - Scherben

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:21

Zwischenspiel XV – Scherben

Späte Nacht, 18. Wintertag 77 A.Z.
Klippenwacht, Hadrisches Meer

Es war eine ruhige Nacht. Sanft schlugen die Wellen gegen die hohen Mauern Klippenwachts, der Schaum leuchtete weiß in der Dunkelheit. Deren beobachtete gelangweilt die zerfließenden Muster auf den Wellenkämmen im Hafenbecken. Eine Stelle wirkte wie Schrift. Vielleicht wollte das Meer ihm irgendetwas mitteilen, doch Deren konnte nicht lesen. Oh, und das sah ein bisschen aus wie seine Schwertlanze. Wie … spannend. Und direkt daneben … wie ein Fischernetz. Und das …
Deren blinzelte angestrengt, damit ihm seine Augen nicht ganz zufielen. Wenn Admiralin Ferane erfuhr, dass er während des Wachdienstes einschlief, konnte er sich auf etwas gefasst machen! Er gähnte und streckte sich.
„Müde, Deren?“
„Halt die Klappe, Learam! Und du auch, Lia!“
„Ich habe gar nichts gesagt, Jungchen!“ Und dann lachten sie beide, ihr dumpfes, kehliges Lachen, und Deren wunderte sich wieder einmal, wie wenig sich Lias Tonfall von dem ihrer männlichen Kollegen unterschied.
Die beiden hatten die Truhe, die sie eigentlich bewachen sollten, zu einem Spieltisch umfunktioniert, an dem sie sich mit irgendwelchen Würfelspielen wach hielten. Ihre Schwertlanzen lagen vergessen in der Ecke der Kammer. Soweit Deren beobachtet hatte, hatte keiner von beiden die ganze Nacht nur einmal nach draußen geschaut. Das überließen sie ihm. Nur weil er der Jüngste war!
Kopfschüttelnd lehnte sich Deren aus dem schmalen Fenster des Hauptturms und atmete die kalte Winterluft ein, um die Müdigkeit zu vertreiben. Gelangweilt betrachtete er das kalte Meer jenseits der schützenden Mauern. Ein merkwürdiger Vogel kreiste über den Wellen, groß wie ein Seeadler, der sich in der Tageszeit geirrt hatte. Kreaturen waren keine in Sicht. Außer natürlich der lockere Ring der Belagerer in einer halben Meile Abstand.
Sie waren aus dem Nichts gekommen, im Schutze des Sturms. Vor drei Tagen im Morgengrauen, kaum dass Stinner voll Stolz den Bau der Seefeste für beendet erklärt hatte. Nerax und Meerestrolle in Scharen, dazu ein Haufen Arrogs, die mit einem Schlag empfindliche Breschen in ihre Mauern schlagen konnten, wenn sie es denn an den Ballistas vorbeischafften. Eine disziplinierte Armee aus verschiedenen Meereskreaturen, so etwas hatte es nicht mehr gegeben, seit Varatan gegen die Mächte des Meeres in den Krieg gezogen war.
Die Streitkräfte kämpften im Namen eines sogenannten Ewigen Rates, und sie wurden angeführt von der Schwarzen Kogge. Doch an Bord des verfluchten Schiffes waren noch andere, die die Kapitulation Klippenwachts forderten. Die die Moral der Seekrieger untergruben und Fragen aufkommen ließen, die niemand beantworten konnte.
Stinner hatte von Lügen und Täuschungen gesprochen, davon, nicht auf den Ewigen Rat hereinzufallen. Von seinem Vertrauen und davon, dass er einen Brief an die Helden von Andor geschrieben hatte. Viele waren verunsichert, aber Deren nicht. Wenn Stinner etwas sagte, dann glaubte er es.
Die Kreaturen hatten angegriffen, als die Feste nach der Frist von zwei Stunden nicht kapituliert hatte. Aber Stinner sagte, Klippenwacht sei uneinnehmbar, und bislang hatte er recht behalten. Auf allen Seiten der Insel ragten hohe Mauern steil ins Meer, unmöglich zu beklettern und kaum zu durchbrechen. In jedem Turm waren Ballistas positioniert, die weiter schießen konnten als eine anrückende Flotte – alle Waffen, mit denen ein Feind angreifen könnte, mussten leicht genug sein, um auf Schiffen Platz zu finden, und hatten nicht den Höhenvorteil.
Ihre größte Schwachstelle war vermutlich der Zugang ins Hafenbecken. Schiffe mussten an- und ablegen können, und eine Flotte musste im Schutz der Mauern Platz finden, das war der Zweck einer Seefeste. In einem weiten Halbkreis ragten die Mauern ins Meer hinein, gebaut auf festen Fundamenten. Im so umschlossenen Hafen konnten Schiffe sicher ankern.
Eine große Öffnung in der Mitte des Rings diente als Zufahrt, breit genug, dass zwei Schiffe aneinander vorbeifahren konnten. Die Lücke war etwas nach innen eingerückt und lag so hinter einer Art Kanal, an dessen anderem Ende eine massive Kette gespannt werden konnte, die feindlichen Schiffen ein Passieren unmöglich machte. Die Kreaturen konnten natürlich einfach darunter hindurchtauchen, doch selbst wenn welche gegen den starken Beschuss von beiden Seiten bis zur Öffnung gelangten, dann wurden sie von einem riesigen Gitter aus irgendeinem massiven Metall aufgehalten, das sich aus dem Grund der Zufahrt erhob.
Dieses Gitter war Deren ein wenig unheimlich. Angeblich war es schon da gewesen als Stinner mit dem Bau begonnen hatte, in einer Einfassung unter dem Meer und von Trümmern begraben, doch es zeigte keine Spuren von Rost. Und obwohl es viele viele Zentner wiegen musste, hatte es sich scheinbar ohne irgendwelche Mühe aus dem felsigen Grund erhoben, als die feindliche Armee angerückt war.
Derens Blick wanderte zu der Truhe in der Mitte der Kammer. Er war sich nicht sicher, aber wenn er diesen Zauberer mit dem Stundenglas richtig verstanden hatte, dann war es der Inhalt dieser Truhe, der das Gitter oben hielt. Am Anfang war Deren mächtig stolz gewesen, dass er ausgewählt worden war, auf so etwas Wichtiges aufzupassen. Mittlerweile ödete seine Aufgabe ihn nur noch an. Sie verwahrten die Truhe im Hauptturm, dem sichersten Ort Klippenwachts. Wenn die Kreaturen bis hier kamen, dann war sowieso schon alles verloren, Gitter hin oder her.
Er lehnte sich wieder aus dem Fenster und erschrak. Schon wieder dieser Vogel! War das der gleiche wie vorhin? Er saß auf der Spitze des Ostturms, ungefähr auf gleicher Höhe wie das Fenster, und starrte reglos in seine Richtung. Das dunkle Gefieder schimmerte irgendwie rötlich. Ein Seeadler war das nicht, irgendein anderer Raubvogel. Vielleicht vom Kontinent? Deren legte den Kopf schief. Der Vogel legte den Kopf schief. Das war doch nicht normal!
Es klopfte. Fast erleichtert verließ Deren seinen Aussichtsposten und öffnete die Tür, nachdem Leream die Würfel in seiner Faust hatte verschwinden lassen. Auf der anderen Seite stand eine hagere Frau. Das faltige Gesicht mit den kleinen schwarzen Augen kam Deren bekannt vor, aber erst als er das Tablett mit drei kleinen Tonbechern bemerkte, das ihre Besucherin balancierte, konnte er es zuordnen.
„Mutter Cera! Was machst du denn hier? Um diese Zeit?“
„Mutter Cera?“, lachte Lia, bevor die Frau antworten konnte. „So nennst du sie?“
„Alle nennen sie so!“, verteidigte sich Deren. „Wenn du öfter in die Fröhliche Nixe mitkommen würdest, dann wüsstest du das!“
„Die Kinder nennen sie so! Für alle anderen ist sie Cera Bantor, die Schankwirtin!“
„Kein Streit.“, verlangte Leream, und Stille kehrte ein.
Mutter Cera hatte stumm gelächelt. Ein Lächeln ohne jedes Gefühl. „Ich bringe einen Gruß aus der Fröhlichen Nixe.“, sagte sie jetzt. „Ihr steht euch hier die ganze Nacht in der Kälte die Beine in den Bauch, um unsere Leben zu verteidigen. Ich habe mir gedacht, ich unterstütze euch auf meine Weise.“
Sie hob das Tablett und zeigte den drei Seekriegern die Becher darauf. „Etwas gegen die Kälte? Keine Sorge, ihr müsst natürlich nichts bezahlen!“
Deren streckte die Hand aus, aber ein strenger Blick von Leream gebot ihm Einhalt. „Wir dürfen nicht trinken, während wir Wache schieben.“, bemerkte er mit deutlichem Bedauern.
„Das ist Tarenblut, unser bester Schnaps! Den wollt ihr euch entgehen lassen?“ Mutter Cera schürzte die Lippen. „Ihr nehmt eure Aufgabe ernst!“ So, wie sie es sagte, klang es nicht wie ein Kompliment.
„Sobald wir abgelöst wurden kommen wir in die Fröhliche Nixe und stoßen damit an!“, schlug Lia vor.
„Und ich soll umsonst früher aufgestanden sein?“, empörte sich Mutter Cera. „Nichts da! Ich suche ein paar Kollegen von euch, die ein Geschenk noch zu schätzen wissen!“
Enttäuscht beobachtete Deren, wie sie zur Tür zurückkehrte. Die Becher dufteten verführerisch. Es tat ihm weh, sie einfach ziehen zu lassen, sodass jemand anderes sie trank.
Deren erstarrte, als ein verlockender Gedanke in ihm aufstieg. Ich suche ein paar Kollegen von euch. Letztendlich machte es keinen Unterschied, ob er trank oder nicht, es würde ohnehin getan werden! Genau drei Seekrieger würden ihre Schicht leicht angeschwipst fortsetzen, und sie konnten nur entscheiden, welche drei. Es war nicht verwerflich, das Geschenk anzunehmen. Im Gegenteil sogar. Die anderen Seekrieger könnten schließlich einen Angriff abwehren müssen. Hier dagegen würde sowieso keine Kreatur hinkommen! Er war geradezu verpflichtet, den Schnaps zu trinken! Nur um zu verhindern, dass es jemand wichtigeres tat, natürlich. Und überhaupt, was musste er sich die Regeln von jemandem vorbeten lassen, der seine Schicht mit Würfelspielen verbrachte!
„Also, ich nehme einen Becher!“, verkündete Deren entschlossen.
„Wenn er einen heben darf, dann darf ich das auch!“, ergänzte Lia so schnell, dass Deren vermutete, sie habe nur darauf gewartet.
Leream presste die Lippen zusammen. „Na gut! Aber ich war dagegen, falls jemand hiervon erfährt!“ Mit diesen Worten nahm er Mutter Cera das Tablett aus der Hand und wählte einen der Becher. Deren wartete, bis auch Lia sich bedient hatte.
Gemeinsam stießen sie an, unter Ceras gefühllosem Lächeln. Das Tarenblut glich nichts, was Deren je probiert hatte. Es schmeckte scharf wie der Seewind. Süß wie wilder Honig, der brennend durch seine Kehle rann. Und tatsächlich auch ein wenig metallisch.
Derens Augen tränten. Er musste husten und verteilte dabei die Hälfte des Getränks auf seiner Lederrüstung, was Lia und Leream zu ihrem dumpfen Gelächter veranlasste.
„Seid still!“, krächzte Deren und holte rasselnd Luft. Seine Stimme klang seltsam verzerrt und wie aus weiter Ferne. Er rieb sich die Tränen aus den Augen und konnte noch immer nur verschwommen sehen.
Es schien Deren, als legte sich eine brennende Hand um seinen Hals und drückte ihm die Luft ab, doch als er danach tastete, fühlte er nichts. Die Kammer drehte sich wild um ihn und verdunkelte sich vor seinen Augen.
Es klapperte, als das Tablett Lereams Hand entglitt und zu Boden fiel. Der Seekrieger wankte und stürzte hinterher. Aus seiner Hand rollten zwei Würfel und blieben vor Derens Füßen liegen. Seltsamerweise konnte er sie vollkommen klar sehen. Ein Sechserpasch.
Lia hielt sich etwas besser, soweit Deren erkennen konnte taumelte sie röchelnd zur Wand und stützte sich ab, bevor ihre Beine einbrachen und sie langsam zu Boden sank.
„Mutter … Cera!“, röchelte Deren verzweifelt. „Hilf … chh!“
Plötzlich beugte sich ihre hagere Gestalt über ihn. Seltsam. Deren hatte gar nicht bemerkt, dass er hingefallen war.
„Mutter Cera!“, flüsterte sie von weit weg. „So nennen sie mich. Ohne Recht!“ Ihr Gesicht flackerte in der Dunkelheit vor ihm. In ihren schwarzen Augen standen Tränen, und noch etwas anderes. Ein zerbrochener Geist. Ein Blick aus Scherben. „Zwei Menschen dieser Welt konnten mich wahrhaft Mutter nennen! Und einer von ihnen ist tot! Ermordet!“
Deren konnte nur noch röcheln und verwirrt zusehen, wie Cera durch sein Gesichtsfeld kreisten.
„Oh, Santalion! Heute … heute mache ich alles wieder gut! Heute gibt es Rache, frisch serviert. Tisch drei! Rache weiß wie Sahne. Die hast du immer geliebt. Weil sie noch heller war als deine Haut.“
Kurz konnte Deren wieder klar sehen. Mutter Cera hatte eine Schwertlanze in der Hand, wie lange schon? Sie drehte sich um und hieb auf die Kiste ein. Ein guter Schlag. Trotz ihres Alters.
Deren versuchte vergeblich, einzuatmen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Cera etwas aus der Truhe holte. Eine silberne Muschel. Sie leuchtete nicht einmal. Enttäuschend. Deren musste kichern und konnte es nicht, weil ihm die Luft fehlte. Mutter Cera ließ die Muschel fallen und sie zerschellte klirrend, die silbernen Scherben waren das letzte, was Deren sah. Aus der Ferne hörte er noch das tiefe Grollen eines zentnerschweren Gitters, das unwiederbringlich in seiner Verankerung im felsigen Grund versank. Das triumphierende Kreischen ein Vogels. Das Schluchzen einer zerbrochenen Mutter. Und die ersten Schreie.
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L - Ein Moment des Friedens

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:21

L – Ein Moment des Friedens

Morgendämmerung, 16. Wintertag 77 A.Z.
Danwar, Hadrisches Meer

Chada atmete die kalte Seeluft ein und verfluchte den Sturm der vergangenen Nacht und die vereinzelten Böen, die er zurückgelassen hatte. Der Wind war zusammengeschmolzen und nach Westen weitergezogen. Chada wünschte, sie könnte hinterherfliegen, anstatt auf diesem kargen Eiland festzusitzen.
Bisher war Danwar für Chada nur ein kleiner Fleck auf verstaubten Landkarten gewesen. Die flachen Tintenkleckse hatten sie nicht annähernd auf den Anblick der Insel vorbereiten können. Danwar war ein zerklüftetes Felsmassiv, das fast hundert Schritt hoch aus dem Wasser ragte – oder eher aus den Dampfschwaden, die um die Insel aufstiegen, wenn die Wellen zischend am heißen Stein verdampften. Das schwarze, heiße Vulkangestein hatte Chada unwillkürlich an die Himmelssäule erinnert, doch Danwar sah eher aus wie der aus dem Wasser gereckte Kopf einer versteinerten Meeresschildkröte denn wie ein Vulkan. Die Siedlung auf dem Plateau des Gipfels lag zur Hälfte auf einem Felsüberhang, der aussah, als müsse er jeden Moment unter der Last des Steins zusammenbrechen.
Als sie gestern Nachmittag mit der Aldebaran II im geschützten Bassin unter diesem Überhang angelegt hatten, hatte Chada bereits gefürchtet, die steilen Wände selbst erklimmen zu müssen. Tatsächlich existierte eine in den Fels gehauene Treppe, doch sie war schon so lange nicht mehr benutzt worden, dass sie längst unpassierbar geworden war. Die Danware, die sie unten erwartet hatten, hatten sie herzlich empfangen, dann wurden sie in einer seltsamen Gondel auf eine lange Plattform gezogen, die wie ein Schwalbennest an der steilen Felswand hing. Ein Dutzend Flaschenzüge waren hier montiert, die beiden kleinsten kaum mehr als ein dickes Seil mit einem Haken am Ende, der größte eine Art riesiger Korb an sechzehn starken Tauen, der ein ganzes Boot samt Besatzung emporheben konnte. Wenn nicht gerade eine leichte Brise weht, dachte Chada entnervt.
„Wann können wir endlich fahren?“, herrschte sie den Danwaren an, der die Flaschenzüge beaufsichtigte. Ein korpulenter Mann mit einem merkwürdigen schwarzen Bart, den er sich zu einer vollendeten Kugel frisiert hatte und mit irgendwelchen Wachsen in Position hielt. Unter anderen Umständen hätte Chada darüber geschmunzelt.
Der Aufseher stöhnte schwer und musterte mit zusammengekniffenen Augen den unruhigen Dampf. „Zu viel Wind!“, grummelte er. „Das wäre eine Gefahr für die Aufzüge. Und für ihre Ladung.“
„Den Flaschenzug vom Plateau bis hier konnten wir auch benutzen.“
„Der ist auf drei Seiten vom Stein geschützt und führt nicht vierzig Schritt durch die Leere. Nein, es bleibt dabei! Bei diesem Wind können die Flaschenzüge nur in absoluten Notfällen benutzt werden.“
„Das hier ist ein Notfall! Eine Armee aus Kreaturen zieht gegen Klippenwacht! Vielleicht beginnt der Ansturm gerade in diesem Moment!“
In der vergangenen Nacht hatte plötzlich Ken Dorr vor der Tür der Hütte gestanden, die die Danware ihr und Thorn – gerne auch für länger als eine Nacht – zur Verfügung gestellt hatten. Durchnässt vom Sturm, mit Panik in seinen grauen Augen und nur einem Wort auf den Lippen. Klippenwacht!
„Von dort kamen die Kriegsschiffe, die versucht haben, uns auszuplündern. Wir schulden diesen Menschen nichts!“, erwiderte der Aufseher unbeeindruckt. Die Danware schienen ein ziemlich nachtragendes Volk zu sein, diese Überfälle lagen schon knapp zweihundert Jahre zurück. „Und was würdet Ihr überhaupt an diesem Angriff ändern wollen? Ihr braucht von hier mindestens zwei Tage zu den Nebelinseln.“
Chada biss sich auf die Lippen und wartete vergeblich, dass Eara, Drukil oder Ken Dorr sie unterstützten. Die drei warteten mit ihr neben der Gondel nach unten, doch sie schienen sich mit der Warterei abgefunden zu haben. Verärgert drehte Chada sich um und trat an den Rand der hölzernen Plattform. In der Tiefe brodelten die grauen Wellen des Hadrischen Meeres. Die Danware sprachen mit einem merkwürdigen, etwas einfältig klingenden Akzent, und die meisten von ihnen hatten nie in ihrem Leben einen Baum gesehen, doch es wäre ein Fehler, sie zu unterschätzen. Sie hatten völlig eigene Formen der Magie entdeckt, sie überlebten auf einem kargen Eiland ohne nennenswerten Bewuchs, und sie hatten diese Flaschenzüge entwickelt. Der Aufseher verbot ihnen den Weg nach unten gewiss nicht grundlos, und auch sie verspürte keine große Lust, die unruhige Fahrt von gestern mit noch stärkerem Wind auszuprobieren. Aber es machte sie wahnsinnig, nicht zu dem Schiff zu können, das sie von hier aus schon sehen konnte, während nicht weit im Westen wer weiß was geschah.
Ein dumpfer Schlag ertönte. Eine Gondel war vom Plateau herabgelassen worden, heraus traten Thorn, Leander und eine Frau in einer leichten Rüstung und roten Tüchern. In ihren Brustpanzer war ein roter Edelstein eingelassen und sie bewegte sich mit einer unnatürlichen Geschmeidigkeit. Als sie näherkam, bemerkte Chada ihre spitz zulaufenden Ohren und die rot glühenden, unmenschlichen Augen, aus denen keine Regung abzulesen war. Eine Feuerkriegerin Danwars!
„Ich habe Leander endlich gefunden.“, rief Thorn. „Er hat sich die ganze Nacht mit einem ansässigen Gelehrten um die Ohren geschlagen, anstatt zu schlafen.“
„Und ist nicht erfreut darüber, so plötzlich aus dem Gespräch gerissen worden zu sein.“, ergänzte Leander erbost. „Der Hüter des Wissens war endlich bereit, mich ins Heiligtum zu lassen!“ Er seufzte gequält. „Also, was hat es mit diesem Angriff auf Klippenwacht auf sich?“
Chada bedeutete Ken Dorr, seine Geschichte zu wiederholen.
„Der Schwarze Herold hat mich zu sich gerufen. Nur Kenvilar“, bei diesem Namen berührte Ken Dorr kurz den grünen Edelstein in seiner Stirn und verzog das Gesicht, „war noch dort, sie hatte ihm bereits berichtet, dass ihr die tote Frucht geborgen habt – natürlich nicht, wie es dazu kam.“ Der Dieb kicherte kurz, dann wurde er schlagartig ernst. „Die Schwarze Kogge ist unterwegs nach Klippenwacht, im Schlepptau eine Armee aus Meereskreaturen und irgendeine Geheimwaffe der Mächte des Meeres, über die ich leider nichts Genaueres weiß. Meine Aufgabe ist es, euch davon abzuhalten, bis zum Ende der Belagerung nach Klippenwacht zu gelangen.“
„Und du fürchtest nicht um deine Tarnung, wenn wir in drei Tagen dort sind?“, fragte Leander offensichtlich verblüfft.
„Meine Idee war es nicht, dass ihr sofort dorthin fahrt. Ihr seid auch nicht zur Rietburg gerannt, als ihr von der Belagerung erfahren habt!“ Ken Dorr schaffte es, gleichzeitig beleidigt und selbstzufrieden auszusehen. „Genau deshalb habe ich eure Haare gestohlen, ohne euch einzuweihen! Es ist euch egal, ob der Schwarze Herold mich einäschert, solange ich euch nur nützlich bin.“
Chada seufzte entnervt. Mussten sie diese Diskussion jetzt schon wieder führen? Die Rietburg hatte fast zwei Monde Zeit gehabt, sich auf eine Belagerung vorzubereiten, Klippenwacht dagegen wurde unvorbereitet getroffen. Und Ken Dorr war ihnen nicht … vollkommen egal.
„Der Schwarze Herold möchte nicht, dass wir nach Klippenwacht gelangen.“, erklärte Eara mit beneidenswerter Ruhe. „Ich bezweifle, dass allein unsere Anwesenheit etwas gegen eine Armee ändert, es könnte ihm also egal sein, ob wir dazustoßen. Es sei denn, er möchte etwas wie diese Geheimwaffe vor uns verbergen.“
„Und die Menschen Klippenwachts sind in Gefahr, und wir könnten vielleicht helfen!“, ergänzte Chada aufgebracht.
Eara sah sie lange an. „Ja. Das auch, vermute ich.“ Ihre Stimme war teilnahmslos und Chada fragte sich, wie sie diese Ruhe eben noch hatte beneiden können.
Unangenehme Stille breitete sich aus, bis Thorn in die Hände klatschte und rief: „Da wir jetzt vollzählig sind, können wir endlich zum Schiff und ablegen?“
„Mit Verlaub, verehrte Fremde: Nein! Nicht bei diesem Wind! Ich …“
„Sie dürfen den Aufzug benutzen.“, unterbrach eine glatte Stimme den nervtötenden Aufseher mit dem Kugelbart. Chada brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es die Feuerkriegerin war, die gesprochen hatte. Sie hatte sich ansonsten nicht bewegt und aus ihren glühenden Augen konnte Chada die Blickrichtung nicht ablesen.
„Der Hüter des Wissens hat mich mit den Fremden geschickt, um dies mitzuteilen.“ Der Aufseher verbeugte sich steif und öffnete wortlos die Tür zur Gondel.

Kurz darauf setzten sie sich auch schon in Bewegung. Chada warf durch die Lücken im Holzgitter der Gondel einen letzten Blick auf das Gewirr aus Zahnrädern und sich hebenden Gegengewichten unter der langsam schrumpfenden Plattform. Am Rand stand die Feuerkriegerin und blickte ihnen aus ihren unheimlichen Augen nach. Dann versetzte ein besonders starker Windstoß die Gondel in Schwingung.
„Der Hüter der Wissens hatte wirklich faszinierende Dinge zu berichten, wisst ihr? Es gibt beispielsweise Überlieferungen, dass ein paar Barbaren Danwar besucht haben. Wenn das stimmt, wäre es eine Sensation; es gibt sonst keinerlei Indizien dafür, dass sie sich überhaupt an Seefahrt versucht hätten.“, plapperte Leander plötzlich los. Chada vermutete, dass er vor allem sich selbst vom heftigen Schaukeln der Gondel ablenken wollte, seine Seekrankheit war ihr noch lebhaft in Erinnerung.
„Leider konnte auch der Hüter des Wissens mir bei meiner Übersetzung nicht weiterhelfen, aber …“
„Du hast mit einem Wildfremden über die Tafel gesprochen?“, unterbrach Chada resigniert. „Während du dich immer noch weigerst, uns deine Übersetzung vorzustellen?“
„Den ersten Satz kann ich euch mittlerweile sagen, ich bin recht zuversichtlich, ihn vollständig zu kennen.“ Sofort hatte Leander alle Aufmerksamkeit. Der Seher sagte nichts weiter, er lächelte nur dünn und schien ihre Anspannung zu genießen, bis die Gondel plötzlich einen Ruck zur Seite machte. Chada wurde zur Seite geschleudert und hörte das Holzgitter bedenklich knacken. Viel zu weit unten glitzerten die ersten Sonnenstrahlen auf dem Wasser. Sie wagte nicht zu atmen, bis die Gondel zurückpendelte und sie schnell etwas Abstand zwischen sich und die Wand bringen konnte.
Leander zog seinen Mantel gerade und räusperte sich. „Durch Mutter Natur folgt ein neuer Anfang auf jedes Ende, eine neue Geburt auf jeden Tod. Das ist der erste Satz.“, presste er hervor. Seine blaue Haut kam Chada blasser vor als sonst.
Sie wartete, bis ihr Herzschlag sich etwas beruhigt hatte und sie über die Worte nachdenken konnte. „Nicht sehr hilfreich.“, stellte sie dann fest. „Wie geht es weiter?“
„Ich weiß es nicht.“
Thorn verdrehte die Augen. „Du hast den ersten Satz vollständig und vom Rest keine Ahnung?“
Leander legte eine Hand an die Gitterverkleidung der Gondel. „Abgesehen vom Ende habe ich sogar eine ziemlich genaue Ahnung. Leider gibt es jedoch eine zentrale Vokabel, die in jedem weiteren Satz auftaucht und die mir ziemliches Kopfzerbrechen bereitet. thinghudyr, der Hügel des Thing. Eine Bedeutung, die in diesem Kontext leider nicht den geringsten Sinn ergibt. Und ich werde euch keine Übersetzung vorstellen, in der das wichtigste Wort fehlt!“
Er sagte das mit einer solchen Entschiedenheit, dass Chada nicht widersprach.


Früher Vormittag, 16. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See westlich von Danwar, Hadrisches Meer

Es hatte noch eine quälend lange Stunde gedauert, bis sie endlich mit der Aldebaran II ablegen konnten. Doch jetzt machten sie gute Fahrt, und der auffällige Umriss Danwars verschwand allmählich hinter dem Horizont. Das Wasser war wieder kälter geworden, laut Leander markierte Danwar die Grenze zwischen Stürmischem Ozean und Harischem Meer. Eara stand am Steuer, die Sonne glänzte auf ihrem ungewohnt kahlen Schädel. Chada erinnerte sich daran, dass sie eigentlich im Bug stand, um nach Hindernissen im Wasser Ausschau zu halten, und wandte den Blick wieder nach vorne.
Zuerst traute sie ihren Augen nicht. Dann hielt sie die Frau, die sich langsam aus dem Wasser schob, für eine der Nixen, die manchmal neben Handelsschiffen herschwammen, trotz ihrer – trockenen – dunkelblauen Robe mit Goldstickereien. Schließlich musste sie sich eingestehen, dass die Frau unter ihrer Kleidung vermutlich keinen Fischschwanz hatte und sie hob mit deutlicher Verspätung ihren Arm, um Eara ein Hindernis zu signalisieren. Die Aldebaran II hielt fast augenblicklich an und lag ruhig im Wasser, obwohl das Segel sich noch immer blähte. Chada war sich ziemlich sicher, dass Eara das nicht mit irgendwelchen Segelkunststücken bewerkstelligt hatte.
„Ich bin Sisgard, eine Wassermagierin Danwars. Der Hüter des Wissens schickt mich zu seinem Gast.“
Leander erschien bereits an der Reling, auch der Rest kam hinzu. Der plötzliche Halt hatte alle an Deck gelockt.
Sisgard nickte, als sie den Seher entdeckte. „Der Hüter des Wissens bedauert die plötzliche Abreise eines wachen Geistes und dass Ihr das Herz der Insel nicht mehr besuchen konntet. Er lässt ausrichten, wenn Ihr eines Tages zurückkommen solltet, so wird ein Bett für Euch bereitstehen.“
„Richtet ihm aus, auch ich hätte gerne mehr Zeit auf Danwar verbracht.“
„Im Ausgleich für das, das Euch entgangen ist, sendet der Hüter des Wissens Euch ein Geschenk. Er sagt, dieser Stein soll Euch an das Band erinnern, das zwischen euch geknüpft wurde.“ Aus den Wellen zu Sisgards Füßen stieg ein roter Edelstein in der Form eines verschlungenen Knotens empor. Leander streckte die Hand aus und der Stein fiel leicht hinein.
„Ihr müsst ihn wirklich beeindruckt haben, Fremder.“, sagte die Wassermagierin plötzlich mit einem Lächeln, das nicht zu ihrem förmlichen Ton passte. „Allen anderen Fremden ist der Zugang zum Herz Danwars verwehrt, und nur drei Lavasteine haben die Insel bisher mit unserem Einverständnis verlassen. Euch wird eine große Ehre erwiesen.“
Ungläubig beobachtete Chada, wie Sisgards Gestalt langsam durchscheinend wurde, bis sie für einen Moment als Statue aus Wasser über dem Meer hing und dann als feiner Sprühregen in den Wellen verschwand.
„Bestellt dem Hüter des Wissens meinen tief empfundenen Dank und mein aufrichtiges Bedauern.“, sagte Leander getragen.
„Sie ist bereits fort.“, erklärte Eara und der Seher verstummte. Seine Finger tasteten verloren über die verflochtenen Konturen des Lavasteins.
„Das Herz Danwars?“, wiederholte Drukil fragend.
„Wenn wir nicht so schnell hätten abreisen müssen, könnte ich euch jetzt sagen, was genau es ist. Irgendein Artefakt aus Lavastein im Heiligtum, mehr weiß ich nicht.“
„Aber warum Herz?“, beharrte Drukil. „Was hat es mit einem Herz zu tun?“
Chada merkte, dass sie lächelte. Drukil versuchte immer, die Dinge wörtlich zu nehmen. „Das sagt man so.“, erklärte Chada. „Es heißt, dass dieses Artefakt sehr wichtig ist. Herz ist in mancher Hinsicht ein anderes Wort für Zentrum“ Drukil nickte, doch er wirkte nicht sonderlich zufrieden.
Plötzlich keuchte Leander auf. „Chada, du bist genial!“
Sie runzelte die Stirn. „Danke. Weshalb?“
„Herz ist ein Synonym für Zentrum! Verstehst du nicht?“ Leanders Stimme zitterte. „Ein Hügel, der sich in der Mitte einer jeden Barbarensiedlung erhebt. Das kulturelle Zentrum des Dorfes. Quasi sein Herz!“
„Es geht dir um das fehlende Wort in der Übersetzung.“, stellte Eara fest.
„Bei der Vorsehung! Wenn das stimmt … wenn thinghudyr wirklich Herz heißt … das ändert alles, was wir zu wissen glaubten! Oh, es ergibt Sinn. Viel zu viel Sinn.“ Leander stieß ein abgehacktes Lachen aus.
Chada wurde flau. „Was … was hat Themauras aufgeschrieben?“, fragte sie heiser. „Was besagt der Text?“
„Themauras hat schon vorher über die Herzen der Mutter geschrieben, nicht wahr? Über das Herz der Geburt und das Herz des Todes.“, begann Leander. „Oh, wir waren Narren! Das denken in Dualitäten ist in uns so tief verankert! Licht und Dunkelheit, Gut und Böse, Heiß und Kalt. Anfang und Ende. Geburt und Tod. Doch in Wahrheit sind Geburt und Tod nur zwei flüchtige Momente in einem langen Leben. Die Konstanten, in denen all unsere Existenzen sich gleichen, während die Zeit dazwischen uns einzigartig macht.“
„Könntest du uns anstatt irgendwelcher kryptischen Andeutungen einfach die Übersetzung vortragen?“, schlug Eara vor.
Leander lächelte. „Durch Mutter Natur folgt ein neuer Anfang auf jedes Ende, eine neue Geburt auf jeden Tod. Drei Herzen der Mutter gewährleisten dies. Ein Herz behütet den Anfang und ein Herz das Ende. Das dritte Herz - das das Blut der Ewigkeit durch die Adern der Welt pumpt und das dort beginnt, wo die anderen beiden enden - behütet die Ewigkeit und den Ewigen Kreislauf. Faszinierend, wie naheliegend es plötzlich klingt, für thinghudyr Herz einzusetzen, nicht? Wenn man nur einmal bereit ist, seine Wahrheiten zu überdenken.“ Er lachte bitter. „Wir waren wieder einmal zu voreilig. Themauras, die Mächte des Meeres, anscheinend auch der Schwarze Herold, keiner von ihnen hat je von nur zwei Herzen der Mutter gesprochen. Im Gegenteil, im Nachhinein erscheinen mir manche Äußerungen Kenvilars geradezu als Hinweis. Auf dem Fundament von Schöpfung und Auslöschung beruht die Ewigkeit. Sie benötigt das Gleichgewicht, und ist zugleich seine Bedingung. Wir waren nur zu voreingenommen, um eine einfache Wahrheit zu begreifen: Es waren nie zwei Herzen. Sondern drei.“


Abenddämmerung, 16 Wintertag 77 A.Z.
Hohe See westlich von Danwar, Hadrisches Meer

Chada lehnte an der Reling und blinzelte in die Sonne, die sich langsam wieder der Wasseroberfläche näherte. Folgte mit ihren Augen dem glitzernden Strich, der nach Westen zeigte. In die Richtung Klippenwachts.
Ken Dorr hatte behauptet, die Schwarze Kogge sei vergangene Nacht bereits in Sichtweite der Seefeste gewesen, inzwischen musste der Angriff längst begonnen haben. Und sie waren noch immer kaum weniger als zwei Tagesreisen entfernt und konnten nichts tun. Würden sie rechtzeitig ankommen?
Rechtzeitig … für was? fragte eine aufdringliche Stimme in ihr. Was sollten sie schon ausrichten können? Sicher, auf diesem Schiff hatten sie bereits ein Gefecht gegen die Schwarze Kogge gewonnen – doch nicht gegen eine ganze Armee aus Kreaturen. Ließen ihre Erfolge sie tollkühn werden?
Die Sorgen lasteten schwer auf Chada. Die Sorgen um Andori und Bewahrer, um die belagerte Rietburg und ihre Freunde. Und jetzt noch die Sorgen um Stinner, um Kirr, um all die anderen Menschen auf Klippenwacht. Und über allem schwebte die Angst, den Hoffnungen und Erwartungen nicht gerecht zu werden, die Angst schließlich doch noch endgültig zu versagen. Die Angst, niemandem helfen zu können. Die Angst, dass die Worte der Drei Schwestern nicht mehr aufzuhalten waren.
Bewahrerin ohne Geduld, Bastard eines Königs, ohne die ihre Mutter noch am Leben wäre. Die Krone, die dir gebührt, wirst du nie mehr auf dem Haupte tragen. Das Volk, das zu schützen du geschworen hast, wird in der Dunkelheit vernichtet werden. Deine Vergangenheit wird in Flammen vergehen, deine Zukunft wird in Flammen vergehen, und all die, die dir Vertrauen schenken, werden bei ihrem Tode eine Verräterin in dir sehen.
„Du sollst in die Kajüte kommen!“, riss Leanders Stimme Chada aus ihren Gedanken.
Sie schloss kurz die Augen und sammelte sich. Spürte, wie ihre Ängste und Sorgen zusammensanken und leiser wurden. Sie verschwanden nicht, natürlich nicht, doch zumindest wurden sie zu einem kleinen, harten Klumpen in ihrem Bauch zusammengepresst. Die Erschöpfung wich der Entschlossenheit. „Ich komme! Was ist passiert?“
„Nichts, soweit ich weiß. Ich habe aber einen Verdacht, worum es geht.“ Leanders Lächeln schenkte Chada etwas Zuversicht. Sein Verdacht schien nicht allzu schlimm zu sein, immerhin. Sie machte sich auf den Weg.
Thorn erwartete sie. Er saß auf dem einzigen Bett an Bord und als sie eintrat, klopfte er lächelnd auf den freien Platz neben sich. Chada nahm Platz und begriff endlich.
„Heute vor vierunddreißig Jahren wurde, in einem langen und harten Winter, im Wachsamen Wald von der Bewahrerin Mhare ein kleines Mädchen geboren.“, flüsterte Thorn sanft. „Ehe die Mutter verstarb, gab sie dem Kind den Namen Chada. Viele Bewahrer sprachen von einem Wunder, von einem Segen, der auf dem Kind liege, denn es überlebte den Winter, der so viele gesunde Bewahrer dahinraffte. Und sie hatten recht. Du bist tatsächlich ein Wunder, Chada.“ Er küsste sie.
„Ich habe ganz vergessen, welcher Tag heute ist.“, gestand Chada.
„Ich nicht.“, lächelte Thorn. Er hatte es noch nie vergessen. Egal welche Gefahren sie zu bestehen hatten, egal in welcher Not sie waren, jedes Jahr seit sie sich kannten, hatte er ihr zu diesem Tag einen Moment des Friedens geschenkt. Zu ihren Zeiten in König Brandurs Diensten, während des Ordenskrieges in Hadria, während sie auf der Flucht vor einem alten Fluch die Mauerberge nach Silberhall überquerten und zuletzt vor einem Jahr, im dichten Schneetreiben des Grauen Gebirges.
„Vierunddreißig.“, murmelte Chada. „Wie die Jahre dahinziehen. Jetzt bin ich die Hälfte meines Lebens Heldin von Andor gewesen. Ich habe mehr gesehen, als ich je erhofft, mehr durchlitten, als ich je befürchtet hatte. Vierunddreißig. Mein Leben rinnt dahin. Kein Grund zum Feiern eigentlich.“
„Wie muss ich mich da erst fühlen!“, lachte Thorn. „Ich habe acht Sommer mehr gesehen als du. Wenn du so weiterredest muss ich annehmen, dass du mich für alt und tattrig hältst.“ Sein Grinsen wich einem feierlichen Ernst. „Chada, heute ist nicht ein Grund zum Feiern, weil deine Geburt schon weit zurückliegt, sondern weil es sie gab. Weil es dich gibt! Weil du diesen Winter überlebt hast, und auch alles Weitere!“
Er umfasste ihre Hände. „Manchmal kann das Leben eine Last sein. Manchmal sehne auch ich mich nur noch nach Ruhe. Aber ich für meinen Teil bin sehr glücklich, dass es dich gibt.“
„Kriege ich eine Geschenk?“, fragte Chada und vertrieb damit Thorns ernsten Gesichtsausdruck wieder.
„Hmmm, lass mich nachdenken… Wie wäre es mit einem Gedicht?“ Er räusperte sich.
„Es war einst Chada aus dem Wachsamen Wald,
ihr Bogen schoss weit und ihr Herz war nicht kalt,
nebenbei war sie auch gar nicht dumm,
und damit ist dieser Reim jetzt um.“
Chada musste kichern und konnte an Thorns zuckenden Schultern sehen, dass er sich zusammenreißen musste, um nicht miteinzustimmen. „Oh Thorn, das war grauenhaft!“
„Stimmt, aber es hat dich zum Lachen gebracht.“, meinte er grinsend. „Tatsächlich habe ich auch ein richtiges Geschenk für dich.“
Er schlug die Decke zur Seite und enthüllte eine dünne Kette aus Rietgras, in die getrocknete rosane Blüten eingeflochten waren.
„Im Rietland ist das ein verbreiteter Brauch. Eigentlich hätte ich die Rietgrasblüten selbst sammeln und trocknen müssen, doch leider war mir das unmöglich. Zumindest geflochten habe ich die Kette aber selbst, wenn sie auseinandergeht weißt du also, bei wem du dich beschweren kannst.“
Chada blickte auf die schlichte Kette aus Pflanzenteilen. Sie war in keiner Weise wertvoll, nichts was eine Prinzessin oder Königin je tragen würde. Sie war in keiner Weise nützlich, kein Sieg würde damit errungen werden. Sie war viel zu zerbrechlich, als dass sie einen Kampf überleben würde. Sie war ein ganz normales Geschenk, das sich ganz normale Rietländer zu ganz normalen Feiern schenkten, um danach ihre ganz normalen Leben weiterzuführen. Und sie trieb Chada die Tränen in die Augen.
„Danke!“, hauchte sie.
Thorn schloss sie in die Arme. Sie sog seinen Duft ein, den Geruch von Rosshaar, Rietgras und einem Hauch von Leder, und sie spürte, wie ein kleiner, harter Klumpen in ihrem Inneren sich auflöste.
„Herzlichen Glückwunsch, Chada!“, flüsterte Thorn, und er küsste sie erneut.
Und in diesem einen Moment des Friedens gab es keine Sorgen um Klippenwacht mehr, keine Angst, alle Hoffnungen zu enttäuschen, keine Gedanken an die Zukunft.
Nur das Jetzt.


Sonnenhoch, 19. Wintertag 77 A.Z.
Klippenwacht, Hadrisches Meer

Chada erkannte schon auf den ersten Blick, dass sie zu spät kamen. Alle Versuche Stinners, Klippenwacht wieder aufzubauen, waren zunichte gemacht worden. Die Türme waren eingerissen, die Mauern geborsten. Sie sah keine Regung zwischen den Trümmern, weder von Menschen noch von Kreaturen, nur unzählige Möwen flogen darüber und übertönten mit ihrem Kreischen jedes andere Geräusch. „Deine Vision erfüllt sich, Leander.“, krächzte Chada.
Der Seher antwortete lange Zeit nicht, während sie sich der zerstörten Seefeste näherten. Schließlich meine er mit belegter Stimme: „Unter den Werftheimern heißt es, jede Möwe sei die Seele eines verstorbenen Seemanns.“
Chada betrachtete den riesigen Schwarm Möwen. Hunderte. Tausende. Mehr als sie für möglich gehalten hätte.
Im Hafenbecken trieben die ersten Leichen im Wasser. Hauptsächlich Seekrieger in ihren Rüstungen aus Holz und Leder, ein paar Menschen in Winterkleidung, ein Tarus, zwei Kinder. Der Anblick der aufgequollenen Gesichter schnürte Chada die Luft ab.
Die Anleger waren zerstört, schließlich fanden sie zwischen zwei großen Trümmerstücken einen Platz, an dem sie anlegen und bequem an Land gehen konnten. Obwohl Chada das eigentlich gar nicht mehr wollte.
Auch an Land lagen viel zu viele tote Körper verstreut. Mit verrenkten Gliedmaßen, das Grauen noch auf den erstarrten Gesichtern. Nur sehr vereinzelt sah Chada die Leiche eines Nerax, und das noch feuchte Blut, das den Boden tränkte, war rot. Das hier war kein Kampf gewesen. Es war ein Massaker.
Chadas ganzer Körper fühlte sich taub an. Sie setzte einen Schritt nach dem anderen um die niedergestreckten Menschen und war nicht imstande, Trauer oder Hass zu empfinden. Nur Fassungslosigkeit.
Ein Lebenszeichen fanden sie nicht, abgesehen von den unzähligen Möwen. Sie saßen überall, schlugen sich an den Überresten des Gemetzels den Bauch voll und flatterten gelegentlich im Streit um Fleischstücke auf.
Vor dem Tor des eingestürzten Hauptturms fanden sie Stinner. Um ihn lagen drei tote Meerestrolle, ihre Schädel mit gewaltiger Wucht zerschmettert. An Stinners Leichnam pickten gleich fünf Möwen.
„Haut ab!“, brüllte Thorn den unbeeindruckten Vögeln entgegen. Er zischte und winkte mit den Armen. Sie hopsten schließlich widerwillig beiseite zu einer der vielen anderen Leichen. „Weg! Weg! Verschwindet!“, schrie Thorn ihnen nach und sank auf die Knie. „Aaskrähen des Meeres! Haut ab! Lasst die Toten in Frieden!“ Dann schluchzte er nur noch.
Chada trat neben ihn und betrachtete Stinners Leichnam. Sie brachte es kaum über sich, das von den Möwen entstellte Gesicht ihres alten Freundes lange anzusehen, also fixierte sie sich auf den Rest seines Körpers. Und erstarrte.
In Stinners Brust steckte ein Pfeil mit grünlich glänzendem Schaft. Nur die Bewahrer verwendeten solche Pfeile! Mit zitternden Fingern löste sie ihn so behutsam wie möglich und drehte ihn in den Fingern. Alle Bewahrer versahen ihre Pfeile mit einem eigenen Muster, damit nicht zwei Schützen für sich beanspruchen konnten, diesen Hirsch oder jenen Gor geschossen zu haben. Sie konnte herausfinden, wessen Pfeil Stinner getötet hatte.
Sie entdeckte die Runen knapp unter der Befiederung. Ein eckiges C, gefolgt von einer Raute. Eine eindeutige Markierung. Ihre eigene.
Jetzt endlich erfasste sie das Grauen, das so lange auf sich hatte warten lassen. Wimmernd stolperte Chada zwei Schritte zur Seite, verfolgt von den leeren Blicken der Toten, dem höhnischen Kreischen der Möwen und dem entsetzlichen Geruch. Sie krümmte sich zusammen und erbrach sich.

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.“, meinte Eara, nachdem sie alle sich etwas beruhigt hatten. Im Kontrast zu den entsetzten Gesichtern Thorns, Drukils, Leanders und selbst Ken Dorrs, war Earas Miene gewohnt neutral, als würden die Katastrophe und die vielen Toten sie nicht weiter betreffen. Doch der schwarze Nebel hatte sich hinter ihr verdichtet, brodelte und zuckte heftiger als sonst und Chada hoffte, dass es ein Zeichen der Bestürzung war. Oder irgendeiner anderen Emotion. Alles wäre besser als diese scheinbare Gleichgültigkeit.
„Stinner hat mit den Magischen Waffen gekämpft, die wir in seiner Obhut gelassen haben. Ihre Macht ist auch jetzt noch deutlich spürbar. Doch inzwischen sind sie fort, ich könnte ihre Nähe wahrnehmen. Ich vermute, der Ewige Rat hat den Hammer der Stärke und den Helm der Macht an sich gebracht.“
„Und die gute Nachricht?“, seufzte Leander.
„Es sind zu wenig Tote.“
Mit weiten Augen betrachtete Chada die Verwüstung und die vielen Leichen um sich herum. „Zu wenig?! Es sind viel zu viele!“
„Chada, bleib vernünftig. Sicher sind es zu viele, aber es müssten ungefähr tausend Menschen hier gelebt haben. Nach meinen Schätzungen liegen hier nur etwa halb so viele Tote. Und ich habe nirgendwo die Überreste von zerstörten Schiffen gesehen.“
Ein leises Gefühl, fast etwas wie Hoffnung, keimte in Chada auf. „Du meinst, es konnten welche entkommen?“
„Vielleicht. Oder sie wurden gefangen genommen und dienen den Kreaturen jetzt als Verpflegung.“
Augenblicklich wurde Chada wieder schlecht.
„Ich halte diese Möglichkeit für eher unwahrscheinlich, es würde die Armee zu sehr aufhalten.“, ergänzte Eara. „Allerdings erscheint es mir ebenfalls unwahrscheinlich, dass die Menschen hier gegen den Willen der Kreaturen entkommen konnten. Und ich sehe nicht, welchen Grund der Ewige Rat hätte, die Hälfte einfach gehen zu lassen. Wir können also nichts ausschließen.“
„Wir … Wir können das hier ungeschehen machen!“, stammelte Thorn heiser. „Nicht wahr? Wir haben ihre Leichen. Wir können ein Haar nehmen, von jedem von ihnen. Und wenn dir den Ewigen Rat bezwungen haben, wenn wir das Herz des Todes in unserem Besitz haben, dann holen wir sie alle wieder zurück!“
Chada erwiderte seinen ernsten Blick. Seine blauen Augen waren von verzweifelten Tränen verschleiert. Es war so verlockend. Jeden zurückzuholen, alle Tode ungeschehen zu machen. Mit der Macht des Herzens, was konnten sie nicht alles erreichen? Sie könnten jeden retten, den der Ewige Rat getötet hatte. Und nicht nur der Ewige Rat – alle Opfer der Krahder, der Kreaturen, der letzten Katastrophen. Sie konnten Reka zurückholen, und Brandur, und Fenn, Arbon, Kheela, Forn, Darh …
„Wir können das nicht tun!“, stieß Chada hervor. Es zerriss ihr das Herz. „Wenn wir einmal damit anfangen, jemanden wiederzuerwecken, dann können wir nicht mehr damit aufhören. Wie könnten wir irgendjemandem, dessen Vater oder Tochter gestorben ist, den Segen verweigern, den wir dieser Burg zuteilwerden ließen? Wie können wir entscheiden, wen wir zurückholen und wen nicht? Sollen wir uns zum Richter über Leben und Tod aufschwingen? Sollen wir jene retten, die uns kostbar sind, und alle anderen sterben lassen?“
„Wir können doch nicht einfach so viele Tode zulassen, wenn wir die Macht hätten, sie zu umgehen.“, flüsterte Thorn. Chada konnte ihn über die Schreie der Möwen kaum noch verstehen.
„Wenn man einzelne Leben retten kann, dann gibt es keinen Grund, das nicht zu tun.“, antwortete Chada ernst. „Aber wenn man alle Leben retten kann, dann … dann muss man auswählen, welche es verdienen und welche nicht. Dann ermordet man letztlich alle, die man nicht rettet.“
„Nach dieser Logik würdet ihr die ganze Welt ermorden, wenn ihr die Macht des Herzens nicht nutzt.“, mischte Eara sich ein. „Wenn wir den Ewigen Rat besiegen und das Herz des Todes in unseren Besitz gelangt, dann haben wir die Macht, jeden zu retten, ob wir wollen oder nicht. Dann müssen wir entscheiden, wie wir damit umgehen. Dann müssen wir die Entscheidung treffen, Menschen sterben zu lassen, die wir ohne Anstrengung retten könnten, und wir können einzig auswählen, ob wir viele oder alle sterben lassen.“
Eara drehte den Kopf, ihr kühler Blick glitt über die vielen Leichen einfach hinweg. „Weshalb sollten wir die Macht des Herzens nicht nutzen? Das bedeutet nur, dass alle Wesen dieser Welt weiterhin ihre sinnlosen Tode sterben, damit wir keine unangenehmen Entscheidungen fällen müssen. Dass wir weiterhin dem Zufall die Entscheidung überlassen. Dass wir auswürfeln, wer wie lange leben darf. Wer Pech hat, wer einen Unfall erleidet, stirbt eben früher… Wozu? Eine Entscheidung, die zum Wohle der Allgemeinheit getroffen wird, wird voraussichtlich besser sein als die reine Willkür des Schicksals.“
„Und wie sollte so eine Entscheidung aussehen?“, fragte Leander.
Eara schwieg eine Weile. „Soweit ich das sehe, haben wir zwei Möglichkeiten. Wir könnten ein Paradies jenseits des Todes errichten, in dem kein Mensch, Zwerg, Tarus oder Agren mehr sterben muss. Wir könnten allen ein ewiges Leben garantieren. Doch zugleich müssten wir ihnen verbieten, Nachkommen zu zeugen, oder zumindest mehr Nachkommen, als wir versorgen können. Die Bevölkerung dieser Welt würde für immer die gleiche bleiben. Das wäre die erste Option.
Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass auch in Zukunft noch Kinder geboren werden sollten, müssen wir jemanden sterben lassen. Wir wählen ein festes Alter von, sagen wir, achtzig Sommern, die wir jedem zugestehen, bevor er gehen muss, um Platz für die nächste Generation zu schaffen.“
Die Beiläufigkeit, mit der Eara vorschlug, jeden über achtzig umzubringen, verschlug Chada die Sprache.
„Bevor er gehen muss?“, wiederholte Ken Dorr kichernd. „Und Ihr meint, all die dummen kleinen Menschen wären mit Euren großen Plänen einverstanden? Gier und Angst sind die stärksten unserer Antriebe, und Ihr hättet sie beide gegen euch: Die Gier nach dem ewigen Leben und die Angst vor dem Tod. Ihr könnt ihnen die Ewigkeit nicht offen verweigern – Ihr müsst sie ihnen versprechen! Wenn sie auch nur glauben, durch treue Dienste ein ewiges Leben erringen zu können, dann habt Ihr sie alle hinter euch!“
„Das ist es, was der Ewige Rat tut.“, stellte Leander fest.
Ken Dorr zuckte mit den Schultern. „Es ist effektiv.“
„Hört auf!“, rief Thorn wütend. „Ich kann nicht fassen, was ich hier höre! Niemand hat zu sterben oder auf Kinder zu verzichten, bloß weil andere es bestimmen! Das … das ist es nicht, was ich wollte. Nur … die Toten retten. Wie wir sie auch retten würden, wenn wir sie nicht gestorben wären. Ich will nicht den Lauf der Welt verändern, ich will keine solchen Entscheidungen treffen. Ich will nur nicht mitansehen, wie…“ Er deutete hilflos auf die Toten um sich herum.
„Ich weiß.“, würgte Chada hervor. „Aber wir dürfen es nicht ungeschehen machen. Du siehst, zu welchen Gedanken es führt.“
Thorn schwieg nur und sah gehetzt über die vielen Leichen hinweg.
„Letztlich spielt es keine Rolle.“, sagte Eara. „Noch nicht. Unser erstes Ziel ist es, den Ewigen Rat aufzuhalten. Was danach geschieht können wir entscheiden, wenn es so weit ist.“
Chada nickte bedrückt. „Du hast recht. Lasst uns überlegen, wie wir jetzt weiter vorgehen.“
Drukil runzelte die Stirn. „Wollen wir nicht zu den Zwergen zurück?“
„In sechs Tagen sollten wir in Cavern sein.“, bestätigte Thorn. „Aber es gefällt mir nicht, die Nebelinseln jetzt einfach im Stich zu lassen. Vielleicht greift der Ewige Rat gerade jetzt eine andere Nebelinsel an. Wir könnten helfen. Wir könnten …“
„Herausfinden, was es mit dieser Geheimwaffe auf sich hat.“, unterbrach Eara. „Das zumindest scheint mir ein realistisches Ziel zu sein. Doch dafür müssten wir wissen, wo die Schwarze Kogge als nächstes zuschlägt.“
Leander keuchte auf. „Sturmtal!“, hauchte er.
Chada erstarrte. „Woher weißt du das? Hattest du … irgendeine Vision?“
„Nein!“, rief der Seher hastig. „Es ist nur … der naheliegendste Schluss. Sturmtal ist von hier nicht weit entfernt, und die Taren wären auf diese Armee am schlechtesten vorbereitet.“
„Fragen wir doch Ken Dorr.“, schlug Eara vor. „Was war der Plan des Ewigen Rates? Wie sollte es nach Klippenwacht weitergehen?“
Der Dieb schüttelte mit bedauernder Miene den Kopf. „Leider bin ich darin nicht eingeweiht. Ich sollte euch von Klippenwacht fernhalten, doch die Seefeste ist schneller gefallen als erwartet. Ich muss Leander jedoch widersprechen. Die Schwarze Kogge, das sind Piraten. Sie sind auf Beute aus. Hier konnten sie die Magischen Waffen rauben, aber was wollen sie in Sturmtal? Ein Dorf von Ziegenhaltern und Grasfressern, da gibt es nichts zu holen. Ich halte ein anderes Ziel für naheliegender: Silberhall! Ein Zwergenreich mit Kellern voller Reichtümer. Gefüllt mit Schätzen aus Silber und Perlmutt. Hort des wertvollsten Edelsteins der bekannten Welt. Wenn ich eine Armee hätte, wo sonst würde ich zuschlagen wollen?“ Ken Dorrs Augen nahmen einen verträumten Glanz an, ehe er sich räusperte und verlegen hinzufügte: „Rein hypothetisch, natürlich.“ Von Drukil erklang ein verächtliches Schnauben.
Leander schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Ken Dorr! Silberhall ist sogar schwerer einzunehmen als Klippenwacht. Es gibt nur einen einzigen Eingang, und Meerestrolle passen kaum durch die engen Gänge, von Arrogs ganz zu schweigen.“
Ken Dorr zog die Brauen hoch. „Nun, ich behaupte nicht, Callem so gut zu kennen, dass ich mit Sicherheit wüsste, welches sein nächstes Ziel ist.“ Leise lächelnd fügte er hinzu: „Doch wollt Ihr das von Euch behaupten, Leander? Das würde … einige Fragen aufwerfen.“
Der Seher umklammerte seinen Stab und schwieg. In seinem Gesicht spiegelte sich hilfloser Zorn, den Chada an ihm so noch nie beobachtet hatte.
„Sicher, Silberhall ist ein ehrgeiziges Ziel.“, gestand Ken Dorr nach einer Weile ein. „Keine andere Nebelinsel wäre so schwer zu brechen. Doch wir sollten bedenken, dass das genau die Taktik ist, die der Ewige Rat bisher befolgt hat. Die Rietburg wird belagert, obwohl der Großteil Andors schutzlos daliegt. Klippenwacht wurde zerstört, obgleich in Werftheim mehr ungeschützte Menschen auf engerem Raum leben. Der Schwarze Herold beseitigt alle, die sich ihm widersetzen könnten. Die einfachen Ziele hebt er sich auf. Soweit meine Gedanken.“
„Das stimmt.“, meinte Thorn. Er atmete tief durch und schloss die Augen. Chada konnte sehen, wie er sich bemühte, den Gestank von Blut und das Kreischen der Möwen auszublenden, um sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor ihnen lag. „Ich denke, Silberhall ist das nächste Ziel.“
„Wir sollten nach Sturmtal.“, meinte Leander erstickt. „Und den Taren raten, ihre Heimat zu evakuieren, und sich an einen Ort zu flüchten, der besser verteidigt werden kann. Wenn wir jetzt abstimmen, dann ist das mein Votum.“
„Warum?“, fragte Chada. Sie verstand Leander nicht. Es passte überhaupt nicht zu ihm, so auf seiner Meinung zu beharren, ohne wenigstens gute Gründe anführen zu können. Doch er senkte nur den Kopf, bis sein Gesicht unter der Kapuze nicht mehr zu sehen war. Chada seufzte. „In diesem Fall bin ich ebenfalls für Silberhall.“
„Was Ken Dorr sagt ist plausibel.“, ergänzte Eara. „Die präsentierten Argumente sprechen insgesamt für Silberhall.“ Sie blickte Leander lange an. „Doch vielleicht sind die Argumente, die uns präsentiert wurden, nicht die einzigen, die wir in Betracht zu ziehen haben. Ich stimme für Sturmtal.“
Leander hob erstaunt den Kopf. Ein dünnes Lächeln huschte über seine Lippen.
Drukil räusperte sich. „Dann hängt es an mir, wie es aussieht.“ Er warf Ken Dorr einen kalten Blick zu und Chada zuckte resigniert mit den Schultern. Drukils Meinung war in dem Moment entschieden gewiesen, in dem Ken Dorr die seine verkündet hatte.
Der Hautwandler schnaubte und sagte leise: „Ich verstehe bis heute nicht, was an einer Höhle voller Silber so toll sein soll – aber wenn der eine Dieb sie haben will, dann wohl auch der andere. Ich glaube, Ken Dorr … hat recht.“
Chada war ebenso überrascht, wie Ken Dorr aussah. Er blinzelte mehrfach und versuchte sich an einem vorsichtigen Lächeln, das wirkungslos an Drukils finsterer Miene abprallte.
„Dann ist es entschieden.“, erklärte Eara ohne ein Anzeichen von Bedauern. „Es geht nach Silberhall.“
„Warte!“, rief Thorn. „Was machen wir mit den … den Leichen? Wir können sie nicht den Möwen überlassen!“
„Doch?“, schlug Eara vor. „Die Vögel freuen sich, und wir sparen Zeit und Mühe. Glaube nicht, dass ich meine Kraft darauf verschwende, totes Fleisch zu vergraben.“
Zorn regte sich in Chada. „Eara! Wir reden von einem alten Freund und unschuldigen Menschen.“
„Vor allem reden wir von toten Menschen. Denen es egal sein kann, was wir mit ihnen machen. Hör zu, selbst wenn es unter anderen Umständen den Aufwand wert wäre, jetzt können wir uns das nicht leisten. Die Schwarze Kogge hat nur wenige Stunden Vorsprung, jeder Herzschlag, den wir warten, könnte zählen. Und wie willst du bitte auf einem Felsblock wie diesem fünfhundert Menschen begraben?“
Ohne auf eine Antwort zu warten machte Eara sich auf den Rückweg. Nach kurzem Zögern folgten Leander, Ken Dorr und Drukil. Nur Chada und Thorn blieben zurück.
„Wir könnten sie zumindest verbrennen…“, murmelte Chada.
Thorn ergriff ihre Hand. „Dann wäre jede Chance, sie zurückzuholen, dahin.“
Chada ertrug die Hoffnung in seinem Blick nicht. „Du hast diese Möglichkeit immer noch nicht aufgegeben?“, flüsterte sie.
„Aufgeben liegt mir nicht.“, erwiderte er bitter. „Und dir eigentlich auch nicht.“ Er ließ sie los und kniete sich neben Stinners Leichnam. „Ich kann dich nicht begraben. Doch ich werde mehr für dich tun, alter Freund.“, sagte er heiser. Chada wandte sich ab. Und tat so, als hätte sie nicht bemerkt, wie Thorn eines von Stinners blutverklebten schwarzen Haaren abzupfte und in seine Tasche gleiten ließ.
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M - Silberhall

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:22

M – Silberhall

Sonnenhoch, 21. Wintertag 77 A.Z.
Hohe See östlich Silberlands, Hadrisches Meer

Thorn spürte ein flaues Gefühl in sich aufsteigen, als er einen ersten Blick auf die Bronzeküste werfen konnte. Der Anleger war zerstört, die massiven Balken des Stegs in Stücke gerissen, und eine Spur aus aufgewühltem Schnee und Erdreich zog sich nach Westen ins Landesinnere. In Richtung von Silberhall.
Es gehörte sich nicht für einen Krieger, Angst zu haben, doch er konnte sich nicht dagegen wehren. Die Erinnerungen an Klippenwacht ließen sich nicht so einfach loswerden. Der blutgetränkte Boden. Die unzähligen Toten, zwischen denen die Möwen flatterten. Die Ruinen, über denen der Gestank von Tod und das Kreischen der Möwen hingen. Würde sie das alles auch in Silberhall erwarten?
„Nein!“, hauchte eine Stimme neben Thorn. Chada war zu ihm an den Bug getreten und starrte die eindeutigen Anzeichen dafür an, dass der Ewige Rat bereits vor ihnen hier angekommen war. „Nicht schon wieder!“
Besorgt betrachtete Thorn die dunklen Ringe unter ihren grünen Augen. Sie waren gegen widrige Winde zwei ganze Tage und Nächte durchgesegelt, waren nur langsamer geworden, wenn nachts Wolken vor den noch mehr als halbvollen Mond gezogen waren und sie riskiert hätten, bei einer der Klippen des Hadrischen Meeres auf Grund zu laufen. Doch Thorn wusste, dass nicht die entkräftende Reise hierher für Chadas Erschöpfung verantwortlich war. Auch er selbst hatte es sogar in den Stunden, in denen die anderen für das Schiff verantwortlich waren, nicht gewagt, die Augen zu schließen, aus Furcht vor dem, was ihn erwarten mochte, wenn er sich dem Schlaf nicht länger verweigerte. Leichen, die im Hafenbecken trieben. Das von Möwen zerstörte Gesicht Stinners.
„Noch sind wir vielleicht nicht zu spät.“, sagte Thorn rau.
Chada nickte langsam und riss ihren Blick von der Bronzeküste los. „Nein. Das sind wir nicht.“ Sorgen gruben Falten in ihr Gesicht. Doch in ihren Augen funkelte nur Entschlossenheit. „Das dürfen wir nicht sein!“

Sie vertäuten die Aldebaran II an den Überresten des Steges. Da sie niemanden an Bord zurücklassen wollten und nicht wussten, ob noch Kreaturen oder Schlimmeres in der Nähe waren, nahmen sie neben ihren Waffen alles mit, was dem Ewigen Rat nicht in die Hände fallen sollte. Chada trug die kleine, bläulich schimmernde Metalltruhe, die Kenvilar ihnen als letztes Mittel gegen Varkur geschenkt hatte. Drukil war die tote Frucht anvertraut, das junge Herz der Geburt. Leander schleppte die Steintafel, auf der Themauras seine Botschaft vom mysteriösen dritten Herzen eingekerbt hatte, sowie den Lavastein in Form eines verschlungenen Bandes, sein Abschiedsgeschenk aus Danwar. Einzig Ken Dorr, der seine Sachen sonst wie seinen Augapfel hütete, begnügte sich mit einem Trinkschlauch. Thorn selbst steckte nur ihr letztes verbliebenes Gold und das Haar von Stinner in den Beutel an seinem Gürtel.
So schnell sie konnten brachen sie auf. Sie schwiegen und sparten sich ihren Atem, um möglichst schnell voranzukommen. Die Mauerberge rückten quälend langsam näher. Nach dem zweiten Teil einer Stunde blieb Drukil, der vorne lief, plötzlich stehen. Eilig schloss Thorn auf, die anderen folgten.
„Sie sind wieder zurückgekommen.“, meinte Drukil wütend und Thorn betrachtete die breiten Furchen im Boden, die wahrscheinlich von Arrogs hinterlassen worden waren. Sie teilten sich, führten sowohl zur Mine nach Westen als auch nach Süden. „Die alte Spur ist schon zum Teil eingeschneit, die neue noch nicht.“
Thorn wischte sich etwas Schweiß von der Stirn, der sich dort trotz der Kälte gesammelt hatte, und ließ seinen Blick nach Westen wandern. Er sah deutlich die gegabelte Spitze des Silberbergs, an dessen Fuß der Eingang zu Silberhall lag, doch mehr konnte er nicht erkennen. Sie hatten erst den halben Weg zurückgelegt.
„Der Ewige Rat hat bisher noch keine Belagerung vorzeitig abgebrochen.“, meinte Leander düster.
„Vielleicht sollten wir lieber den frischen Spuren folgen.“, schlug Eara vor. „Dort werden wir mehr über die Geheimwaffe des Ewigen Rates herausfinden können als in einer zerstörten Mine.“
Thorn zuckte zusammen. Eine zerstörte Mine? War das alles, was noch von Silberhall übrig war? War der Ewige Rat ihnen schon wieder zuvorgekommen? Würden sie nur eingestürzte Stollen, geplünderte Keller und die Leichen von Zwergen erwarten, wenn sie ihren Weg fortsetzten?
„Es muss nicht so sein!“, erwiderte Chada fest. „Wir sind bis hier gesegelt, jetzt lasst uns noch bis Silberhall gehen.“ So leise, dass außer Thorn und vielleicht Leander wohl niemand es verstehen konnte, fügte sie hinzu: „Und beten, dass Klippenwacht sich nicht wiederholt.“
„Worauf warten wir dann noch?“, fragte Ken Dorr müde.


Früher Nachmittag, 21. Wintertag 77 A.Z.
Eingangshalle im Kupferbezirk, Silberhall

Der Eingang nach Silberhall war mehr als acht Schritt breit, doch ein massives steinernes Tor war geschlossen worden, um die Kreaturen aufzuhalten. Nicht sonderlich erfolgreich, einer der Torflügel war mit brachialer Gewalt zertrümmert worden. Thorn konnte sich keinen Rammbock vorstellen, der dazu imstande wäre. Dann jedoch dachte er an die Furchen im Boden und stellte sich einen Arrog vor, der auf das Tor einschlug mit seinen riesigen, zerfurchten Pranken, von denen bis heute niemand wusste, ob sie aus Horn oder Fels bestanden. Wie viele Schläge er wohl gebraucht hatte?
Thorn stieg direkt nach Eara durch das Loch und sah sich angespannt in der Eingangshalle um. Die Fackeln waren gelöscht, die silbernen Reliefs an den Wänden zerschlagen. Doch er konnte keine toten Silberzwerge im Zwielicht erspähen, nur vereinzelt einen erschlagenen Nerax. Langsam schritt er über den glattpolierten Steinboden der Eingangshalle weiter ins Innere der Mine. Blutlachen glänzten zu seinen Füßen, in denen rotes und schwarzes Blut sich zu dunklen Schlieren vereinigte. Am meisten Hoffnung machten ihm die hölzernen Barrikaden, die zumindest einen Teil der Wege blockierten und die allesamt noch intakt aussahen. Hinter einigen von ihnen meinte er hastige Bewegungen ausmachen zu können. Dann erklang eine raue Stimme und ihm wurde schwindelig vor Erleichterung. „Arratoc! Keinen Schritt weiter! Wer ist da?“
„Ich bin Prinzessin Chada von Andor, bei mir sind Helden von Andor. Wir sind so schnell wie möglich …“
Weiter kam Chada nicht, denn ein ohrenbetäubendes Dröhnen erklang, das jeden anderen Ton verschluckte und die Wände vibrieren ließ. Erst als es verstummte hörte Thorn den Trupp Silberzwerge, der aus einem der Eingänge im Gleichschritt auf sie zu rannte. Eine Stimme brüllte etwas auf zwergisch und Thorn meinte Angst darin zu hören. Aus dem Augenwinkel sah Thorn, wie Leander sich versteifte. Doch er hatte nur Augen für Chada, die sich verwirrt zu ihm umdrehte. Kurz trafen sich ihre Blicke, dann schrie sie überrascht auf und knickte ein. Im nächsten Moment fühlte er einen brennenden Streifen an seiner Wange.
Sofort hechtete Thorn nach vorne, griff Chada an der Hand und zog sie zurück. Aus den verbarrikadierten Seitengängen vernahm er ein dumpfes Sirren und etwas bohrte sich in den toten Nerax direkt neben ihm. Thorn verschwendete keine Zeit mit einem Blick zurück, er zog Chada hoch und hastete weiter. Er merkte, dass sie humpelte, aber er konnte nicht zu langsam werden, die stampfenden Schritte waren schon viel zu nahe. Verzweifelt betrachtete Thorn das zerstörte Tor. Nicht so nahe, wie er es sich wünschen würde, ohne jede Deckung, und je näher sie dem Eingang kämen, desto besser wären sie für die Zwerge mit ihren merkwürdigen Fernwaffen zu sehen.
„Hier entlang!“, rief eine hohe Stimme. Thorn sah Ken Dorr in einem der Seitengänge verschwinden, den die Zwerge nicht abgeriegelt hatten, und lief ohne Zögern hinterher. Chada klammerte sich an seine Schulter.
Kurz meinte Thorn, sie wären in eine Sackgasse gelaufen. Nur ein kleiner verwüsteter Raum erwartete sie, mit zerrissenen Pergamenten und einer erloschenen Fackel auf dem Boden, in dem fast kein Platz mehr war, nachdem auch Drukil, Leander und Eara zu ihnen gestoßen waren. Ken Dorr machte irgendetwas an der Rückwand und eine kleine Tür schwang auf. Dahinter lag ein rechteckiger Gang, der selbst für einen Zwerg eng gewesen wäre. Thorn zog sein Schwert und wartete, bis die anderen sich auf allen Vieren hineingequetscht hatten. Der Trupp Silberzwerge erschien am Eingang der Kammer. Der Vorderste, ein Zwerg mit feuerrotem Bart und einer farblich dazu passenden Narbe auf der Stirn, schrie erzürnt, aber war noch zu weit weg, um zu verhindern, dass zuletzt auch Thorn sein Schwert zurücksteckte und sich in den Gang zwängte. Seine Schultern schrammten schmerzhaft über eine Kante, dann war er drinnen, warf die Tür zu und presste seine Füße dagegen. Dunkelheit umfing ihn.
„Weiter! Das wird sie nicht lange aufhalten!“, rief Ken Dorr irgendwo weiter vorne ungeduldig.
Fluchend tastete Thorn sich weiter. Seine Schultern waren zu breit, er musste sie schräg halten, und sein Rücken streifte unangenehm über die Decke, während er keuchend auf Knien und Händen weiterrutschte. Hinter ihm öffnete sich vernehmlich die kleine Tür und er hörte wieder die Stimmen der Silberzwerge. Metall kreischte über Stein, wahrscheinlich pressten sich die Zwerge in ihren Rüstungen hinterher. Dann sah er Thorn vor sich Licht und krabbelte in eine Kammer, kaum größer als die, aus der sie aufgebrochen waren, zumal ein halbes Dutzend Fässer herumstand.
Kaum war er aus der Öffnung gefallen, warf Drukil eine unscheinbare Tür zu und lehnte sich mit der Schulter dagegen. Thorn richtete sich stöhnend auf und schob zusammen mit Ken Dorr drei der Fässer vor die Geheimtür. Auf der anderen Seite rüttelte etwas, aber selbst nachdem Drukil einen Schritt zurück gemacht hatte, bewegten sich die Fässer nicht.
Erschöpft ließ Thorn sich zu Boden sinken. Überall an Schultern und Rücken brannten Schürfwunden. „Was zum Chaos ist gerade passiert?“, fragte er fassungslos in die Runde.
„Sie haben uns angegriffen. Auf uns geschossen.“, stammelte Chada. Ihr Gesicht war blass und mit Schaudern bemerkte Thorn den Pfeil, der so tief in ihrem Unterschenkel steckte, dass die Spitze eigentlich auf der anderen Seite hätte herausschauen müssen. Etwas Blut lief ihr Bein hinab, aber noch verstopfte der Pfeil die Wunde. „Haben sie nicht verstanden, wer wir sind?“, flüsterte sie zitternd.
„Das haben sie.“, erwiderte Leander nachdenklich. „Die Helden! Lasst sie nicht entkommen! Das haben sie gerufen. Und immer wieder: Sie sind zurück!
Ratloses Schweigen machte sich breit, nur unterbrochen von ihren abgehackten Atemzügen. Eara beugte sich über Chadas Bein, griff mit ihrer Hand aus Schatten nach dem Pfeil und riss ihn mitleidlos heraus. Chada schrie spitz und Blut floss aus der Wunde, aber die Dunkle Magierin legte die unheimliche Hand auf die Verletzung, ein sanftes Licht flackerte auf der Spitze ihres Stabes und die Haut schloss sich. In Chadas Gesicht kehrte etwas Farbe zurück.
„Seit wann benutzen Zwerge Bögen? Wozu braucht man die überhaupt in irgendwelchen Stollen?“, überlegte Eara und beinahe wäre Thorn die Erschöpfung in ihrer Stimme entgangen.
„Keine Bögen.“, antwortete Ken Dorr schwach und hob das Geschoss hoch, das Chada getroffen hatte. Es war kürzer als ein Pfeil, erkannte Thorn. Ein Bolzen.
„Das waren Arcuballisten.“, erläuterte Ken Dorr. „Ebenfalls keine typische Zwergenwaffen, aber in Werftheim sind sie gebräuchlich. Vielleicht haben die Silberzwerge sie von dort gekauft oder abgeschaut.“
Er schüttelte den Kopf. „Jetzt, wo wir alle wieder laufen können, müssen wir weiter.“
„Weiter wohin?“, fragte Thorn unwirsch.
Ken Dorr sah ihn unbewegt an. „Egal erstmal. Hauptsache weg von hier! Die Silberzwerge wissen bestimmt, wo der Gang hinführt, durch den wir entkommen sind.“
Thorn verfluchte in Gedanken den Dieb, weil er recht hatte, obwohl der Boden gerade so bequem war. Mühsam rappelte er sich auf und half Chada auf die Beine. Erschöpft liefen sie weiter.


Später Nachmittag, 21. Wintertag 77 A.Z.
Nebengänge im Kupferbezirk, Silberhall

Ken Dorr führte sie zielstrebig durch die schmalen Gänge Silberhalls. Nach links, zweimal nach rechts, eine steile Treppe hinab. Als Leander mitteilte, dass er von vorne Schritte hören konnte, wandte Ken Dorr sich ohne zu zögern zu einer Statue in einer Seitennische, betätigte irgendeinen Mechanismus an ihrem Sockel und scheuchte sie in einen Gang, der sich überraschend öffnete. Auf der anderen Seite führte er sie durch ein paar Gänge, zu deren Seiten sich viele kleine Türen auftaten, die nach Wohnungstüren aussahen. „Was, wenn jemand nach draußen kommt und uns sieht?“, fragte Thorn keuchend.
Ken Dorr drehte sich nicht um. „Habt Ihr das Alarmhorn gehört? Kein Zivilist wird zur Zeit freiwillig aus der Tür treten.“
Das Alarmhorn. Thorn dachte an das Dröhnen, von dem der Boden gezittert hatte. Wie sollte irgendjemand ein Horn solcher Lautstärke blasen können?
Ken Dorr führte sie bald wieder in verlassenere Regionen, öffnete an einer Wand einen Durchgang, den Thorn in hundert Jahren nicht gefunden hätte, und führte sie zu einer Kreuzung, bewacht nur von einer tiefschwarzen Zwergenstatue mit grimmiger Miene und versilberter Spitzhacke. Dort betrat er eine kleine Seitenhöhle und schloss vorsichtig die Tür hinter ihnen. Eara erleuchtete mit ihrem Stab die Kammer und Ken Dorr ließ sich auf eine Kiste fallen. „Hier sollte uns vorerst niemand finden.“
Sie ließen sich ein paar Herzschläge, um zu Atem zu kommen. „Wie geht’s jetzt weiter?“, fragte Drukil schließlich.
Thorn schüttelte den Kopf. „Ich will wissen, warum sie uns angegriffen haben. Wenn sie uns erkannt haben … Ich verstehe es nicht. Wir sind mit den Silberzwergen gut befreundet, sie haben uns sogar ihren kostbaren Sturmschild geschenkt.“ Ein beängstigender Gedanke zuckte ihm durch den Kopf. „Könnte es sein, dass sie unter einem Zauberbann stehen? Die Schwarze Kogge, da sind Hexer und Druiden dabei!“
„Ich glaube nicht, dass irgendjemand imstande wäre, seinen Willen einem ganzen Volk zugleich aufzuzwingen.“, entgegnete Eara. „Aber vielleicht reicht es, den Fürsten zu kontrollieren? Wenn der Ewige Rat irgendwie Fürst Grom steuern kann, dann …“
„Hätten die Zwerge längst Verdacht geschöpft, wenn er aus heiterem Himmel befiehlt, uns anzugreifen.“, meinte Chada. Sie zögerte. „Ihr glaubt nicht, dass die Silberzwerge dem Ewigen Rat freiwillig helfen, oder?“
Thorn runzelte die Stirn. „Weshalb sollten sie?“
„Weil eine Armee in ihre Hallen eingedrungen ist und droht, das ganze Volk zu ermorden?“, schlug Leander leise vor. „Der Ewige Rat hat noch keine Belagerung vorzeitig abgebrochen. Aber wenn die Silberzwerge kapituliert haben …“ Er schüttelte schwach den Kopf. „Doch es erscheint mir zumindest merkwürdig, dass sie so schnell aufgegeben haben sollen. Am besten wäre es, wenn wir mit Fürst Grom sprechen könnten, aber ich wüsste nicht, wie das möglich sein soll.“
„Ich schon.“, lächelte Ken Dorr. Er winkte sie wieder nach draußen auf die Kreuzung, stellte sich vor die schwarze Zwergenstatue und blickte nach links in einen hohen Gang mit silbernen Verzierungen an den Wänden. „Nach dort geht der Weg zum Thronsaal, aber da brauchen wir es nicht erst zu versuchen. Wenn die Silberzwerge unsere Feinde sind oder sich dafür halten, werden sie diesen Weg am besten beschützen.“
Er deutete in die andere Richtung eine breite Treppe hinab. „Dort entlang geht es in die Schillernde Grotte, wo die Silberzwerge ihre Schätze aufbewahren. Mit Sicherheit ebenfalls bewacht, aber sie werden nicht vermuten, dass dort unser erstes Ziel liegt. Doch es gibt eine versteckte Verbindung von der Schatzkammer direkt in den Thronsaal. So könnten wir zum Fürsten gelangen, ohne dass sie uns erwarten.“
„Das klingt gut.“, sagte Leander anerkennend. „Aber dürfte ich erfahren, weshalb du dich in Silberhall so verdächtig gut auskennst?“
„Wollt Ihr Euch lange Geschichten anhören, oder wollt Ihr zu Fürst Grom?“, zischte Ken Dorr verärgert. Ohne ein weiteres Wort eilte er die Treppe hinab. Thorn wechselte einen schnellen Blick mit Chada, dann folgten sie ihm.


Später Nachmittag, 21. Wintertag 77 A.Z.
Schillernde Grotte im Silberbezirk, Silberhall

Einmal noch mussten sie einem patrouillierenden Trupp Silberzwerge ausweichen, indem sie Ken Dorr durch einen versteckten Seitengang folgten, dann erreichten sie einen großen Raum mit einer runden Feuerschale an der Decke. Zwei Dutzend gut gerüstete Silberzwerge bewachten ein großes geschlossenes Metalltor, das entweder aus massivem Silber bestand oder – da dieses Tor der Verteidigung diente, war das wahrscheinlicher – zumindest damit überzogen war. In der Mitte entdeckte Thorn auch den Zwerg mit dem roten Bart und der Narbe von vorhin, er besprach leise etwas mit einem schwarzhaarigen Silberzwerg, der eine der verhassten Arcuballisten trug. Hastig presste Thorn sich an die Wand. Noch waren sie nicht bemerkt worden.
„So etwas war zu befürchten.“, flüsterte Ken Dorr. „Wir müssen sie irgendwie loswerden. Und ich werde mindestens den fünften Teil einer Stunde brauchen, um dieses Tor aufzubekommen.“
„Wenn ich los sage, rennt ihr los.“, verkündete Eara ruhig.
Thorn blinzelte. „Was hast du …“
„Los!“ Ein jäher Windstoß löschte alle Fackeln in ihrem Gang und die große Feuerschale vor dem Silbertor. Sofort waren die Zwerge vor dem Tor in Aufruhr, einer rief etwas, dann ertönte der helle Klang eines Horns. Thorn rannte blind in die Richtung, in der er das Tor vermutete und dachte sich ein paar Beleidigungen für Eara aus.
Plötzlich knallte es so laut, dass seine Ohren klingelten. Der Raum erbebte und ein gleißendes Licht erstrahlte vor ihm. Nur langsam erkannte Thorn das gewaltsam ein Stück aufgedrückte Metalltor, aus dem Spalt drang silbriges Licht hervor, und davor die geschockten Zwerge. Diejenigen, die sich in direkter Nähe des Tors aufgehalten hatten, waren zu Boden geworfen worden und Thorn konnte sie einfach überspringen. Er hastete durch das verbogene Tor. Seine Schulter streifte glühend heißes Metall und er musste einen Schmerzenslaut unterdrücken. Dann war er durch.
Drukil und Chada waren noch schneller gewesen, Leander ließ sich von Ken Dorr durch die Öffnung ziehen. Thorn konnte noch einen kurzen Blick auf die erzürnten Zwerge werfen, dann fiel das Tor mit einem grauenhaften Kreischen wie von selbst zu. Es war so verbogen, dass es eine tiefe Kerbe im Boden hinterließ, aber überraschenderweise schloss es lückenlos.
Schwer atmend drehte Thorn sich um und bemerkte erst jetzt die überwältigende Höhle vor sich. Ein gigantischer Saal erstreckte sich vor ihm, voll von hohen Regalen, zwischen denen breite Gänge weiterführten. Die Schillernde Grotte trug ihren Namen zurecht. Die gesamte Decke glänzte silbern und verteilte das Licht der Fackeln zwischen den Regalreihen. Wände erblickte Thorn nicht und er fragte sich schon, wie das Gewölbe ohne jede Säule gestützt werden konnte, dann begriff er, dass auch die Wände mit Silber überzogen waren und die Regale verzerrt reflektierten, sodass die Schillernde Grotte sich scheinbar grenzenlos in alle Richtungen ausbreitete.
„Wo ist Eara?“, fragte Chada erschöpft. Thorn schreckte zusammen, drehte sich um und betrachtete müde das geschlossene Tor. Er schluckte. „Sie kann auf sich aufpassen.“, murmelte er. Doch Eara war schon nach Chadas Heilung erschöpft gewesen, und Thorn befürchtete, dass das aufgesprengte Tor sie viel Kraft gekostet hatte. Warum war sie ihnen nicht gefolgt? Er schob den Gedanken an eine ohnmächtige Magierin mitten im Gang beiseite. Sie hatte zumindest das Tor hinter ihnen zufallen lassen, also war sie noch wach.
Ken Dorr stakste an ihm vorbei und breitete die Arme aus. „All diese Reichtümer! Die Schätze der Silberzwerge! Ich bin tatsächlich hier!“, lachte er. Er ging zum nächsten Regal und strich über einen Silberbarren.
„Ken Dorr!“, zischte Chada. „Wage es ja nicht!“
Der Dieb schüttelte traurig den Kopf und ließ die Hand sinken. Er setzte an etwas zu sagen, doch da kreischte die Tür wieder. Thorn fuhr rechtzeitig herum, um zu sehen, wie ein Ruck durch einen der Türflügel ging und er sich ein kleines Stück aufschob. „Eara?“ fragte er hoffnungsvoll. Wie zur Antwort öffnete sich die Tür noch ein bisschen weiter und Rufe auf zwergisch erschollen, gefolgt von einem vielstimmigen Ächzen und einem weiteren Ruck.
„Ken Dorr!“, rief Thorn eilig. „Wohin müssen wir als nächstes?“
Wortlos rannte der Dieb los, zwischen den Regalen hindurch, und die anderen folgten ihm. Aus den Augenwinkeln registrierte Thorn zu beiden Seiten sorgsam aufgestapelte Silberbarren. Ken Dorr erreichte das Ende der ersten Regalreihe und wandte sich nach links. Von hinten vernahm Thorn ein weiteres Kreischen und triumphierende Schreie. Zweifelsohne hatten die Zwerge das Tor weit genug geöffnet. Er drehte sich nicht um und wandte sich ebenfalls nach links.
Sie eilten an gut einem halben Dutzend Regalen vorbei, dann bemerkte Thorn plötzlich von vorne Gestalten, die ihnen entgegenkamen. Er wurde langsamer und griff nach seinem Schwert, dann erst erkannte er, dass es sich bloß um ihre eigenen verzerrten Spiegelbilder in der Silberwand handelte.
Ken Dorr bog erst vor dem letzten Regal direkt an der Wand nach rechts ab. Thorns Beine brannten inzwischen vor Erschöpfung, seine Kehle war staubtrocken. Er hatte schon seit Stunden nichts mehr getrunken.Während er ebenfalls abbog und wieder zwischen Regalen voller Silberbarren hindurcheilte, stellte er sich vor, nicht ein Zwergenfürst, sondern ein frischer Brunnen sei sein Ziel. Er hatte schon immer viel getrunken, Chada hatte oft gescherzt, er könne einen ganzen Brunnen alleine leersaufen. Jetzt fühlte er sich, als könnte er das tatsächlich.
Auf den nächsten Regalen lagen nicht mehr Silberbarren, sondern Perlen aufgereiht, glitzernd wie Tautropfen. Auch sie zogen vorbei, und dann hatten sie die Regale hinter sich gelassen. Ken Dorr starrte stirnrunzelnd auf eine Tür mit Einlegearbeiten aus Perlmutt und einem kompliziert aussehenden Schloss und zog von irgendwo einen silbernen Gegenstand hervor. „Das ist ein Casamatuc!“, keuchte Thorn. „Woher …“
„Verschafft mir Zeit!“, zischte Ken Dorr und trat an die Tür. Thorn drehte sich um und bemerkte erschrocken, dass die Silberzwerge soeben zwischen der letzten Regalreihe auftauchten. Der hartnäckige Zwerg mit dem roten Bart hob im Laufen grimmig seine Axt. Thorn griff nach dem Beutel an seinem Gürtel. Stinners Haar und ihre letzten Goldstücke, sonst nichts. Ob die Silberzwerge sich bestechen ließen? Fast hätte er aufgelacht, so absurd war der Gedanke. Sie standen in einem riesigen Keller voller Reichtümer und er wollte seine Verfolger mit ein paar kümmerlichen Münzen aufhalten?
Chada hatte ihren Bogen vom Rücken genommen und hielt einen Pfeil in der Hand, aber wollte offensichtlich nicht auf die Silberzwerge schießen. Leander stützte sich schwer keuchend auf seinen Stab und tat ansonsten nichts. Drukil stand breitbeinig vor dem Gang zwischen den Regalen und erschauderte. „Ich war hier schonmal.“, flüsterte er. Langsam legte er den Kopf in den Nacken. „Ich habe das schon erlebt. Der Schwarze Stein…“ Er schüttelte sich. „Ich weiß, wie wir sie aufhalten können.“ Er ging steif zum Regal an der Wand und begann an den Brettern zu rütteln. Thorn zögerte und stellte sich dazu. Er wusste nicht, was Drukil sich erhoffte, aber gemeinsam gelang es ihnen tatsächlich, das Regal zum Wanken zu bringen.
Die Zwerge hatten bereits den dritten Teil des Weges zurückgelegt, als das Regal sich ein Stück nach innen neigte. Aus den obersten Fächern rollten vereinzelte Perlen herab und klackerten auf dem Boden. Erst als einer der Zwerge darauftrat und fluchend zu Boden ging, begriff Thorn den Plan Drukils. Mit aller Kraft zog er wieder am Regal und es kippte erneut, ein klein wenig weiter diesmal. Perlen rollten herab, einige Silberzwerge ohne Helm hoben schützend die Arme über den Kopf. Manche stolperten. Ganz vorne lief noch immer der rotbärtige Zwerg, direkt am Regal, wohin die Perlen aus den oberen Fächern nicht fielen.
Chada gesellte sich zu ihnen und zog mit. Das Regal knirschte und kippte, bis es genau auf der Kante stand. Aus den vereinzelten Perlen wurden ganze Ströme. Die Tautropfen wurden zu einem dichten Regen aus Perlmutt. Noch mehr Zwerge stürzten; der Anblick der über den Boden rollenden Zwerge hätte ihn in einer anderen Situation auflachen lassen.
Plötzlich neigte sich das Regal noch weiter, nahm an Schwung auf. Sofort hörte Thorn auf zu ziehen und drückte stattdessen dagegen, doch zu spät – das Unglück war nicht mehr aufzuhalten. Ein dunkler Schatten senkte sich auf die Silberzwerge, als das Regal das Licht der silbernen Decke blockierte. Die meisten Silberzwerge hielten entsetzt inne, die ersten rannten geistesgegenwärtig zurück, stürzten, wenn sie ihre Stiefel auf die Perlen setzten, wurden von ihren Kameraden auf die Beine gezogen. Nur der Zwerg mit dem feuerroten Bart und der Narbe auf der Stirn hatte bereits die Hälfte des Weges überschritten. Unbeirrt rannte er weiter.
Das Regal kippte endgültig. Thorn musste zurückspringen, ein lauter Knall ertönte, als die obere Kante des Regals an die nächste Regalreihe stieß und auch sie ins Wanken brachte. Die letzten Perlen prasselten laut zu Boden. Die meisten Zwerge hatten sich aus dem Schatten des Regals gerettet, aber vorne lief noch immer der rotbärtige Zwerg, jetzt nur noch zehn Schritt vom Ausgang entfernt. Noch acht. Noch sechs.
Dann fuchtelte er plötzlich mit den Armen, Perlen rollten unter ihm davon, als er zu Boden ging. Thorn konnte noch einen letzten Blick auf sein grimmiges Gesicht werfen, dann donnert das Regal endgültig zu Boden, begrub das Meer aus Perlen und den Zwerg unter sich.
Thorn wich zurück. Mit einem lauten Schlag fiel auch das zweite Regal und schubste das dritte. Das Schlagen von Holz auf Stein und das tosende Prasseln tausender Perlen donnerte noch lange durch die Schillernde Grotte. Dann wurde es still. Totenstill.
Ken Dorr stellte sich neben Thorn und ließ seinen Blick über die umgeworfenen Regale wandern. „Nicht schlecht. Das wird sie eine Weile aufhalten.“, meinte er anerkennend.
„Ich habe das nicht gewollt.“, stieß Thorn wütend hervor. „Mindestens einer von ihnen ist gestorben!“
Ken Dorr lächelte stumm. Gleichgültigkeit lag in seinen grauen Augen und er deutete einladend auf die geöffnete Tür.
Auf der anderen Seite der Verwüstung schrie einer der Silberzwerge wütend. Eine Arcuballiste wurde abgefeuert, aber der Bolzen verfehlte sie deutlich. Dennoch betrat Thorn eilig den dunklen Gang, der sich hinter der von Ken Dorr geöffneten Tür auftat.
Der Dieb ging direkt hinter ihm, plötzlich hörte Thorn einen leisen Fluch und bekam einen Stoß. Er taumelte nach vorne und stieß schmerzhaft mit dem Ellenbogen an einen Hebel in der Wand.
Ein lautes Rasseln erscholl und dann ein Knall. Erschrocken fuhr Thorn herum. Ein Fallgitter hatte sich aus der Decke gesenkt und versperrte Chada, Leander und Drukil den Weg zu ihnen.
„Was sollte das, Thorn?“, fragte Ken Dorr ungehalten. „Haltet Ihr es für klug, einfach an irgendwelchen Hebeln zu ziehen?“
Die Dreistigkeit verschlug Thorn zuerst den Atem. „Wie bitte?“, fuhr er Ken Dorr an. „Glaubst du etwa, ich habe ihn absichtlich gezogen? Wenn du mich nicht geschubst hättest …“
„Glaubt Ihr etwa, ich bin absichtlich gestolpert?“, gab der Dieb beleidigt zurück.
„Kein Streit!“, verlangte Leander von der anderen Seite des Fallgitters und Thorn schluckte seine bissige Antwort herunter.
„Wie öffnen wir den Weg wieder?“, fragte Drukil ungeduldig und rüttelte probehalber an den armdicken Metallstäben.
„Keine Chance.“, meinte Ken Dorr resigniert. „Das ist die letzte Verteidigungslinie, kein Feind sollte hier so einfach durch. Von unserer Seite sollte es hoffentlich möglich sein, das Gitter wieder zu heben.“
Das hoffentlich gefiel Thorn gar nicht. Er zog den Hebel wieder nach oben, doch wie befürchtet tat sich nichts.
„Beeilt euch.“, bat Chada ernst. „Wir haben unsere Verfolger aufgehalten, aber sie werden bald hier sein. Und ich will nicht, dass … noch jemand stirbt.“
Thorn nickte stumm. Zusammen mit Ken Dorr eilte er den Gang entlang. An den Wänden waren prächtige Reliefs aus Silber, in die kunstvoll Edelsteine und Perlen eingearbeitet waren. Dazwischen spendeten schillernde Scheiben aus Perlmutt ein kaltes Licht. Doch nichts, was im Entferntesten wie eine Möglichkeit aussah, das verfluchte Fallgitter loszuwerden.
Vor ihnen spaltete der Weg sich auf. „Wo lang?“, fragte Thorn.
Zum ersten Mal schien Ken Dorr sich unsicher, welchen Weg sie nehmen sollten. „Ihr nach links, ich nach rechts.“, schlug er nach einer kurzen Pause vor. „Haltet Ausschau nach Seilwinden, Hebeln oder …“
„Danke, ich weiß Bescheid!“, grummelte Thorn und folgte dem linken Gang. Er gelangte in einen weitläufigen Saal. Truhen und Schränke säumten die Wände, überall funkelte es verheißungsvoll. Ungeduldig lief er an Schaukästen voller Kostbarkeiten vorbei, die er kaum eines Blickes würdigte. So beeindruckend die Schillernde Grotte mit ihren gewaltigen Regalen voller Silber und Perlen auch gewesen war, das hier war das Allerheiligste. Die wertvollsten Schätze Silberhalls. Unter anderen Umständen hätte Thorn sich hier nur zu gerne länger aufgehalten, doch er hatte nicht die Zeit, sich irgendetwas näher anzusehen und bekam nur flüchtige Eindrücke mit.
Eine kleine silberne Truhe, ganz ähnlich der, die sie von Kenvilar bekommen hatten. In einer Vitrine ein prunkvoller Kriegshammer, die Runen im Metall summten leise. Ein großes Becken, das sofort Thorns Durst wieder entfachte, doch im Inneren war kein Wasser, sondern eine silbern glühende Flüssigkeit, in der sich langsam verzerrte Gesichter bildeten und wieder auflösten, weshalb Thorn dankend auf eine Erfrischung verzichtete. Hinter einer Kristallscheibe stand ein Himmelsglobus, der sich von selbst weiterdrehte, direkt daneben ein mit Edelsteinen besetzter Hadrischer Kompass. Kleine, perfekt ausgearbeitete Silberfiguren mit winzigen Perlen als Augen. Ein mannshoher Silberspiegel, in dem Thorn sich selbst sah, wie er vor mehr als zehn Jahren ausgesehen hatte. Kurz stockte er vor einem Glaskasten, in dem mehrere Halsketten aufgereiht lagen. In der Mitte glänzte ein silbernes Amulett in Form einer Raute, mit Mustern von Blumen und Ranken überzogen. Es sah nicht exakt so aus wie das magische Amulett, das Chada von ihrer Mutter Mhare vermacht bekommen hatte, aber die Ähnlichkeit war dennoch eindeutig zu groß, um Zufall zu sein. „Ein Rätsel für einen anderen Zeitpunkt.“, murmelte er seufzend und ging weiter.
Er war noch nicht einmal die Hälfte der ersten Wand abgegangen, als er aus der Ferne etwas hörte. Ein leises Klirren vielleicht. Er blieb stehen und spitzte die Ohren. Im nächsten Moment erreichte ihn das Echo von Ken Dorrs Stimme, die seinen Namen rief. Sofort machte er kehrt, eilte zur Kreuzung und folgte diesmal dem rechten Gang.
Ein Saal breitete sich vor ihm aus, ähnlich vollgestopft mit Kostbarkeiten wie der, aus dem er kam. Von Ken Dorr keine Spur. Kurz fiel sein Blick auf einen hohen weißen Sockel im Zentrum, mit einer durchscheinenden Kuppel aus Glas oder Kristall, von der nur Scherben übrig waren. Dann traf ihn etwas Hartes am Hinterkopf und alles wurde schwarz.


Später Nachmittag, 21. Wintertag 77 A.Z.
Schillernde Grotte im Silberbezirk, Silberhall

Etwas floss kühl über sein Gesicht und benetzte seine rissigen Lippen. Stöhnend öffnete Thorn den Mund und schluckte ein paar Tropfen köstlichen Wassers.
„Sehr gut, Ihr seid wach!“, sagte eine hohe, kalte Stimme. Er blinzelte und erkannte Ken Dorr, der über ihm stand und seinen Trinkschlauch über Thorns Kopf ausleerte.
Thorn ächzte und setzte sich auf. Sofort wurde ihm schwindelig, sein Schädel dröhnte. Er war aufgewacht, wo er zuletzt gestanden hatte. „Was … was ist passiert?“, murmelte Thorn benommen. „Du hast mich gerufen, aber du warst nicht hier. Dann ein fürchterlicher Schlag…“
„Ich habe eine Winde gefunden, mit der wir das Fallgitter vielleicht heben können. Doch ich alleine war nicht stark genug, um sie zu betätigen. Sie ist dort hinten halb im Schatten.“, erläuterte Ken Dorr und zeigte ins Halbdunkel. Tatsächlich meinte Thorn den groben Umriss einer großen metallenen Kurbel auszumachen.
„Was den Schlag betrifft: Entweder das war eine gemeine Falle, oder Ihr hattet einfach unglaubliches Pech.“ Ken Dorr stupste mit dem Fuß eine massive silberne Statue an, die einen fetten kleinen Drachen nachbildete. „Vielleicht solltet Ihr nicht so fest durch die Gänge trampeln, dass die Schätze aus ihren Fächern fallen.“ Thorn betrachtete finster die Ablage oberhalb der Tür und betastete die Beule an seinem Hinterkopf. Warum hatte er nie einen Helm, wenn er einen brauchte?
„Wie lange war ich weg?“, fragte er missmutig.
„Keine fünfzig Herzschläge.“ Ken Dorr zog ihn auf die Beine. Thorn hatte stechende Kopfschmerzen. Er schlug einen weiten Bogen um die hinterhältige Drachenstatue und beeilte sich, zur Winde zu kommen. Zu zweit war es kein Problem, die Kurbel zu betätigen, die Kette rollte sich leise klirrend auf.
Sie beschlossen, dass vier Umdrehungen reichen mussten. Anschließend setzte Thorn sich auf eine große silberne Truhe, die noch unbequemer war, als sie aussah. Am liebsten wäre er sofort zum hoffentlich geöffneten Fallgitter gerannt, doch er war noch wackelig auf den Beinen und musste sich zuerst ausruhen, bevor er überprüfen konnte, ob sie den richtigen Mechanismus betätigt hatten. Sein Blick fiel auf den Sockel mit der zerbrochenen Glaskuppel in der Mitte der Halle, der ihm schon vorhin aufgefallen war. Eine weiße Säule mit einem roten Samtkissen darauf, in dem nur noch ein unförmiger Abdruck von dem Schatz kündete, der hier einst gelegen haben mochte. „Was hat es damit auf sich?“
„Das war schon so, als ich kam.“, meinte Ken Dorr achselzuckend. Ehe er noch mehr sagen konnte, stießen Chada, Drukil und Leander zu ihnen.
„Es geht euch gut!“, rief Thorn erleichtert.
Chada lächelte schwach. „Gerade noch so. Wir konnten das Fallgitter knapp wieder schließen, bevor die Silberzwerge bei uns waren.“ Sie ließ sich neben Thorn auf die Kiste fallen. „Wo ist jetzt dieser Geheimgang in den Thronsaal, Ken Dorr?“
Der Dieb führte sie zurück in den anderen Saal, den Thorn durchsucht hatte, und blieb vor dem magischen Spiegel stehen. Ein jüngerer Ken Dorr nickte ihnen aus der Silberscheibe zu, noch mit vollem Haupthaar und ohne den kleinen grünen Edelstein auf der Stirn, den Ken Dorr seit ihrem Besuch auf der Himmelssäule nicht mehr losgeworden war.
„Dahinter müsste ungefähr der Gang anfangen.“, flüsterte Ken Dorr, während er sich wehmütig über die Halbglatze strich. Er drückte probehalber auf ein paar Perlen im Rahmen des Spiegels, ohne dass sich etwas tat, und riss ihn schließlich einfach von der Wand. Dahinter begann tatsächlich ein dunkler Gang. Thorn schnappte sich kurzerhand eine Fackel mit silbernem, runenverzierten Griff, auf deren Spitze eine kalte weiße Flamme loderte, die scheinbar keinen Brennstoff benötigte. So ausgestattet zogen sie los.
„Schneller!“, drängelte Ken Dorr, der ganz hinten lief. „Es ist noch weit bis zum Thronsaal, und irgendein übereifriger Silberzwerg wird gerade auf anderen Wegen dorthin eilen, um dem Fürsten Bericht zu erstatten, dass wir in die Schatzkammer eingedrungen sind.“
„Du könntest uns jetzt verraten, woher dein Wissen über die Geheimgänge Silberhalls kommt.“, schlug Leander vor. „Wenn es doch noch so ein weiter Weg ist.“
Eine Weile herrschte Schweigen. „Wenn es sein muss.“, murrte Ken Dorr schließlich. Thorn lief zu weit vorne, als dass er Ken Dorrs Gesicht gesehen hätte, aber der Dieb klang nicht erfreut. „Ich wollte hier eindringen und die wertvollsten Schätze stehlen. Ich habe mir eine Karte von Silberhall besorgt und auswendig gelernt, habe mir überlegt, wie ich unbemerkt bis zur Schillernden Grotte gelange und wie ich entkomme. Aber es kam nie dazu. Bevor ich meinen Plan in die Tat umsetzen konnte, habt Ihr den Drachen erschlagen und ich kehrte stattdessen nach Andor zurück. Ende der Geschichte.“
„Eine Karte von Silberhall?!“, rief Leander entgeistert. „Wie um alles in der Welt bist du da herangekommen? Ich habe Jahre mit dem Versuch zugebracht, eine grobe Skizze von Cavern anzulegen, und ich musste feststellen, dass es praktisch unmöglich ist. Die Zwerge bewachen den Aufbau ihrer Minen besser als ihre Schätze!“
„Jeder ist käuflich. Entweder durch Gier oder durch Angst.“, erwiderte Ken Dorr vage. „Ich habe nur den richtigen Leuten einen Gefallen getan.“
„Und wie …“
„Genug Fragen!“, zischte Ken Dorr ungeduldig. „Das ist alles schon lange her, und ich habe Euch gesagt, was Ihr wissen wolltet.“ Danach sprach niemand mehr.


Abenddämmerung, 21. Wintertag 77 A.Z.
Thronsaal im Silberbezirk, Silberhall

Von der anderen Seite der Wand konnten sie Zwerge im Thronsaal hören, die miteinander sprachen und hin und wieder laut durcheinanderriefen. Lautlos zog Thorn sein Schwert und nickte den anderen zu, die ebenfalls ihre Waffen bereithielten. Ihre Gesichter waren bleich im Licht der weißen Fackel. Ohne ein weiteres Wort stieß Thorn die Geheimtür auf und betrat zusammen mit den anderen den glänzenden Marmorboden des Thronsaals.
Der Thronsaal von Silberhall war eine hohe Halle, mit funkelnden Silberverkleidungen an den Wänden und von Fackeln hell erleuchtet, doch nach all dem Prunk in der Schillernden Grotte und den beiden Schatzkammern wirkte er auf Thorn geradezu schlicht. Wachen standen an den Wänden, vor dem hohen, muschelbesetzten Thron hatten sich wenige Zwerge in kostbaren Gewändern und Rüstungen versammelt. Thorn bemerkte auch ein paar alte Bekannte, den Meisterschmied Mall und in seinem prächtigen Silberharnisch Tarkun, den Anführer der Silbergarde, der Leibwache des Fürsten. Oben auf dem Muschelthron saß Grom, Sohn des Gurd, Fürst von Silberhall. Ein silberner Reif krönte seinen schwarzen Zopf, auf seinem Schoß lag ein Zepter aus Bergkristall.
Überraschte Stille kehrte ein, alle Blicke richteten sich auf die geöffnete Wandverkleidung und die Eindringlinge.
„Wir wollen keinen …“ Weiter kam Thorn nicht. Tarkun brüllte einen Befehl auf zwergisch und die Wachen rissen sich aus ihrer Starre. Fürst Grom bedachte die Helden mit einem langen Blick, in seinen blauen Augen lag pure Verachtung. In der Gemeinen Sprache rief er: „Es war ein Fehler, hierherzukommen, Helden von Andor! Ich werde mich diesem Ewigen Rat niemals ergeben!“ Thorn hob seufzend sein Schwert. So viel zu der Hoffnung, sie könnten einfach reden. Zumindest kapituliert hatten die Silberzwerge anscheinend nicht. War es also ein dunkler Zauber?
„Nichts anderes hätten wir von Euch erwartet, Fürst Grom!“, antwortete eine Stimme laut über den Lärm. Thorn stöhnte und verhinderte nicht, dass Chada seelenruhig und hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbeischritt, der anstürmenden Silbergarde entgegen. Alle Erschöpfung fiel von ihr ab, ihre Stimme war klar und entschlossen.
„Der Ewige Rat ist ein gefährlicher Gegner, dem wir gemeinsam entgegenstehen müssen. Wir sind nicht hier, um zu kämpfen.“ Sie ließ ihren Bogen Audax demonstrativ zu Boden fallen, ohne ihre Augen von Fürst Grom abzuwenden. „Lasst die Waffen schweigen!“
Die letzten Worte waren Bitte und Befehl zugleich, geäußert mit solchem Nachdruck, dass es kein Zögern mehr gab. Chada stand majestätisch im Fackelschein und es war undenkbar, ihrem Wort nicht Folge zu leisten. Thorn warf sein Schwert weg, ohne auch nur darüber nachzudenken, und selbst die Zwergenkrieger wurden langsamer oder hielten ganz inne. Fürst Grom bedachte sie alle mit einem nachdenklichen Blick und rief dann ein einziges Wort. Sofort hielten die Silbergardisten an. Ihre Waffen hielten sie weiterhin bereit und Thorn bemerkte auch ein paar Arcuballisten, die auf ihn zielten.
Tarkun zischte dem Fürsten aufgebracht etwas auf zwergisch zu, doch dieser winkte ab. „Ich will hören, was sie zu sagen haben, bevor wir sie hinrichten. Sprecht, Helden von Andor.“
Thorn schluckte unwillkürlich, Chada jedoch zeigte nicht, ob die Ankündigung sie in irgendeiner Form beunruhigte. „Wir sind hierhergekommen, in der Hoffnung, euch gegen die Armee des Ewigen Rates beistehen zu können.“ Ein paar der Zwerge lachten höhnisch, einer schrie: „Lüge!“. Chada zuckte mit keiner Wimper. „Doch als wir Silberhall erreichten, war der Angriff bereits abgewehrt, und stattdessen wurden wir von Euren Kriegern attackiert. Wir sind hier, um den Grund dafür in Erfahrung zu bringen.“
„Interessant.“, sagte Fürst Grom kalt. „Ihr behauptet also, ihr hättet den Angriff verpasst? Ihr behauptet, Dutzende meiner Krieger irren sich oder lügen, wenn sie mir einvernehmlich davon berichten, dass ihr zusammen mit den Kreaturen hier ankamt und im Namen des Ewigen Rates versuchtet, die Mine zu stürmen?“
„Was?!“, entfuhr es Thorn. „Das ist lächerlich! Wir …“
„Lächerlich?!“, brüllte Grom. „Lächerlich?! Weißt du was ich lächerlich finde? Eure dummen Märchen und dass ihr tatsächlich glaubt, ich würde darauf reinfallen! Aber ich finde es ganz gewiss nicht lächerlich, wenn Stinner, der seine Ruine nur mit unserer Hilfe wiederaufbauen konnte, bei der ersten Gelegenheit die Seiten wechselt, sich dem Ewigen Rat anschließt und sich selbst zum Meereskönig erklärt! Ich finde es nicht lächerlich, wenn eine Armee vor unseren Toren steht! Ich finde es nicht lächerlich, wenn unsere tapferen Krieger im Kampf gegen Nerax fallen! Und ich finde es überhaupt nicht lächerlich, wenn die stolzen Helden von Andor, die immer behauptet haben, Freunde der Zwerge zu sein, Seite an Seite mit Kreaturen und Piraten kämpfen, unsere Kapitulation fordern, in unsere Schatzkammern einbrechen und dann unseren Thronsaal stürmen und reden, als sei nichts gewesen!“
Thorn fehlten die Worte. Die Anschuldigungen waren vollkommen aus der Luft gegriffen, wie konnte irgendjemand daran glauben? Er wusste die Antwort, und sie gefiel ihm nicht: Indem er es mit eigenen Augen sieht.
„Stinner ist tot.“, antwortete Chada ruhig, und Thorn musste bei diesen Worten unwillkürlich zum Beutel an seinem Gürtel blicken. „Klippenwacht ist gefallen, Hunderte wurden ermordet. Und das erste Ziel des Ewigen Rates ist Rache, wir könnten uns ihm also nicht anschließen, selbst wenn wir es wollten. Doch denkt Ihr wirklich, wir wären bereit dazu? Wir sind die Helden von Andor, gute Freunde von Fürst Kram von Cavern. Wir haben die Kreaturen Silberlands gejagt. Wir haben auf einem kleinen Handelsschiff Euer Volk durch den Sturm zu den Taren gebracht und zum Dank den Sturmschild erhalten. Wir haben Oktohan erschlagen, den grausamen König der Tiefe. Wir haben die Schwarze Kogge versenkt. Ihr kennt uns!“
„So dachten wir zumindest.“, warf Fürst Grom verächtlich ein, doch Chada fuhr unbeirrt fort: „Ich ahne, was geschehen ist.“ Sie griff nach ihrem Köcher, was die versammelten Silberzwerge in ihrer Nähe dazu veranlasste, die Waffen fester zu greifen, und zog einen Pfeil mit blutverschmierter Befiederung heraus. „ Als wir Stinner fanden, hatte dieser Pfeil seine Brust durchbohrt. Er gleicht meinen eigenen bis aufs Haar und bisher konnte ich mir das nicht erklären, doch jetzt verstehe ich. Die Nebelinseln sollen getäuscht werden. Der Ewige Rat hinterlässt falsche Spuren, verwendet Illusionen, um uns auseinanderzutreiben. Nur gemeinsam können wir siegen.“
„Illusionen.“, wiederholte Tarkun heiser. „Können Illusionen Barrikaden stürmen und Schläge parieren? Können Illusionen meine Krieger ermorden? Können Illusionen Blut vergießen, und können sie selbst bluten? Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich weiß, was ich jetzt sehe. Dachtet ihr, niemand würde ihn erkennen?“ Sein gepanzerter Arm hob sich und deutete anklagend auf Ken Dorr.
„Ken Dorr ist ebenso wie wir ein Feind des Ewigen Rates.“, erklärte Chada. „Und ich kann nicht sagen, welche Art von Täuschung unsere Gegner benutzen, nur, dass wir niemals zusammen mit den Kreaturen unsere Verbündeten angreifen würden.“
Tarkun würdigte sie keiner Antwort, sondern redete stattdessen leise auf den Fürsten ein. Sein Tonfall verhieß nichts Gutes. Fürst Grom lauschte schweigend und musterte sie alle argwöhnisch. „Kein Silberzwerg hätte es für möglich gehalten, euch auf der Seite der Kreaturen anzutreffen. Und was ihr sagt, würde euren plötzliche Sinneswandel erklären.“, verkündete Grom schließlich. „Doch zugleich werden andere Fragen aufgeworfen, auf die es ebenfalls keine Antworten gibt. Burmon, wäre eine solche Täuschung möglich?“
Ein alter Zwerg in blauer Robe räusperte sich. Er hatte eine Glatze und einen schlohweißen Bart, beide schimmerten im Fackelschein. Über seinen beachtlichen Bauch verlief ein breiter Gürtel, in den silberne Runen gestickt waren. „Mit keiner Magie, die mir bekannt wäre, mein Fürst. Dennoch sagen unsere Besucher die Wahrheit, nicht sie waren an diesem Angriff beteiligt.“
Grom zuckte mit keinem Muskel, seine blauen Augen waren unbewegt auf den alten Zwerg gerichtet. Doch als er die Stimme erhob, fand Thorn darin eine feine Mischung aus Hoffnung und Erleichterung. „Wie kannst du das wissen?“
„Das Blut, das der Blonde beim Angriff auf unseren Klingen hinterließ.“ Burmon zwinkerte Thorn zu, seine Augen waren strahlend grün, wie Thorn es noch bei keinem anderen Zwerg gesehen hatte. „Ihr hattet mir aufgetragen, mit seiner Hilfe die Eindringlinge zu lokalisieren. Nun, die Runen lügen nie, und sie sagen eindeutig: Der Angreifer befindet sich gegenwärtig mindestens 15 Meilen südöstlich von hier.“
Thorn atmete erleichtert auf. Fürst Grom schloss kurz seine Augen, nickte langsam und sank in seinem Muschelthron zurück. „Ich verstehe. Helden von Andor, bitte verzeiht mir.“ Er gab einen Wink und die Silbergarde kehrte an ihren Platz an der Wand des Thronsaals zurück, die Arcuballisten wurden gesenkt.
Tarkun flüsterte seinem Fürsten erbost etwas zu, was dieser mit einem erschöpften Kopfschütteln quittierte. „Geh und beruhige dich, Kommandant.“, murmelte er. Tarkun erstarrte, salutierte sichtlich widerstrebend und entfernte sich. „Die Runen und den Fürsten mögt Ihr getäuscht haben, aber mich nicht!“, zischte er, als er an Thorn vorbeikam. Thorn verschwendete keinen Atem für eine Antwort. Einem guten Leibwächter war das Misstrauen angeboren.


Frühe Nacht, 21. Wintertag 77 A.Z.
Thronsaal im Silberbezirk, Silberhall

Nachdem die Silberzwerge informiert worden waren, dass die Helden keine Bedrohung darstellten, ließ Fürst Grom einen einarmigen Kommandanten in aller Kürze vom Angriff berichten. Im Wesentlichen hatte sich alles so verhalten, wie Thorn es sich ausgemalt hatte. Eine Armee von Meereskreaturen war aufmarschiert, angeführt von der Besatzung der Schwarzen Kogge, die bedauerlicherweise tatsächlich den Helm der Macht und den Hammer der Stärke in ihrem Besitz hatte. An ihrer Seite standen vier Gestalten, die sich als Thorn, Chada, Drukil und interessanterweise Orfen ausgaben und im Namen des Seekönigs Stinner und des Ewigen Rates die Kapitulation forderten. Nach einem kurzen und blutigen Angriff, der nicht weiter als bis in die Eingangshalle vordrang, zog die Armee sich jedoch zurück. Die Silberzwerge hatten gesehen, dass die angeblichen Helden von Andor den Ewigen Rat unterstützten, damit war das Ziel vermutlich erreicht.
Im Gegenzug berichteten sie von ihrem Weg durch Silberhall. Fürst Grom nahm die Verwüstung in der Schillernden Grotte und den Tod des rotbärtigen Kriegers gelassen hin. Er hat heute schon zu viel Tod gesehen, schoss es Thorn durch den Kopf.
„Ich … danke euch, dass ihr uns zu Hilfe kommen wolltet. Ich nehme an, ihr werdet schnell weiterziehen wollen?“, meinte Fürst Grom schließlich. Es war unübersehbar, dass er sie nach dem heutigen Vorfall schnell wieder loswerden wollte.
Thorn nickte. „Wir müssen bald nach Cavern. Aber vorher würde ich nur zu gerne selbst einen Blick auf diese falschen Helden werfen.“
„Sprecht mit Runenmeister Burmon. Er sollte wissen, wo sie sich aufhalten.“ Fürst Grom schloss kurz die Augen und massierte sich die Schläfen. „Ich lasse euch frische Vorräte und Kammern für die Nacht vorbereiten.“
Thorn hätte dem Fürsten um den Hals fallen können. Sein Kopf fühlte sich mittlerweile an wie ein Baumstumpf, auf dem jemand klafterweise Brennholz spaltete. Und er konnte noch nicht einmal sagen, ob es am Flüssigkeitsmangel lag, oder daran, dass er seit zwei Tagen kein Auge zugetan hatte, oder doch an der Begegnung mit der fetten Drachenstatue. Vielleicht an allem zusammen.
Da wurde das Tor zum Thronsaal geöffnet und eine Zwergin trat ein, gefolgt von einer kahlköpfigen Frau in dunklen Gewändern. „Eara! Es geht dir gut! Wo warst du?“, rief Chada mit mehr Euphorie, als Thorn noch zu zeigen imstande war. Die Magierin nickte steif und gesellte sich zu ihnen. „In einer dunklen Ecke. Darauf wartend, dass der Alarm aufhört.“ Wenn sie erschöpft war, ließ sie es sich nicht anmerken.
Die Zwergin eilte an ihnen vorbei und flüsterte Fürst Grom etwas ins Ohr. Thorn beobachtete mit einem unguten Gefühl, wie der Fürst seine blauen Augen zusammenkniff und wie der Argwohn darin zu neuem Leben erwachte.
„Wie mir soeben berichtet wurde, ist das Drachenauge entwendet worden.“, verkündete Fürst Grom. Er schien Drukils verwirrten Blick zu bemerken, denn er setzte hinterher: „Der wertvollste Edelstein der bekannten Welt. Ein geschliffener schwarzer Kristall. Heute morgen war er noch an seinem Platz.“
„Wir haben nichts gestohlen!“, rief Thorn empört. Dann wurde ihm bewusst, dass er die ganze Zeit über die weiße Fackel in der Hand gehalten hatte und er ergänzte: „Von einer Lichtquelle abgesehen.“
„Dennoch sind wir gerne bereit, uns durchsuchen zu lassen.“, fügte Chada versöhnlich hinzu.
Fürst Grom zögerte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Nein … vorerst nicht. Habt ihr etwas bemerkt? Das Drachenauge lag auf einer weißen Säule unter einer Glaskuppel.“
Thorn erinnerte sich. „Davon waren schon nur noch Scherben übrig, als wir ankamen. Vielleicht wurde das Drachenauge irgendwie während des Angriffs …“ Er brach seinen Satz ab, als ihm etwas auffiel. Eigentlich wusste er nicht, ob das Drachenauge wirklich schon vor ihrem Eintreffen verschwunden war, nur dass Ken Dorr dies behauptet hatte… Ken Dorr, der lange alleine im Raum mit dem Drachenauge gewesen war, bevor Thorn dort ankam.
Sofort schossen weitere Bilder durch seinen Kopf. Ken Dorr, mit ausgebreiteten Armen, vor den Regalen voller Silberbarren. All diese Reichtümer! Die Schätze der Silberzwerge! Ich bin tatsächlich hier! Ken Dorr, der widerstrebend berichtete, woher er sich in Silberhall so gut auskannte. Ich wollte hier eindringen und die wertvollsten Schätze stehlen.
Und weitere Bilder stiegen auf, die er nicht erlebt hatte, aber die sich von alleine zusammenfügten. Ken Dorr, alleine in einem Saal voller Schätze, der den wertvollsten Edelstein der Welt vor seiner Nase hat und der sich schließlich nicht mehr beherrschen kann. Der die Kuppel mit einem lauten Klirren einschlägt, woraufhin ein neugieriger Krieger auf dem Weg zu ihm ist. Der sich den erstbesten schweren Gegenstand schnappt, eine silberne Drachenstatue, sich neben die Tür stellt und dem nervigen Besucher eins überzieht. Der anschließend genug Zeit hat, das Drachenauge einzustecken und danach seelenruhig seinen Trinkschlauch über dem Kopf des Ohnmächtigen ausleert.
Thorn blinzelte. Er traute Ken Dorr eigentlich mehr Selbstbeherrschung zu, und es täte ihm leid, den Dieb zu Unrecht zu beschuldigen, doch alles passte zu gut zusammen. „Fürst Grom, Ihr solltet Ken Dorr durchsuchen lassen. Er hätte Gelegenheit gehabt.“, meinte Thorn. Drukil nickte sofort. Ken Dorr drehte sich mit offenem Mund um, er schien ehrlich beleidigt. Im nächsten Moment waren drei Silberzwerge an ihn herangetreten und forderten ihn auf, seine Kleidung abzulegen. Missmutig folgte Ken Dorr den Anweisungen.
Die Zwerge nahmen sich jedes Kleidungsstück einzeln vor. In einer versteckten Innentasche des Umhangs fanden sie drei Dietriche, in jedem Ärmel eine dünne Klinge, eine weitere in der Sohle des linken Schuhs, wo im rechten drei Münzen lagen. Ken Dorrs Gürtel ließ sich aufklappen und offenbarte den Casamatuc, den Fürst Grom mit säuerlichem Blick beschlagnahmen ließ. Um seinen Oberarm hatte Ken Dorr eine dünne Schnur geschlungen, ein etwas dickeres Seil fand sich im Hosenbein, der zugehörige ausklappbarer Greifhaken hing als unscheinbarer Anhänger um seinen Hals. In der Polsterung seines Wamses waren zwei kleine Glasgefäße eingenäht, die sich nur mit einem Messer herausholen ließen, eines mit grünlicher und eines mit durchsichtiger Flüssigkeit.
Als Ken Dorr schließlich nackt vor ihnen stand hatten die Zwerge noch eine weitere Messerklinge, vier Dietriche, einen Kohlestift, drei kleine Wachskerzen, eine Feile, zehn Münzen in verschiedenen Währungen und einen kleinen Spiegel gefunden, mit dem sie noch seinen Mund durchleuchteten und eine eingeklappte Klinge von der Größe eines Fingernagels bargen. Doch der einzige Kristall, den sie fanden, war der grüne Edelstein, den Kenvilar ihm in die Stirn gesetzt hatte.
Ken Dorr ließ die ganze erniedrigende Prozedur widerstandslos über sich ergehen, sein Blick jedoch war mörderisch. Als die drei Zwerge zurücktraten, schlüpfte Ken Dorr nur in seine Hose und wickelte alles andere in seinen Umhang ein. Missmutig stolzierte er an Thorn vorbei und rempelte ihn dabei so fest an, dass es unmöglich ein Versehen gewesen sein konnte. Thorn stellte fest, dass er dem Dieb nicht einmal böse sein konnte.


Mondhoch, 21. Wintertag 77 A.Z.
Runenwerkstatt im Silberbezirk, Silberhall

Burmon empfing sie im Hinterzimmer seiner Werkstatt. Nur Thorn und Chada besuchten ihn, der Rest hatte sich schon hingelegt, und mehr als drei Personen hätten in der kleinen Kammer auch keinen Platz gefunden. Thorn wusste nicht, wie der Alltag eines Runenmeisters aussah oder wie er sich dessen Wohnung vorgestellt hätte, doch Burmons Kammer war denkbar unspektakulär. Keine leuchtenden Runen, keine aufgestapelten Steintafeln, nur ein Bett und ein Tisch, auf dem vollgekritzelte Pergamente verteilt waren.
Burmon war gesprächig und immer zu Scherzen aufgelegt. Er zeigte ihnen die aufgestickten Runen auf seinem Gürtel und beklagte sich über die drei, die ihm noch fehlten, er berichtete von seiner ehemaligen Meisterin in Cavern, die er angeblich verlassen hatte, weil sie nie gelächelt hatte, und bedauerte, dass seine talentierte Schülerin vor einigen Jahren ins Land ihrer Kindheit zurückgegangen war, und so dauerte es den zweiten Teil einer Stunde, bis sie zum eigentlichen Thema ihres Besuches kamen.
„Wie können wir die Schwarze Kogge aufspüren, Burmon?“, fragte Thorn.
„Ich dachte mir schon, dass Ihr deswegen kommen würdet.“ Er holte aus der Werkstatt eine winzige Steinschüssel, in die Blut gefüllt war, und einen Holzsplitter. „Schwimmt das Holzstück im Blut der Zielperson, dann zeigt die Spitze in die richtige Richtung wie bei einem Kompass. Je näher ihr am Ziel seid, desto unruhiger pendelt das Holz.“ Er legte ihnen noch eine kleine Phiole dazu, in der sie das Blut aufbewahren konnten.
„Danke, Burmon.“ Chada steckte alles ein und biss sich auf die Lippe. „Wir sind aus noch einem Grund hier.“, erklärte sie schließlich. Sie zog eine silberne Kette von ihrem Hals und legte das rautenförmige Amulett auf den Tisch. „Das hier hat meine Mutter Mhare gehört. Es ist imstande, in kürzester Zeit selbst tödliche Verletzungen zu heilen und … na ja, es ist aus Silber, laut Leander funktioniert es unter anderem mit Runenmagie, und Thorn hat in eurer Schatzkammer ein ganz ähnliches Stück gesehen. Wisst Ihr etwas darüber?“
Burmon beugte sich vor und betrachtete das Amulett aufmerksam, ein ungewöhnlicher Ernst trat in seine auffälligen grünen Augen. „Oh ja, ich kenne dieses Amulett.“ Ehrfürchtig hob er das Amulett hoch und ließ es vor seinen Augen pendeln. „Ich fasse es nicht. Es ist tatsächlich das Original. Wie ist Eure Mutter da herangekommen?“
Chada zuckte hilflos mit den Schultern, und Burmon nickte bedächtig. „Vor knapp zehn Feuerzyklen, also vor vierzig Jahren, erreichte mich ein Falke einer hadrischen Zeitzauberin. Sie schlug ein gemeinsames Forschungsprojekt vor, eine Verknüpfung von Lebenskraftrunen und Zeitzauberei. Fünf Jahre, über hundert Briefe und Dutzende Fehlschläge später fertigten unsere Schmiede dieses Amulett. Wie vereinbart gab ich es zur Untersuchung ihrem Falken mit, und für einige Monde hörte ich nichts mehr. Dann erreichte mich überraschend ein anderer Falke mit einem Brief, in dem ich gefragt wurde, was jetzt aus unserem Plan geworden war. Anscheinend war der Falke mit dem Amulett und der Botschaft unterwegs verunglückt. Wir schrieben uns weiterhin und fertigten noch zwei weitere modifizierte Exemplare, eines ging nach Hadria, das andere blieb hier. Etwa drei Jahre später hörte ich dann, dass die Zauberin gestorben war. Ich werde es niemals genau wissen, aber ich fürchte, unser Projekt war daran nicht unbeteiligt. Ein Amulett, das Lebenskraft überträgt, ist in den Händen einer alten Frau nicht eben gut aufgehoben. Und in denen eines alten Zwerges erst recht nicht, deshalb landete mein Exemplar in der Schillernden Grotte.“
„Vor vierzig Jahren habt Ihr begonnen, und dann sind noch fünf Jahre verstrichen.“, wiederholte Thorn erstaunt. „Demnach kann Mhare dieses Amulett frühestens ein Jahr vor deiner Geburt erhalten haben.“
Chada nickte. „Anscheinend. Ich muss Melkart fragen, ob er mehr darüber weiß, woher sie es hat. Vielleicht wurde es angeschwemmt und sie fand es am Strand?“
Burmon gab ihr das Amulett sichtlich widerstrebend zurück. „Es gab noch ein paar Merkwürdigkeiten in der Geschichte, die ich nicht erwähnt habe.“, sagte er gedämpft und wartete, bis ihm die Aufmerksamkeit zweier Ohrenpaare gewiss war. „Nach der Pause hatte sich das Schriftbild der Zauberin plötzlich drastisch verändert. Manchmal erwähnte sie Passagen, die ich so nicht geschrieben hatte. Wer weiß, vielleicht einfach nur das Alter. Aber vielleicht auch nicht …“
Da sie beide ihre Augen kaum noch offenhalten konnten, verabschiedeten sie sich rasch und kehrten in ihre Kammer zurück. Erst beim Ausziehen bemerkte Thorn, dass sein Beutel fehlte. Hektisch durchsuchte er seine Sachen, guckte unter dem Bett, lief den Weg zur Werkstatt und zurück, doch der Beutel blieb verschwunden, und mit ihm das Haar von Stinner. Die einzige Möglichkeit, seinen Freund zu retten. Wie hatte das passieren können?! Er hatte den Beutel gut an seinem Gürtel festgezurrt. Hatte Chada ihn genommen, weil sie immer noch felsenfest davon überzeugt war, dass sie niemanden zurückholen durften? Nein, garantiert nicht. Sie hätte mit ihm darüber geredet. Aber wie hatte das Unglück dann geschehen können?
Mit geschlossenen Augen ließ Thorn sich auf sein Bett sinken und versuchte sich zu erinnern, wann er den Beutel zuletzt angehabt hatte. Auf jeden Fall noch, als der Silberzwerg in der Schillernden Grotte verunglückt war, da hatte er kurz vorher noch darüber nachgedacht, ihre Verfolger zu bestechen. Aber hatte er seinen Beutel nicht auch noch getragen, als sie im Thronsaal versucht hatten, Fürst Grom zu überzeugen? Er war sich nicht mehr sicher.
Während er nachdachte, liefen die Ereignisse der letzten Tage immer schneller durch seinen Kopf. Klippenwacht, von kreischenden Möwen umhüllt. Das Gesicht des Zwerges mit dem feuerroten Bart und der Narbe auf der Stirn, unmittelbar bevor das Regal ihn begrub. Tarkun, der ihm sein Misstrauen entgegenzischte. All die Gründe, aus denen ich nicht ruhig werde schlafen können. Das war sein letzter Gedanke, ehe er in den Schlaf hinüberglitt, tief und traumlos, der ihn schon seit Tagen erwartet hatte.
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