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Story: Der Ewige Rat

Y - Der letzte Kampf

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:33

Y – Der letzte Kampf

Abenddämmerung, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

Lange starrte Thorn auf die Stelle, an der eben noch Ken Dorr gestanden hatte. Der höchste Prophet. Der Friedensbringer. Nichts war von ihm geblieben. An seiner Stelle klaffte nun nur noch eine leise Leere, der Stein flimmerte und zerfranste. Ein Loch im Geflecht der Welt. Trotz all seiner Macht war Ken Dorr einfach ausgelöscht worden von … Thorn wusste nicht, von was genau. Er wusste nur, dass die Herzen zerstört worden waren. Stinner, Bragor, Leander – niemanden würden sie zurückholen können. Im Gegenteil, wenn Themauras sich nicht geirrt hatte, dann würde … die welt aufhoeren zu seyn.
Noch immer starrte Thorn auf den verzerrten, nackten Stein. Hoffte darauf, dass alles sich nur als Täuschung herausstellen würde. Dass Ken Dorr sie einmal mehr genarrt hatte. Und hörte doch zugleich ein dreistimmiges Wispern aus seiner Erinnerung und wusste, dass alles Hoffen vergebens war.
Den Friedensbringer wirst du verdammen, und ihn doch herbeisehnen, wenn es zu spät ist. Dein Geist wird in Fragmente gesprengt und dein Körper von der Finsternis verschlungen werden.
Stille füllte die dunkle Halle aus. Es war nicht mehr die grausame Stille, die die schillernde Dunkelheit ausgestrahlt hatte, nur das Schweigen der Verzweifelten, die ihre letzten Gedanken in Einsamkeit dachten. Am Ende waren sie alle allein. Und dennoch meinte Thorn noch immer die seltsam verzerrten, lautlosen Worte zu vernehmen.
Freiheit! Euer ganzes Leben habt ihr für sie gekämpft. Doch welche Freiheit gibt es in einer Welt, die von ihren Regeln vollständig bestimmt ist? In der alles, was geschieht, einen Grund hat? In der die Gesetze der Natur den Fall jedes noch so kleinen Steins bestimmen, und die Gesetze der Logik selbst das Denken beherrschen? Ihr habt die Sklaverei nicht besiegt. Ihr alle seid Sklaven des Schicksals. Ihr gehorcht der Ordnung der Welt. Ihr hattet niemals eine Wahl. Die Kette von Ursache und Wirkung hält euch umschlungen, und hilflos werdet ihr vom Fluss der Zeit in seiner reißenden Strömung vorangetrieben. Wahre Freiheit gibt es nur im CHAOS. In der Zerschlagung aller Regeln! In der Auflösung aller Grenzen! In der Umkehr jeder Ordnung! Solange diese Welt besteht, kann es keine Freiheit geben.
Die Piraten der Schwarzen Kogge und die falschen Helden standen gedankenversunken an Ort und Stelle und starrten, genau wie Thorn, auf die schreckliche Leere, den Ken Dorr hinterlassen hatte. Der Königswolf in der Reihe hinter Thorn winselte ununterbrochen. Eara hing schwach in ihren Ketten, ihr Atem ging flach und Blut troff aus ihrer offenen Schulter. Sie sah nicht gut aus. Doch noch mehr schmerzte Thorn der Anblick Chadas. Mit hängenden Schultern kauerte sie auf ihrem Sitz, und in ihren grünen Augen lag Erschöpfung. Selbst ihr unbeugsamer Wille war der Hoffnungslosigkeit gewichen, oder kämpfte vielleicht noch immer mit dem, was sie gehört haben mochte. Ihr Kampfgeist hatte sie verlassen, denn es gab keine Kämpfe mehr zu schlagen. Nur noch das Ende abzuwarten.
Zu gerne hätte Thorn seine Hand ausgestreckt und die ihre genommen. Doch nicht einmal das war möglich. Seine Arme waren noch immer eng an den Körper gefesselt, und mit jeder Bewegung zogen die kalten, scharfkantigen Ketten sich enger. Der silberne Schlüssel, der seine Ketten lösen könnte, lag nur wenige Schritte entfernt und blinkte verheißungsvoll im letzten Licht der schwarzen Flammen, nahe und doch unerreichbar fern. Und wenn schon. Was hätte es noch gebracht, jetzt frei zu sein?
Kurz flackerte die ganze Halle, ein seltsames Flimmern glitt über den Fels und auch durch Thorns Körper und war sofort wieder verschwunden. Fast schien es, als wären die Farben, die er sah, ein Stück weit verblasst, doch das mochte auch dem dunklen Feuer zuzuschreiben sein. Thorn stöhnte. Er fühlte sich, als wäre er kurz auseinandergerissen und unvollständig wieder zusammengesetzt worden. Die Leere, die an Ken Dorrs Stelle zurückgeblieben war, war angewachsen.
Die Ordnung der Welt ist alt und brüchig, wie die dünne Farbschicht eines Gemäldes, hörte er wieder Kenvilars Stimme. Ganze Stücke brechen auf und von den Rändern her verschwindet sie ganz, bis nur noch die leere Leinwand bleibt.
Thorn schloss die Augen. Alles fühlte sich taub an. Sein Körper dank der Kälte und der gefesselten Glieder. Sein Geist dank der verwirrenden Gefühle, die unablässig auf ihn einströmten, seit der Zugang zu Krahal geöffnet war. Trauer, Schmerz, Verzweiflung, und allen voran eine tiefe Hoffnungslosigkeit.
„Wenn dies das Ende ist, dann freut mich, dass ich es nicht alleine erwarten muss.“, sagte plötzlich eine feindselige Stimme.
Thorn schlug die Augen auf und sah Callem ins Gesicht. Der Kapitän war lautlos zu ihnen getreten und starrte aus seinen gelben Augen kalt auf sie herab. Ohne diese Augen wäre sein kahler Schädel mit der tiefblauen Haut in der dunklen Halle fast unsichtbar gewesen.
„Es freut mich, dass es auch euch treffen wird. Euch und alles, was euch teuer war. Ich hoffe, es wird schmerzhaft sein!“
Thorn schüttelte langsam den Kopf. „Was hat Leander nur in dir gesehen?“, seufzte er.
Callem versteifte sich. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer hasserfüllten Fratze. „Wage es nicht, seinen Namen auch nur auszusprechen!“, zischte er. „Er hat euch in sein Herz gelassen. Er hat in euch Freunde gesehen! Er wollte euch warnen, also ließ ich ihn ziehen. Und ihr, ihr habt ihn ermordet!“
„Was?“ Thorn glaubte kurz, sich verhört zu haben. „Wir haben ihn ermordet? Das ist Unsinn! Er wurde tot im Schnee gefunden. Er war tot, noch bevor er uns sprechen konnte. Wir …“
„Erspart mir diese Lügen!“, rief Callem. Er hob zitternd den Feuerschild und atmete schwer.
„Ich habe sein Blut eingesammelt!“, rief Thorn. „Eine kleine Phiole voll! Um ihn vielleicht zurückzuholen! Sie ist in der Tasche vor mir, wenn du mir nicht glaubst!“
Callem sah ihn lange an. An seinem Hals pochte einer Ader. „Ich glaube dir nicht. Und eine Phiole Blut beweist gar nichts. Aber selbst wenn es stimmt: Leander ist losgegangen, um euch zu helfen. Euretwegen war er dort, wo er gestorben ist. Ob ihr ihn selbst ermordet habt oder nicht, ihr seid Schuld an seinem Tod. In beiden Fällen.“
Er ließ den Schild wieder sinken. „So einfach sterbt ihr nicht.“, murmelte er. Kraftlos drehte er sich um, um zu seiner Mannschaft zurückzukehren.
Thorn sah ihm hinterher und erstarrte, als sich in seiner Erinnerung etwas regte. In beiden Fällen.
„Es gibt einen Weg…“, flüsterte er.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Chada den Kopf hob, und auch Callem sah noch einmal zurück und betrachtete ihn forschend.
„Es gibt einen Weg!“, rief Thorn heiser. „Wir können das Ende aufhalten!“
Die Piraten und falschen Helden sahen auf und kamen langsam näher.
„Thorn? Was meinst du?“, fragte Chada ungläubig.
Er erwiderte ihren Blick. „Die Prophezeiung!“, sagte er so laut, dass auch der letzte Pirat ihn hören konnte. „Die letzte Prophezeiung von Hral, dem Weisen, dem Seher der Agren!“
Er sah zur Mannschaft der Schwarzen Kogge und den falschen Helden hinüber, die ihn verwirrt ansahen, und leckte sich nervös die Lippen.
„Es gibt eine Prophezeiung!“, versuchte er zu erklären. „Das Überleben der Agren hängt von ihr ab. Wir finden etwas … oder jemanden … einen reglosen Herrscher, der das Unheil vertagen kann!“
„Thorn.“, mischte sich Eara mit schwacher Stimme ein. Müde sah sie ihn an. „Wir haben diese Prophezeiung nie verstanden. Sie ist ein einziges Rätsel. Wieso soll sie uns jetzt helfen?“
„Weil es so weit ist.“, antwortete Thorn fest. Neue Zuversicht erfüllte ihn. „Ken Dorr war einst der Bleiche König, von Hral selbst auf eine Höhlenwand gezeichnet. Doch zuletzt war er ein anderer. Er ernannte sich selbst zum Höchsten Propheten. Und was ist ein Prophet … wenn nicht ein Verkünder?“
Wenn der gezeichnete Verkünder entsteht,
und in falscher Ordnung wieder vergeht…
“, flüsterte Chada. Ein fast erloschenes Licht leuchtete neu in ihren Augen. „Du hast recht, Thorn! Es gibt einen Weg!“
„Ach ja?“, brachte Eara leise hervor. „Und welchen? Es heißt, wir finden den Herrscher. Doch wo willst du suchen?“
Thorn holte tief Luft. „Ich weiß es nicht.“
Eara nickte müde. Flüsternd fuhr sie fort: „Und er wird erwachen, wenn wir seinen Namen sagen. Also, welchen Namen willst du nennen, wenn wir ihn erst gefunden haben?“
„Ich weiß es nicht.“ Langsam machte sich Verärgerung in ihm breit.
„Und am wichtigsten: Was hast du von einer Prophezeiung, von der Hral selbst sagte, dass sie nicht eintreffen werde?“
„Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht, Eara! Aber was ändert es? Wenn wir auch nur eine noch so geringe Chance haben, das alles aufzuhalten, alle zu retten, dann müssen wir sie nutzen!“
Eara senkte nur kraftlos den Blick.
„Nein.“, sagte da plötzlich eine leise Stimme. Callems Stimme. „Nein, Helden von Andor. Ihr müsst nicht. Ihr könnt nicht. Ich werde das nicht zulassen.“
Fassungslos öffnete Thorn den Mund. „Aber… es ist auch dein Leben, das sonst verloren ist! Das deiner Mannschaft! Die ganze Welt! Warum…?“
Callem sah reglos zu ihm herab. Rachedurst lag in seinen kalten Augen. „Weil ich diese Welt nie in mein Herz gelassen habe. Weil es außer mir selbst nur einen einzigen darin gab, der mir je etwas bedeutet hat! Und ihr seid Schuld an seinem Tod! Ich werde nicht zulassen, dass ihr eurem Ende doch noch entkommt!“
Sprachlos erwiderte Thorn den hasserfüllten Blick des Abtrünnigen. Er wusste nicht, was er noch sagen konnte.
Da hob der falsche Drukil den Kopf. Für einen Moment stand er zögernd im Schatten, dann trat er vor und sagte unsicher: „Sie sind nicht Schuld.“
Callem fuhr herum. Mit sichtlicher Überraschung musterte er Drukils Doppelgänger. „Was meinst du?“, fragte er gefährlich leise.
„Ken Dorr. Er hat gesagt, Leander weiß zu viel.“
Kurz blickte Callem zu der leeren Stelle hinüber. Thorn sah, wie sich seine Fäuste spannten. „Der Dieb hat ihn umgebracht?“, fragte er rau.
„Nein.“, antwortete Drukil leise. Er warf Thorn einen Blick zu, der fast entschuldigend war. „Er hat gesagt, Drukil muss es tun. Ein falscher Freund. Also … hat es ihm den Hals zerstochen.“
Callem fixierte Drukil. „Du!“, flüsterte er, während er langsam den Feuerschild hob.
„Ja. Es.“, bekräftigte Drukil. „Nicht die Helden. Nicht die Welt. Bestrafe nicht die Falschen.“
Callem schüttelte langsam den Kopf. Plötzlich schien ihn alle Kraft verlassen zu haben. Sein Arm senkte sich wieder. „Es ist egal.“, murmelte er. „Ich habe einen Schwur geleistet. Den Schwur, euch Helden alles zu nehmen, wie ihr auch mir alles genommen habt. Es spielt keine Rolle, bei wem die Schuld liegt. Ich habe etwas geschworen, und was ich schwöre, das halte ich. Um jeden Preis.“ Eine schwere Endgültigkeit lag in diesen Worten.
„Aber Kapitän!“, protestierte ein alter, gebeugter Mann mit dunkelgrauer Haut und knarziger Stimme. „Wir werden alle sterben! Deine Racheschwüre in allen Ehren, aber du kannst nicht von uns erwarten, dass wir einfach hier herumsitzen, anstatt uns zu retten!“
Callem seufzte schwer. „Nein, Krumm. Das kann ich wohl nicht.“ In einer blitzschnellen Bewegung griff er an seinen Gürtel und hatte Varlion in der Hand, das ehemalige Flammenschwert. Das Feuer war erloschen, jede Magie hatte es verlassen, doch es war noch immer ein großes, scharfes Schwert. Der gebeugte Pirat konnte kaum aufschreien, da hatte Callem ihm bereits den Kopf von den Schultern geschlagen.
„Noch jemand, der anderer Meinung ist?“, fragte der Kapitän kalt.
Niemand antwortete.


CHAOS zerriss eine verschneite Insel und einen brennenden Turm. Es brach sich durch die letzten Berge, verschlang zerklüfteten Fels und ein goldäugiges Mädchen. Dann erhob es sich über die Wellen, die ins Nichts brandeten. Hadria, das Land der Magie, war nicht mehr.


Abenddämmerung, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

Der Kopf des alten Krumm rollte ein Stück und blieb vor Chadas Füßen liegen. Blut! Schon wieder Blut! Es wimmerte und richtete den Blick auf den goldenen Baum in seiner Hand, bis es das Blut nicht mehr sah.
Es hatte den Baum nicht losgelassen, seit das goldäugige Mädchen ihn in Chadas Hand gelegt hatte. Eigentlich war es kein Baum, sondern ein Stein in Baum-Form, glatt und leicht durchscheinend. Als die böse Dunkelheit sich durch die Halle erstreckt hatte, hatte ein dünner, schwarzer Faden das Gold berührt und klebte seitdem darin fest. In unnatürlichen Bewegungen kroch dieser letzte Rest der Schwärze durch den goldenen Baum. Der Anblick war seltsam fremd und zugleich hypnotisch. Chada starrte hinein, um nicht denken zu müssen. Um die Fragen nicht zu hören.
Mutter hatte gesagt, der Wert des Spiels sei unermesslich. Chada verstand nicht, was geschehen war, aber das Spiel war in Gefahr und die Menschen, die wie es aussahen, wussten einen Weg, um es zu retten. Also musste Chada ihnen helfen. Doch Mutter hatte auch gesagt, Chada müsse Kapitän Callem gehorchen, und der wollte nicht, dass es den Helden half. Mutters Befehle widersprachen sich! Aber Mutter hatte immer recht! Es verstand nicht, was es tun musste.

Du musst nichts tun, was du nicht tun willst.
Chada musste an die Worte des goldäugigen Mädchens denken. Aber es wusste nicht, was es nicht wollte. Es mochte kein Blut. Es mochte keine Furcht. Sollte es also abwarten, bis das Spiel nicht mehr da war? Aber Chada mochte auch so viele Dinge! Die Sterne am nächtlichen Himmel! Die Musik der Wellen! Die bunte, aufregende Welt! War das wichtiger als das Blut? Chada kniff die Augen zusammen, bis es den Baum nicht mehr sah.
Du kannst dich entscheiden.
Das war es, was das Mädchen gesagt hatte. Chada wusste, dass das stimmte. Und das machte ihm Angst. Bisher hatte Chada nur getan, was es tun musste. Das meiste davon hatte es nicht gemocht. Aber zumindest hatte es nichts falsch machen können. Es hatte einfach nur getan, was Mutter befohlen hatte. Doch eine Entscheidung zu treffen hieß auch, sich falsch entscheiden zu können. Es hieß Freiheit, und Freiheit war groß und furchtbar. Doch es konnte nicht mehr davor weglaufen.
Plötzlich nahm es Bilder und Worte wahr, die längst vergangen waren.

Die Welt ist ein Spiel. Also spiele es…
Es spielte mit seinen Geschwistern am dunklen Berg und planschte lachend im warmen Wasser…
Wie besiegt ihr einen Feind, der euch besser kennt als ihr selbst, der die Welt versteht, wo ihr raten müsst? Der alles versteht außer sich selbst…?
Es berührte den zersprungenen schwarzen Kristall und erblickte das Blut der Zukunft…
Gibt es denn etwas, was du gerne tust…?
Es saß nachts an Deck des schwarzen Schiffes und blickte hinauf zu einem Kosmos aus weit entfernten Sternen…
Ihr seid unsere Waffe, geschmiedet, das Ende ohne Anfang zu vereiteln…
Es schritt durch das Blut falscher Feinde und brachte Furcht und Tod…
Das Blut wird versiegen und der Schmerz ist vergessen…
Es sah ehrfürchtig zu einem großen Baum hoch, und Frieden erfüllte es…
Wenn ein Stein euch im Weg steht, dann nehmt ihn aus dem Spiel…
Es zerschoss schluchzend ein Auge voller Furcht…
Ihr dürft eure Macht missbrauchen, so viel ihr wollt. Aber vergesst niemals, dass ihr sie nicht ohne Grund besitzt…
Es hielt die Hand eines goldäugigen Mädchens…
Das helle Klingen einer Münze auf hartem Stein: Dies ist der Klang der Entscheidung. Auch du wirst ihn eines Tages hören…
Es stand mit geschlossenen Augen in einer großen, dunklen Halle und hatte Angst vor der Entscheidung, die es treffen musste…
Hole tief Luft, und mache einen Zug, den niemand vorhersehen kann. Mache deinen Zug…
Chada schlug die Augen auf, hob zitternd den goldenen Baum und holte tief Luft. Und plötzlich, als hätte der Atem eine Mauer durchbrochen, löste sich der dünne, schwarz schillernde Faden aus dem durchscheinenden Gold und glitt kühl in Chadas Mund wie feiner Rauch. Mit einem Mal hörte es auf zu zittern. All die Erinnerungen und Gedanken und Zweifel, die es lähmten, lösten sich auf. Alles Für und Wider verschwand. Alle Gründe verblassten. Alles, was es ausmachte, wurde unwichtig. Die flüsternden Stimmen verstummten. Alles verschwand, nur die Dunkelheit blieb zurück. Doch diese Dunkelheit war nichts als leere, schwarze Freiheit.
Eine Entscheidung nahte, doch es war eine Entscheidung, die von nichts mehr abhing. Eine Entscheidung ohne Ursache. Eine Entscheidung, die keinem Muster folgte und keiner Regel gehorchte. Eine Entscheidung, die sich wie ein dunkler Schleier über die Zukunft legte und die Wirklichkeit von Möglichkeit trennte. Eine Entscheidung, die niemand je vorhersehen konnte, kein Seher, kein Gott, kein Chaos. Eine Entscheidung aus wahrer Freiheit. Für einen kurzen Wimpernschlag hielt die Welt den Atem an.

Wer bist du?
Und dann hörte es, worauf es so lange gewartet hatte: Das helle Klingen einer Münze auf hartem Stein. Der Klang der Entscheidung.
Langsam ließ es die Luft wieder entweichen. Es lag kein schwarzer Rauch darin. Die Entscheidung war getroffen. Der Moment der Freiheit war vorüber. Alles weitere würde geschehen, wie es die Spielregeln der Welt geboten, solange sie noch galten.
Es hob den Blick und betrachtete Callems dunklen Schild und sein blutiges Schwert. Es mochte keine Schwerter. Es mochte kein Blut. Doch es hatte seine Entscheidung getroffen, und es würde dazu stehen, komme was wolle.
„Lass sie frei, Callem!“, forderte es laut.



CHAOS legte sich wie die Nacht über die Wellen des Hadrischen Meeres. Gewaltige Wassermassen stürzten ins Nichts hinab und verloren jede Struktur. Fische wurden verschlungen, Schiffe zerbarsten in den schillernden Schatten, stachelige Klippen wurden in die Leere jenseits der Welt gerissen und Treibholz hineingespült. Wie der Sturm kam CHAOS über Weiden und Höhlen und verwehte ihre Substanz.


Abenddämmerung, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

Thorn riss die Augen auf. Chadas Stimme… Hell und entschlossen klang sie durch die weite Halle. Doch Chada saß noch immer in ihren Ketten und sah ebenso erstaunt aus, wie er es war. Nicht sie hatte gesprochen. Nicht die echte Chada. Sondern die Kopie.
Mit hoch erhobenem Haupt stand sie über dem Kopf des buckligen Piraten, in der einen Hand hielt sie ihren Bogen, der Chadas Bogen Audax zum Verwechseln ähnlich sah, in der anderen einen einzelnen Pfeil und einen kleinen Baum aus Bernstein.
Callem, der Abtrünnige, schüttelte müde den kahlen Kopf. „Ausgerechnet jetzt? Nachdem du mir all die Zeit so brav gehorcht hast, entdeckst du plötzlich die Heldin in dir? Du vergisst, wer du bist, Chada!“
„Nein! Im Gegenteil! Ich weiß jetzt endlich, wer ich bin!“, sagte die falsche Chada voller Stolz. „Ich bin nicht länger Nummer Zwei. Ich bin nicht länger Chada. Ich bin ich selbst! Ich werde nie wieder jemand anders sein! Und ich weiß jetzt, warum ich meine Macht erhalten habe!“
Callem hob sein erloschenes Schwert, doch die Chada, die nicht mehr Chada war, wich nur vorsichtig ein paar Schritte zurück und fuhr fort: „Piraten! Meine Mannschaft! Und meine Geschwister! Hört mir zu! Das Spiel selbst steht auf dem Spiel! Aber wir können es retten! Wir können uns selbst retten!“
„Genug!“, rief Callem erbost. Er hob den Arm mit dem Feuerschild und sah Chada fast traurig an.
Da ertönte ein hoher, schriller Ton, aus der schnell ein schiefe, rhythmische Flötenmelodie wurde. Thorn versteifte sich unter den scharfen Ketten. Wie ein stummer Befehl kroch die Melodie in seine Muskeln: Bleib still – starr wie Stein! Asche und Gebein!
Das Echo der Flötenklänge strömte von allen Seiten zu ihm zurück, vom runden Stein der halbkreisförmigen Sitzreihen weitergeleitet. Selbst seine Augen waren erstarrt. Nichts mehr regte sich in der ganzen Halle – bis auf Orril. Der schwarze Barde mit dem silbernen Haar ließ konzentriert seine Finger über seine beinerne Flöte tanzen, und langsam mischte sich eine weitere Melodie hinzu: Zu mir – zögere nicht! Motten im Licht!
Callem setzte einen steifen Schritt. Und noch einen. Wie eine hölzerne Puppe folgte der Kapitän der Melodie seines Barden. Der nahm, ohne sein Spiel zu unterbrechen, eine Hand von der Flöte und zog einen Dolch. Schwermütig sah er Callem entgegen,
Da mischte sich noch ein anderer Laut in die dunkle Melodie: Das Säuseln des Windes, seltsam fremd in dieser alten, toten Halle. Eine Windböe fuhr auf Orril nieder. Kurz meinte Thorn inmitten der Luft einen Strom gequälter Gesichter auszumachen, dann zerbarst die weiße Flöte in Orrils Händen. Die Melodie verstummte, die Starre wich. Orril stolperte zurück, doch die Winde, die ihn seiner Flöte beraubt hatten, stemmten sich plötzlich gegen ihn und warfen ihn um. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, hatte Callem ihm sein erloschenes Schwert in die Brust gestoßen.
Orril röchelte noch etwas. Wenn sich am schwarzen Barden seit ihrer ersten Begegnung außer seiner Haarfarbe nicht viel geändert hatte, bestimmt irgendetwas Pathetisches, doch es kam nicht mehr bei Thorn an.
„Gut gemacht, Thogger.“, knurrte Callem. Der Tarendruide zuckte unbehaglich zusammen, ein roter Glanz huschte durch seine Augen. Ansonsten reagierte er nicht. Callem zog sein Schwert aus Orrils Brust und beäugte den Rest seiner Mannschaft misstrauisch. „Ich rate euch, findet euch mit dem Ende ab und verbringt eure letzten Stunden in Frieden.“
Thorn holte tief Luft. „Nein!“, rief er. „Eure Chada hat recht! Es ist Wahnsinn, das Ende einfach abzuwarten! Ihr werdet sterben, wenn ihr uns nicht befreit!“
„Callems Schwur bindet ihn, aber nicht euch. Ihr seid frei!“, ergänzte die echte Chada eindringlich. Ihre Stimme gab auch Thorn Zuversicht. Er sah, wie die übrigen falschen Helden, Drukil, Orfen und sein eigenes Ebenbild, sich mit unsicheren Mienen hinter Chadas Kopie versammelten. Auch einer der Piraten, ein Mann mit braunem Zopf, einem silbernen Horn am Gürtel und dem Bruderschild in der Hand, gesellte sich zu ihnen. Nur noch fünf Piraten waren an Callems Seite geblieben: Eine Frau in brauner Kutte, die ihren Zauberstab an ihrer Seite hielt und mit leerem Blick ins Nichts starrte. Ein gedrungener Mann, der in seiner verbleibenden Hand den seiner Magie beraubten Hammer der Stärke hielt. Thogger, der Druide der Taren, der sich nicht mehr geregt hatte, seit seine Windgeister Orrils Flötenspiel durchbrochen hatten. Eine grünhäutige Frau mit verschlagenem Blick. Und Meres, der Hexer, der den Sternenschild an seiner Seite trug und mit ausdrucksloser Miene zu Callem sah.
„Das ist Meuterei!“, tobte der Pirat mit Orweyns Hammer. „Ich werde euch eigenhändig töten!“
„Geduld, Pero.“, murmelte Callem. „Die Zeit ist auf unserer Seite.“
„Dann wenigstens die Helden! Wir gehen kein Risiko ein und …“
Thorn versuchte, trotz seiner Ketten so weit wie möglich vor dem hässlich grinsenden Mann zurückzuweichen. Doch Callem bedachte seinen Gefolgsmann nur mit einem finsteren Blick. „Nein! Ihnen wird kein Haar gekrümmt! Sie sollen das Ende am eigenen Leib erfahren!“
Er betrachtete den Rest seiner Mannschaft aus dem Augenwinkel, während er den falschen Helden kampfbereit entgegensah. „Und ihr? Werdet auch ihr zu mir halten?“
„Ich folge dir.“, versprach die grünhäutige Frau grinsend. „Und dank Mutters Geschenk auch die anderen drei!“ Sie legte ihre Finger auf eine dünne Kette um ihren Hals und zog einen kleinen, rötlich glühenden Stein hervor.
„Warum, Kentar?“, fragte die falsche Chada. „Mutter hätte gewollt …“
„Mutter!“, lachte Kentar hämisch. „Kenvilar war nicht eure Mutter! Ich bin ihre einzig wahre Tochter! Sie schuf mich aus einem Teil ihrer selbst. Als etwas Neues! Ihr dagegen seid nichts als die Kopien anderer. Ihr wart nichts als ihre Werkzeuge! Sie hat euch nicht einmal Namen gegeben, nur Nummern! Ihr habt wahrlich Besseres zu tun, als euch nach ihren Wünschen zu richten! Ich habe schon lange damit aufgehört. Ich tue einzig, was ich selbst will.“
„Jeden Moment sterben, anstatt die Welt zu retten?“, schlug Thorn bissig vor.
„Ja!“, flüsterte Kentar mit einem wahnsinnigen Grinsen. „Die Welt ist eine Sinfonie des Grauens, und ich will jeden einzelnen Ton hören. Und Qurun … das ist der letzte Satz. Ein Ende wie ein Paukenschlag! Ich werde es nicht verpassen!“
Sie brach in schrilles, gackerndes Gelächter aus. Ihre Finger spielten unablässig mit dem roten Stein. Ein neuerliches Flimmern durchlief lautlos die Halle und kämpfte gegen die Struktur der Wirklichkeit.
Thorn fror.


CHAOS breitete sich über die vielen Inseln aus wie der Nebel, dem sie ihren Namen verdankten. Es flutete die weiten Hallen voller Silber und Perlmutt. Es verschlang eine blutige Ruine und die Möwen, die noch immer kreischend darüber flogen. Es zerriss armselige Hütten und große Werften. Es brauste über ein weites Tal hinweg, schneller als jeder Sturm. Zwischen den hohen Felszacken erklang ein Lied aus Stille und Freiheit, das kein Ohr vernehmen konnte.


Abenddämmerung, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

Es hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Kentars schrilles Lachen hallte weit durch die dunkle Halle. Es umklammerte den goldenen Baum fester, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Callem hingegen schwieg und beobachtete es kampfbereit.
„Wir brauchen diesen Schlüssel!“, flüsterte Niron. „Nur er kann die Ketten öffnen.“
Es folgte dem Blick des Spähers und entdeckte in der Tat ein schwaches silbernes Glänzen neben den gefangenen Helden. Alleine hätte es es niemals bemerkt. Niemand hatte schärfere Augen als Niron – abgesehen vielleicht von Callems Vogel Roa, und von dem war nicht mehr als ein rotes Ei geblieben.
Es nickte knapp. „Dies hier ist der letzte Kampf.“, sagte es leise zu seinen Geschwistern. „Das Blut wird versiegen und der Schmerz wird vergessen. Nur dieser eine Kampf noch! Bereit?“
Thorn erwiderte warm seinen festen Blick und nickte. Orfen fasste sein Schwert fester. Und Drukil verkündete ernst: „Drukil hat sein
Richtig gefunden.“
„Niron, du holst den Schlüssel. Wir lenken den Rest ab.“, beschloss es. Es hob das Zupfding und den letzten Pfeil.
Hier. Du wirst ihn brauchen. Ohne den goldenen Baum loszulassen, legte es den Pfeil an. Callem hob mit finsterer Miene seinen dunklen Schild. Doch es hatte nicht vor, auf den Kapitän zu schießen.
Ich folge dir. Und dank Mutters Geschenk auch die anderen drei!
Es ließ den Pfeil fliegen. Kentar verschluckte sich an ihrem Lachen und starrte verblüfft auf ihre leeren Hände. Nur noch eine dünne silberne Kette lag zwischen ihren Fingern, vom Pfeil glatt durchtrennt. Der rote Stein kullerte irgendwo in die Schatten, bis es ihn nicht mehr sehen konnte.
Kentar sah sich fassungslos um. „Wo ist er? Wo ist der Stein?“, kreischte sie. Sie taumelte zurück und fiel auf die Knie, betastete hektisch die tiefen Risse im Boden.
„Kentar! Bleib hier!“, rief Callem, doch sie hörte nicht.
„Sei still!“, fauchte sie. „Mein Stein! Mein Geschenk!“ Der Kapitän machte Anstalten, ihr zu folgen, als ein Hornstoß durch die Halle scholl. Niron setzte sein Horn ab und lächelte grimmig. Dann lief er los, auf den Schlüssel zu. Es und seine Geschwister folgten. Noch im Laufen zog es seine beiden Dolche aus ihren Lederhüllen. Den goldenen Baum ließ es nicht los.
Callem stellte sich ihnen in den Weg, sogleich wurde er von Thorn und Drukil zugleich angegriffen. Orfen, der sich scheinbar ebenfalls auf den Kapitän stürzen wollte, musste stattdessen einen Angriff von Ean Quella parieren. Mit unheimlich leeren Augen schwang sie ihren Leuchtstock und trieb ihn zurück. Da Kentar noch immer nach ihrem Stein suchte und Thogger nach wie vor reglos da stand und mehr mit sich selbst als seiner Umgebung beschäftigt zu sein schien, blieben noch Pero, der erste Maat, mit seinem bösen Hammer, und Meres mit seinen vielen Beuteln und Pulvern und dem grünen Feuer. Wen sollte es ablenken?
Diesmal musste es nicht selbst entscheiden. „Chada!“, rief Pero grinsend. In seiner rauen Stimme mischten sich Hass und Häme. „Du wirst diese kleine Meuterei bereuen!“ Er hob seinen Hammer und die spitz funkelnde Hakenhand.
Es hielt sich nicht mit einer Antwort auf und stach nach seinem Bauch. Pero drehte sich nicht rechtzeitig weg, ein flacher Schnitt blieb zurück. „Na warte!“, zischte er. „Ich werde deinen hübschen Schädel einschlagen und ihn dem Kapitän vor die Füße legen!“
Es duckte sich unter dem Hammer weg und versetzte ihm einen tiefen Schnitt am Arm. Von da an verzichtete Pero darauf, seine Attacken anzukündigen. Vorsichtig umkreisten sie sich. Ab und zu versuchte Pero einen Angriff mit seinem Hammer, während er die Hakenhand als Deckung hinten ließ. Es versuchte gar nicht erst, die schwere Waffe mit Dolchen zu parieren, sondern wich stets aus, stach gelegentlich kurz zu und hielt nach Lücken in seiner Deckung Ausschau.
Ein seltsames, schreckliches Flimmern durchlief die Halle, gefolgt von einer kurzen Stille, die den Kampflärm durchbrach, ehe sie verschwand. Seltsam blass sah die Halle aus, als hätten alle Farben an Leuchtkraft verloren. Das dauerte alles zu lange! Die Helden mussten befreit werden! Jetzt!
Es warf einen raschen Blick zu den Gefangenen. Niron hatte den Schlüssel bereits in der Hand, aber kam nicht dazu, die Helden zu befreien, da er in einen Kampf mit Meres verstrickt war. Aus dem Augenwinkel sah es Orfen, der sein Schwert tief in Ean Quellas Bauch gestoßen hatte und zugleich ihren Leuchtstock so fest gegen den Kopf bekam, dass er mit verdrehtem Hals liegen blieb und nicht wieder aufstand. Es sah Callem, der in silberne Flammen gehüllt vor Drukil stand und in weiten Schlägen auf ihn einhieb. Zu seinen Füßen lag ein verkohlter Körper, in dem es nur mit Mühe Thorn erkennen konnte.
Es erstarrte. Übelkeit stieg in ihm auf.
Ein Hammer kam auf es zu. Pero hatte gemerkt, dass es sich hatte ablenken lassen. Der Schlag war langsam, dennoch konnte es ihm nur knapp ausweichen, zu sehr sah es die verbrannte Haut noch vor sich – und da spürte es ein schreckliches Reißen an seiner linken Hand. Schreiend sprang es zurück und ließ den Dolch und den goldenen Baum fallen. Quer durch das Fleisch zog sich ein klaffender Schnitt, so tief, dass seine Finger ihm nur noch zur Hälfte gehorchten. Und da war Blut. Schon wieder Blut!
Pero grinste und hob seinen blutverschmierten Haken. Es hatte zu sehr auf den schweren Hammer geachtet! Es wimmerte und war noch ganz benommen vor Schmerz, als es schon den nächsten Angriff auf sich zukommen sah, wieder mit dem fiesen Haken. Es stolperte zurück und hob den verblieben Dolch, um den Angriff abzuwehren. Der Haken verkeilte sich im Dolch, und während es noch versuchte, ihn zu lösen, sah es, wie Pero mit einem hämischen Grinsen mit seinem Hammer ausholte.
Plötzlich fuhr ein jäher Windstoß zwischen ihnen hernieder und riss sie auseinander. Es und Pero fielen zu Boden. Suchend hob es den Blick.
Thogger hatte seinen Stock und den runden silbernen Schild mit Stacheln zugleich erhoben. Böen brausten durch den Saal und zerrten an allem, was sie greifen konnten. Ein besonders heftiger Windstoß warf Callem zu Boden und entriss ihm seinen dunklen Schild.
„Thogger!“, schrie Callem wütend. „Was tust du?“
Der Tarus senkte den Kopf und betrachtete seinen Kapitän. Der rote Schimmer war aus seinen Augen verschwunden. „Ich rette die Welt! Ich rette … mein Volk!“
Ein gewaltiger Druck legte sich über die Halle, presste Callem, Pero und Meres zu Boden und ließ zugleich alle anderen unbehelligt. Es atmete schwer und rappelte sich auf.
„So lange konnte ich nur zusehen! So lange habe ich mich in die Irre leiten lassen! Doch das ist vorbei!“ Die Hand um seinen Stock zitterte, doch Thoggers Stimme war ruhig und kräftig. „Alles, was ich getan habe, habe ich für mein Volk getan! Nichts kann mich dazu bringen, sie jetzt im Stich zu lassen!“
Es sah, wie Niron den Schlüssel in das Schloss steckte, das die Ketten um Thorn zusammenhielt. Den anderen Thorn. Den echten Thorn. Den Fremden, der noch lebte. Es sah weg.
„Sie werden in Sicherheit sein!“, keuchte Callem, doch der Druck verstärkte sich nur noch weiter und bald japste er nur noch nach Luft.
„Sie werden tot sein!“, brüllte Thogger. „Eure giftigen Worte versagen! Der rote Stein ist fort! Ihr könnt mich nicht länger lenken! Ihr…“
„Thogger! Hinter dir!“, rief plötzlich Nirons Stimme erschrocken. Thogger drehte sich um, doch zu spät. Ean Quella stand hinter ihm. Sie stützte sich schwer auf ihren Stock und hatte die andere Hand auf die entsetzliche, klaffende Wunde in ihrem Bauch gepresst. Orfens Schwert hatte sie tödlich verwundet, und es hatte gedacht, sie könne sich höchstens noch in Schmerzen winden. Doch in ihren Augen lag kein Schmerz. Nur eine unheimliche Leere.
Thogger hatte kaum Zeit, den Sturmschild zu heben. Ein grelles Licht flammte auf, Ean Quellas Sock sauste nieder und Thogger ging zu Boden. Da war Blut. Schon wieder Blut! Der Sturmschild entglitt seinen Fingern. Ean Quella, die sich ohne ihren Stock nicht mehr aufrecht halten konnte, stürzte dem Hörnermenschen hinterher.
Ein lautes Heulen erhob sich über die Halle. Farblose Schemen tosten klagend um Thoggers Leichnam, auch es wurde von reißenden Winden erneut zu Boden gedrückt. Dann verschwanden die Gestalten und der Druck erlosch.
Es sprang auf, doch Pero war schneller. Während es noch sein Gleichgewicht wiederfand, hob der erste Maat seinen Hammer und ließ ihn mit einem triumphierenden Grinsen niedersausen. Kaltes Metall traf es in die Brust und es keuchte auf. Ansonsten geschah nichts. Der Schlag war kaum mehr gewesen als ein Stupser.
Pero betrachtete es verblüfft und starrte verwirrt auf seinen Hammer. „Meine Stärke…“, flüsterte er, und er klang, als trauere er um einen toten Freund. Es zögerte nicht länger und trieb ihm den Dolch in den Hals, ehe er sich wieder gefangen hatte.
Pero sackte in sich zusammen und röchelte. Unter Schmerzen presste er etwas hervor, das wie „Mein Kapitän…“ klang, dann regte er sich nicht mehr. Pero war tot. Doch der Kampf war noch nicht vorbei.



CHAOS senkte sich über eine Insel, die wie ein versteinerter Arrog aus den Fluten ragte, über einen schwarzen Berg in finsterer Tiefe und über die kleine, einsame Gestalt in der Glut darunter. Das Feuer der Tiefe erlosch. Alle Stimmen verklangen in der ohrenbetäubenden Stille, und aus Schmerz wurde Freiheit.
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Y - Der letzte Kampf (Fortsetzung)

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:33

Abenddämmerung, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

Thorn zuckte zusammen, als grüne Flammen direkt neben seinen Ketten aus dem Stein brachen. Doch der Pirat mit dem Silberhorn ließ nur notgedrungen den Schlüssel los und tänzelte unbeeindruckt einen Schritt beiseite.
„Du hättest mich töten sollen, als Thoggers Winde mich zu Boden pressten, Niron.“, sagte Meres mit tonloser Stimme.
„Aber wo wäre denn da die Herausforderung?“, lachte Niron. Er drehte sich beiseite, als Meres ein paar dunkle Körner nach ihm warf, die zu schwarzen Dornen sprossen, sobald sie den Boden berührten. „Außerdem will ich dich gar nicht töten, Meres.“
„Du wirst es tun müssen, wenn du die Helden befreien möchtest.“, antwortete der Hexer ruhig, während er vergeblich versuchte, seinen Umhang aus den immer weiter wachsenden Dornen zu lösen, bis er die Hälfte der Dornen schließlich mit einem Fingerschnippen niederbrannte.
„Meres!“, rief Thorn. „Wozu? Warum opferst du dein Leben und die ganze verdammte Welt für die Racheschwüre eines anderen?“
Meres wandte langsam den Kopf und sah ihn aus seinen dunklen Augen an. „Du verstehst es nicht. Ihr habt mich nie verstanden. Und ihr könnt gar nicht verstehen. Kentar hat euch nicht vergiftet.“
„Ich verstehe dich auch nicht.“, meinte Niron, und kurz huschte eine Regung über Meres´ Gesicht, ehe der Hexer sich wieder fing und eine Faust voll grünen Feuers nach Niron schleuderte. Der sprang mühelos beiseite und fuhr fort: „Kentar kontrolliert uns nicht einfach. Sie nimmt eine unserer tiefsten Sehnsüchte, eine unserer größten Ängste, und verstärkt sie, bis wir davon vergiftet werden und alles andere verblasst. Bis wir bereit sind, alles dafür zu tun. Bei Thogger war es der Wille, sein Volk zu schützen. Bei mir das Verlangen nach einer immer neuen Herausforderung. Beide diese Wünsche lassen sich nicht länger erfüllen, wenn die Welt zu Ende geht, deshalb verrieten wir Callem. Aber ich frage mich: Was möchtest du? Du zeigst so selten, was in dir vorgeht, Meres. Ich habe bis heute nicht begriffen, welchen Wunsch Kentar in dir genährt hat. Was es ist, was dich jetzt dafür kämpfen lässt, dass die Welt zu Ende geht…“
Während Niron gesprochen hatte, hatte er die verbliebenen Dornen umrundet und jetzt fast wieder das Schloss an Thorns Ketten erreicht, wo noch immer der Schlüssel steckte und auf seine letzte halbe Umdrehung wartete. Meres hob gebieterisch die Arme und Thorns Schwert, das zwischen seinen Sachen auf dem Boden lag, erhob sich plötzlich und folgte Meres´ Bewegungen. Niron jedoch schlug die Klinge mühelos mit dem Bruderschild beiseite.
„Ach Meres! Du kannst mich nicht überraschen. Ich bin der Späher der Yetohe und der Vol´tekai! Ich höre deine Hoffnungen aus dem Klang deines Atems, sehe deine Absichten in der Bewegung deiner Augen, spüre deine Zauber in den Wellen der Magie. Es scheint, das hier wird weniger herausfordernd als erhofft.“
Während Meres damit beschäftigt war, diversen metallenen Gegenständen auszuweichen, die sich unkontrolliert vom Boden erhoben und durch die Halle schossen, legte Niron die letzten Schritte zurück und hängte sein Horn weg. Ernst sah er Thorn in die Augen. Thorn erwiderte den Blick und sah nur aus dem Augenwinkel, wie Meres hastig auf Niron zeigte. Die letzten Metallteile fielen klappernd zu Boden, und zugleich schien sein ausgestreckter Zeigefinger unnatürlich anzuwachsen. Eine faltige Schlange, ohne Augen und mit Haut anstatt Schuppen, wuchs daraus, die sich mit Wucht von Meres´ Hand löste und auf Niron zuschoss.
„Glaub mir doch, du kannst mich nicht überraschen.“, meinte Niron hörbar gelangweilt, während er, ohne auch nur den Blick von Thorn zu nehmen, den Bruderschild hob. „In dem Moment, in dem du deinen Plan gefasst hast, verraten all deine kleinen unbemerkten Zeichen auch schon, welcher es ist.“
Die Schlange klatschte gegen den Schild und fiel herab in die schwarzen Dornen, wo sie kläglich zischelnd aufgespießt wurde und aufplatzte wie ein Wasserschlauch. Kurz verzog Meres schmerzerfüllt das Gesicht, ehe er wieder seine gewohnte undeutbare Miene zeigte.
„Es stimmt also.“, sprach Meres leise und tonlos. Sein neugieriger Blick ruhte auf den Überresten der Schlange und dem Blut, das zwischen den Dornen verrann. Thorn vermochte nicht zu sagen, ob er überhaupt registrierte, dass Niron die Hand um den rettenden Schlüssel legte. „Du hast mich wirklich nie verstanden, Niron. Von den vielen Folgen meiner Hexerei“, er machte einen vorsichtigen Schritt zurück, „folgt höchstens die Hälfte einem Plan.“
Niron erstarrte, als ein leises Rascheln zu hören war. Er sah über die Schulter, und zum ersten Mal seit Beginn des Kampfes konnte Thorn etwas wie echten Schrecken in seinen Augen entdecken. Wo das Blut der Schlange die Dornen benetzt hatte, wucherten plötzlich blutrote Blüten, die sich vor Thorns Augen in fleischige, schwarze Bälle verwandelten und anschließend mit leisem Plopp aufplatzen. Schwarze Körner wurden in alle Richtungen davonkatapultiert und krallten sich als neue Dornen in alles, was sie berührten. Thorn war durch Nirons Körper verdeckt und blieb verschont, der Späher jedoch wurde voll getroffen und war binnen Herzschlägen von schwarzen Ranken umschlungen. Unzählige feine Dornen bohrten sich in sein Fleisch und begannen ekelerregend zu pulsieren, als würden sie Niron aussaugen. Weitere rote Blüten sprossen allenorts hervor, die wieder neue Samen ausspuckten. Niron schrie gequält und taumelte zurück. Verzweifelt wand sich Thorn in seinen Ketten, doch vergeblich. Niron hatte das Schloss nicht geöffnet.
Mit ausdrucksloser Miene verfolgte Meres das grausame Schauspiel. Schließlich ließ er sein grünes Feuer auf die wachsenden Dornen los und verbrannte sie restlos zu Asche. Von Niron blieb nicht mehr zurück als ein verkohlter Körper, der noch immer den Bruderschild hielt. Vorsichtig näherte sich Meres, befreite den Schild von Ruß und nahm ihn an sich. Etwas verloren stand der Hexer inmitten der Asche, den Sternenschild in der einen und den Bruderschild in der anderen Hand. Erneut fraß sich ein Flimmern durch die Struktur der Welt. Alle klaren Kanten in Thorns Blickfeld schienen an Tiefe zu verlieren.
„Meres.“, rief Chada gepresst. „Bitte! Lass uns frei! Besinne dich auf das, was du einst warst.“
Meres hob den Kopf und antwortete ruhig: „Was ich war? Ich war allein. Von meinen eigenen Eltern ausgesetzt, weil sie meine Gaben nicht verstanden. Von allen ausgestoßen, gefürchtet und gehasst. Mit nichts als Misstrauen, Abscheu und Aberglauben behandelt. Der Fremde, die Missgeburt, der Hexer, dessen Künste stets Böses hervorriefen.“ Er schüttelte den Kopf. „Doch das ist vorbei. Auf Narkon konnte ich all das vergessen und andere finden, denen es ging wie mir. Die ebenfalls anders waren, und die sich doch zusammengefunden hatten. Die mich endlich akzeptierten. Ich fand eine Gemeinschaft der Einsamen. Und die werde ich nicht verraten.“
Meres sprach mit seiner üblichen, seltsam tonlosen Stimme, und sein Gesicht offenbarte nichts von dem, was in ihm vorgehen mochte, doch seine Hände waren fest um die Griffe der mächtigen Schilde verkrampft.
„Das ist es also.“, flüsterte Thorn. „Das ist es, was du all die Zeit wolltest. Was du gesucht hast, als du aus Andor fortgingst und zurückkamst. Was du noch immer willst. Das ist der Wunsch, den diese Kentar in dir verstärkt hat, um dich zu kontrollieren: Dazugehören!“
„Tut nicht so, als würdet Ihr mich verstehen, Thorn.“, erwiderte Meres. „Niemand hat mich je verstanden. Niemand bis auf Reka … und Kentar.“
Er wandte sich ab und betrachtete Callem, der soeben dem falschen Drukil sein Schwert in die Brust stieß und sich der falschen Chada zuwandte, die als letzte übrig geblieben war. Callem hatte den Feuerschild verloren, doch da Chada nur noch einen mickrigen Dolch hatte, wusste Thorn trotzdem, auf wen er wetten würde. Er schluckte und erhob die Stimme:
„Du kannst die Schwarze Kogge gar nicht mehr verraten, Meres. Sieh dich doch um! Ihr habt euch gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Deine teure Gemeinschaft ist längst zerbrochen. Es ist nichts mehr übrig, wo du dazugehören könntest!“
Der Hexer reagierte nicht einmal. Ruhig beobachtete er den Kampf und machte sich nicht die Mühe, einzugreifen. Thorn schrie und zappelte wild in seinen Ketten, doch der Schlüssel regte sich nicht. Die Ketten zogen sich so fest um ihn zusammen, dass er kaum noch atmen konnte.
„Meres, hör mich an.“, keuchte Eara leise. Ihr Gesicht war bleich und ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern, Blut lief aus ihrer armlosen Schulter dunkel über die glänzenden Ketten. Was Thorns wütende Schreie nicht geschafft hatten, gelang ihrer erschöpften Stimme augenblicklich. Meres warf einen Blick über die Schulter und wartete. „Thorn irrt sich. Er sagt, du gehörst nicht mehr dazu, aber die Wahrheit ist: Du hast niemals dazugehört.“ Kurz verengten sich Meres´ Augen. Eara holte keuchend Luft und fuhr fort: „Du hast gesagt, du wurdest akzeptiert. Aber akzeptieren bedeutet, jemanden so anzuerkennen, wie er ist. Ich habe in deinen Geist gesehen, Meres. Auf Sturmtal. Er ist zerfressen von Kentars Macht. Sie erfüllt dich mit Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit, von der du dich nicht befreien kannst. Sie hat dich verändert. Die Schwarze Kogge hat nicht dich aufgenommen, Meres. Sondern das, was Kentar aus dir gemacht hat. Es tut mir leid.“
Kraftlos sank Eara in sich zusammen. Meres musterte sie aufmerksam und drehte sich endlich wieder ganz zu ihnen um. Langsam sagte er: „Du denkst, ich wüsste das nicht? Die Schwarze Kogge ist nicht die Gemeinschaft, die ich mir wünschen würde. Doch sie ist die einzige, die ich je hatte.“
„Aber sie muss es nicht bleiben!“, rief Thorn. „Nicht wenn du verhinderst, dass alles zu Ende geht,“
„Ach, Thorn. Wer würde mich schon annehmen? Ich habe so lange gesucht. Das Misstrauen ist überall. Ich habe keine Hoffnung mehr, etwas Besseres zu finden.“
„Das ist Kentars Werk!“, sagte Chada ernst. „Von ihr stammt die Hoffnungslosigkeit, jemals wahrhaft dazuzugehören. Von ihr stammt die Einsamkeit. Doch du kannst dagegen ankämpfen. Du trägst den Schild, der das Licht der Sterne und den Glanz neuer Hoffnung in sich birgt. Du trägst den Schild, der Fremde zu Freunden macht. Nutze ihre Macht, Meres! Lass und Freundschaft schließen – ein zweites Mal.“
Meres öffnete den Mund einen Spalt weit. „Ich …“ Er senkte seinen Blick auf die beiden mächtigen Schilde in seinen Händen. Langsam hob er den Sternenschild an. Ein roter Schimmer glitt durch seine Augen, doch zugleich begann der Schild in seiner Hand metallisch zu summen. Und dann, von einem Moment auf den anderen, erlosch all das. Meres´ Blick klarte auf. Erschöpft ließ er die Schilde fallen und brach zusammen, bis er schluchzend er auf dem Boden kauerte.
„Nun, das ist jetzt unpraktisch.“, meinte da plötzlich eine sanfte Stimme. Thorn wandte den Kopf, soweit er es vermochte, und erblickte sie. Sie stand im Mittelgang zwischen den schwarzen Flammen und der Leere, die von Ken Dorr zurückgeblieben war. Die Frau mit der grünen Haut. Kentar. In ihrer Hand hielt sie den roten Stein, den sie verloren und wiedergefunden hatte. „Nach der ganzen Mühe, die ich mit dir hatte, kommt so ein blöder Schild und vermasselt alles. Traurig.“
Meres blickte auf. Und zum ersten Mal war sein Gesicht nicht ausdruckslos, sondern zeigte nur zu deutlich alles, was in ihm vorging. Thorn sah seine Schuld, seine Einsamkeit, seine Furcht vor Kentar mit ihrem roten Stein, aber auch seine Entschlossenheit und seinen Zorn.
„Kentar!“, zischte der Hexer hasserfüllt. Er griff nach den beiden Schilden und erhob sich. Nach einem prüfenden Blick auf den Bruderschild warf er ihn beiseite. Mit einem schallenden Klang verkantete er sich neben Thorns Kopf zwischen den Steinsitzen, direkt vor Lonas´ Schnauze.
„Du hast mir das angetan! Du hast das aus mir gemacht! Aber du kannst mich nicht mehr kontrollieren!“ In Meres´ freier Hand erschien eine grüne Flamme und tanzte zwischen seinen Fingern.
Kentar lächelte nur. „Oh, Meres! Nicht doch! Ich habe dir ein Geschenk gemacht!“ Nur knapp wich sie der Faust voll grünem Feuer aus, die nach ihr geschleudert wurde. „Du hast dich nach Gemeinschaft gesehnt. Du hast die ganze grausame Welt nach ihr abgesucht und doch immer nur Misstrauen, Angst und Zurückhaltung gefunden. Und du hast geglaubt, nur immer weiter suchen zu müssen, um sie zu finden. Ich verrate dir ein Geheimnis, Meres.“
Diesmal streiften die grünen Flammen sie an der nackten Schulter, und kurz verzog Kentar das Gesicht. Was erhoffte sie sich nur? Sie versuchte gar nicht erst, anzugreifen und Meres den Weg zum Schlüssel zu versperren. Sie wich nur seinen Angriffen aus. Glaubte sie etwa, ihn einfach überzeugen zu können?
„Das Problem war nie die Welt. Es war nie das Misstrauen der anderen, nie die Angst, die sie deinen Fähigkeiten entgegenbrachten. Das Problem warst du selbst! Du hattest mehr Angst als alle anderen vor den Fähigkeiten, die du nie zur Gänze verstanden hast. Du hattest Angst, was sie anrichten würden. Du hattest Angst, die zu verletzen, die dich annehmen. Du hast diese Distanz aufgebaut, Meres! Du hast dir selbst misstraut! Du konntest niemals Teil von etwas sein, weil deine Furcht, Schaden anzurichten, immer größer war als deine Einsamkeit. Und ich habe dir diese Furcht genommen. Das Bedürfnis, niemanden zu verletzen, habe ich aus dir herausgeschnitten. Nur so konnte sich dein Wunsch erfüllen.“
Kentar warf einen schnellen Blick zu Callem und der falschen Chada, die immer weiter von seinen weiten Schlägen in die Enge gedrängt wurde. Und da begriff Thorn. Kentar wollte Meres nicht auf ihre Seite ziehen oder ihn besiegen. Sie konnte beides nicht. Sie spielte auf Zeit! Wartete darauf, dass entweder Callem oder Qurun Meres besiegten. Sie lenkte ihn ab, damit er nicht auf die Idee kam, die echten Helden freizulassen.
„Meres, öffne unsere Ketten!“, rief Thorn gepresst. Doch der Hexer schien ihn gar nicht zu hören. Mit Tränen in den dunklen Augen fixierte er Kentar und versuchte, sie zu verbrennen und ihre giftigen Worte zum Verstummen zu bringen.
„Du brauchtest meine Hilfe, Meres! Und ich habe dir geholfen. Ich habe dich verändert, das stimmt. Weil niemand dein wirkliches Ich je akzeptiert hätte!“
Meres schrie zornig auf und rannte auf sie zu. Kentar grinste gehässig und wartete, bis er sie fast erreicht hatte, ehe sie den roten Stein hob. Meres blieb stocksteif stehen, den Blick fest auf ihre Hände gerichtet.
„Du bist ein Feigling, Meres!“, gackerte Kentar. „Deine Feigheit hat es dir unmöglich gemacht, dazuzugehören. Und deine Feigheit lässt dich jetzt stehenbleiben. Ich bin dir im Kampf nicht gewachsen, hätte dir nichts entgegenzusetzen, und doch bleibst du stehen. Weil deine Angst vor mir und Mutters Geschenk dich gefügig macht. So vorhersehbar.“
Meres starrte sie zitternd an und hob erneut den Sternenschild.
„Hahahaa! Du willst dir die Hoffnung herbeizaubern, die du selbst nicht besitzt? Erbärmlich!“
„Meres, hör nicht auf sie!“, rief Thorn. Er wusste nicht, wie lange die falsche Chada den Kapitän noch ablenken konnte. „Komm zurück und befreie uns!“
„Ja!“, kicherte Kentar höhnisch. „Genau, Meres! Dreh dich um und flieh! Wie du schon dein ganzes Leben geflohen bist! Vor deinen Eltern. Vor deiner Lehrmeisterin. Vor deiner Heimat. Vor den Helden. Vor der Schwarzen Kogge. Vor dir selbst!“
Meres ließ den Sternenschild fallen, ohne dessen Macht angezapft zu haben. Kentar lachte triumphierend. Verzweifelt versucht Thorn, mit seinem Kopf den Bruderschild zu berühren. Lonas beobachtete seine Bemühungen aus seinen tiefen grünen Augen und streckte ebenfalls die Schnauze. Doch es war und blieb unmöglich. Der Schild war für sie beide zu weit entfernt.
Plötzlich erhob Meres die Stimme: „Du hast recht, Kentar. Ich war ein Feigling.“ Verächtlich starrte er auf den Sternenschild zu seinen Füßen. „Doch jetzt laufe ich nicht mehr davon.“
Kentars Lachen blieb ihr im Halse stecken. Aus weit aufgerissenen Augen sah sie Meres an, der sich wieder in Bewegung setzte. Beide seiner Hände brannten lichterloh in grünem Feuer. Hektisch blickte Kentar sich um, doch zu ihren Seiten flackerte noch immer schwarz-silberne Flammen, und hinter ihr erhob sich, anstelle des höchsten Propheten, eine dunkle Leere, die in den Augen schmerzte.
„Komm nicht näher, du Narr!“, fauchte sie. „Du wirst uns beide…“
Da hatte Meres sie schon erreicht und rammte ihr mit voller Kraft seine brennenden Hände ins Gesicht.
Kentar heulte gequält auf und taumelte zurück, stolperte, fiel schreiend hinein in das zerfranste Loch in der Realität. Ihre Hand schnellte vor und klammerte sich verzweifelt an Meres´ brennende Finger. Der Hexer versuchte sie zu lösen, doch ein schrecklicher Sog hatte Kentar und damit auch ihn erfasst. Sie wurden eingesaugt wie in einen schrecklichen Strudel. Fasziniert und abgestoßen zugleich beobachtete Thorn, wie die Körper von Kentar und Meres langsam jeder Struktur beraubt wurden. Ihre Körper falteten sich zu bunten Scherenschnitten zusammen, aus denen nach und nach jede Farbe verschwand, bis sie als kaum mehr als blasse, durchscheinende Kohleskizzen in die Leere stürzten und dann ganz verwischten. Ausradiert aus der Ordnung der Welt. Aufgelöst in einer Wolke aus brodelndem Nichts.
Thorn wandte schwer atmend den Blick ab und musterte verzweifelt den Schlüssel, der noch immer unerreichbar fern im Schloss direkt an seinen Ketten steckte. Schließlich sah er wieder auf zu den beiden letzten Kämpfern, die noch verblieben waren: Die falsche Chada und Callem in einem Zweikampf, von dem mehr abhing, als ihm lieb war. So oder so war dies der letzte Kampf.


Auf ganzer Front rollte CHAOS gegen die Küsten eines Kontinents. Wie eine Sturmflut durchbrach es alle Dämme und riss das Land mit sich fort. CHAOS verschluckte die kahlen Äste eines uralten Waldes, einen Bären, der seine Freunde lange schon vergessen hatte, und den verkohlten Stumpf eines niedergebrannten Baumes. Die letzten Lieder aus Tinte und Pergament, die noch zwischen der glimmenden Asche lagen, verklangen zusammen mit dem Lied des Windes in tosender Stille.


Frühe Nacht, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

Callems Schwert beschrieb einen weiten, silbernen Bogen. Es duckte sich darunter hinweg und versuchte einen verzweifelten Gegenangriff, den es beinahe mit dem Leben bezahlt hätte. Es musste sich wegdrehen und entging nur um Haaresbreite Callems Schwertspitze. Sein Dolch war zu kurz und Callems Schwert zu schnell.
Keuchend wich es einem weiteren Schlag aus und brachte etwas Abstand zwischen sich und Callem. Es hörte sein Blut in den Ohren rauschen und spürte es warm über die verletzte Hand laufen. Vorsichtig ließ es seinen Blick durch die Halle schweifen. Nur Blut und Asche. Niemand war mehr übrig als die gefangenen Helden. Alles hing am Ausgang dieses Kampfes.
Callem kämpfte kontrolliert und stets auf seine Deckung bedacht. Mit seiner langen Klinge hielt er es auf Abstand, beobachtete es aufmerksam und versuchte sich an vorsichtigen, wohlkalkulierten Angriffen, denen es bisher mit einer Mischung als Geschick und Glück stets entgangen war. Der Kapitän hatte die überlegene Waffe und die Zeit auf seiner Seite, und er wusste es. Er drängte es nur immer weiter zurück, fort von den Helden und der letzten Chance, alles aufzuhalten.
Bald spürte es hinter sich den achteckigen Abgrund, aus dem die Kreaturen geklettert waren. Fremde Gefühle strömten auf es ein. Trauer, Einsamkeit und das Ende jeder Hoffnung.
Ein weiterer Schwerthieb! Es sprang zur Seite und es gelang ihm, etwas Entfernung zu dem Loch und Callems Schwert zugleich aufzubauen. Zugleich wusste es, dass es den Kapitän niemals besiegen würde, solange es immer nur auf Abstand blieb. Wie viel Zeit blieb noch?
Vor dem nächsten Angriff konnte es nicht schnell genug zurückweichen. Callems Schwert durchdrang mühelos die grüne Hose und versetzte ihm einen schmerzhaften Schnitt am Oberschenkel. Callem knurrte und setzte sogleich nach, und es musste eilig weiter zurückweichen. Unter seinen Stiefeln platschte schon die seltsame glänzende Pfütze, die von der leuchtenden Wand zurückgeblieben war.
Es war zwecklos! So würde es nie gewinnen! Der Dolch kam einfach nicht in Callems Nähe. Zum ersten Mal wünschte es sich das Zupfding und einen Pfeil herbei.
Nachdenklich hielt es inne und dachte zurück an Mutters Lektionen.
Deine Hände wissen, was sie tun müssen. Vielleicht…
Als Callem zum nächsten Schlag ausholte, hob es den Arm und schleuderte ihm seinen Dolch entgegen. Die Waffe trudelte ungelenk durch die Luft und prallte mit dem Griff gegen Callems ledernen Brustpanzer. Der Kapitän senkte den Blick seiner kalten gelben Augen auf die letzte Waffe, die es gehabt hatte, hob ihn wieder, senkte ihn erneut.
Es nutzte Callems offensichtliche Verwirrung über eine derart dumme Idee, um zumindest rasch an ihm vorbeizuschlüpfen. Callem schrie, es sah das Schwert noch auf sich zukommen, dann war es darunter hinweggetaucht und vorbei. Ohne langsamer zu werden rannte es weiter, der pochenden Wunde in seinem Oberschenkel zum Trotz. Es hatte keine Ahnung, ob Callem aufholte, es hörte nur den eigenen keuchenden Atem und trommelnden Herzschlag. Rannte immer weiter. Vorbei am achteckigen Abgrund, aus dem fremde Gefühle strömten. Vorbei an Drukil, Nummer Drei, der von Callems zweitem Schwert durchbohrt in seinem Blut lag. Vorbei an den verkohlten Überresten von Thorn. Vorbei an Pero, den es selbst erstochen hatte. Vorbei an der Asche ausgelöschter Kreaturen. Vorbei am toten Niron, der es bis zu den Helden geschafft und sie doch nicht befreit hatte. Der kleine, silberne Schlüssel steckte in einem unscheinbaren Schloss an den Ketten des echten Thorn. Fast schon konnte es ihn greifen, es streckte bereits die Hand aus – und da, plötzlich, brach brüllend eine Wand aus Feuer aus dem Boden, die Flammen schwarz und silbern und so heiß, dass das Blut auf seiner aufgeschlitzten Hand augenblicklich trocknete. Stolpernd kam es zum Stehen.
Durch die zuckenden Flammen hindurch konnte es undeutlich die drei echten Helden sehen, und dahinter, ebenfalls von Ketten umwickelt, das große Tier, von Krumm ein Wolf genannt, mit schwarzem Pelz und scharfen Zähnen, das es fest aus traurigen grünen Augen ansah. Es war ein Blick, der es ganz und gar ausfüllte, der glatt durch Fleisch und Knochen drang, der ihm bis auf Seele starrte und sie begrüßte wie einen alten Freund. Es war, als hätte es diesen Wolf schon immer gekannt.
Langsam drehte es sich um. Callem stand nicht weit entfernt und musterte es kalt. Dunkle Flammen umzüngelten seinen Körper und in seiner Hand hielt er den unheimlichen schwarzen Schild, der am Ende näher als die Helden gewesen war.
„Callem.“, rief es verzweifelt. „Die Welt ist voller Leid und Blut, aber sie ist auch bunt und aufregend und voller Wunder. Ein wunderschönes, komplexes Spiel. Wie kannst du wollen, dass es jetzt schon endet?“
Callem schüttelte traurig den Kopf. „Wollen?“, fragte er leise. „Du denkst wirklich, ich würde das
wollen? Ich tue das nicht, weil ich es will. Glaub mir, Chada, auch ich wünsche mir ein anderes Ende. Ich habe die Welt nie in mein Herz gelassen, aber es ist auch die Welt, in der ich lebe. Die Welt, in der Leander lebte. Unser Band wird zusammen mit ihr zerreißen, und nichts könnte ich weniger wollen.“ Er schüttelte schwach den Kopf. „Doch ich habe geschworen, den Helden von Andor alles zu nehmen, sollte mein Bruder sterben. Und was ich geschworen habe, das halte ich.“
„Aber niemand möchte, dass du diesen Schwur hältst. Nicht einmal du selbst!“, flüsterte es flehend.
Callem presste verächtlich die Kiefer aufeinander. „Sag mir, Chada“, stieß er wütend hervor, „welchen Sinn hat ein Schwur, den man nur hält, wenn man es
möchte?“ Kälte trat in seine Augen. Es wusste, dass es verloren hatte. „Egal, ob ich es möchte, egal, ob es mir nützt: Was ich geschworen habe, das halte ich. Um jeden Preis!“
Das dunkle Feuer zischte gierig und begann, sich um es herum zu einem unregelmäßigen Ring zusammenzuziehen. Chada rannte erneut los, ohne zu wissen, wohin. Nur fort von den Flammen. Das Feuer trieb es unbarmherzig vor sich her, genau zu Callem, der es schon erwartete. Als es noch vier Schritte vom Kapitän entfernt war, hob er den dunklen Schild. Die Flammen um seinen Körper brausten hoch, vereinigten sich mit denen, die es verfolgt hatten, und schlossen den Kreis. Umfingen es von allen Seiten.
Mitleidlos blickte Callem es an, und brüllend stürzten die Flammen los. Und es sprang, genau ins schwarze Feuer. Seine Kleider vergingen noch im Flug zu Asche. Seine Haut färbte sich schwarz, zog sich zusammen, platzte auf. Der Gestank von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. Doch all das bekam es kaum mit. Der sengende Schmerz und die Hitze raubten ihm jedes andere Gefühl. Es schrie, schrill und hoch, und die glühende Luft brannte sich durch seinen Hals.
Dann berührten seine Finger glattes Metall und die unmittelbare Hitze erstarb. Schwarz-silberne Flammen tanzten um seinen Körper, ohne es zu versengen. Wimmernd und keuchend klammerte es sich mit verkohlten Fingern kraftlos an den Rand des Schildes, obwohl jede Berührung wie Klingen in seine Haut stach.
Callem sah auf es herab. In seinen gelben Augen lag die stumme Bitte, das Ende abzuwenden, und zugleich der eiserne Wille, seinen Schwur einzuhalten. Es wusste, Callem wünschte sich nichts sehnlicher, als diesen Kampf zu verlieren. Und würde doch alles geben, damit es nicht dazu kam.
Callem zerrte am Schild, und es wimmerte gequält, zum Schreien hatte es keine Kraft mehr. Es klammerte sich nur ans scharfe Metall und ließ sich mitschleifen. Der Boden riss brutal seine verbrannten Beine auf. Alles verschwamm. Der überwältigende Schmerz erfüllte seinen ganzen Geist. In weiter Ferne sah es verschwommen, wie Callem mit dem Schwert ausholte.
Und da spürte es erneut einen tiefen, grünen Blick in seinem Rücken, und unverbrüchliche, bedingungslose Treue. Und noch mehr. Es spürte etwas, was es noch nie zuvor gespürt hatte, nicht bei seinen Geschwistern, nicht bei Mutter, nicht bei dem Mädchen mit den goldenen Augen.
Plötzlich durchströmte es frische Kraft, so gewaltig, dass es den Schmerz einfach beiseiteschieben konnte. Klar konnte es sehen, wie Callems Schwert einem silbernen Lichtstrahl gleich herniederfuhr, es in die Brust traf und tief darin versank.
Es keuchte und hustete Blut. Callem zog das Schwert wieder heraus, und es sah sein Blut aus der klaffenden Wunde sprudeln und in Strömen über die verkohlte Haut fließen.
Doch noch immer brannte die unbändige Kraft in seinen Adern. Unsicher richtete es sich auf. Callem starrte es an, sein Mund öffnete sich einen Spalt, und er ließ vor Verblüffung fast sein blutbesudeltes Schwert fallen. Es erwiderte den Blick des Kapitäns, schloss seine Finger noch fester um den schwarzen Schild und zog daran. Callem wurde fast davongeschleudert, ehe sein Griff sich löste. Er rollte zu Boden, und das schwarze Feuer fiel gnadenlos über ihn her. In seinem Blick lagen Schmerz, Überraschung und Dankbarkeit. Und dann nichts mehr.
Es drehte sich taumelnd um. Versuchte Luft zu holen und spuckte nur Blut. Zu seinen Füßen tanzten silberne Flammen. Ein trauriger Blick aus tiefen grünen Augen traf es. Augen, funkelnd wie Wellen im Sternenlicht, und größer als seine verkohlten Hände. Der seltsam vertraute Wolf – er war auf mindestens die dreifache Größe angewachsen! Seine Schnauze berührte den runden, hellbraunen Schild, den zuvor Niron getragen hatte und der jetzt dort zwischen zwei Sitzen klemmte. Plötzlich nicht mehr zu weit entfernt. Und durch diesen Schild hindurch spürte es eine seltsame Verbindung zu diesem Wolf, es spürte seine Treue und Freundschaft und gewaltige Stärke, die es noch auf den Beinen hielt, nachdem es von alleine längst umgekippt wäre – und es spürte seinen Schmerz, und die Kälte, die sich durch den ganzen riesigen Körper ausbreitete.
Jetzt erst konnte es seinen Blick von diesen tiefen grünen Augen lösen. Jetzt erst bemerkte es, in welcher Verfassung der Wolf war. Sein gesamter Bauch war zerrissen, die Brust eingedrückt, die Beine zermalmt. Wo zuvor sein glatter, schwarzer Pelz gewesen war, war jetzt eine blutige Masse aus Fleisch, Haaren und Knochensplittern, gewaltsam von den scharfkantigen Kettengliedern zerkleinert. Der Wolf mochte gewachsen sein, doch seine Ketten waren es nicht.
Und hinter der schleichenden Kälte spürte es den eisernen Willen, alles zu geben, um den Schlüssel noch umzudrehen. Dieser Wille war es, der die beiden Todgeweihten verband. Dieser Wille war es, der es einen Schritt setzen ließ, und einen zweiten. Stolpernd näherte es sich den Helden, sah nichts mehr als den kleinen silbernen Schlüssel. Es durchschritt die Wand aus schwarzen Flammen, streckte ein zweites Mal die Hand aus … und spürte, wie sein Herzschlag und der des Wolfes zur selben Zeit erstarben, als ihre Körper im Kampf gegen Schmerz und Blutverlust unterlagen. Schlagartig verließ es die Kraft des Wolfes und der Schmerz kehrte mit aller Macht zurück. Es musste den dunklen Schild fallen lassen und sank in die Knie. Ein letzter Schwall Blut quoll aus seinem durchstoßenen Brustkorb. Der Schlüssel verschwamm vor seinen Augen. Alles wurde dunkel.
Mit letzter Kraft hob es die Hand, bis seine verkohlten Finger an den Schlüssel reichten. Selbst diese Berührung schmerzte, doch es presste seine Fingerspitzen in den Metallring, bis der Schlüssel in sein Fleisch schnitt und sich dann mit einem leisen Klicken umdrehte. Klirrend fiel das Schloss ab.
Thorns Blick traf es. In seinen blauen Augen sah es keine Furcht, nur die Hoffnung, die es sonst stets zerbrochen hatte. Dann schloss es die Augen und ließ sich endgültig fallen.
Das Blut versiegte, und der Schmerz war vergessen.



CHAOS kam zusammen mit der Nacht über das offene Land. Es tauchte goldenes Gras und weiß schimmernden Schnee in schillernde Dunkelheit, senkte sich über die rauchende Ruine einer geschleiften Burg und riss sie auf immer ins Vergessen.


Frühe Nacht, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

Thorn erschauderte, als die Frau mit Chadas verbranntem Gesicht ein letztes Mal die Augen schloss und erschlaffte. Sie war nicht Chada gewesen, oder zumindest nicht die Chada, die er liebte, das wusste er, und doch – der Anblick zerriss etwas in ihm, schmerzte weitaus stärker, als es geschmerzt hatte, den Tod seines eigenen Ebenbilds mitansehen zu müssen.
Er schloss kurz die Augen, drängte den Gestank von verbranntem Fleisch zurück und streifte seine Ketten ab. Im Licht des silber-schwarzen Feuers suchte er das Schloss, zog den kleinen Schlüssel heraus und befreite nacheinander Chada und Eara.
Die Magierin brach fast zusammen, als sie aufzustehen versuchte. Die komplette linke Hälfte ihrer schwarzen Robe war in das Blut getränkt, das langsam und stetig aus ihrer offenen Schulter rann. Chada improvisierte einen Verband aus dem nutzlosen Ärmel, dann ließ Eara sich ihren Stab reichen und stand wackelig auf. Thorn und Chada standen bereit, sie zu stützen.
„Da sind wir also.“, murmelte Thorn rau. „Nur wir drei, scheinbar chancenlos und bereit, alles zu ändern. Genau wie damals, vor über 17 Jahren, als wir uns das erste Mal trafen.“
„Damals waren es nicht nur wir drei.“, entgegnete Chada mit einem traurigen Blick zu Lonas. Thorn verfluchte sich für seine unbedachten Worte.
„Nichts ist wie damals…“, presste Eara müde hervor. „Und wir haben … keine Zeit, in Erinnerungen zu schwelgen. Wir sind frei … aber wie geht es weiter?“
Thorn holte tief Luft und rief sich Hrals Prophezeiung ins Gedächtnis.
Wenn der gezeichnete Verkünder entsteht,
und in falscher Ordnung wieder vergeht,
finden die, welche ohne Argwohn verbrannten,
der Sklavenschinder Ende, das sie nicht erkannten,
den reglosen Herrscher in ewiger Wacht,
den Wächter, der aus Stehen Werden macht,
wo zusammenflossen Blut der Ewigkeit,
der Staub des Todes und das Wasser der Zeit,
und wenn sie nur seinen Namen sagen,
wird er erwachen und das Unheil vertagen.

„Wir müssen den reglosen Herrscher aus Hrals Prophezeiung finden.“, meinte er, wobei er den Gedanken verdrängte, dass diese Prophezeiung angeblich nicht eintreffen würde. „Wir müssen seinen Namen sagen, und dann wird er … das Unheil vertagen.“ Thorn verstummte ratlos und fügte schließlich kleinlaut hinzu: „Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie dieser Name lauten soll.“
„Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist!“, entschied Chada. „Vielleicht haben wir nur noch ein paar Herzschläge, aber vielleicht bleiben uns auch noch Tage oder Monde. Wir müssen schnellstmöglich herausfinden, wohin wir müssen!“
Ein weiteres lautloses Zittern lief durch die Halle. Der Fels schlug unscheinbare Wellen, die auch Thorns Körper erfassten. Er fühlte sich seltsam, wie zusammengepresst. Übelkeit stieg in ihm auf, und die Gewissheit, dass sie keine Tage oder Monde mehr hatten. Die Leere, die von Ken Dorr geblieben war, hatte sich inzwischen bis auf die Steinsitze ausgebreitet, und dunkle Stränge zogen sich wie Risse in alle Richtungen weiter und lösten auf, was immer sie berührten.
… wo zusammenflossen Blut der Ewigkeit,
der Staub des Todes und das Wasser der Zeit …
“, murmelte Thorn. An das Blut der Ewigkeit erinnerte er sich nur zu gut. Mussten sie etwa in der Nähe von Nar´Al´Pans Höhle suchen? Thorn stand wirklich nicht der Sinn nach einer dritten Begegnung mit dem Giganten.
„Die Prophezeiung … ist nicht alles, was wir haben…“, keuchte Eara. „Themauras´ Tafel… Leanders Übersetzung… Das dritte Herz…“
Chada runzelte die Stirn, doch Thorn begriff, worauf die Magierin hinauswollte. „… das dort beginnt, wo die anderen beiden enden…“, zitierte er leise. „Du hast recht, Eara! Wenn Themauras sich nicht irrte, dann laufen alle drei Herzen in einem Punkt zusammen. Dort, wo das dritte beginnt.“
Eine leichte Blässe stieg in Chadas Gesicht auf. „Aber das heißt…“
Thorn nickte. „Ja! Wir müssen zum alten Herz der Ewigkeit! Wir müssen zum Baum des Blutes!“
Beklommen betrachtete er das perfekte, achteckige Loch im Boden. Das Loch, aus dem Scharen von Kreaturen gestiegen waren. Das Loch, aus dem noch immer unablässig fremde Gefühle strömten. Der Zugang in eine andere Welt, gebaut auf den Knochen ungezählter Kreaturen und den Träumen der Drachen.
„Wir müssen nach Krahal!“


CHAOS zwängte sich durch die engen Gänge einer weitläufigen Mine, löschte alle Fackeln und die Feuergeister der Tiefe ebenso wie die Lebensfunken der Zwerge, deren Äxte machtlos waren gegen diesen Feind. Es verschlang einen Schmied, der den Edelstein umklammerte, für den er eine falsche Krone und eine echte Welt gegeben hatte. Ein Fürstenpaar, das der Dunkelheit Hand in Hand entgegensah. Und ein Mädchen, das nach tagelangem Schlaf die bunten Augen aufschlug und ein einziges Mal keine Muster sah, sondern nur CHAOS.
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Z - Der Träumer der Zeit

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:34

Z – Der Träumer der Zeit

Frühe Nacht, 31. Wintertag 77 A.Z.
Halle des Hohen Rates, Krahalzar

„Wir müssen nach Krahal!“, verkündete Thorn ernst. Chada folgte seinem Blick zu dem großen, achteckigen Loch, das Taroks Kreaturen gegraben hatten. Kein Licht drang aus der Tiefe hervor, nur ein steter Strom von grauenhaften Gefühlen.
„Es ist unmöglich.“, flüsterte sie. Von Krahal war kaum mehr bekannt als vage Märchen über eine lichtlose Welt voller geschuppter Kreaturen und den Geistern der Drachen. Sie alle stimmten darin überein, dass Krahal für Menschen unerreichbar war. Sie empfand keinerlei Hoffnung und wusste zugleich, dass diese Hoffnungslosigkeit nicht aus ihr selbst entsprang, sondern aus den Gefühlen der Tiefe. „Und dennoch müssen wir es versuchen!“
Sie ließ ihren Bogen Audax fallen und näherte sich vorsichtig der entsetzlichen Leere, die zuerst Ken Dorr und dann Meres und Kentar verschlungen hatte. Wie ein schwerer, dunkler Klumpen hing sie in der Halle. Thorn und Eara sahen Chada verständnislos hinterher. Als sie näher kam, hörte sie etwas wie ein verheißungsvolles, lautloses Flüstern, das wortlos grenzenlose Freiheit versprach. Zugleich verblasste das Grün ihrer Kleidung mit jedem Schritt, den sie näher kam, mehr und mehr zu einem verwaschenen Grau ohne Tiefe und ohne klare Konturen.
„Chada?“, rief Thorn, die Besorgnis in seiner Stimme ließ sie lächeln. Sie blieb stehen und schenkte der Dunkelheit einen langen Blick, ehe sie sich bückte und den Sternenschild aufhob, den Meres fallengelassen hatte. Sobald ihre Finger das kühle Metall berührten, spürte sie neue Hoffnung in sich aufsteigen.
Sie nahm den Schild und entfernte sich schnellstmöglich von der lockenden Dunkelheit. „Die Gefühle aus Krahal, die schon hier spürbar sind – ich will nicht wissen, wie stark sie dort unten sein werden.“, erklärte sie ernst. „Wir werden alles brauchen, was uns helfen kann. Nehmt mit, was ihr für nützlich haltet, den Rest lasst hier. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren,“
Thorn holte den Sturmschild von Thoggers Leichnam, Eara klemmte sich nach kurzem Überlegen die kleine silberne Truhe, die Kenvilar ihnen geschenkt hatte, unter den verbliebenen Arm. Da sie den Stab so nur noch schwer als Stütze gebrauchen konnte, nahm Chada ihr die Truhe schließlich kommentarlos ab. Wieder einmal war sie erstaunt, wie leicht das Metall war.
Sie stellten sich an den Abgrund und spähten in die Tiefe. Die Wände des perfekten Achtecks waren glatt und fielen senkrecht nach unten ab. Niemals hätte Chada den Kreaturen so etwas zugetraut. Vor vielen Jahren hatte sie im Wachsamen Wald in einer Festung gekämpft, die Skrale auf den Grundmauern einer älteren Ruine errichtet hatten. Doch das Gebäude war niedriger gewesen als die Bäume ringsum und so wackelig, dass es leicht einzureißen gewesen war. Was sie nun hingegen vor sich sah, war makellos.
„Werden wir … kein Licht brauchen?“, flüsterte Eara nach einem Blick in die Tiefe.
Chada hob den Sternenschild. „Das Licht der Sterne wird uns leiten.“
Sie nickte Thorn zu, der Krieger hob den Sturmschild über seinen Kopf und ein eisiger Wind kam auf, erfasste die drei Helden und hob sie unsanft vom Boden. Windböen rissen Chada nach oben, zerrten an ihrem Haar, warfen sie unregelmäßig hin und her. Sie erhaschte kurze Blicke auf Thorn, der mit angestrengtem Gesicht versuchte, sie kontrolliert absinken zu lassen. Und auf ein unnatürliches Flimmern, das durch die Halle huschte und die Welt seltsam flach und farblos zurückließ. Die Leere im Zentrum der halbkreisförmigen Halle breitete sich aus, und zuckende schwarze Linien wuchsen wie Risse daraus hervor.
Dann versanken sie im achteckigen Loch, die Halle verschwand, und Dunkelheit umfing sie.


CHAOS rollte wie eine dunkle Lawine über das Graue Gebirge. Die schneebedeckten Gipfel im silbernen Licht verschwanden. CHAOS zerriss einen selbsternannten Gott, der in einer blutleeren Höhle einsam auf den Tod wartete. Eine Kolonie von Agren und ihre schlafende Älteste. Und den Stumpf eines schwarzen Baumes, in dem drei Schemen auf das Ende warteten, das sie gesehen hatten. Die kranken Wälder, die nebelverhangenen Schluchten, die Türme und Festungen, die weit verzweigten Höhlen, alles verging in dem Sturm, der die Welt verschlang.


Frühe Nacht, 31. Wintertag 77 A.Z.
Weg nach Krahal, Adern der Welt

Als im sanften Schimmer des Sternenschildes endlich etwas wie fester Boden unter ihnen auftauchte, erstarben die Winde und die letzten zwei Schritte fielen sie einfach. Chada kam unsanft mit der Schulter auf und stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus. Soweit sie es mitbekam, erging es Thorn kaum besser, und Eara brauchte Hilfe beim Aufstehen, auch wenn das wohl eher ihrer Schwäche als dem Aufprall geschuldet war.
Es war drückend heiß und vollkommen dunkel bis auf das Licht des Sternenschildes. Das Metall hatte immer heller zu strahlen begonnen, je tiefer sie kamen, als würde es die Drachenmagie in seiner Umgebung aufsaugen. Eine schimmernde Kugel aus bläulichem Licht hüllte die drei ein und hielt die Schatten fern, die sich an die seltsam glatten Wände schmiegten. Hin und wieder jedoch flackerte der Schild besorgniserregend, und Chada befürchtete, dass das Licht der Sterne nicht beliebig weit in die Tiefe reichte.
Ohne sich abzusprechen liefen sie los, folgten eilig dem Weg, der spiralförmig abwärts führte. Die Architektur des Ganges – sofern man von Architektur sprechen konnte – glich nichts, was Chada je gesehen hatte. Es gab nur kalte, präzise Linien, wie mit einem Lineal durch den dunklen Fels geschnitten. Doch was sich aus diesen Linien zusammensetzte waren keine rechten Winkel, sondern seltsam verschlungene geometrische Strukturen, die jeder Statik zu trotzen schienen, als wären sie nicht gehauen, sondern erdacht; entstanden nicht aus Kraft und Gewalt, sondern aus purer Fantasie. Steingewordene Gedanken.
Sie passierten merkwürdige, gezackte Säulen, die einfach in der Luft zu schweben schienen. Anmutig geschwungene Muster, die wie gebrochene Stacheln aus den Wänden ragten. Fragile Geflechte aus feinsten Linien, zwischen denen sich das Licht verlor. Die Ausschnitte der Formen, die der Sternenschild aus den Schatten riss, waren fremdartig, aber auf eine bizarre, grausige Weise auch schön, so wie ein Blitzschlag schön sein kann. Nichts hier schien einem anderen Zweck zu dienen, als flüchtige Fantasien in Stein zu fassen.
Doch war es überhaupt noch Stein? Die Wände waren glatt, tiefschwarz und seltsam konturlos, wie gefrorene Schatten. Die einzigen hellen Flecken, die Chada außerhalb des engen Kreises aus Sternenlicht erkennen konnte, waren Häuflein aus grauer Asche. Sie waren überall, säumten ihren Weg in die Tiefe und bedeckten den Boden, über den sie liefen. So grausam die Tat auch gewesen war, für den Moment war sie Ken Dorr dankbar, dass er alle Kreaturen ausgelöscht hatte. Niemals hätten sie sich den ganzen Weg hier hindurchkämpfen können.
Sie kamen nur langsam voran. Ohne dass Chada benennen könnte, woran es lag, fühlte sich der Untergrund längst nicht mehr wie sicherer Boden an, eher wie ein loses Netz aus hauchzarten Fäden, auf dem sie über einen bodenlosen Abgrund balancierten. Zudem erwartete sie, hinter jeder Biegung des Ganges auf ein Meer aus glühenden weißen Augen zu stoßen, obwohl sie genau wusste, dass es keine der dunklen Kreaturen mehr gab.
Vor allem jedoch war es Eara, die sie aufhielt. Die Magierin stolperte schwach hinter Chada und Thorn her, gerade noch so im Radius des Sternenschildes. Während Chada am liebsten in einen Dauerlauf gefallen wäre, konnte Eara nur einen mühsamen Schritt nach dem anderen setzen, bei jedem stützte sie sich schwer auf ihren Stab. Ihr Gesicht war totenbleich und glänzte vor Schweiß. Ihr Blick war in sich gekehrt, von ihrer Umgebung schien sie nichts mehr mitzubekommen, Chada wusste, sie wären ohne Eara schneller gewesen. Doch egal, wie viel Zeit sie verloren, egal, was auf dem Spiel stand: Chada würde sie nicht im Stich lassen!
Sie signalisierte Thorn zu warten, bis Eara die wenigen Schritte aufgeschlossen hatte, dann hielt sie anbietend ihren Arm bereit, um ihre Freundin zu stützen. „Eara“, sagte sie sanft, und dann, nachdem die Angesprochene nicht reagierte, noch einmal energischer: „Eara!“
Die Magierin hielt inne und sah müde auf. „Was … gibt es?“, fragte sie schwach. Dann erst fiel ihr Blick auf den hingehaltenen Arm, und Ablehnung trat in ihre Augen. „Oh nein! Ich werde nicht…“
In diesem Moment geschah es. Das Licht des Sternenschildes flackerte unruhig und erlosch dann ganz. Das beruhigende metallische Summen verklang. Und zusammen mit der Dunkelheit kamen die fremden Gefühle, rissen an Chadas Verstand, fluteten ihr Bewusstsein mit Schmerz, mit Trauer, mit einer Verzeiflung, so schwer, dass sie sie zu Boden zog und ihr die Luft raubte, und mit tiefer Hoffnungslosigkeit, in der sie versank wie in einem stillen, dunklen See, dessen lähmende Eiseskälte ihr schmerzhaft in die Glieder fuhr, bis selbst ihr rasender Herzschlag kapitulierte. Stumm sank sie in diese Gefühle hinein, und am Grund fand sie noch mehr. Sie sah Flammen, schwarz und silbrig, die sie umhüllten, die ihr dunkles Schuppenkleid verzehrten und ihre ledrigen Flügel versengten. Wie konnte das geschehen? Nichts brannte heißer als Drachenfeuer! Und plötzlich hörte sie einen lautlosen Schrei, angefüllt mit heißem Zorn, kalter Furcht und dem Wunsch nach Vergeltung: Verrat!
Ein sanftes, metallisches Summen erklang, ein leichtes Vibrieren kitzelte an ihren Fingerspitzen, und im nächsten Moment umgab sie ein tröstlicher Lichtschimmer und vertrieb die Dunkelheit und die Gefühle, als wären sie nicht mehr gewesen als ein böser Traum.
Keuchend schnappte Chada nach Luft, ihr Herz hämmerte wie ein verrückter Trommler und ein leiser Kopfschmerz hatte sich in ihrem Schädel festgesetzt, an einem Ort, wo zuvor etwas Besseres gewesen sein mochte, an das Chada sich nicht mehr erinnern konnte. Zitternd umklammerte sie den Sternenschild, bis Wärme und Hoffnung in ihr aufstiegen und die grauenhaften Gefühle zumindest ein Stück weit verdrängten. Doch sie waren noch immer da. Sie schwangen in der Luft um sie herum, pulsierten durch die dunklen Wände und erfüllten ihre Lungen mit einer Kälte, die sie zuvor nicht gekannt hatte.
Kein Mensch könne Krahal erreichen, so hieß es. Chada hatte daran geglaubt. Sie hatte geglaubt, eine Felsschicht von vielen Meilen Tiefe und eine Welt voller Kreaturen würden jeden Versuch vereiteln. Doch jetzt begriff sie, was der wahre Grund war: Sie waren in kaum mehr als der Vorhalle nach Krahal, dessen war sie sich bewusst. Und doch – ohne den Sternenschild wären sie nicht bis hier gekommen. Die Gefühle, die diesen Ort tränkten, würden jeden menschlichen Geist in Stücke reißen. Einzig ein von Drachenmagie durchtränktes Stück Metall bewahrte sie davor, sich in ihrer Hoffnungslosigkeit zu verlieren. Sie wusste, ohne den Sternenschild würde sie sich augenblicklich an Ort und Stelle zusammenkauern und zu atmen aufhören. Jetzt leuchtete der Schild wieder ruhig und gleichmäßig, doch wie lange würde seine Macht noch reichen?
Thorn gelang es als erstem, wieder auf die Beine zu kommen. Er hielt ihr auffordernd die Hand hin und setzte ein schwaches Lächeln auf, doch Chada erkannte das Grauen in seinen blauen Augen. Sie ergriff seine Hand und ließ sich aufhelfen. Seine Finger waren tröstlich warm und sein Griff fest. Auch als Chada schon stand, ließ sie ihn nicht mehr los.
Eara lag mit zittrigem Atem am Boden, umklammerte ihren dunklen Stab mit ihrer verbliebenen Hand, und versuchte nicht einmal mehr, aufzustehen. Chada ließ den Sternenschild an ihrem Arm hinaufgleiten und streckte die freigewordene Hand nach Eara aus. „Komm, wir müssen weiter.“
Eara blickte müde auf. „Nein“, flüsterte sie, „ihr müsst weiter. Ich halte euch zu sehr auf. Das hätte mir schon viel früher klar werden müssen.“
„Wir können dich stützen.“, bot Thorn an. „So kommen wir schneller voran, und…“
„Und doch langsamer, als wenn ihr mich einfach hier lasst.“, unterbrach Eara ruhig. „Jeder Herzschlag zählt. Ihr könnt euch keine weiteren Verzögerungen mehr leisten.“
Chada schüttelte entschieden den Kopf. „Wir lassen dich nicht zurück! Schon gar nicht hier! Sobald wir mit dem Sternenschild verschwinden, werden die Gefühle zurückkommen!“
„Gut.“, erwiderte Eara schwach lächelnd. „Ich habe mich ihnen lange genug verschlossen.“ Sie schloss die Augen. „Ich weiß, dass ihr niemanden zurücklasst, doch ich tue es. Ich habe jeden geopfert, der meinen Zielen im Weg stand. Jetzt bin ich selbst an der Reihe. Das ist meine Entscheidung, nicht eure. Ihr könnt mich nicht zum Mitkommen zwingen.“
Chada schluckte. „Eara, bitte! Lass nicht zu, dass die Hoffnungslosigkeit dich übermannt. Hier, leg deine Hand auf den Sternenschild und …“
Eara schlug die Augen auf. Ernst sah sie nach oben. „Ich spüre Hoffnung, Chada.“, sprach sie langsam. Sie legte ihre Hand auf das bläulich schimmernde Metall, ohne dass sich der Ausdruck ihrer Augen änderte. „Hoffnung, dass ihr beide es vollenden könnt. Dass ihr alles retten könnt. Dass ihr bis zum Herzen kommt, den Namen erratet und das Schicksal abwendet, das uns allen droht. Und ich werde all das nicht aufs Spiel setzen, indem ich euch aufhalte.“
Sie musste erkannt haben, dass Chada widersprechen wollte, denn etwas sanfter fügte sie hinzu: „Chada, bitte … Vertraust du mir?“
Chada nickte schwach.
„Dann geht! Lasst mir Kenvilars Truhe hier“, erst bei diesen Worten bemerkte Chada, dass sie die kleine Truhe bei ihrem Sturz losgelassen hatte, „und rennt. Rennt, wie ihr noch nie gerannt seid. Sorgt dafür, dass ich nicht umsonst hierbleibe.“
Chada brachte es nicht über sich, zu antworten.
„Leb wohl, Eara.“, sagte Thorn mit belegter Stimme. Die Magierin nickte knapp, und wie betäubt ließ Chada sich von Thorn mitziehen, bis ihre Beine sich von alleine in Bewegung setzten. Als sie an der nächsten Biegung erneut einen Blick über ihre Schulter warf, hatte die Dunkelheit Eara bereits verschluckt.


CHAOS raste durch einsame Gänge unter einem Gebirge, von dem nichts geblieben war. Es folgte dem Lauf eines unterirdischen Flusses, dessen schwarzes Wasser ins Nichts schäumte. Es glitt lautlos über verrostete Schienen in einem langen, schnurgeraden Tunnel. Und es strömte in eine große Halle, zerriss ein Tor mit einem silbernen Stern, das über Jahrtausende niemand geöffnet hatte, und einen stählernen Baum, auf den kein Sternenlicht mehr fiel.


Mondhoch, 31. Wintertag 77 A.Z.
Ströme der Impressionen, Krahal

Chada wusste nicht, wie lange sie gerannt waren, durch Gänge aus verzerrten geometrischen Formen und über aschebedeckte Schatten, bis vor ihnen endlich ein Licht auftauchte. Ein pulsierender, dunkelroter Lichtschein durchflutete den Gang und überdeckte das klare blaue Schimmern des Sternenschildes. Je stärker dieses rote Licht wurde, desto mehr verwirrende Gefühle und fremde Wahrnehmungen fluteten auf Chada ein, bis sie glaubte, ihr Schädel müsse bersten. Das Licht des Sternenschildes flackerte immer schwächer. Es roch durchdringend nach Blut. Dann öffnete sich der Gang vor ihnen, und Chada stockte der Atem.
Sie standen am Rand einer Höhle von solch gigantischen Ausmaßen, dass die weit entfernte Decke ebensogut ein dichter Wolkenhimmel hätte sein können. Unzählige Gänge aus fremdartigen geometrischen Strukturen liefen hier zusammen, fielen von oben und allen Seiten zu dieser Höhle hin ab und ließen den Fels der Welt zurück. Einzig ihre abstrakte Form setzte sich wie in dünnen, schwarzen Fäden fort und vereinte sich zu einem komplexen, atemberaubenden Gebilde aus sich ewig wandelnden, unwirklichen Schatten. Ein Geflecht aus Düsternis. Es füllte die ganze Höhle aus und verlor sich schnell im Zwielicht, das hier überall herrschte. Stränge aus einer dunklen, tiefrot glühenden Flüssigkeit durchwirkten diese fremden Formen, flossen an ihnen entlang und rissen sie aus der Dunkelheit, verästelten sich zwischen ihnen und strömten durch sie hindurch, schufen beängstigend schöne Muster aus Schatten und Blut. Durch diese fragilen Strukturen hindurch konnte Chada in scheinbar endlose, labyrinthische Tiefen blicken. Eine ganze Welt lag ausgebreitet vor ihr, ohne feste Wände und doch unmöglich zu überblicken. Eine Welt voller unverständlicher Wunder, gebaut aus zersplitterten Gedanken und purer Fantasie. Eine Welt wie ein verworrener Traum.
Krahal.
„Wir sind da.“, raunte Thorn. „Wir haben es tatsächlich geschafft. Krahal.“
„Noch haben wir es nicht geschafft.“ Besorgt blickte Chada auf den Sternenschild in ihrer Hand. Sein Schimmer verschwand fast im roten Licht. „Wir wissen nicht, was uns erwartet, wenn wir weitergehen.“
Vorsichtig hob sie ihren Fuß und betrachtete den gewundenen, schlauchartigen Gang vor sich. Wände und Boden bestanden nur noch aus dünnen, stets im Wandel begriffenen Linien, über die unablässig rotes Blut strömte.
Plötzlich durchzuckte sie eine entsetzliche Leere. Ihre Wahrnehmungen lösten sich auf und setzten sich nur langsam und unvollständig wieder zusammen. Alles schien zu wanken und sich unnatürlich zusammenzufalten. Chada kniff stöhnend die Augen zusammen und unterdrückte ihre Übelkeit. Als sie wieder aufsah, schien es, als wären die Farben der Welt ausgebleicht. Ihre eigenen einst schwarzen Haare wirkten grau, ihre Hände fahl. Selbst das rote Licht Krahals schien blasser als zuvor. Chada versuchte, ihren bohrenden Kopfschmerz zu ertragen und drückte Thorns Hand, während er sich erbrach. Als er wieder aufsah und sich schwach den Mund abwischte, bemerkte Chada mit Schaudern, dass seine Augen jede Farbe verloren hatten. Ein blasses, verschwommenes Grau hatte seine strahlenden blauen Augen überschwemmt. Doch sie erkannte noch immer den vertrauten Ausdruck darin, voller Liebe und Entschlossenheit.
„Das Ende naht. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“, hustete Thorn. Chada nickte und half ihm auf. Hand in Hand setzten sie ihre Füße auf die fragilen Formen, die sich vor ihnen zu der Nachahmung eines Weges fortsetzten, und tauchten ein in eine fremde Welt.
Und Krahal umfing sie. Das allgegenwärtige, rot glühende Blut legte sich als brennender Nebel aus feinsten Tröpfchen auf Chadas Haut. Ein leises, vibrierendes Brausen erklang in ihren Ohren, ein wildes Mosaik aus fragmentierten Echos längst vergangener Zeiten, in denen nur manchmal etwas wie Gebrüll oder Wortfetzen zu erkennen waren. Das Licht des Sternenschildes ging zurück. Dunkle Muster zuckten durch Chadas Gesichtsfeld, bis sie nichts anderes mehr sah, bis alle ihre Gedanken zersplitterten und verschwanden im Gewirr der unzähligen Gefühle, die in immer schnellerer Folge auf Chada einströmten. Angst. Schmerz. Trauer. Verzweiflung. Zorn.
Sie hörte ein Grollen, das von allen Gipfeln widerhallte. Sie sah eine gewaltige steinerne Pranke auf sich zukommen, die sie mitten im Flug aus der Luft riss, ihre Flügel zerknickte und ihren Schuppenpanzer zermalmte. Sie glitt mit dem Wind und blies eine Feuersalve auf den riesigen Steinkoloss unter ihr. Sie sah gewaltige Kiefer vor sich und wurde mühelos zermahlen, so schnell, dass es ihr nicht mehr gelang, ihren Geist abzutrennen und ihren Schmerz den anderen Drachen zu ersparen. Sie flog knapp an einem riesigen gewundenen Horn vorbei und suchte nach Rissen in der steinernen Haut. Sie stürzte sich in ein rot glühendes Auge und entlockte dem Monstrum ein zorniges Brüllen, ehe das Bild verschwamm. Sie sah auf, als eine gewaltige Faust durch die steinerne Decke brach, wich den niederprasselnden Geröllstücken aus und versuchte noch, sich aus dem Fenster zu stürzen und in den Himmel zu entkommen, bis ein Trümmerstück sie zur Seite schleuderte. Sie kreiste hoch über den Kämpfen, bezwang den Drang, sich ebenfalls hinabzustürzen, und teilte das Bild der Schlacht mit ihren Artgenossen. Sie flog in immer weiteren Kreisen um die schneebedeckte Festung, auf der verzweifelten Suche nach einem Weg, den Angriff zu beenden, bis sie im Schatten eines großen Findlings einen hageren Riesen erspähte.
Immer mehr Bilder strömten auf Chada ein, schoben sich übereinander, wechselten sich in rasendem Kreislauf ab. Hektische Pläne wurden erwogen und verworfen. Blitze aus Trauer und Zorn zuckten durch ihren Verstand, wann immer eines der Bilder erlosch und das wunderschöne Gewirr aus Gedankenströmen eine Quelle von Eindrücken und Ideen für immer verlor.
Es war zu viel. Ihr Geist löste sich auf in dem wirbelnden Strom aus fremden Eindrücken, ungefiltert, zahllos, überwältigend, die ihr jeden klaren Gedanken unmöglich machten und jede Regung unter tobenden Gefühlsstürmen begruben. Ihr winziges, zerbrechliches Selbst löste sich auf in dem geeinten Bewusstsein, das ihr entgegenschlug.
Und dann, auf einen Schlag, sah sie gezackte, schwarze Formen vor sich und war wieder allein in ihrem hämmernden Kopf. Der Sternenschild in ihrer Hand summte warm.
Keuchend versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Noch immer suchten sie wahllos fremde Gefühle und Erinnerungen heim. Der Sternenschild schwächte das alles auf ein erträgliches Maß, doch er konnte es nicht vertreiben.
Sie hielt noch immer Thorns Hand umklammert und sah ihn an, umwoben von schwarzen Linien und Fasern aus glühendem Blut, und er erwiderte ihren Blick. Sie sah ihr Grauen und ihre Überforderung in seinen Augen gespiegelt. Den Sturmschild hatte er nicht mehr.
Thorn war das einzige Vertraute in dieser fremden Welt. Der Gang, aus dem sie gekommen waren, war verschwunden. Andere Wege waren aus den seltsamen dunklen Mustern entstanden. Sie formten sich stetig um, ohne dass Chadas Augen einer der Veränderungen hätten folgen können. Ihr Körper fühlte sich seltsam leicht an, als wäre sie in freiem Fall, doch ihre Füße standen fest auf dünnen Linien und Formen, die sich permanent neu ordneten. Wie lebendiges Gewebe, das sie umwucherte.
Und überall um sie herum waberte Blut, schlängelte sich zwischen den Schatten hindurch, benetzte ihre wunde Haut und färbte sie rot.
Ratlos sah Chada sich um. Dutzende Wege öffneten sich aus den Schatten; sie zu zählen war unmöglich, weil sie verschwanden und sich neu bildeten, sobald Chada den Blick von ihnen abwandte. Durch die fragilen Muster und die Schleier aus Blut hindurch, aus denen alle Wände bestanden, konnte sie endlos in alle Richtungen sehen, ohne je etwas anderes zu erkennen als gezackte Schatten und rot leuchtende Flüsse.
„Was tun wir?“, flüsterte sie, und Thorn schien sie selbst über das allgegenwärtige Rauschen der zerstückelten Geräuschfetzen verstanden zu haben.
„Wir müssen weiter!“, presste er hervor. „Wir müssen den reglosen Herrscher finden!“
„Aber wo?“
Thorns schrecklich farblose Augen huschten über die verwobenen Muster, und sie sah ihm an, dass er es ebenso wenig wusste wie sie selbst. Doch dann erstarrte er.
„Das Blut der Ewigkeit!“, stieß er hervor. „Chada, diese rote Flüssigkeit! Sie muss vom Herzen kommen, wir müssen den Strömen nur folgen! Das Blut wird uns zum Herzen führen.“
Er griff ihre Hand fester und setzte sich eilig in Bewegung, folgte einem der Gänge, der an einem Strom aus Blut entlangführte. Bald schon rannten sie über die fremden Formen, durch gedrehte Gänge, die sich nach verborgenen Regeln auftaten und hinter ihnen schlossen. Das Geräusch ihres keuchenden Atems übertönte die unablässig auf sie einströmenden verwirrenden Klänge, und die Erschöpfung vertrieb die fremden Gefühle und Eindrücke. Bis das rote Licht irgendwann erneut anschwoll und das Summen des Sternenschildes erlosch.
Die fremden Gefühle kamen augenblicklich, doch inzwischen wusste Chada, wie sie mit ihnen umzugehen hatte. Anstatt gegen sie anzukämpfen, ließ sie sie zu, versenkte sich hinein, bis sich zuletzt Bilder herausformten…


Frühe Nacht, 71. Sommertag 1680 v.A.Z.
Tiefe Kammern in Bluteisenstein, Cavern

Sie standen in einem hohen, von Fackeln erleuchteten Gang. Er führte zu einer beschlagenen Holztür, die einen Spalt offen stand. Kunstvolle Reliefs zierten die steinernen Wände. Verblüfft sah Chada an sich herab. Sie erblickte keine dunklen Schuppen, sondern weiche Haut. Ihre eigenen vertrauten Hände, die noch immer den erloschenen Sternenschild hielten.
Thorn stand neben ihr und sah sich sichtlich verwirrt um. „Wo sind wir?“, flüsterte er.
Chada schüttelte nur den Kopf und lauschte. Und sie konnte es hören: Das Bewusstsein der Drachen, wie ein fernes Säuseln in ihrem Hinterkopf. Kaum hatte sie sich darauf konzentriert, schon spürte sie, wie das Kollektiv der Gedanken sich nach vorne drängte, wie die überwältigenden Gefühle ihr jeden klaren Gedanken raubten, wie ihr Selbst verschluckt wurde …
Ein Geräusch ertönte und brach den Bann der fremden Gedanken. Sie hörte eine raue Stimme, zu leise, um Worte zu verstehen. Thorn deutete fragend auf die angelehnte Tür. Chada nickte knapp, und sie schlichen näher.
„… bin das älteste Kind, und sei es nur um wenige Augenblicke! Die Fürstenkrone gebührt mir, sofern mein Vater keinen anderen Nachfolger bestimmt – und niemand glaubt mehr daran, dass er noch einmal aufwachen wird.“
Vorsichtig blieb Chada an der Tür stehen und spähte durch den schmalen Spalt in eine weitläufige Kammer. Eine knisternde Feuerschale spendete behagliche Wärme, auf einem Tisch lagen ausgerollte Karten mit kleinen Steinfigürchen darauf, daneben eine zwergische Wurfaxt. Den Sprecher konnte Chada von ihrer Position nicht sehen, doch dafür einen knapp pferdegroßen Drachen, der sich auf einem Fell neben der Feuerschale zusammengerollt hatte und aus gelb glühenden Augen in Richtung der Stimme blickte.
Warum rufst du dann deine Getreuen zu den Waffen?
Chada zuckte zusammen, als die Worte klar durch ihr Bewusstsein drangen. Sie hörte keinen Tonfall und konnte doch die Neugierde und Sorge erahnen, die diese Frage begleiteten. Ohne sagen zu können, woher, wusste Chada, dass der Drache neben der Feuerschale „gesprochen“ hatte.
„Weil meine Geschwister sich nicht an die alten Gesetze halten werden. Nicht, wenn sie sich Hoffnungen machen, den Thron selbst zu erben. Viele Zwerge mögen mich nicht. Sie behaupten, ich hätte mehr Zeit mit eurem Volk verbracht als meinem eigenen. Garah hat sich bereits die Unterstützung der Runenmeister und der Fornur-Priesterschaft gesichert, Boord hat die Gilden der Handwerker und die Mehrheit der ehrwürdigen Familien hinter sich, und Hadda wäre nicht Hadda, wenn sie nicht längst etwas aushecken würde.“
Chada schluckte. Diese Namen… Was sie hier mitanhörte musste sich noch vor dem Bruderkrieg ereignet haben. Vor über eintausend Jahren! Obwohl sie ahnte, dass diese Unterhaltung in der alten Zwergensprache geführt wurde, konnte sie jedes Wort verstehen.
„Die Zeichen stehen auf Krieg.“, ergänzte die Stimme ernst. Plötzlich zuckten Gefühle von Verwirrung und Unglauben durch ihren Verstand.
Krieg? Weshalb sollten die Zwerge sich selbst bekriegen?
Das ist absurd! Sie sind doch kein Schlüpfling mehr, der sich in den eigenen Schwanz beißt!
Täuscht euch nicht. Sie sind primitive Wesen. Sie tauschen keine Gedanken oder Gefühle, nur mehrdeutige Worte. Und sie lösen ihre Konflikte mit roher Gewalt, anstatt die Vereinigung ihrer widerstreitenden Wünsche gegeneinander aufzuwiegen.
Das ist schrecklich! Sie sind wilde Tiere! Wie konnten wir uns jemals mit ihnen einlassen?
Sie haben keine andere Wahl. Sie operieren einfach im Rahmen ihrer beschränkten Fähigkeiten, und zeigen dafür ein erstaunliches Maß an Zusammenarbeit. Vergesst nicht, sie haben uns die Wege in die Tiefe geöffnet. Und wie hätten wir ohne ihre Runen die Erdgeister gebannt?
Zusammenarbeit? Einen Krieg von Zwergen gegen Zwerge nennst du Zusammenarbeit?
Ruhe! Verschiebt euren Disput, sonst muss ich meinen Geist abtrennen und ihr dürft euch mit meinen Erinnerungen begnügen.

Die Gedanken verstummten. Das alles hatte kaum einen Augenblick gedauert, doch schon jetzt fühlte Chada wieder einen bohrenden Kopfschmerz.
Das ist äußerst bedauerlich, Zor. Doch wozu das Treffen?
„Ich brauche die Hilfe der Drachen. Euer öffentliches Bekenntnis, dass ihr meinen Anspruch unterstützt. Und auch euer Feuer, sollte es zum Krieg kommen.“
Jetzt brach ein wahrer Sturm los. Chada spürte unterschiedlichste Gefühle gegeneinander wetteifern, Zustimmung und Empörung, Hoffnung und Furcht. Argumente wurden ausgebreitet und gewichtet, Wünsche bewertet und verglichen, zu schnell und zu viele, als dass Chada hätte folgen können. Sie spürte nur, wie etwas in ihr unter dem Druck zerriss und ihr Bewusstsein flatterte. Und dann, nach nur einem Herzschlag, war es vorbei.
Wir haben entschieden. Wir können deiner Bitte nicht nachkommen.
Der Drache senkte langsam das Haupt.
Wir wünschen uns deinen Sieg, Zor. Doch wir können uns nicht in eure innenpolitischen Konflikte einmischen. Wir werden nicht die unsterblichen Leben der Unsrigen riskieren, um euren Krieg zu entscheiden.
„Aber … unsere Pläne! Wir wollten die Beziehungen zwischen unseren Völkern verbessern. Aus dem Bündnis eine Freundschaft machen.“
Ja. Doch nicht zu diesem Preis. Gräme dich nicht, Zor, denn was du wolltest, hast du erreicht: Du bist bereits ein Freund der Drachen.
Plötzlich verstummten die Gedanken, die unablässig in Chada gewütet hatten. Der Wandel kam so plötzlich, dass ihre Beine einknickten.
Ich habe meinen Geist abgetrennt. Unsere Art hat entschieden, sich nicht einzumischen. Doch ich, als Einzelner, werde dich begleiten, mein Freund. Wir …
Thorn fing sie auf, doch die Spitze des Sternenschildes berührte mit einem metallischen Klang den Boden. Der Drache erstarrte und wandte dann langsam seinen Kopf. Kurz konnte Chada sehen, wie seine geschlitzten Pupillen sich auf die Tür richteten. Sie stieß ein ersticktes Keuchen aus, griff den Sternenschild fester und sandte all ihre verbleibende Kraft hinein. Ein sanfter blauer Schimmer drang aus dem Metall und wob sie ein. Doch für einen einzigen Moment, bevor das Bild sich auflöste, trafen sich ihre Blicke, und sie spürte die Neugier und die Verblüffung des Drachen.


Mondhoch, 31. Wintertag 77 A.Z.
Ströme der Erinnerungen, Krahal

Plötzlich standen ihre Füße wieder auf gezackten schwarzen Mustern und Flüsse aus rot leuchtendem Blut strömten an ihnen vorbei. Sie waren wieder in Krahal. Hatten es vielleicht nie verlassen.
„Du hast uns zurückgebracht!“, rief Thorn begeistert, doch er verstummte schnell, als er ihre Verfassung bemerkte. „Was ist los, Chada?“
„Er hat mich gesehen! Der Drache, er … er hat den Schild gehört. Er hat uns bemerkt!“
„Das ist nicht möglich, Chada.“, erwiderte Thorn sanft. „Das war nur eine Erinnerung. Das alles liegt schon lange zurück.“
„Denkst du, das wüsste ich nicht? Natürlich ist das schon lange her – aber ich sage dir, der Drache hat mich angesehen. Ich konnte seine Neugierde wahrnehmen, Thorn!“
Er betrachtete sie unruhig und seufzte schließlich. „Wie auch immer… Wir müssen weiter.“


CHAOS schoss in eine große, halbkreisförmige Halle. Es verschlang steinerne Sitzreihen, eine Handvoll Leichen, einen See aus Quecksilber und einen kleinen Bernsteinanhänger in Form eines goldenen Baumes. Es vereinte sich mit der Leere, die es zurückgelassen hatte, und löschte die silbernen Flammen. Dann fiel es hinab in ein perfektes, achteckiges Loch und verschluckte den Sturm der Gefühle.


Mondhoch, 31. Wintertag 77 A.Z.
Weg nach Krahal, Adern der Welt

Eara starrte in die Dunkelheit. In ihrem Bewusstsein tobten fremde Gefühle, in Wellen strömten Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit durch ihren Geist. Sie ließ es zu. Wehrte sich nicht. Lauschte nur dem Klang ihres immer schwächer pochenden Herzens. Zu einer Regung wäre sie nicht mehr imstande, doch das musste sie auch nicht.
Als Chada und Thorn verschwunden sie waren, hatte sie sich noch zu der kleinen Truhe geschleppt, hatte in der vollkommenden Finsternis umhergetastet, bis ihre Finger auf glattes Metall stießen.
Eine Truhe aus Arkanum, gefüllt mit der Essenz aller drei Mächte.
Früher hätte allein die Berührung ihr die Haut verbrannt. Doch zusammen mit ihrer Magie hatte sie auch ihre Dunkelheit verlassen. Jetzt lag die Truhe nur kühl in ihrer Hand. Wie lange schon, wusste Eara nicht. Sie saß nur noch da, umklammerte die Truhe, und wartete.
Sie mag euch einst gegen den Dunklen Magier helfen.
Das, was nahte, mochte Dunkler Magie ähnlich genug sein, so hatte sie gedacht. Inzwischen dachte sie gar nicht mehr. Ließ nur die Gefühle zu, anstatt sich gegen sie zu sträuben. Hin und wieder flackerten verwirrende Bilder in ihr auf, doch Eara beschäftigte sich nicht mit ihnen. Sie empfing stattdessen die Verzweiflung, die langsam und stetig alles einriss, was sie ausmachte. Die Ruine, die von ihr geblieben war, zerfiel, doch es kümmerte sie nicht mehr.
Plötzlich verklang ihr Herzschlag. Sie konnte ihren Puls noch immer spüren, doch kein Geräusch drang mehr zu ihr durch. Eine tosende Stille schlug ihr entgegen, verdrängte kurz die Gefühle und schreckte sie aus ihrer Apathie. Irgendein Teil von ihr wusste noch, dass es genau das war, worauf sie gewartet hatte. Mit einem letzten Rest an Kraft ließ sie die Truhe fallen.
Doch öffnet sie nur, wenn die Lage aussichtslos scheint.
Eine frische Meeresbrise wehte um Earas Nase, und ein türkises Licht erstrahlte und vertrieb für einen kurzen Moment die Schatten, die so lange ein Teil von ihr gewesen waren. Lächelnd starrte Eara in das Licht, das den ganzen Tunnel ausfüllte – vor ihr…


CHAOS verschlang eine einzelne Gestalt und wurde an einer leuchtenden Kuppel gebremst. CHAOS konnte nicht gebremst werden. Es setzte alle Gesetze der Natur außer Kraft. Und doch war da dieses Licht, an dem es nicht vorbei konnte. Ein Licht, das langsam schwächer wurde…
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Z - Der Träumer der Zeit (Fortsetzung)

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:34

Späte Nacht, 31. Wintertag 77 A.Z.
Ströme der Erinnerungen, Krahal

Chada stolperte keuchend vorwärts. Ihre Füße suchten Halt auf dem Geflecht aus Düsternis, das sie umgab. Sie wusste nicht, wie lange sie schon so liefen. Sie folgten nur der Strömung des Blutes zurück zu ihrem Ursprung, eilten immer weiter durch diese bizarre Welt. Der Sternenschild in ihrer Hand konnte immer weniger Schutz spenden. Mit jedem Schritt flackerte sein Licht, und wann immer es erlosch, sah Chada für den Bruchteil eines Augenblicks ein anderes, fremdes Bild vor sich. Ein junger Zwerg, der schüchtern seine Hand ausstreckte, um über schwarze Schuppen zu streichen. Geschuppte Kreaturen, die aus einem Abgrund hervorkletterten. Eine Ödnis voller riesiger Wurfmaschinen, deren steinerne Geschosse Drachen vom Himmel holten. Eine Jagd über den schneebedeckten Gipfeln eines Gebirges. Ein grauer Drache mit Schuppen wie aus Stein, in dessen Augen ein Feuer erlosch. Flammender Atem, der in eine Esse blies. Ein Beben, das durch schwarze Muster glitt und einen blutdurchströmten Baum zerriss. Ein dunkles Ei, in dessen Schale sich erste Risse zeigten. Eine kleine Gruppe von Zweibeinern, die sich mit gezogenen Waffen um einen alten Wehrturm versammelte. Ein roter Edelstein, der in ein Fach in einem Relief geschoben wurde. Eine Schlucht, in deren zerklüfteten Felsen sich schlafende Drachen niedergelassen hatten. Eine kleine, bärtige Gestalt, die ehrfürchtig einen brennenden Stock in die Höhe hielt.
Die Bilder verschwanden so schnell, wie sie kamen, und immer fand Chada sich danach inmitten der Ströme aus Blut und der dunklen Muster wieder. Doch es schien ihr, als würde jedes dieser Bilder ein Stück aus ihr herausreißen und mit sich nehmen, wenn es verschwand.
Blut lief über ihre Haut, und sie konnte nicht mehr sagen, ob es ihr eigenes war oder die rot glühende Flüssigkeit, die hier unten allgegenwärtig war. Sie wusste nur, dass es schmerzte. Ihr ganzer Körper schien zu brennen, jeder Schritt ließ sie zischen. Sie sah ihre fremde Umgebung nur noch verschwommen, nicht durch Tränen, sondern weil das Blut der Ewigkeit sich durch ihre Augen brannte.
Und dann, irgendwann, konnte Chada vor sich etwas anderes erkennen als fließendes Blut und wirbelnde Schatten. Ein rotes Licht erstrahlte vor ihnen, dunkel und grell zugleich. Die unzähligen Flüsse aus Blut liefen zusammen an einem einzigen Ort. Chada spürte keine Hoffnung mehr, nicht so tief in Krahal. Doch da war etwas anders, ein zartes Gefühl ohne Namen. Der Sternenschild in ihrer Hand summte kurz, und dann, auf einen Schlag, als hätte jede Energie ihn verlassen, erlosch er. Die verdrehten, gezackten Linien zerbrachen und verdichteten sich um sie, das rote Licht pulsierte immer schneller. Gefühle brandeten auf sie ein, ein Gewirr aus Stimmen und dann –


Jenseits aller Tageszeiten, Äonen vor jeder Zeitrechnung
Blutdurchwirkte Höhlen, Dunkelwelt

Stille. Von einem Moment auf den anderen waren die ewigen Echos Krahals verstummt. Die tosenden Gedanken der Drachen waren verschwunden. Zum ersten Mal, seit sie hier unten war, fühlte Chada sich nicht mehr überwältigenden Gefühlen ausgesetzt.
Doch war sie überhaupt noch in Krahal? Langsam straffte Chada ihren Rücken und sah sich um. Sie und Thorn standen noch immer in einem dunklen Gang, durch den sich Fäden aus rotem Licht wanden. Doch die Wände waren massiv und unregelmäßig, auch wenn Chada beim besten Willen nicht wusste, woraus sie bestanden.
Sie sah sich nach Thorn um, um ihn nach seiner Meinung zu fragen, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. Auf seinem vertrauten Gesicht sprossen rote Schuppen, krochen über seinen blonden Bart und um seine farblosen Augen. Immer wieder formte sein Mund sich kurz zu einer Schnauze mit spitzen Zähnen, bevor er sich zurückverwandelte. Fast schien es Chada, als sähe sie zwei Bilder, die sich übereinanderschoben und vermischten – einmal der Thorn, den sie kannte und liebte, und dann wieder ein zuckender Skral.
In Thorns Gesicht erkannte sie dasselbe Entsetzen, das auch sie verspürte, und als sie an sich herabblickte, waren ihre Hände geschuppt und hatten Klauen anstatt Nägel, wechselten flimmernd zu menschlichen Händen und wieder zurück zu Klauen, die in Thorns Haut schnitten.
Sie wollte etwas sagen, doch brachte nur einen wortlosen, verzerrten Schrei hervor, abwechselnd mit einem weichen, menschlichen und einem dröhnenden, gutturalen Klang.
Ein schrilles Kreischen hallte von den Wänden wider, ein langgezogener Ruf, und Chada spürte etwas in sich reagieren. Ihre Muskeln spannten sich an, kurz peitschte ihr stachelbewehrter Schwanz, ehe er sich wieder auflöste. Ein vielstimmiges Keifen erklang als Antwort, trampelnde Schritte und kratzende Schläge. Kurz sahen sich Chada und Thorn an, und ohne ein Wort zu wechseln eilten sie näher. Folgten dem unregelmäßigen Gang zur Quelle des roten Lichts.
Und plötzlich erstreckte sich vor ihnen ein leuchtender See aus rotem Blut, an dessen Ufer Kreaturen kämpften. Skrale hatten sich in einer langen Reihe aufgebaut und setzten sich gegen Gors zur Wehr, die mit ihren Hornklauen auf sie einhieben. Kurze, schrille Schreie hallten durch die Gänge, als Zeichen, die Chada mühelos verstand, obwohl sie keine Worte enthielten. Sie waren Rufe um Hilfe, Schreie des Triumphs oder des Todes. In den schwarzen Skralaugen sah Chada Schmerz und Entschlossenheit.
Und instinktiv wusste sie, worum hier gekämpft wurde, weil es das einzige war, worum hier unten je gekämpft worden war: Zugang zu den Strömen aus Blut, die von diesem See aus durch die ganze Dunkelwelt flossen. Das Blut bedeutete Energie. Es bedeutete Kraft. Es bedeutete Leben. Wer es trank, brauchte nichts anderes mehr. Wer es nicht hatte, musste über kleinere Wesen herfallen, sie verschlingen, Pulsschlag für Pulsschlag aufs Neue, und würde doch mit jedem Gezeitenzykel an Stärke verlieren.
Die Skrale wurden immer weiter an das zerklüftete Ufer des roten Sees zurückgedrängt, und in sich spürte Chada das Verlangen, ihnen zu helfen. Sie wurde heimgesucht von den Bildern anderer Skrale, die mit den Geistern sprachen oder noch wachsen mussten, die in versteckten Höhlen saßen und verdursten würden ohne das Blut, das der Stamm der Roten Zähne hier verteidigte und schon seit vielen Zykeln nicht mehr verloren hatte. Doch die Gors waren verzweifelt, immer mehr ihres Volkes starben. Sie hatten sich schon lange nicht mehr zu einer so großen Horde zusammengefunden, der Ausgang dieser Schlacht war ungewiss. Chada hob einen Fuß und verdankte es Thorn, der an ihrer Hand zog und sie zurückhielt, dass sie sich nicht in die Kämpfe stürzte.
Da plötzlich ging eine Regung durch die Halle. Die Kreaturen auf beiden Seiten erstarrten mitten im Kampf und kauerten sich zusammen. Die Wände der Halle zerbrachen zu gezackten Mustern und gedrehten Frakturen. Immer näher kam die Welle der Starre, und noch ehe Chada wirklich begriff, wurde auch sie erfasst. Etwas drang mühelos in ihren Geist, etwas Großes, Ehrfurchtgebietendes, und warf sie zu Boden. Sie spürte Staunen, und ein Beben aus fremden Gefühlen, das durch ihr Selbst schlug und ihren Widerstandsgeist und ihren Kampfeswut zerbröckeln ließ.
Langsam hob Chada den Kopf, und all die Kreaturen am Ufer des Sees taten es ihr gleich, in einer einzigen fließenden Bewegung. Ihre Augen waren nicht länger dunkel, sondern glühten weiß.


Späte Nacht, 31. Wintertag 77 A.Z.
Blutmeer, Krahal

Chada keuchte und starrte durch schwarze Linien und langsam fließendes Blut in endlose Tiefen. Sie lag auf dünnen, sich wandelnden Mustern und hörte zuckende, fragmentierte Echos. Unter ihren Fingerspitzen summte der Sternenschild in einem letzten Aufbäumen. Thorn lag neben ihr, nur noch Thorn, ohne das flackernde Bild des Skrals.
Langsam rappelten sie sich auf. Die Kreaturen waren verschwunden. Sie waren wieder allein mit den Erinnerungen und Gefühlen der Drachen.
Und vor ihnen erstreckte sich ein riesiger See aus brodelndem Blut, eingefasst von einem Gitter aus schwarzen Mustern. Undeutlich erkannte Chada einen dunklen Fleck im Zentrum dieses Sees, eine schwarze Struktur, die aus dem Blut ragte. Sie hatte die Form eines Baumes.


CHAOS brodelte über einem Meer aus Lava, über ewigem Eis und den Steppen des Ostens und Westens, über Nebelsümpfen und einem großen See, über fremden Kontinenten und Ozeanen. Es erstreckte sich selbst zu den Sternen, und es riss das alles aus dem Geflecht der Wirklichkeit. Nichts blieb mehr als eine türkis leuchtende Kuppel und die winzige, grenzenlose Welt darunter.


Späte Nacht, 31. Wintertag 77 A.Z.
Blutmeer, Krahal

Chada ging am Rand des brodelnden Blutes in die Knie. Die schwarzen Linien bildeten hier eine Art Ufer. Die Muster drehten sich, wuchsen auseinander, falteten sich zusammen, doch sie veränderten kaum noch ihren Ort, sondern bildeten eine große Höhle mit durchscheinenden Wänden.
„Wie … kommen wir … auf die andere Seite?“, keuchte Chada. Selbst sich darauf zu konzentrieren, diese Worte zu sprechen, die Zunge im richtig zu drehen, Luft durch ihren Hals gleiten zu lassen, strengte sie an, kostete ihre gesamte Konzentration. Es fühlte sich so unnatürlich an, nach all den fremden Gedanken, die durch ihren Kopf rasten, plötzlich wieder mit unbeholfenen Bewegungen unzulängliche Worte hervorzubringen. Sie wusste kaum noch, wie es ging.
Thorn starrte sie verständnislos an. Dann klarte sein Blick langsam auf, und er schüttelte schwer den Kopf. „Wir müssen es trinken!“, flüsterte er.
Chada wich von dem See aus Blut zurück. Trinken? War er wahnsinnig geworden?
… Vermutlich. Aber war sie es denn nicht?
Thorn formte seine Hände zu einer Schüssel und tauchte sie in den See. Als er sie wieder hervorzog, war seine Haut rot und an manchen Stellen ganz weggeätzt, doch er senkte ohne zu zögern den Kopf und trank das Blut, bevor es durch seine Finger geronnen war. Seine Augen zuckten vor Schmerz, mehrere Herzschläge verstrichen. Doch plötzlich senkte sich eine tiefe Ruhe über ihn. Ein Lächeln legte sich auf seine verbrannten Lippen. Seine Haut nahm eine etwas gesündere Farbe an.
Erneut tunkte Thorn seine Hände ins Blut, und als er sie diesmal hervorzog, waren sie nicht weiter verbrannt. Auffordernd hielt er ihr die glühende Flüssigkeit entgegen und blickte sie aus seinen farblosen Augen an. Chada blinzelte und nickte schließlich. Sie senkte ihren Kopf über die Flüssigkeit und schluckte. Ein grauenhaftes Brennen lief durch ihren Mund und Hals, sie musste keuchend husten und verschluckte sich. Sie bekam keine Luft mehr, griff sich unwillkürlich an den Hals. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Und dann, auf einen Schlag, verschwand der Schmerz und sie konnte wieder frei atmen. Doch durch ihren Geist huschten verstörende Bilder von rot geschuppten Körpern und Treibjagden in völliger Dunkelheit. Sie spürte ein unerklärliches Verlangen nach Blut. Sie hob den Sternenschild, der nur noch matt glänzte und in keiner Weise reagierte.
Thorn nahm sie bei der Hand und half ihr auf. Kurz meinte sie, unter seiner verbrannten Haut etwas wie rote Schuppen auszumachen, doch vielleicht war es auch nur getrocknetes Blut. Sie sahen sich an und setzten sich in Bewegung. Ihre Stiefel glitten in den See aus Blut. Langsam und stetig schritten sie weiter. Chada spürte die Flüssigkeit an ihren Beinen entlangströmen, doch es konnte ihr nichts mehr anhaben. Das Blut der Ewigkeit floss nun auch durch ihre Adern.
Sie gingen weiter, kämpften sich gegen die Strömung, und das brodelnde Blut stieg an, reichte ihr bis zur Hüfte, an die Brust, bis zum Hals. Das Ufer lag jetzt schon viele Schritte hinter ihnen, doch der Grund ging unablässig weiter in die Tiefe. Chada versuchte loszuschwimmen, doch sie hielt noch immer Thorns Hand und den Sternenschild. Die Strömungen zogen sie unbarmherzig nach unten, und sie konnte nicht einmal mehr Luft holen, da tauchte ihr Kopf auch schon unter.
Die Geräuschfetzen Krahals verstummten. Sie sah nichts als konturlose Schemen aus rotem Licht. Leuchtende Stürme zogen an ihren Augen vorbei und setzten sich in ihrem Kopf fest. Sie bemerkte kaum, dass sie keine Luft mehr bekam, dass ihre Beine nachgaben und dass Thorns Hand und schließlich auch der Sternenschild ihren Fingern entglitt…
Sie spürte nur eine tiefe Verzweiflung, die mit einem Schlag auf sie einströmte, eine schreckliche, kalte Leere und einen Strudel aus rotem Licht, der sie einsaugte, ohne dass sie noch die Kraft gehabt hätte, sich dagegenzustemmen. Das letzte, was sie noch wahrnahm, war eine Hand, die sich in ihre Schulter krallte.


Mondhoch, 83. Frühjahrstag 76 A.Z.
Zwergenstraße nördlich der Korn-Schlucht, Graues Gebirge

Hustend und keuchend kam Chada zu sich. Ihre Kleider waren klitschnass vom Blut. Sie lag auf kurzem, trockenem Gras, über sich sah sie die Sterne funkeln. Ruckartig setzte sie sich auf.
Thorn lag ausgestreckt neben ihr, eine Hand auf den Sternenschild gelegt, die andere an ihrer Schulter. Er stöhnte leise, rappelte sich auf und gab ihr den Sternenschild zurück. „Verlier ihn nicht nochmal.“, raunte er. „Wo sind wir diesmal gelandet?“
Chada betrachtete die schattigen Bergflanken, die unübersichtlichen Geröllhalden, die schroffen Gipfel, die Schneereste, die im Mondlicht silbern schimmerten, und zuletzt den grauen Wurm aus behauenen Steinen, der sich weit unter ihnen zwischen den Bergen entlangwand. Die alte Zwergenstraße. Geröll und Gesteinsbrocken hatten sie blockiert, und vor einem Geröllhaufen direkt unter sich sah Chada ein großes Lager. Einfache Zelte waren um Lagerfeuer aufgeschlagen, Planwagen standen in unordentlichen Kreisen darum, die Ochsen waren ausgespannt und schliefen ebenso friedlich wie die der Rest des Lagers. Nur vereinzelt saßen Gestalten um die Flammen, löffelten Eintopf aus Eisenkesseln oder spielten leise Flötenmelodien.
„Das sind wir!“, zischte Chada. „Unser Tross. Auf unserem Weg nach Krahd, oder … nein, auf dem Rückweg. Ich erinnere mich an diesen Ort. Wir haben hier gelagert, als Grone gestorben ist.“
Thorn kniff die Augen zusammen. „Das kann nicht sein!“, erwiderte er. „Die Orte, die wir bisher gesehen haben, waren die Erinnerungen der Drachen. Aber das, was wir jetzt sehen… Das war nach Taroks Tod! Und vor seiner Wiederauferstehung! Kein lebender Drache kann hier in der Nähe gewesen sein.“
Chada schloss die Augen und versuchte, sich auf die Gedanken zu konzentrieren, die seit ihrer Ankunft in Krahal in ihrem Hinterkopf herumgeisterten, die Gefühle, die auf sie einströmten. Doch sie fand nur Leere. Sie konnte so klar denken wie seit Stunden nicht mehr.
„Wenn das nicht Taroks Erinnerungen sind … wessen dann?“
Schritte ertönten. Chada und Thorn fuhren beide gleichzeitig herum, gerade rechtzeitig, um einen hochgewachsenen, in zusammengewürfelte alte Rüstungsteile gekleideten Skral zu sehen, der aus der Dunkelheit trat und sie aus weiß glühenden Augen musterte.
Thorn zog sein Schwert und murmelte gepresst: „Die seiner Diener!“
Der Skral knurrte und zog ebenfalls sein Schwert. Die Klinge war rostig und hatte schon bessere Tage gesehen, doch der Skral machte einen frischen und ausgeruhten Eindruck, ganz im Gegensatz zu Thorn. Chada griff nach ihrem Bogen Audax, bis ihr einfiel, dass sie ihn als unnötigen Ballast zurückgelassen hatte. Bevor sie auch nur nach ihren Dolchen greifen konnte, griffen der Skral und Thorn gleichzeitig an. Die Schwerter prallten aufeinander. Der Skral konnte die ersten beiden Schläge Thorns parieren, bevor der dritte ihn ans Bein traf und der vierte tief in die Brust.
Er stieß einen viehischen, markerschütternden Schrei aus, der weit über die Berggipfel hallte, dann fiel er zu Boden und regte sich nicht mehr.
„Du hattest recht, Chada.“, zischte Thorn. „Sie können uns sehen.“
Weitere Skrale kamen aus den Schatten, mindestens ein halbes Dutzend. Raserei glomm in ihren Augen. „Mein Sohn…“, brachte der Größte von ihnen hervor. „Ihr zahlt, Menschen!“
Die Skrale traten näher. Chada blickte beklommen hinunter auf die Zelte und Wagen der Andori. Vielleicht zehn Schritte hinter ihr. Und mehr als hundert in der Tiefe.
„Thorn, komm her. Du kannst sie nicht alle bekämpfen!“, rief sie. Er zögerte sichtlich und nickte schließlich. Ohne die Skrale aus den Augen zu lassen, trat er langsam zurück, bis er mit dem Rücken bedenklich nahe am Abgrund stand.
„Und jetzt?“, fragte er ruhig.
Chada nahm Thorns freie Hand und legte sie auf das glatte Metall des Sternenschildes. „Wir hoffen.“
Sie hob den Sternenschild, sah hinauf in den sternenbedeckten Himmel, und versuchte es. Sie hörte die stampfenden Schritte der Skrale, und darunter, ganz leise, Thorns Atem, genau im selben Rhythmus wie ihr eigener. Seine Hand auf dem Sternenschild lag warm unter ihrer. Sie roch Rosshaar, Rietgras und einen Hauch von Leder. Und für einen Moment konnte sie das Grauen Krahals vergessen, die anrückenden Skrale, das Ende, das sie verhindern wollten. Für einen kleinen Moment des Friedens gab es nur sie beide, und sie spürte ein reines, klares Gefühl ohne eigenen Namen.
Der Sternenschild summte unter ihrer und Thorns Hand, und kurz schien es ihr, als würden die Sterne am Himmel heller strahlen.
Rotes Licht tanzte vor ihren Augen, und die dunklen Schemen der Skrale näherten sich unaufhaltsam. Sie spürte die Strömungen des Blutes an ihr zerren, doch zugleich war da noch immer der eisige Wind, der sie frösteln ließ. Unter ihren Füße spürte sie gezackte schwarze Muster, und gleichzeitig den rauen Fels am Rande eines Abgrunds. Sie öffnete den Mund, und die kühle Gebirgsluft und das kochende Blut fanden zeitgleich hinein. In ihrem Kopf herrschte noch immer die schreckliche Leere eines verstummten Bewusstseins, während Gedankensplitter und fremde Gefühle schier übermächtig auf sie einströmten.
Chada sah zwei Bilder, zwei Welten, die sich übereinanderschoben. Wie der Blick durch ein Fernrohr, wenn beide Augen offen waren. Die Bilder waren komplett verschieden, und doch waren beide wahr. Doch dieses Fernrohr sah nicht durch die Nebel des Narneufers, sondern quer über den Fluss der Zeit.
Die einzigen Konstanten in den beiden Welten waren sie und Thorn und der summende Sternenschild unter ihren Händen.
Die Skrale kamen näher und zogen ihre Schwerter. Chada holte tief Luft und versuchte, sich auf das Gefühl des Blutes an ihrer Haut zu konzentrieren, auf die Gefühlsstürme der Drachen und das Geflecht aus Düsternis unter ihren Füßen. Langsam trat das Bild des Gebirges in den Hintergrund, und Chada setzte einen Fuß zurück. Ganz schwach spürte sie die eisige Luft des Abgrunds an ihren Knöcheln, doch viel deutlicher war der unnatürliche Grund des blutgefüllten Sees. Sie ging weiter und zog Thorn mit sich. Undeutlich konnte sie durch die roten Wellen sehen, wie die Skrale am Rand der Schlucht stehen blieben und ihnen ungläubig aus ihren weißen Augen hinterher starrten, doch sie gingen einfach weiter über den Grund des Sees. Chadas Brust schmerzte. Sie schluckte Blut, wann immer sie Luft holen wollte, und traute sich zugleich nicht, in ihrer Konzentration nachzulassen und wieder das Bild des Gebirges heraufzubeschwören, solange sie dort noch immer keinen festen Boden unter den Füßen hatten.
Schließlich war es Thorn, der sie zurückbrachte. Sie spürte durch den Sternenschild hindurch, wie sein Fokus sich verschob, und sah zugleich, wie das Bild des Gebirges an Kontur gewann und die roten Wellen verblassten. Dann fiel sie plötzlich – allerdings kaum einen halben Schritt. Sie waren auf der anderen Seite angekommen.
„Ihr … zahlen … euer Tross … Andori … vernichten!“, dröhnte die Stimme des großen Skrals von der anderen Seite zu ihnen, vom Wind fast zur Unkenntlichkeit zerstückelt.
Sie holten keuchend Luft. Chada schüttelte ihren Kopf und vertrieb die Erschöpfung. „Luft anhalten!“, sagte sie knapp. Ihre Stimme zitterte.
„Warte, Chada!“ Thorn nahm seine Hand vom Sternenschild und sah sie ernst an. „Wie lange wird das noch gutgehen? Die Macht des Sternenschildes ist fast erschöpft, und unsere erst recht. Können wir es wirklich bis zum Herzen schaffen?“
„Wir können. Wir müssen! Wir haben keine Zeit!“
Thorn schluckte schwer. „Zeit, Chada, könnte der Schlüssel sein. Die Skrale konnten uns sehen. Dann können es auch andere.“
Chada runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Wir sind hier, Chada. Wir selbst. Wir können einfach ins Lager klettern und uns selbst warnen. Wenn das hier echt ist, und keine Illusion, dann … dann können wir das alles ungeschehen machen. Vergiss Hrals Prophezeiung, Chada! Vergiss den reglosen Herrscher! Wir machen alles wieder gut, hier und jetzt!“
Chada erstarrte. Vorsichtig sah sie den Berg herunter … und schüttelte dann langsam den Kopf. „Wir können die Vergangenheit nicht ändern, Thorn. Wenn wir zu uns gegangen wären, dann würden wir uns daran erinnern. Es ist unmöglich.“
„Woher willst du das wissen?“
Chada holte tief Luft. „Leander.“
Du meinst, es widerspräche den Gesetzen der Natur?
Schlimmer, Chada: Denen der Logik.

„Thorn, wahrscheinlich ist nichts hiervon real. Aber wenn doch, dann ist das alles schon passiert und nicht mehr zu ändern. Nach da unten zu klettern wäre reine Zeitverschwendung.“
Traurig sah sie Thorn sie an. „Wahrscheinlich. Aber ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, dass …“
„Gut!“, unterbrach ihn Chada, und ehe er reagieren konnte, presste sie seine Hand wieder auf den Sternenschild. Blut umströmte sie und verdrängte die kalte Gebirgsluft. In dem kaum wahrnehmbaren Bild des Grauen Gebirges blickte Thorn sie traurig an und nickte schließlich knapp. Sie setzten sich wieder in Bewegung, ließen ihren Tross und die tobenden Skrale hinter sich. Schritten blindlings voran, in dem verzweifelten Glauben, dass sie noch immer in Richtung des Baumes liefen.
Noch mehrmals mussten sie ihre Konzentration umschichten, in das Abbild des vergangenen Gebirges wechseln, um Luft zu holen, und dann wieder zurück nach Krahal, um vorwärtszukommen. Es ermüdete Chada. Der ständige Wechsel von Stille und dem Rauschen der Echos vergangener Gefühle. Die Kraft, die sie beide in den Sternenschild fließen lassen mussten, obwohl das Metall unter ihren Fingern immer schwächer summte und der blasse Schimmer längst erloschen war.
Sie verlor jedes Zeitgefühl. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie bereits durch diese beiden Welten glitten, oder auch nur zu welchem Zweck. Sie hatte den Gedanken an ihr Ziel bald verloren in der Verzweiflung, die aus Krahal auf sie einströmte. Doch ihre Entschlossenheit war geblieben und trieb sie immer weiter voran. Es gab kein Ziel mehr, nur noch einen Schritt nach dem nächsten, unterbrochen von gelegentlichen Pausen des Luftholens.
Und dann, irgendwann, meinte Chada kurz etwas wie eine leichte Meeresbrise zu spüren, die an ihr vorbeiglitt und sich auflöste, gefolgt von einer schrecklichen Welle der Stille. Das Blut verlor jede Farbe, bis sie sich durch nichts als unscharfes graues Licht kämpften. Der Sternenschild verstummte endgültig unter ihren Händen. Für einen Augenblick sah Chada noch einmal das Abbild des Grauen Gebirges, die strahlenden Sterne am Himmel, und zugleich das Metall des Sternenschildes in ihrer Hand, nicht mehr golden und blau, sondern komplett farblos und flach. Dann verschwanden die zwei Bilder, und nur die Ströme aus Blut blieben zurück. Die Welt, wie sie sie kannte, war nicht mehr.
Chada ging einfach weiter. Thorns Hand lag kalt in ihrer eigenen. Sie atmete nicht, sie dachte nicht, sie setzte nur einen Fuß vor den anderen, bis ihr Kopf durch aufgewühlte Wellen glitt und ihre Füße das Blut verließen.
Sie standen auf einer Art Insel inmitten des Sees aus Blut. Dunkle, wirbelnde Muster tanzten zu ihren Füßen, stiegen an, vereinigten sich zu Spiralen und Frakturen und wuchsen immer weiter, ragten vor ihnen auf und zuletzt entstand etwas anderes aus ihnen. Zum ersten Mal, seit Chada in Krahal war, konnte sie dem Geflecht aus Düsternis eine vertraute Form abgewinnen: Die Umrisse eines Baumes, in dessen Adern rotes Blut floss.


Dunkelheit verschluckte das letzte Licht des Meeres, breitete sich aus in die winzige Insel der Verzweiflung, die inmitten der Freiheit geblieben war. Ströme aus Blut zerfaserten in dunkle Schleier. Eine Ewigkeit zerstob in Augenblicken ohne neuen Anfang. Und die gesplitterten Muster zerbrachen zu reinem CHAOS.


Ende der Zeit
Baum des Blutes, Krahal

Chada taumelte vorwärts, bis die dunklen Muster in der Form eines Baumes sich vor ihr erhoben. Dann sank sie auf die Knie. Das kalte Metall des nutzlos gewordenen Sternenschildes entglitt ihren Fingern, nur Thorns Hand hielt sie noch immer umklammert.
Sie legte den Kopf in den Nacken, starrte zu den riesigen, unwirklichen Ästen hinauf, zwischen denen rotes Blut floss. Das letzte bunte Licht in einer Welt, die alle ihre Farben verloren hatte. Sie sah trockenes Holz, das sich wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt in zwei Wurzelsträngen zum blutdurchströmten Baum schob und in seinen Ästen aufging.
… wo zusammenflossen Blut der Ewigkeit,
der Staub des Todes und das Wasser der Zeit…

Chada keuchte, als Fetzen aus ihrer Erinnerung aufstiegen. Hrals Prophezeiung! Sie war der Schlüssel! Sie musste es einfach sein…
… den reglosen Herrscher in ewiger Wacht,
den Wächter, der aus Stehen Werden macht…
… und wenn sie nur seinen Namen sagen,
wird er erwachen und das Unheil vertagen…

Irgendein Teil von Chada wusste, dass sie nach dem Namen suchen musste. Dass dies der einzige Weg sein mochte, doch noch alles aufzuhalten. Doch sie konnte es nicht mehr. Die Gefühle aus Krahal, die der Sternenschild so lange ferngehalten hatte, strömten zuletzt doch ungehindert auf sie ein, begruben sie unter sich, zerrissen ihren kleinen, zerbrechlichen Verstand und ihr ganzes Selbst. Sie vergaß, wo sie war, und warum, und ging ganz auf in dem tosenden Echo eines riesigen, geeinten Bewusstseins. Alle ihre Gedanken verschwanden in den unvorstellbaren Weiten dieses toten, fremden Geistes und entglitten ihr, kaum dass sie sie zu Ende gedacht hatte. Erinnerungen stiegen in ihr auf wie schimmernde Perlen, wie funkelnde Sterne, wie Luftblasen, die lautlos zerplatzten, sobald sie versuchte, nach ihnen zu greifen. Die Bilder, die Gedanken, die Eindrücke wurden aus ihr herausgespült und verloren sich in den endlosen Tiefen Krahals.
Ein Mann in weißen Roben, mit einem Blick voll glühendem Zorn: „Aber du weißt nichts! Und nun geh…“
Eine junge Frau mit einer wunderschönen Stimme, ernst und leise und gleichzeitig klar und rein: „Mein Name ist Eara und ich stamme aus dem Land Hadria…“
Ein alter König, der sie stolz aus grauen Augen ansieht: „Von heute an und für immer seist du ein Held von Andor…“
Ein gigantischer Drache mit rot glühenden Augen, dessen lautlose Stimme voller Hohn durch ihren Schädel hallt: „Es wäre klug zu fliehen, solange ihr noch könnt…“
Ein Monstrum, das sich zu einem Mann verwandelt, blutend und sterbend im Schnee liegend: „Andor brennt, meine geliebten Feinde! Und ihr seid weit weg und könnt nichts dagegen tun…“
Eine sterbende Frau in einem Bett aus blühendem Sternkraut: „Lass nicht zu, dass die Krahder die Andori versklaven. Sei stark. Bewahre Brandurs Erbe…“
Ein befreiter Priester im Schatten einer schneebedeckten Ruine: „Du hast dein Volk gerettet und angeführt, ohne zu wissen, dass dies deine wahre Bestimmung ist. Ohne zu wissen, wer du wirklich bist. Die Rietgraskrone ist dein, sage ich. Du bist die Königin von Andor…“
Ein bleicher junger Mann, in dessen roten Augen Erleichterung liegt: „Meine Schuld … beglichen…“
Drei dunkle, schemenhafte Gestalten, die vor den Überresten eines schwarzen Baumes schweben: „Das Volk, das zu schützen du geschworen hast, wird in der Dunkelheit vernichtet werden. Deine Vergangenheit wird in Flammen vergehen, deine Zukunft wird in Flammen vergehen, und all die, die dir Vertrauen schenken, werden bei ihrem Tode eine Verräterin in dir sehen…“
Ein Schatten mit gezackter Maske in einer großen, halbkreisförmigen Halle: „Willkommen, meine teuren Feinde. Ich warte schon so lange auf euch! Endlich seid ihr angekommen, Helden von Andor…“

Verzweifelte Rufe übertönten für einen Moment die Gedankenstürme. Thorn sah in den Baum hinauf, Tränen rannen aus seinen farblosen Augen, und voller Verzweiflung schrie er etwas in die blutdurchwirkten Äste. Er rief willkürliche Namen und wiederholte Passagen aus der Prophezeiung, doch Chada verstand die Worte nicht mehr. Sie sah ihn nur an, fühlte seine Hand in ihrer, roch den Duft von Rosshaar, Rietgras und einem Hauch von Leder und spürte weitere Erinnerungen in sich aufsteigen, die für einen Moment ihren Geist erfüllten und dann zerplatzten.
Thorn, der sie über einen umgekippten Kessel hinweg ernst ansieht: „Mein Name ist Thorn, und ich komme geradewegs von der Taubrücke…“
Thorn, in einer kalten Nacht im Schatten der Taverne sitzend, mit Angst in seinen Augen, doch einem sanften Lächeln auf den Lippen: „Chada, ich bin so froh, dass ich dich getroffen habe…“
Thorn, unter den Ästen eines majestätischen Baumes, der sie in den Armen hält: „Aber was ich damals sagte gilt heute noch immer: Ich gehe mit dir…“
Thorn, der ihr gegenübersitzt und sie ansieht mit einem Blick so voller Besorgnis und Verletztheit, dass die Geräusche der vielen Andori aus dem Tross in den Hintergrund treten: „Ich habe es so satt, Chada! Die Pflichten! Das Blutvergießen! Die Brosche um meinen Hals…“
Thorn, der neben ihr in der engen Kajüte eines kleinen Schiffes sitzt, eine geflochtene Kette aus Rietgrasblüten in der Hand: „Herzlichen Glückwunsch, Chada…“
Thorn, in einer alten, dunklen Halle, der ihr eine goldene Krone entgegenhält und ihr ernst in die Augen blickt: „Wer, wenn nicht du, entscheidet über dein Schicksal? Lass dich nicht von der Zukunft leiten, die dir geweissagt wurde, sondern von der, die du dir erträumst…“

Und plötzlich starrte sie auf den breitschultrigen Mann neben sich, und in ihrem Kopf war nur Leere. Sie sah einen Fremden, dessen Namen sie nicht mehr kannte, ebenso wenig wie ihren eigenen. Sie sah zu, wie seine Worte sich in unverständliches Wimmern verwandelten. Wie Verzweiflung und Grauen in seine farblosen Augen traten und jedes andere Gefühl ertränkten. Wie etwas in seinem Blick unwiederbringlich zerbrach. Und auch wenn sie nicht wusste, weshalb, ließ dieser Anblick auch in ihr etwas zerbrechen. Es geschah leise und versteckt, doch sie spürte es im ganzen Körper, wie ein gezackter Riss, der von ihrem Herzen bis in alle Glieder kroch. Sie zersprang zu Scherben wie eine Figur aus Ton, und alles, was sie einst zusammengehalten haben mochte, wurde zu Fetzen zerrissen. Nur ihre Erinnerungen existierten noch, immer nur für einen einzigen Moment, in dem sie vollkommen gegenwärtig waren, um sich im nächsten in Nichts aufzulösen.
Und aus diesen Erinnerungen setzte sich etwas zusammen…
Sie hörte die Worte aus Hrals Prophezeiung, die sie wieder und wieder vor sich hin geflüstert hatte: … den reglosen Herrscher in ewiger Wacht,
den Wächter, der aus Stehen Werden macht…

Sie hörte Ken Dorr, mit einer Stimme wie ferner Donner: Beugt Eure Knie, Denn Euer Neuer Herrscher, Euer Regent, Ist Erschienen! Mir Gehorcht Die Ordnung Der Welt!
Sie hörte Kenvilar, die Tückische, das Echo ihrer beißenden Stimme von den Wänden eines dreieckigen Ganges widerhallend: Entstehen bedeutet, dass etwas wird, das zuvor nicht war…
Sie sah einen Stofffetzen, auf den Leander mit schnellen Kohlestrichen eine letzte Nachricht geschrieben hatte: Dieser Kreislauf wird bewacht durch den schlafenden Träumer der Zeit und Hirten der drei Herzen…
Sie sah Ken Dorr vor sich, in einer einfachen Hütte sitzend, während seine bleichen Finger die Gravur eines Baumes in der hölzernen Tischplatte nachzeichneten, und hörte seine hohe, kalte Stimme: Die Herzen der Mutter sind nichts anderes als Bäume…
Und dann stieg eine weitere, letzte Erinnerung in ihr auf; unscharf, ausgeblichen und fast vergessen: Die Erinnerung an einen lauen Frühlingsabend im Grauen Gebirge, und an zwei Agrenkinder, die zwischen den Wagen umhertollten. Die ein Spiel spielten von einem Wesen aus Gutenachtgeschichten und kindlichen Fantasien.
Und dann war nichts mehr übrig. Die fragmentierte Folge von Erinnerungen riss ab. Ihre letzten Erfahrungen entschwanden in den Mustern Krahals. Zurück blieb nur noch die Entschlossenheit, die sie ihr ganzes Leben geprägt und geleitet hatte, und die Erkenntnis, die sie gewonnen hatte. Die Erkenntnis, dass ein Hirte der Herzen auch ein Hirte der Bäume war. Die Erkenntnis, was von einem Herrscher, einem Regent, blieb, wenn er reglos war, nicht etwa starr, sondern ganz wortwörtlich ohne Reg. Die Erkenntnis, welche Silbe, welcher Name es war, der aus Stehen etwas machen konnte, was gleichbedeutend mit Werden war.
Und so rief sie es, hinauf in das Gewirr aus gedrehten Mustern und den Umrissen von Ästen, aus voller Kehle und angetrieben nicht mehr von Hoffnung, sondern nur noch von Verzweiflung: „Ent!“
Und hoch oben, in der Krone des Baumes, zwischen dem roten Blut und den schwarzen Mustern, regte sich etwas.
Angestrengt spähte sie hinauf, bis ihre Sicht zerbrach. Was blieb, war etwas wie tausende Scherben, und in jeder davon spiegelte sich ein anderes, fremdartiges, flimmerndes Bild, das zu schnell vorüberglitt, um es zu begreifen. Unzählige Ausschnitte, die nebeneinander existierten, alle gleichermaßen wahr und doch unvollständig.
Sie sah ein gleißendes Licht in schillernder Dunkelheit.
Sie sah einen Mann mit Augengläsern, der sich über einen leuchtenden Tisch beugte.
Sie sah ein riesiges, offenes Haus ganz aus Zahlen und Licht.
Sie sah eine geschwungene Figur aus weißem Holz.
Sie sah dunkle, verschlungene Schrift, unmöglich zu entziffern, inmitten des Lichts einer auf ewig untergegangenen Sonne.
Und zuletzt setzten die Scherben sich zusammen zu einer strahlenden Form, die doch nicht mehr war als ein winziges blasses Abbild, eine Gestalt von unendlich vielen und doch die einzige, an die sie sich klammern konnte: Ein goldener Baum, mit mächtigen Ästen voller lautlos flirrender Blätter und mit zerfurchter Rinde, in der sie ein Gesicht ausmachen konnte. Die Gesichtszüge wandelten sich unablässig, waren ein junges Mädchen, ein alter Greis, ein gehörnter Troll, ein eingefallener Schädel, ein Säugling, ein geschuppter Drachenkopf. Doch was blieb, waren die golden glühenden Augen, die sie unverwandt ansahen und den leuchtenden Blick nicht von ihr lösten.
Der Träumer der Zeit war erwacht.
Und sie spürte eine überwältigende Aufmerksamkeit auf sich lasten, so fremdartig und gewaltig und schwer, dass ihr die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Sie wusste längst nicht mehr, weshalb sie hier war, nur noch, dass dieses Wesen ein Unheil vertagen musste. Ent! Sie hatte es ein zweites Mal rufen wollen, doch sie hatte keine Kraft mehr, dachte nur verzweifelt: Bitte! Rette uns!
Danach konnte sie nur noch hinaufstarren, diesen glühenden Blick erwidern und in diesen Augen versinken wie in geschmolzenem Gold. Sie konnte nichts mehr sagen, nichts mehr mitteilen, und verstand zugleich, dass das gar nicht nötig war, dass dem Hirten der Herzen schon ein Blick aus diesen goldenen Augen genügt hatte, um in ihr innerstes Wesen zu schauen und zu wissen, weshalb sie hergekommen war, wenn sie selbst es auch vergessen haben mochte. Angespannt harrte sie irgendeiner Bestätigung, irgendeinem Anzeichen, dass alle ihre Probleme nun gelöst wären. Wartete auf irgendeine Art von Reaktion. Und dann, für einen Wimpernschlag, beugte sich die Realität selbst, formte sich um, und alles andere wurde ausgelöscht bis auf eine einzige Antwort, die kein Wort war, sondern pure Bedeutung…
Nein.
Sie sackte kraftlos in sich zusammen. Verzweiflung strömte unaufhaltsam auf sie ein, und sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren, eine Frage zu stellen oder sie auch nur zu denken. Und die Antwort kam dennoch…
Die Ordnung der Welt muss sterben. Das Spiel ist verloren. Hrals Prophezeiung kann sich nicht erfüllen. Die Kette von Ursache und Wirkung hält die Wirklichkeit versklavt. Und alles kommt, wie es kommen muss.
Mit leerem Blick sah sie hinauf zum goldenen Baum, hinauf in die golden glühenden Augen und die tausend flimmernden Scherben, wollte irgendwelche Worte herausbringen… Doch eine tosende Stille hatte auf einen Schlag die Echos Krahals verschluckt, die Linien und Muster aufgelöst, und näherte sich, unaufhaltsam. Der Baum aus Mustern fiel in sich zusammen, rotes Blut strömte herab und wurde grau und schemenhaft, ehe es ganz verwischte.
Die Ordnung der Welt muss sterben.
Noch einmal formte sich die Wirklichkeit zu Bedeutung um, ehe sie in sich zusammenfiel. Die Realität faltete sich zusammen, ganz kurz waren Bilder zu sehen, Augenblicke, Zeiten, flüchtige Traumbilder im letzten Moment vor dem Erwachen, und in jedem davon stand majestätisch der goldene Baum. In den Schatten einer niedergerissenen Festung. In den Gängen einer Mine. In Höhlen voller Kreaturen und Blut. Und in einer sternenklaren Nacht im Gebirge.
Und für einen Herzschlag, ehe das Ende sie erreicht hatte, wurde alles, was sie zu wissen geglaubt hatte, hinweggefegt. Ein erschreckendes Gefühl einer Mischung von Wahrheit und Unwirklichkeit überkam sie. Die Welt, die sie zu kennen geglaubt hatte, lag flach und reglos vor ihr ausgebreitet, faltete sich zusammen und verschwand hinter orangener Schrift, die sich zu Türmen vor ihr aufrichteten. Eine ganze Welt und doch nur ein einziger strahlender Stern in einem riesigen Kosmos, blau auf weiß. Für einen flüchtigen Moment erhaschte sie einen Blick auf die Ordnung der Dinge, die Spielregeln der Welt, das Fundament der Wirklichkeit, kaum mehr als eine Sammlung von Apokryphen, niedergeschrieben auf wenigen Blättern in strenger, ordentlicher Schrift.
Und ganz leise hörte sie aus einer zerplatzenden Erinnerung das Echo einer boshaften Göttin: Die Wirklichkeit ist ein Spiel, Bogenschützin!
Und dann verschwanden die Zeiten und Augenblicke, verschwanden die Bilder und Gefühle, verschwanden der goldene Baum und das graue Blut und die beiden Menschen und zum Schluss die Hände, die sich noch immer festhielten und nicht loslassen wollten. Und das Spiel selbst ging zu Ende.


CHAOS erfüllte die letzten Strukturen einer geordneten Welt und zersetzte sie, bis es keine Strukturen mehr gab. Nur noch schillernde Farben aus schwarzem Licht, grausam tosende Stille ohne Klang, immer neu zerbrechende Formen. Schicksal verblich zu Ungewissheit, Zukunft zu dunklen Schleiern, Dinge zu leeren Gedanken, Materie zu Möglichkeit. All die Namen und Begriffe, die die Welt in Muster pressten, lösten sich auf. Alle Kategorien verschwanden und verloren jede Bedeutung. Anfang. Ende. Ewigkeit. Raum. Zeit. Kausalität. Wahrheit. Für einen ewig andauernden Moment, der stets aufs Neue zu Ende ging und doch immer verblieb, gab es nichts mehr als pures CHAOS. Nichts als wahre, vollkommene, bedeutungslose Freiheit.
Die Ordnung der Welt war gestorben. Und das Unmögliche wurde wahr…
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Epilog - Ein neuer Anfang

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:35

Epilog – Ein neuer Anfang

Morgendämmerung, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Herz des Bronwaldes, Graues Gebirge

Nebel lag noch zwischen den dunklen Stämmen, und Tau perlte von den Blättern. Der Himmel über den Berggipfeln im Osten färbte sich eben erst heller, während die Sterne verblassten. Das erste Morgenrot schimmerte durch die Zweige, doch der Schwarze Herold sah es nur als blassen, grauen Schimmer.
Seit seinem Tod konnte er keine Farben mehr genießen. Keine Düfte. Keinen Geschmack. Die Welt war ihrer gesamten Schönheit beraubt. Doch er hatte sich ohnehin nie um Schönheit gekümmert. Nur um seine Ziele und wie er sie erreichen konnte.
Und bald schon würde er sie erreichen! Seine Rache, vollkommener, als er es sich je ausgemalt hatte. Wenn er die volle Macht des Herzens erst kontrollierte, würde sich ihm nichts mehr in den Weg stellen können. Kurz verspürte er etwas wie Triumph.
Die Bäume öffneten sich vor ihm. Er schwebte vor einer Lichtung, die von einem riesigen schwarzen Baumstumpf eingenommen wurde. Dunkles Wurzelwerk bedeckte den Boden wie trockene Adern. Hier also war es. Das vorletzte Herz des Todes, vor dem Schwarzen Baum in Krahd und der Frucht, die er nun in der Faust hielt. Hoffentlich würde er hier etwas über seine neue Macht lernen können.
Vorsichtig schwebte er näher. Er spürte die Präsenzen anderer Geister im Inneren des Baumes, doch sie behelligten ihn nicht und so kümmerte er sich nicht weiter um sie. Er umflog den toten Stamm, um ihn von allen Seiten zu betrachten. Doch als er wieder an seinem Ausgangspunkt ankam, war er nicht mehr allein.
Abertausende von flirrenden Bildern zuckten über den dunklen Wurzeln, zerbrachen zu schillernden Scherben und unverständlichen Mustern. Und schließlich setzten sie sich neu zusammen zum Abbild eines großen, majestätischen Baumes, dessen Wurzeln tief im Erdreich vergraben waren und der sich doch langsam umdrehte. In der faltigen Rinde konnte der Schwarze Herold ein sich wandelndes Gesicht ausmachen, stetig fließende Furchen, die ein Paar golden glühender Augen einrahmten.
Der Herold erstarrte. Er konnte keine Farben mehr sehen, sah die Welt seit vielen Jahren nur noch in tristen Grautönen – und doch waren da diese Augen, strahlend wie flüssiges Gold, die sich fest auf ihn richteten und ihn nicht losließen.
„Wer … Was bist du?“, flüsterte er. „Das ist unmöglich!“
Der goldene Baum sah ihn lange an, und dann, ohne dass einer seiner wandelnden Münder sich geöffnet hätte, waren da Worte:
Ja. Es ist unmöglich. Und doch ist es wahr.
Der Schwarze Herold wich zurück. Er hatte diese Worte nicht gehört, nicht gelesen, nicht in irgendeiner Weise wahrgenommen. Vielmehr war es, als wäre er selbst diese Worte gewesen, als hätte bis auf diese Antwort alles andere zu existieren aufgehört, als hätte pure Bedeutung für einen Moment die chaotische Vielfalt der Welt verdrängt.
Die Kette von Ursache und Wirkung ist gesprengt. Der Fluss der Zeit ist versiegt. Die Zukunft ist nichts mehr als ein dunkler Schleier. Nichts kann ihr mehr widersprechen. Und alle Regeln sind gebrochen. Die Gesetze der Natur… Die Gesetze der Logik… Die Spielregeln der Welt. Sie alle haben ihre Gültigkeit verloren.
Der Schwarze Herold fuhr zusammen, als erneut Worte sein ganzes Wesen ausfüllten und alles andere beiseite schoben. „Was willst du von mir? Was bist du?“, schrie er wütend. Doch der Baum sah ihn nur unverwandt an.
Die Ordnung der Welt ist gestorben.
Kurz zeigte sich etwas wie ein Lächeln auf den rissigen Lippen des aktuellen Gesichts, einer jungen Frau mit weichen Zügen.
Doch auf Tod folgt neues Leben.
Die flirrenden Blätter des Baumes teilten sich. Eingekeilt zwischen zwei starken Ästen lag sanft schimmernd ein Stück Metall: Eine Krone mit gewellten Zacken.
„Nein!“, brüllte der Schwarze Herold. Er stieß vor. Ein kleines Stück von diesem verfluchten Baum, mehr brauchte er nicht!
Die goldenen Augen in dem Gesicht einer alten Tare sahen ihm ruhig entgegen.
Dies ist wahrer Widerspruch. Es ist die Schlange, die sich selbst verschlingt. Es ist ein Fehler in der Ordnung der Welt, der sich selbst korrigiert. Es ist … ein Paradoxon.
Die Äste spannten sich, die Rietgraskrone verbog sich und zerbrach. „Neeeiiiii…“ Ein tiefer Schrei drang aus der Maske des Schwarzen Herolds und verklang zu einem fernen Echo, seine dunklen Schatten verblassten, das nadelspitze weiße Licht hinter den Augenschlitzen seiner gezackten Maske erlosch.
Mit einem dumpfen Klang fiel die Maske zu Boden und zerbrach auf den schwarzen Wurzeln des toten Baumes in Stücke. Wo der Herold gewesen war, schwebte noch immer eine blau leuchtende Kugel. Das Samenkorn, das die Macht der Vernichtung in sich barg.
Ein Wurzelstrang wand sich aus dem Boden, legte sich um die Frucht und zog sie ins Innere des Baumes, wo drei schemenhafte Gestalten ihr aus weiß glühenden Augen entgegensahen.
Auf der Lichtung stand unbewegt der strahlende Baum. Doch langsam schlossen sich die goldnen Augen in dem bärtigen Gesicht.
Eine Variante geht zu Ende, doch das Spiel besteht fort. Und so beginnt alles neu.
Die flimmernden Bilder erloschen. Keine Spur war mehr vom goldenen Baum zu sehen. Nur die Splitter der beiden Kronen, eine aus Gold und eine aus schwarzem Blutstahl, zeigten, dass er hier gewesen war.
Der Träumer der Zeit war entschlafen. Und das Spiel begann.


Früher Vormittag, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Klippe
Falkenkralle, Hadrisches Meer
Wellen schlugen laut an die gezackten Klippen. Stürmische Winde peitschten ungeduldig das Meer auf, die Gischt wurde viele Schritte in die Höhe getragen. Plötzlich glitt eine langgezogene Gestalt unter dem unruhigen Wasser dahin. Ein schlangenartiger Körper näherte sich der Klippe, doch der Oberkörper, der aus dem Wasser brach, war der einer Frau, mit dunkelgrüner Haut und orangenen Augen. Während sie sich noch blinzelnd umsah und ihren Stab hob, sammelten sich die Winde bereits um ihre schlanke Gestalt, bis sich Worte aus dem Brausen zusammenfügten: „Du bist spät.
„Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.“, antwortete sie mit beißender Stimme.
Also hast du es auch gespürt?
„Selbstverständlich. Für sterbliche Augen mag es unsichtbar sein, doch für solche wie uns? Ein Aufruhr ging durch das Geflecht der Welt, wie es noch nie zuvor geschah.“
Was bedeutet das, Kenvilar?
Sie blickte wehmütig über die Wellen. „Es bedeutet, dass wir versagt haben. Was nicht sein darf, ist geschehen, und was nicht sein kann, wurde wahr. Trotz all unserer Pläne, trotz all unserer Opfer, sind wir gescheitert. Dass wir noch hier sind, ist nicht uns zu verdanken, Arkteron.“
Die Winde brausten erbost. „Wie konnte das geschehen?
„Die Welt ist in Unruhe. Nach Jahrhunderten der Starre häufen sich nun die Ereignisse binnen eines Wimpernschlags. Der letzte Drache wird erschlagen, und die Ewigkeit verliert ihre Parasiten und Wächter zugleich. Das Ewige Eis verlässt die Schluchten, in die es eingekerkert war. Oktohan wird ermordet, die Balance des Meeres zerstört. Die Magischen Waffen werden befreit. Der Baum der Vernichtung vergeht in einem Flammensturm, und sein Samenkorn ist unauffindbar. Und im Zentrum all dieser Ereignisse steht eine kleine, zusammengewürfelte Gruppe von Sterblichen.“
Wir sollten sie vernichten. Für Oktohan.
„Vielleicht.“, meinte Kenvilar nachdenklich. „Oder vielleicht auch nicht. Sie haben gewaltigen Schaden verhindert, und noch größeren verursacht. Sie sind ein wichtiger Spielstein, und wir müssen mehr herausfinden, ehe wir entscheiden, ob wir ihn schlagen müssen oder ob ihre weiteren Züge auch uns nützen. Die Welt ist in Unruhe – doch Unruhe ist meine Spezialität.“
Ein bösartiges Lächeln verzerrte ihre Züge. „Ich werde Hagrod zu ihnen schicken. Er soll sie beobachten. Und wenn sie eine Bedrohung sind, dann soll er vollenden, woran er letztes Mal gescheitert ist.“
Die tosenden Winde signalisierten Zustimmung. Dann formten sie sich um, bis die Umrisse einer dunklen, wirbelnden Gestalt mit hellen Augen sich über Kenvilar beugten. „Und sonst? Wie verhindern wir, dass sich so etwas wie heute wiederholt?
Schlagartig wich Kenvilars Lächeln einem tiefen Ernst. „So, wie wir es immer getan haben, Arkteron. Dein Atem vernichtet Ernten und verheert ganze Völker, bis ihr Hunger jeden Ehrgeiz verschlingt. Meine Worte schüren Konflikte, lassen Kriege ausbrechen und Reiche vergehen, bis jeder allzu große Fortschritt zunichte gemacht ist. Wir halten die Völker in Unwissen und schützen sie vor ihrer Gier. Wir suchen und verbrennen die alten Texte, die uns bisher entgangen sind. Wir verfolgen Seher und Magier, die die Konsequenzen ihrer Fähigkeiten nicht ermessen können. Wir hüten die Balance des Meeres und das Gleichgewicht der Welt. Von heute und bis in alle Zeit.“
Was es auch kosten möge.


Später Vormittag, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Nördliche Küste, Wachsamer Wald

Callem stützte seine Arme auf den Tisch und betrachtete den schmutzigen kleinen Mann mit dem strähnigen grauen Haar, der sich über seine Pergamente beugte, Berechnungen durchführte und Zeichnungen anfertigte. „Wie weit bist du?“, fragte er leise, mit einer kaum hörbaren Schärfe in der Stimme.
Der verängstigte Werftheimer zuckte zusammen, wodurch die Ketten an seinem Fußgelenk klirrten, und schluckte schwer. „Fast fertig. Noch ein paar Tage, und Ihr werdet den Bauplan für den schnellsten Dreimaster des Hadrischen Meeres in den Händen halten.“
„Ein paar Tage? Immer sind es noch ein paar Tage! Ich verliere langsam die Geduld, Raat.“
„Bitte, ich … Alles muss perfekt aufeinander abgestimmt sein! Und dann auch noch ein Schiff von dieser Größe…“ Der Schiffsbauer biss sich auf die Lippen. „Mit Verlaub, aber wollt Ihr wirklich mit nur drei Männern ein solches Schiff…“
Callem hieb mit der Faust auf den Tisch Raat verstummte hastig und senkte den Blick. „Ich denke langfristig, Raat! Ich habe nicht die Absicht, meine Mannschaft so klein zu belassen. Und jetzt tu, was ich von dir…“
Das schrille Kreischen eines Vogels ließ Callem aufblicken. Rooaaaa! Er lächelte. „Ah, sie sind zurück. Endlich.“ Er überließ den Gefangenen seiner Arbeit, trat aus der Hütte seines Bruders und holte tief Luft.
Der Geruch von Salz und frischem Gras lag in der Luft. Fernes Meeresrauschen und Vogelschreie drangen an seine Ohren. Und ganz leise hörte er schrille, hypnotische Flötenklänge.
Ein großer Vogel kreise über der Hütte und senkte sich jetzt herab, um sich auf Callems Schulter niederzulassen. Der Kapitän genoss den Schmerz der Krallen, die sich in seine Schulter gruben. Das Gefühl, am Leben zu sein. Vorsichtig strich er Roa über den Kopf, immer von oben nach unten, um sich nicht an den scharfen Federn zu verletzen. Roa kniff die kleinen Augen zusammen und krächzte zufrieden. Dann traten drei Männer aus dem Unterholz.
Niron ging vorne und nickte seinem Kapitän ernst zu. Hinten lief Orril, unablässig auf seiner beinernen Flöte spielend, um den Gefesselten zwischen ihnen in Schach zu halten. Mit hölzernen Bewegungen bewegte der Gefangene sich vorwärts, bis er vor Callem zum Stehen kam.
Er trug abgerissene rote Kleidung unter einer leichten Rüstung. Aus seinem unordentlichen dunklen Haar ragten zwei spitze Ohren. Seine Augen glühten in einem grellen Orange. Und auf seiner Brust, nur halb durch die Fesseln zu sehen, prangte ein großer, rot glimmender Edelstein.
Callem nickte Orril zu. „Lass ihn sprechen.“
Der Schwarze Barde nahm sein Instrument von den Lippen, und augenblicklich verzerrte sich das Gesicht des Gefangenen zu einer Fratze des Hasses. Er zerrte vergeblich an seinen Fesseln. „Was wollt ihr von mir?“, zischte er schließlich.
„Du hast großes Potential, Trieest.“, meinte Callem nachdenklich. „Du bist ein hervorragender Krieger. Ich brauche Leute wie dich. Du arbeitest doch gegen Bezahlung? Schließe dich mir an, und du wirst mehr bekommen, als jeder andere dir bezahlen könnte.“
Trieest drehte den Kopf. Callem konnte den Ausdruck und die Blickrichtung in den unmenschlichen glühenden Augen nicht ablesen, doch am verächtlichen Gesichtsausdruck erkannte er, dass der Feuerkrieger die kleine Hütte und die beiden ärmlichen Zelte betrachtete.
„Lass dich nicht vom äußeren Schein täuschen.“, flüsterte Callem eindringlich. „Wenn wir erst wieder …“
Trieest unterbrach ihn, indem er ihm ins Gesicht spuckte. „Ich werde mich niemals unter das Wappen der Schwarzen Schlange stellen!“
Callem unterdrückte seinen Zorn. Mit Kentar war es so viel einfacher gewesen, sich eine Mannschaft aufzubauen. Inzwischen begann selbst Niron, sich ihm zu entziehen.
„Wie du willst!“, stieß er hervor. Er griff nach Trieest Fesseln, als plötzlich ein orangenes Licht aufflammte. Der Stein im Brustpanzer strahlte hell, und die Stricke begannen bedenklich zu glühen und sich schwarz zu färben.
Noch bevor Callem ihn dazu auffordern konnte, hatte Orril bereits seine Flöte erhoben und eine düstere Melodie ertönte, die den Feuerkrieger erstarren ließ. Stocksteif stand er da, während seine brennenden Fesseln sich von ihm lösten und zu Boden fielen.
Callem beobachtete ihn ruhig, dann griff er nach dem Edelstein. Hitze strömte durch seine Hand, doch sie störte ihn nicht. Er zwängte seine Finger in die Fugen zwischen Rüstung und Stein und zog mit aller Kraft. Trieest verzog vor Schmerz das Gesicht, zu mehr Regung war er dank Orrils Flötenspiel nicht fähig.
Schließlich gelang es Callem, ihm den Stein aus der Brust zu reißen. Das Licht in Trieests unmenschlichen Augen nahm zu und grub sich durch seine Haut. Dann brachen Flammen aus ihm hervor und hüllten ihn ein, während sein Körper zu glühender Asche zerstob. Seine verkohlte Rüstung fiel klappernd zu Boden. Orrils beinerne Flöte verstummte.
Callem starrte lächelnd in den großen, geschliffenen, rubinroten Stein in seinen Händen. Er war schmerzhaft heiß, doch zugleich barg er die Kühle und sogar das Geräusch des brandenden Meeres in sich.
„Ein Lavastein aus Danwar.“, flüsterte Callem. „Wir haben, was wir wollten.“ Er hob den Blick und sah Orril und Niron ernst in die Augen. „Gute Arbeit, Männer!“
„Können wir dann jetzt bald deinen Plan in die Tat umsetzen?“, fragte Niron ungeduldig. Er sehnte sich nach einer Herausforderung, das wusste Callem.
„Noch nicht, mein Späher. Unser Schiff ist noch nicht einmal gebaut. Ich habe noch immer keinen Casamatuc. Wir müssen Stinners Hofzauberer loswerden, er steht uns im Weg und ich brauche sein Stundenglas. Vor allem jedoch warte ich noch auf die Nachricht meines Bruders, dass die Helden von Andor vernichtet sind. Sie sollen uns nicht noch einmal aufhalten.“
Er lächelte. „Und dann können wir endlich zuschlagen. Stinner mag sich sicher fühlen hinter den hohen Mauern, die er wiederaufbaut. Doch es gibt andere Wege in die alte Feste.“
Er legte Niron und Orril je einen Arm auf die Schulter. „Niron, finde diese Wassermagierin und richte ihr aus, dass wir etwas in unserer Gewalt haben, woran ihr Herz hängt. Und Orril, kümmere dich um diesen verdammten Casamatuc! Wenn Hammer und Helm erst uns gehören, werden ihr Versprechen auf Macht und Reichtum neue Gefolgsleute anlocken. Und die Schwarze Schlange wird einmal mehr die Nebelinseln in Furcht versetzen.“
Orril und Niron grinsten bösartig. Und Roa breitete auf Callems Schulter die Flügel aus und kreischte triumphierend. Rooaaaaa!
Sie hatten einen Rückschlag erlitten, doch sie waren noch nicht vernichtet. Die Schwarze Kogge würde erneut zurückkehren, eine neue Mannschaft versammeln, Macht anhäufen, bis sie eines Tages bereit wären, die Seekrieger und Silberzwerge offen herauszufordern. Noch viele Jahre mochten vergehen, doch Callem zweifelte nicht daran, dass es möglich war. Die Krone der Nordmeere sollte ihm gehören! Und er würde endlich frei sein.


Sonnenhoch, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Fingertürme in der Feste von Yra, Hadria

Boridas vergewisserte sich, dass ihm niemand durch die verlassenen Gänge Yras gefolgt war, dann klopfte er an. Die Tür öffnete sich quietschend. Eine junge, kahlköpfige Zauberin des Feuers sah ihm entgegen, beäugte ihn misstrauisch und sprach langsam: „Wenn Feuer und Turm miteinander ringen …“
„… wird dies die ersehnte Entscheidung bringen.“
Sie nickte erleichtert und ließ ihn ein. Die Kammer war leer bis auf einen niedrigen Tisch mit einer flachen, goldenen Schale darauf, in die sie jetzt eine silbrige Flüssigkeit goss. „Endlich treffen wir uns also von Angesicht zu Angesicht.“, fragte sie währenddessen. „Wie heißt du?“
Boridas schüttelte den Kopf. „Wir sind noch nicht so weit, Namen auszutauschen. Du kannst mich weiterhin den Wächter nennen.“
Sie nickte nur und zeigte keine Enttäuschung.
„Und du? Bist du die Weiße Füchsin?“, wollte Boridas wissen.
„Nein. Sie ist nicht persönlich hier.“ Die Zauberin murmelte eine Formel, und in der flachen Schüssel erschien ein gekräuseltes Bild. Eine Frau mit schwarzer Robe und schneeweißem Haar. Boridas erkannte sie sofort.
„Nukia. Du also bist die Weiße Füchsin.“
„Und du der Wächter, Boridas.“, antwortete sie lächelnd. „Es tut gut, diese albernen Namen endlich abzulegen.“
„So war es sicherer.“, beharrte Boridas.
Nukia zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer. Wir sind hier, nur das zählt. Und trotz unserer Unterschiede eint uns ein gemeinsames Ziel.“
Boridas nickte. „Diese unsägliche Versammlung zu zerschlagen. Die Konkurrenz der Zwei Orden zu beenden.“
Nukias Lächeln vertiefte sich. „Und sie durch den Krieg zum großen Frieden zu führen.“ Sie strich ihre Robe glatt. „Also dann, Boridas. Wir haben viel zu besprechen, wenn wir wirklich eine Allianz formen wollen. Machen wir uns ans Werk.“


Früher Nachmittag, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Östliches Rietland am Fuße des Grauen Gebirges, Andor

Pferde grasten auf der Koppel vor der ärmlichen Bauernkate. Am Zaun stand ein Junge von etwa zehn Sommern und sah den Tieren aus nachdenklichen blauen Augen zu. Sadam blieb stehen und musterte ihn. „Hallo, Kleiner. Wie heißt du denn?“
Das Kind drehte sich um. „Mein Name ist Brandur. Und wer seid Ihr?“
Sadam lächelte zufrieden. Scheinbar hatte seine Quellen recht behalten. „Sadam.“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich habe gefragt, wer Ihr seid, nicht wie Ihr heißt. Was sind schon Namen? Könige und Bauern können den gleichen tragen und doch verschieden sein.“
„Nicht so verschieden, wie du glaubst.“, erwiderte Sadam. „Ich bin ein Mensch. Ein Bauer mit vielen Feldern, der einst ein Niemand war und der noch mehr sein will. Ich glaube an die Kraft der eigenen Hände, an die pragmatischsten Lösungen, und an nichts sonst. Und ich denke, dass wir beide gute Freunde werden können. Was meinst du?“
Brandur lächelte zaghaft. „Ich denke nicht. Mutter will nicht, dass ich mit Fremden verkehre. Sie sagt, ich soll mich unauffällig verhalten. Sie sagt, sie will mich beschützen.“
„Und das hat sie in den letzten Jahren außerordentlich erfolgreich geschafft. Doch für uns alle kommt die Zeit, da wir erkennen müssen, welches Schicksal uns erwartet. Für manche früher als für andere.“ Er nickte Brandur zu. „Was tust du hier?“
„Ich warte.“
Sadam schwieg eine Weile, doch der Junge schien nicht gewillt, fortzufahren. „Und worauf wartest du?“
„Ich weiß es nicht.“
Sadam nickte langsam. Er griff in seine Tasche. Seine Finger schlossen sich um eine kleine Dose aus vergoldetem Metall. „Ich habe etwas für dich, Brandur.“, meinte er leise. Vorsichtig zog er die Spieluhr hervor und drehte an der Kurbel. Eine leise, metallische Melodie erklang, traurig und zugleich betörend schön, voller Sehnsucht und Hoffnung. „Eine Arbeit der Zwerge. Es heißt, wann immer diese Melodie erklingt, findet eine verlorene Seele ihren Weg.“
Auffordernd hielt er Brandur die reich verzierte Spieluhr hin. „Nimm schon. Ich verspreche, sie wird bei deinem Warten helfen.“
Behutsam nahm das Kind die Spieluhr aus seiner Hand und ließ die Melodie erneut erklingen. Ein zweites Mal. Ein drittes Mal. Ein viertes Mal. Er schien gar nicht mehr aufhören zu können, drehte unablässig weiter, während Tränen in seine blauen Augen traten.
Sadam schluckte schwer und strich sich wehmütig über den Oberlippenbart. Dieses Kind erinnerte ihn an sich selbst.
„Brandur? Was hast du da?“
Eine klare Frauenstimme erscholl und der Klang der Spieluhr riss ab. Eine dunkelhaarige Bäuerin stand in der Tür der ärmlichen Kate und sah Sadam feindselig entgegen. „Lass das liegen und komm zu mir!“
„Aber Sadam hat es mir geschenkt!“, protestierte Brandur ernst.
Die Frau holte tief Luft. „Sadam …“, sagte sie schwer.
Er nutzte die Gelegenheit für eine angedeutete Verbeugung. „Hocherfreut, Teuerste! Ich bin Sadam, auch bekannt als der Aufsteiger.“
„Sehr erfreut…“, erwiderte sie wenig überzeugend. „Dann könnt Ihr jetzt ja wieder gehen.“
„Aber nicht doch!“, lachte Sadam. „Ich habe eine Bitte. Oder sagen wir – ein Angebot.“
„Die Antwort lautet Nein!“, presste sie hervor. „Der Hof gehört mir, und ich werde ihn weder verkaufen, noch verpachten, noch ein weiteres Darlehen annehmen, das ich nicht zurückzahlen kann.“ Sie kniff verächtlich die Augen zusammen. „Ich kenne Leute wie Euch! Ihr wollt, dass Euch die ganze Welt gehört, kreist wie Krarks um jedes noch so kleine Stück Beute. Ich werde nicht zulassen, dass solche wie Ihr sich ganz Andor unter den Nagel reißen.“
Sadam klatschte langsam. „Wirklich inspirierende Worte. Ich bin ganz Eurer Meinung. Keine Sorge, ich bin nicht wegen des Hofes hier. Ich will niemandem etwas wegnehmen. Im Gegenteil – ich will dafür sorgen, dass wir alle bekommen, was uns zusteht. Unser … Geburtsrecht, gewissermaßen.“
Er warf Brandur einen bedeutungsvollen Blick zu, und die Bäuerin erbleichte. Ihr Blick ruhte auf der goldenen Spieluhr.
„Auch ich werde nicht zulassen, dass solche wie ich sich Andor einverleiben. Doch ich kann sie nicht daran hindern. Nicht allein. Wer hätte noch die Macht, sich ihnen in den Weg zu stellen? Jetzt, wo Andor keinen Herrscher mehr hat?“
„Brandur! Geh drinnen spielen!“, befahl die Bäuerin mit erstickter Stimme. Ihr Sohn griff seine neue Spieluhr fester und gehorchte ohne Widerrede. Gemeinsam sahen sie ihm hinterher, beide schweigend. Erst, als er in der Kate verschwunden war, sagte die Bäuerin leise: „Ich kannte nur einen König, und er war weder glücklich, noch lebte er lange.“
„Ich will Euch helfen.“, versprach Sadam sanft. „Euch, und dem ganzen Land. Brandur braucht eine Bestimmung. Und Andor einen neuen König, wenn das Land nicht in Gewalt versinken soll.“
Er sah Ablehnung in ihren Augen, daher fügte er schnell hinzu: „Ich sage nicht, dass er den Thron besteigen muss. Aber ich denke, dass diese Entscheidung ihm allein zusteht, und niemandem sonst.“
Sie schlug die Augen nieder.
„Ich bitte Euch, zeigt ihm die Welt außerhalb dieses abgelegenen Hofes. Ich komme viel umher. Er, oder gerne ihr beide, sollt mich begleiten. Brandur soll das Land sehen, das ihm zusteht. Er soll die Menschen treffen, soll ihre Armut sehen, ihr Leid, ihren Wunsch nach Frieden und Stabilität. Aber auch, welche Verantwortung es bedeutet, sie alle zu regieren. Wir ziehen durch Andor, ein halbes Jahr oder ein ganzes, bis wir beide gemeinsam entscheiden, dass es an der Zeit ist, ihm die Wahrheit zu sagen. Und dann soll er selbst entscheiden, ob er hierher zurückkehren will, oder ob er sein Schicksal annimmt. Die Krone ist sein Recht, und es steht uns weder zu, sie ihm aufzuzwingen, noch, sie ihm vorzuenthalten.“
Er streckte seine Hand aus. „Was sagt Ihr? Sollen wir ihm die Möglichkeiten geben, die er verdient? Sollen wir zusammenarbeiten?“
Sadam sah ihr Zögern. Er blickte sie nur eindringlich an. Ermutigend, aber nicht einschüchternd. Noch nicht. Die Drohungen würden erst kommen, wenn der Versuch der Zusammenarbeit gescheitert war. Noch musste sie nicht erfahren, dass er all ihre Schulden aufgekauft hatte.
Schließlich hob sie ihre Hand, hielt noch ein letztes Mal inne und schlug dann zögernd ein. „Für Brandur.“, sagte sie mit zitternder Stimme.
Sadam lächelte. „Für unseren rechtmäßigen König.“


Später Nachmittag, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Rietland nordwestlich von Narnfurt, Andor

Janis spürte, wie die Luft in der Hütte sich abkühlte. Sie war hier. Schon wieder. „Ich habe gesagt, du sollst verschwinden!“, rief er. „Mutter braucht dich. Hilf ihr! Das ist deine Aufgabe!“
Er ließ das Netz sinken, das er geflickt hatte, und drehte sich um. Sie stand in der Mitte der Hütte. Späte Sonnenstrahlen, die durch das löchrige Dach fanden, durchstießen ihren Körper und ließen ihn schimmern wie einen Regenbogen.
Eine traurige Miene lag auf ihrem konturlosen Gesicht. Ein tröstliches Gefühl machte sich in Janis breit, doch er schob es beiseite. „Alle anderen haben Kheela im Stich gelassen! Steh wenigstens du ihr bei, Vara! Das hat sie verdient …“
Der Wassergeist sah ihn nur traurig an und zerfloss zu einer Pfütze, die Janis nach besten Kräften ignorierte. Er schleppte sich zu seiner Schlafstelle, zu der Decke, die Mutter bestickt hatte und an der noch immer ihr Geruch haftete, und zu der schlichten Holzschatulle, die er hier abgestellt hatte. Alle ihre Wertsachen waren darin, doch Janis wagte es nicht, sie zu öffnen, strich nur sanft über den Deckel. Die abgegriffenen Schnitzereien waren glatt unter seinen Fingern.
Vor langer, langer Zeit kamen zwei Brüder in ein leeres Land mitten im Nichts. Sie waren Arauthor, der Hirte, und Nivor, der Bauer …
Janis schloss die Augen, um die Tränen zu vertreiben.
Was, wenn ich nicht mehr zurückkomme, mein Schatz?
Du musst, Mutter! Du hast mir gesagt, ich solle hier auf dich warten, und das tue ich. Seit einem Jahr schon. Die Flusslande brauchen dich. Ich brauche dich!
Die Flusslande brauchen einen Hüter. Aber nicht unbedingt mich. Vielleicht ist es an der Zeit, dass du …
Nein, Mutter! Ich bin nicht wie du. Du bist ein Leuchtfeuer im Sturm, wo ich nur eine flackernde Kerze bin. Ich kann dich nicht ersetzen. Niemand kann das!

Janis konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten. Warm liefen sie über seine Wangen.
Also komm einfach bald zurück. Bitte, Mutter! Ich weiß, dass du nicht tot bist. Ich weiß es einfach! Und ich werde hier immer auf dich warten.
Das war sein letzter Gedanke. Doch als er längst eingeschlafen war, flossen die Tränen noch immer.


Abenddämmerung, 84. Frühjahrstag 76 A.Z.
Zwergenstraße nördlich der Korn-Schlucht, Graues Gebirge

„Der 84. Frühjahrstag ist ein Tag wie jeder andere. Doch heute vor genau 76 Jahren wurde der Grundstein der Rietburg gelegt, eines Bauwerks, das bis heute ein Symbol für Freiheit und Sicherheit ist. Ein halbes Jahr zuvor war der junge Brandur, der das Unmöglich geschafft hatte und den Krahdern, den Sklavenschindern, entkommen war, der seine Schar durch das Graue Gebirge geführt und dem Drachen Tarok getrotzt hatte, von seinem Volk zum König gekrönt worden und hatte offiziell den Beginn Andors verkündet. Er begründete damit nicht nur eine neue Zeitrechnung, er gründete ein Land, in dem sein Volk in Frieden und Freiheit leben sollte.“
Chada stand vor dem großen Feuer und betrachtete die vielen Gesichter darum. Trotz der Dunkelheit erkannte sie ihre Freunde. Sie sah Orfen, den Wolfskrieger, dessen einstmals schwarzes Haar sich während seiner Zeit in den Händen der Krahder grau gefärbt hatte. Sie erkannte Drukil, den Hautwandler, natürlich in menschlicher Gestalt mit ungepflegtem hellblondem Haar und Bart. Den blinden Leander, der mit gesenktem Kopf ihrer Stimme lauschte und dessen blaue Hände seinen knorrigen Stab umklammerten. Dort saßen Melkart, der ehemalige Oberste Priester der Bewahrer, der sie vor so vielen Jahren großgezogen hatte, lange bevor sie geahnt hatte, dass in ihren Adern königliches Blut floss, und daneben Merrik, der alte Kartograph. Etwas abseits der abgemagerte Bragor, ein einstmals stolzer Tarenkrieger, dem in seiner Zeit in der Winterburg die Hörner abgesägt worden waren. Weiter hinten stand Garz, der dicke Handelszwerg. Sie sah ihre ersten Freunde, Fürst Kram von Cavern, Oberhaupt der Schildzwerge, Hand in Hand mit seiner Frau Marun. Eara, die blonde Zauberin, die in ihren dunklen Gewändern erhaben auf einem Stein saß, etwas weiter vom Feuer entfernt, sodass die Schatten, die sich um den gegabelten Stab in ihrer rechten Hand schlängelten, fast nicht zu erkennen waren. Und Thorn, der hünenhafte Krieger, wie immer in einen himmelblauen Umhang gehüllt. Ein aufmunterndes Lächeln zerteilte seinen goldblonden Bart, das Chada unwillkürlich erwiderte.
Doch fast genau so gut konnte sie all die Gesichter erkennen, die fehlten. Die Gesichter derjenigen, die heute nicht mehr kommen konnten und deretwegen sie zusammengekommen waren. Sie fuhr fort: „Noch sein ganzes Leben gab König Brandur stets sein Bestes, um die Andori zu beschützen. Er verteidigte Andor gegen die Trolle, die Kreaturen des letzten Drachen und unzählige andere Gefahren. Doch elf Jahre nach seinem Tod übten die Krahder Rache. Sie fielen in sein Land ein und verschleppten Unzählige. Brandurs Geist aber lebt in seinem Volk fort. Freiwillige brachen ins Graue Gebirge auf, um die Gefangenen zu befreien. Und viel zu viele von ihnen werden nicht zurückkehren. Der Angriff der Krahder hat tiefe Wunden geschlagen, die zum Teil niemals heilen werden. Wir gedenken heute denen, die unter der Gefangenschaft der Krahder starben. Wir gedenken den tapferen Menschen, die ihr Leben riskierten und verloren, um ihre Freunde zu retten. Wir gedenken auch all den verstorbenen Schildzwergen, die uns begleiteten, obwohl keiner ihres Volkes verschleppt worden war. Sie taten es aus Mitgefühl und Solidarität, und viel zu viele von ihnen mussten ihr Leben dafür geben. Wir gedenken insbesondere auch Radan, der sich erst gegen Fürst Kram aussprach, aber der zuletzt doch an seiner Seite in den Kampf zog, der den Prinzen der Krahder tötete und diesen Kampf selbst nicht überlebte.“
Sie spürte Trauer in sich aufsteigen, weniger um den verbitterten Zwerg als um alle, die sie jetzt noch aufzählen musste. Doch das war sie ihrem Opfer schuldig. „Wir gedenken Reka, der Hexe, die einst an Brandurs Seite aus Krahd geflohen ist, die mit ihrer Weisheit und ihren Heilkünsten stets auf ihre Art für das Gute kämpfte und mit deren Tod viel Wissen verloren ging. Wir gedenken Arbon, der dunkle Schriften las, die er nicht hätte lesen dürfen, der den Andori aber bis zuletzt beistand, obwohl er von den Bewahrern verstoßen worden war. Wir gedenken Fenn, der einst aus dem Osten, aus den Barbarenlanden, nach Andor kam, auf der Flucht vor den Krahdern, und der sich ihnen schließlich doch noch stellte. Wir gedenken Kheela, die sich mit ihrer Weisheit und Großherzigkeit für immer einen Platz in unseren Herzen erkämpfte. Drei Menschen, die an unserer Seite unzähligen Gefahren trotzen und die sich tapfer den Heeren der Krahder in den Weg stellten, um anderen Zeit für die Flucht zu verschaffen. Die verschleppt wurden und die ihre Zeit in der Winterburg nicht überlebten. Wir gedenken…“
Sie merkte, wie ihre Stimme brach und sammelte sich kurz.„Wir gedenken Darh, die unter den Krahdern aufwuchs und die sich am Ende mit aller Macht gegen ihre einstigen Meister stellte. Wir gedenken Forn, dem Schattenskral, der aufgrund seiner Natur niemals Dank von denen zu erwarten hatte, für die er sein ganzes Leben kämpfte. Beide blieben in Borghorn zurück, um ihnen unbekannten Sklaven die Flucht zu ermöglichen.“
Chada hob die Arme und stockte kurz, als ihr Blick auf ihre Brust fiel. Dort hing silbern glänzend Mhares Amulett, und daneben – nichts. Die Rietgraskrone, Symbol von Freiheit und Hoffnung, war in der vergangenen Nacht spurlos verschwunden. Sie wusste, dass es in Cavern gute Goldschmiede gab, die Schildzwerge würden ein perfektes Duplikat herstellen können. Doch es widerstrebte ihr, einen solchen Diebstahl einfach hinzunehmen. Den ganzen Tag hatte sie das Lager abgesucht und ihre anderen Pflichten vernachlässigt.
Sie hatte nicht auf einem klapprigen Wagen einen Brief an Farrun geschrieben.
Sie hatte keine zwei Agrenkinder gesehen, die spielten, einen Baumhirten verärgert zu haben.
Sie hatte nicht mit Grone gesprochen, hatte nicht vom Orakel der Geister erfahren.
Und auch nicht von Hrals letzter Prophezeiung, die eingetroffen war und genau deshalb niemals eintreffen würde.
Die Menge wurde unruhig, Chadas Schweigen währte schon zu lange. Der Anblick der fehlenden Rietgraskrone hatte sie aus dem Konzept gebracht und sie die vorbereiteten Worte vergessen lassen. Sie holte tief Luft, schloss für einen Moment die grünen Augen, und sprach mit klarer Stimme: „Die Krahder haben so vieles zerstört. So vieles ging durch sie zu Ende.“
Chada schlug die Augen wieder auf, betrachtete die vielen vertrauten Gesichter, ernst und voller Trauer, doch auch erfüllt von stiller Hoffnung. Ganz schwach lächelte sie. „Doch auf jedes Ende … folgt ein neuer Anfang!“


Und hoch im Norden, an der tiefsten Stelle einer tiefen, weit verzweigten Unterwelt, brodelte gefangenes CHAOS unter von Rissen durchzogenem Boden. Seit dem Anbeginn der Zeit wartete es dort, überdauerte die Äonen, bereit, die Ordnung der Welt zu zerschlagen und ihr grenzenlose Freiheit zu schenken, sobald sein Gefängnis es nicht mehr halten konnte. Doch der Boden hielt. Noch …
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Ehemalige Seiten 5 und 7

Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:36

Das alte Thema ist verloren ... oder doch nicht?

Dank BBBs Recherchen konnten zumindest einige der alten Thread-Seiten gerettet werden.

Das Thema hatte zum Zeitpunkt vor der Löschung 21 Seiten. Davon waren 8 Seiten der Story vorbehalten.

Von den übrigen dreizehn Seiten konnte BBB bisher über den Google Webcache immerhin sechseinhalb wiederfinden (Vielen Dank dafür! :P ), die ich jetzt einfach mal hier verlinke. Ich gehe nicht davon aus, dass der Cache ewig erhalten bleibt, aber ich habe mir Sicherungskopien angelegt und werde sie dann hier einfügen, wenn ich Zeit habe und/oder der Cache geleert wurde.

Das Thema sah damit insgesamt wie folgt aus:

Seite 1: Story und Startbeitrag (s.u.)
Seite 2: Verschollen
Seite 3: Verschollen
Seite 4: Story
Seite 5: https://webcache.googleusercontent.com/ ... clnk&gl=ch
Seite 6: Story
Seite 7: https://webcache.googleusercontent.com/ ... clnk&gl=ch
Seite 8: Verschollen
Seite 9: Story
Seite 10: Verschollen
Seite 11: Verschollen
Seite 12: https://webcache.googleusercontent.com/ ... clnk&gl=ch
Seite 13: Story
Seite 14: https://webcache.googleusercontent.com/ ... clnk&gl=ch
Seite 15: Story
Seite 16: https://webcache.googleusercontent.com/ ... clnk&gl=ch
Seite 17: Story
Seite 18 (erste Hälfte, Rest verschollen): https://webcache.googleusercontent.com/ ... clnk&gl=ch
Seite 19: https://webcache.googleusercontent.com/ ... clnk&gl=ch
Seite 20: Story
Seite 21 (war erst halb gefüllt): Verschollen

Auf Seite 1 war außerdem folgender Startbeitrag:
TroII, So Jan 27, 2019 6:58 pm hat geschrieben:Hallo liebe Andori,

schon vor längerer Zeit hatte ich die Idee für die Handlung einer sehr storylastigen Legende, die nach Teil III angesiedelt war.
Die Geschichte wurde weiter verfeinert, bald hatte ich die Absicht, sie über alle drei Spielpläne gehen zu lassen. Nach einer Weile waren dann stattdessen drei Legenden über je einen Spielpan in Planung. Der Umfang der Geschichte wuchs, die Ideen sprudelten und es entstanden seitenlange Storytexte, die am Anfang und Ende jeder der drei Legenden stehen sollten. Und irgendwann wurde mir klar, dass es mir mehr und mehr um die Geschichte ging und weniger darum, eine (oder vielmehr drei) zu spielende Legende(n) zu entwickeln.
Als sich diese Erkenntnis erst mal durchgesetzt hatte, wurde umdisponiert. Wer Andor spielen möchte, braucht keine seitenlangen Texte, wer dagegen gerne eine Geschichte hört, muss sie nicht in Legendenform verpackt bekommen. Ideen wurden verworfen, Pläne fallengelassen und stattdessen nahm ich mir vor, das zu tun, was längst der eigentliche Zweck geworden war: Die Geschichte zu erzählen.

Ich bin nun wirklich nicht der erste, der auf diese Idee kam. Man denke nur an Tost, die alte Bait-Geschichte von ChrisW und natürlich die wirklich brillante Story von Bird, die ich nur jedem wärmstens ans Herz legen kann und auf deren Fortsetzung ich mal wieder sehnsüchtig warte.
Ich will keinesfalls irgendeine Form von Wettbewerb, sondern nur eine Ergänzung schaffen. Wer möchte, kann die Geschichte lesen, und wenn sie keiner liest, schreibe ich eben um des Schreibens willen.

So, dann noch ein paar einleitende Worte: Ich werde mich bemühen, dem offiziellen Kanon nicht zu widersprechen. Das bezieht sich nur auf die Erweiterungen, die bis jetzt (Stand Januar 2019) erschienen sind, spätere Neuerscheinungen werden nicht mehr zwingend berücksichtigt. Dass ich gerade jetzt anfange liegt tatsächlich an der App, die ich noch abwarten wollte, um Widersprüche zu vermeiden. Die Zeit habe ich genutzt, um noch ein bisschen zu planen und schon etwas vorzuschreiben.
Falls jemandem ein Widerspruch zur offiziellen Geschichte auffällt, freue ich mich darüber, wenn er genannt wird. Wo es mehrere Möglichkeiten gibt (z.B. variable Endgegner) wähle ich u.U. aber die aus, die mir am besten passen. Und dass ich dem Kanon nicht widerspreche bedeutet natürlich noch lange nicht, dass ich nichts dazuerfinde.
Die Geschichte spielt aus gegebenem Anlass (s.o.) NACH Teil III. Ich setze dennoch kein Andorwissen voraus, muss aber schon mal eine DICKE FETTE SPOILERWARNUNG loswerden! Manche Enthüllungen lassen sich einfach nicht vermeiden, auch wenn ich versuchen werde, mich in dieser Hinsicht auf das Notwendigste zu beschränken.

Ich freue mich, wenn ich hiermit auch anderen eine Freude machen kann, ansonsten hinterlasse ich eben meinen Müll für eventuelle spätere Leser. Hier also der Prolog und, weil ein zerstückelter Prolog alleine etwas dürftig ist, außerdem noch der erste Buchstabe (und jede Menge Platzhalter):
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Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:37

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Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:39

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Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:40

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Beitragvon TroII » 28. November 2021, 19:41

Kann nicht schaden ;)
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