von TroII » 28. November 2021, 19:17
E – Spuren im Schnee
Sonnenhoch, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Östliches Rietland nordöstlich der Zwergeneiche, Andor
„Ist da etwas? Hinter dem Hügelkamm?“, klang Thorns Stimme beunruhigt durch die frostige Luft. Leander hatte die Geräusche schon lange gehört, auch über die dämpfende Schneedecke hinweg, doch anhand der plötzlichen Unregelmäßigkeiten in den knirschenden Schritten seiner Gefährten schloss er auf ihre Überraschung.
„Kreaturen?“, fragte Drukil besorgt. Laut Chada folgten sie schon seit längerem den Spuren von Dutzenden, vielleicht Hunderten Kreaturen, wenn auch in die entgegengesetzte Richtung.
„Es sind Schildzwerge.“, erwiderte Leander. „Geschwindigkeit und Lautstärke der Schritte sprechen für schwere Körper auf kurzen Beinen.“
„Wie immer beeindruckend, Leander.“, entgegnete Ken Dorr amüsiert von weiter vorne. „Aber ich vermute, dass sie im Gleichschritt marschieren, hat deinen Schlussfolgerungen auch ein winziges bisschen weitergeholfen?“
Anscheinend hatte der Dieb den Hügel erklommen und konnte die Zwerge bereits sehen. „Ein winziges bisschen.“, bestätigte Leander lächelnd.
Sie warteten gut sichtbar auf dem Hügelkamm. Leander zog fröstelnd seinen neuen Umhang enger um sich. Ironischerweise hatte die Kälte sie erst vor wenigen Tagen erreicht, kaum dass sie das Graue Gebirge hinter sich gelassen hatten. Der erste Schnee war gefallen, während sie bei dem armen Pferdezüchter übernachtet hatten, dem sie die verbleibende Stute zurückgebracht hatten. Der lispelnde Mann hatte den Verlust dreier Tiere überraschend gut verkraftet, vielleicht weil Thorn ihm seinen treuen Hengst Ambra anvertraut hatte, vielleicht weil seine rechtmäßige Königin ihn besucht hatte. Die Andori verehrten Chada wie eine Heilige und der Mann hatte sie alle ohne zu zögern mit seiner besten Kleidung und gutem Essen versorgt.
„Seid gegrüßt! Ich bin Kommandant Zagort! Wer seid Ihr und was macht Ihr in den Spuren dieser Kreaturen?“, erscholl eine tiefe Stimme, während die Zwerge – etwa zwanzig – sie geordnet umringten.
„Kommandant Zagort!“, entgegnete Thorn freundlich. „Ihr wisst ja gar nicht, wie gut es tut, endlich wieder nicht augenblicklich erkannt zu werden. Wir …“
„Fü-Fürst Thorn! Und Prinzessin Chada! Ich habe gehört, Ihr wäret im Grauen Gebirge.“
„Wie man sieht, sind wir zurück!“, seufzte Thorn resigniert. Dann legte sich tiefe Sorge über seine Stimme. „Kommandant, wie steht es um Andor? Um die Rietburg? Wir haben gehört, sie wird belagert?“
Der Pferdezüchter hatte ihnen nur halbgare Gerüchte liefern können, dafür überreichlich mit wilden Spekulationen gewürzt. Nichts, was den Bericht Ken Dorrs eindeutig hätte bestätigen oder widerlegen können. Der Dieb war vor einem Dutzend Nächten einfach verschwunden und am nächsten Morgen wieder erschienen – mitsamt seiner Kleidung aus blauem Licht geboren, hatte Chada später erzählt; Drukils Beschreibung war weniger freundlich gewesen.
„Rac! Das wird sie!“, bestätigte Zagort. „Oder zumindest vor zwei Tagen wurde sie es noch. Unsere Runenmeister sagen, noch besteht keine unmittelbare Gefahr, aber sie werden nicht ewig aushalten.“
An Ken Dorrs Behauptung, Nomions Armee rücke auf die Rietburg zu, hatte Leander schon damals nicht gezweifelt. Es war nicht unbedingt so, dass er dem Dieb vertraute, doch wenn er sie zur zweiten Sitzung des Ewigen Rates belogen hatte, dann gewiss nicht derart offensichtlich.
„Ich sehe Eure Fragen, aber Ihr solltet sie besser dem Fürsten stellen.“, ergänzte der Kommandant. „Ich nehme doch an, dass Ihr nach Cavern wollt, ehe Ihr die Rietburg befreit?“
Aus der Stimme des Schildzwergs klang nicht die blinde Verehrung der Andori, nur eine unerschütterliche Gewissheit, dass sie die Belagerung durchbrechen würden. Es war lächerlich! Was stellte Zagort sich vor? Dass sie zu fünft eine ganze Armee besiegten? Ja, sie wollten nach Cavern, aber nicht, um anschließend zur Burg weiterzuziehen. Sie hatten wichtigere Pläne. Pläne, in die eine einfache Schar Zwerge besser nicht eingeweiht wurde.
„Wir sind auf dem Weg zur Mine. Doch was ist Euer Ziel, Kommandant?“, fragte Leander also, ehe Chada, Thorn oder Drukil sich zu einer unüberlegten Bemerkung hinreißen ließen.
„Kreaturenjagd.“, rief Zagort düster. „Die verdammten Viecher tauchen immer wieder plötzlich vor unseren Türen auf und hindern unsere Armee am Ausrücken. Aber sprecht mit dem Fürsten. Er wird Euch die Lage besser erklären können.“ Dann brüllte er: „Mirat om!“ und die Zwerge setzten sich wieder in Bewegung. Sie marschierten nach Norden, wohl der Spur der Kreaturen hinterher, und obwohl die fünf Gefährten in die entgegengesetzte Richtung zogen, dauerte es noch fast den vierten Teil einer Stunde, bis auch Leander die regelmäßigen Schritte nicht mehr hören konnte.
Früher Nachmittag, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Haupteingang in Brauneisenstein, Cavern
Obgleich die Schildzwerge für ihre Grimmigkeit berüchtigt waren, begrüßte das kleine Volk sie ausgelassen. Schon kurz nachdem die ersten Krieger sich vergewissert hatten, dass tatsächlich die Helden von Andor vor ihnen standen, hatten sich unzählige Zwerge am Rand der engen Gänge aufgestellt, sodass ihr Marsch durch Cavern einem Triumphzug glich. Sie tuschelten erfreut, einige jubelten sogar. Leander war überrascht, wie beliebt sie auch hier waren. Er wusste, dass das Verhältnis zwischen Schildzwergen und Andori über viele Jahrzehnte hinweg sehr angespannt gewesen war, jetzt jedoch war davon fast nichts zu spüren. Nur vereinzelt hörte Leander gedämpfte Missklänge, raue Stimmen, die unfreundlich vor sich hin murmelten.
„… im Stich gelassen …“
„… fortgegangen, während eine Armee in Andor einfiel …“
„… müssen ihre Aufgabe übernehmen …“
„… sage euch, sie haben versucht zu fliehen …“
Leander genoss selbst die Stimmen der wenigen Missgünstigen. Auch sie waren Teile der Fäden, die sich zusammen mit allen anderen Lauten zu dem brausenden, komplexen, wunderschönen Klangteppich verwoben, der sich vor seinem inneren Auge ausbreitete.
Andere hätten nur eine verwirrende Mischung aus zahllosen Stimmen gehört, aus verzerrenden Echos, dem Knistern von Feuerschalen, dem melodischen Klingen von Hämmern und Meißeln und schweren Schritten auf glattem Stein, doch mit der Erfahrung eines Jahrhunderts konnte Leander all die Töne zu einem Gesamtbild vereinigen, das ihm seine Umgebung deutlicher zeigte, als er sie mit Augen hätte wahrnehmen können. Er könnte die Stützen und die Säulen zählen, die Fackeln an den Wänden, die stämmigen Körper der Zwerge, die allesamt mindestens einen halben Schritt kleiner waren als er und die von Echos und Klängen umspült wurden. Auch wann er den Kopf einziehen musste, konnte er hören. Barathrum, die Lunge Caverns, der Schacht, der das gesamte Zwergenreich mit frischer Luft versorgte, trug ferne Geräusche an sein Ohr, sodass sogar eine unvollständige Karte der weitläufigen Mine in seinem Geist Gestalt annahm. Selten hatte er sein Augenlicht weniger vermisst.
Die Tiefe des Steins hielt alle störenden Geräusche der Außenwelt ab, wie es auch in anderen Höhlen der Fall war, zugleich ermöglichten ihm die rechteckigen, symmetrischen Formen der breiten Gänge, Schächte und Treppen, die unzähligen Geräusche zu vereinigen und jede Einzelheit zu erlauschen. Die niedrigen Türöffnungen und dicken Türen aus glattem Stein, deren Form ihm die Echos zuflüsterten, verhießen neben Abgeschiedenheit auch vollkommene Stille, wie Leander sie liebte.
Fürst Kram erwartete sie in einer weiten Halle. Er wurde begleitet von vier Kriegern mit laut rasselnden Kettenhemden und seine dröhnende Stimme scholl ihnen schon von weitem entgegen.
„Meine Freunde!“, rief er und Leander konnte das breite Lächeln anhand seines Tonfalls erkennen. „Ihr seid zurückgekehrt! Ich werde …“
Die Stimme des Fürsten verklang und ganz Cavern schien den Atem anzuhalten.
„Wachen!“, rief Kram erschüttert. „Ergreift diesen Mann!“
Später Nachmittag, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Fürstengemächer in Roteisenstein, Cavern
„Am alten Brunnen sind wir auf Spuren von Kreaturen gestoßen, denen wir bis kurz vor den Mineneingang folgten. Und jetzt sind wir hier.“, beendete Chada ihren Bericht.
„Und was soll ich jetzt mit Ken Dorr anstellen?“, fragte Fürst Kram unsicher. „Er war ein Dieb, Mörder, ein hinterlistiger Statthalter und der grausame Bleiche König. Vertraut ihr ihm wirklich?“
„Selbstverständlich nicht.“, erwiderte Thorn. „Aber ich fürchte, wir brauchen ihn, und bisher hat er uns durchaus weitergeholfen.“
„Dann lasse ich ihn also wieder frei.“, ächzte Kram.
„Wozu eigentlich?“ Leander war nicht überrascht, Drukil diese Frage stellen zu hören. „Wenn er die Wahrheit sagte, dann hat er in diesem Ewigen Rat bereits Streit verbreitet. Wir brauchen ihn nicht mehr. Lassen wir ihn doch in seiner Zelle verrotten.“
„Irrtum, Drukil. Wir brauchen ihn noch immer.“, entgegnete Leander. „Nicht nur, weil er auch in Zukunft für uns wird intrigieren sollen. Wir werden den Schwarzen Herold erst dann mit der Rietgraskrone vernichten, wenn wir das Herz des Todes danach direkt an uns nehmen können. Dafür müssen wir in seine Nähe kommen. Und der einzige Ort, an dem er sich regelmäßig aufhält, scheint diese Ratshalle zu sein, die Ken Dorr wohl am besten wird beschreiben können.“
„Ihr wollt einfach nur in die Nähe des Heroldes, oder? Dann gibt es noch eine Möglichkeit.“, meldete sich Marun zu Wort. Ihre Stimme war sanft für eine Zwergin, die – wie Leander aus eigener Erfahrung wusste – mitunter sehr aufbrausend sein konnte. „Der Schwarze Herold wurde in Andor gesehen. Er erschien dreimal vor der Rietburg, wo er gefallene Kreaturen wiederauferstehen ließ.“
Leander erstarrte. Er hörte, dass auch Chada und Thorn sich versteiften, während die Worte der Fürstin von den Wänden der kleinen Kammer widerhallten. Bei ihnen war es wohl die Sorge um die Rietburg, er jedoch witterte Möglichkeiten. Je länger sie brauchten, um den Schwarzen Herold zu stellen, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie doch noch auf seinen Bruder Callem stießen.
„Wann zum letzten Mal?“, fragte er schnell.
„Vor fünf Tagen.“, antwortete Kram anstelle seiner Gemahlin. „Vielleicht auch gestern. Die Berichte unserer Späher haben uns noch nicht erreicht.“
„Er tauchte in unregelmäßigen Abständen dort auf, wann immer seine Armee zu ausgedünnt war.“, ergänzte Marun.
Leander senkte den Kopf, während in seinem Kopf ein neuer Plan entstand. „Folgender Vorschlag: Wir greifen die Armee vor der Rietburg an, sodass er selbst kommen muss, um seine Truppen wieder aufzufrischen. Sobald er da ist, wird er vernichtet.“
„Und wie soll die Armee so weit geschwächt werden, dass er kommen muss?“, hakte Kram zögernd nach.
„Mit den Truppen der Schildzwerge. Wenn der Ewige Rat zerschlagen wird, ist das auch zum Wohle Caverns.“
Der Fürst seufzte schwer. „Schöne Idee, Leander. Das Problem ist nur, dass wir nicht ausrücken können, solange sich Kreaturen direkt vor unserem Eingang aufhalten. Ihr habt die Spuren gesehen … Verzeihung, Leander. Das erste Mal erschienen sie am Morgen nach Beginn der Belagerung, seither noch drei weitere Male. Spuren einer ganzen Armee, mindestens halb so groß wie die der Belagerer, die Cavern überrennen könnte, während sich unsere Truppen auf dem Weg zur Rietburg befinden.“
„Wir hätten diese Kreaturen ja angegriffen, aber die Spuren tauchen einfach aus dem Nichts auf und verschwinden irgendwo plötzlich, hinterlassen nichts als verkohlte Erde.“, ergänzte Marun zornig. „Es ist, als ob die Kreaturen das Fliegen gelernt hätten. Aber genug Fluggors, um die gesamte Armee zu transportieren, gibt es auf der ganzen Welt nicht.“
„Wir haben nichts davon bemerkt.“, überlegte Chada. „Die Spur verlief vom Brunnen aus noch weiter nach Norden.“
Fürst Kram erhob sich aus seinem kleinen Stuhl, das Holz knarzte leicht dabei. „Vielleicht bemerken unsere Späher im Neuschnee etwas, was uns bisher entgangen ist. Bis sie zurück sind, können wir euren neuen Verbündeten beschreiben lassen, wie genau diese Ratshalle aussieht. Wenn ihr mit eurer Vermutung richtig liegt und es wirklich zwergische Kammern sind, dann werden wir herausfinden, wo sie begraben sind.“
Der Fürst verließ seine Gemächer und besprach draußen etwas mit seinen Kriegern, von denen einer mit schnellen Schritten davoneilte, um die Befehle weiterzugeben.
Nach dem dritten Teil einer Stunde betrat Ken Dorr die Gemächer. Seinen schleichenden Gang legte er selbst jetzt nicht ab. „Fürst Kram! Ihr habt es weit gebracht! Eine schöne Mine beherrscht Ihr, insbesondere die Zellen sind wirklich ansprechend. Dennoch würde ich es in Zukunft bevorzugen, nicht grundlos inhaftiert zu werden.“
Kram schien es nicht für nötig zu halten, sich zu entschuldigen. „Ken Dorr! Ich hätte nicht übel Lust, dich für deine Vergehen in den Zellen zu belassen, Dieb, aber anscheinend hast du dich in diesen dunklen Zeiten auf unsere Seite gestellt.“ Leander wusste, dass das nicht stimmte. Ken Dorr stand auf keiner Seite außer seiner eigenen. „Du weißt nicht zufällig etwas über die Kreaturen, die sich immer wieder dreist in die Nähe Caverns … stehlen?“
„Leider nein.“ Ken Dorr senkte die Stimme. „Ich nehme an, das Fürstenpaar ist in alles eingeweiht?“
Leander nickte leicht, ohne zu wissen, ob der Dieb in seine Richtung blickte. In alles zumindest, was du nicht vor jedem deiner Freunde verheimlichst, Leander. Tatsächlich waren Kram und Marun sogar in mehr eingeweiht als der Dieb. Von Hrals alter Prophezeiung und einigen seiner Visionen etwa wusste Ken Dorr noch immer nichts.
Ehe noch jemand etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür erneut und ein Zwerg humpelte hinein. Er trug wohl weder Rüstung noch Kettenhemd, sein hechelnder Atem verriet Leander, dass er dennoch angestrengt war. Ein Greis, schoss es ihm durch den Kopf.
„Ihr habt mich rufen lassen, mein Fürst?“, fragte eine brüchige Stimme und Leander korrigierte sich in Gedanken. Eine Greisin.
„Ah, darf ich vorstellen: Mralla, Kartographin, Gelehrte und Runenmeisterin. Und eine Expertin für unterirdische Geografie und Historie. Wir möchten wissen, wo ein bestimmter Ort liegt. Beschreibe die Halle …“ Kram stockte unmerklich. Sie waren überein gekommen, möglichst niemandem zu erzählen, wer Ken Dorr wirklich war, um ihn nicht zu gefährden. „… Rodnek!“, endete der Fürst schnell.
Die hohe Stimme des Diebes antwortete ohne zu zögern: „Es ist ein riesiger, halbkreisförmiger Saal mit ebensolchen Sitzreihen. Die Wände sind mit Runen bedeckt und es gibt nur einen einzigen, großen Eingang.“
„Danke, das genügt.“, unterbrach Mralla. „Es gibt nur einen mir bekannten Ort, auf den diese Beschreibung zutrifft, auch wenn mir schleierhaft ist, wie Ihr ihn gesehen haben wollt. Es ist die Halle des Hohen Rates im untergegangenen Zwergenreich Krahalzar. Ein wahres Meisterwerk der damaligen Baumeister. Von einer Ecke zur anderen misst die Halle exakt eintausend Schritt, und dennoch ist jedes Wort, das auf der Rednerbühne in der Mitte gesprochen wird, in allen sechzig Sitzreihen zu verstehen. Der gewölbte Stein leitet die Laute weiter.“
„Eintausend Schritt?“, hakte Ken Dorr verwundert nach. „Mit Verlaub, die Halle ist groß, aber so groß nun auch wieder nicht!“
„Verzeiht, ich habe mich unklar ausgedrückt. Eintausend Zwergenschritt, das entspricht etwa dreihundert Menschenschritt. Damals haben wir Zwerge noch unsere eigenen Längenmaße benutzt.“
Leander versuchte, sich seine Kentnisse über die anderen Zwergenreiche ins Gedächtnis zu rufen. Schon lange vor der Gründung Silberhalls hatte es neben Cavern noch andere Minen gegeben, die allesamt dem Unterirdischen Krieg zum Opfer gefallen waren. „Was gibt es über Krahalzar zu wissen?“, fragte er nachdenklich.
Mralla schmatzte leise. „Das einzige Zwergenreich, das nach dem Tod des letzten Zwergenkönigs nicht von einem Fürsten regiert wurde, sondern von einem Rat aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Krahalzar lag unmittelbar neben der Krahalschlucht im Grauen Gebirge und damit am nächsten an Krahal, der magischen Heimat der Drachen. Dennoch blieb das Reich von den Flammen des Krieges zunächst verschont. Bis zur großen Erschütterung. Der Zugang nach Krahal, aus dem die unzähligen Kreaturen der Tiefe strömten, tat sich inmitten von Krahalzar auf, so heißt es. Alle Zwerge dort wurden in wenigen Stunden ausgelöscht, die geschuppten Kreaturen erreichten die Oberwelt, wo sie sich seither vermehren. Später gelang es einer kleinen Zwergentruppe, alle Zugänge nach Krahalzar zu versiegeln, sodass zumindest der Zustrom direkt aus Krahal erlosch.“
„Wie könnte man Krahalzar heutzutage noch erreichen?“, fragte Marun nach einer unangenehmen Pause.
„Alle Zugänge sind versiegelt. Wenn ihr euch nicht einen neuen Weg graben wollt, gibt es nur eine Möglichkeit: Das Sternentor, der Haupteingang nach Krahalzar, war zu stark, um es zum Einsturz zu bringen, daher wurde es mittels Runenmagie versperrt. Ein Zauber wurde gewoben, der das Sternentor für immer geschlossen halten sollte. Doch keine Magie hält besser als ehrlicher Fels. Der Bann könnte aufgehoben werden. Das Sternentor ließe sich wieder öffnen, jedoch nur im Licht von Fornurs Flamme. Und wer weiß, welche Schrecken euch auf der anderen Seite des Tors erwarten. Der Weg wurde nicht grundlos versiegelt.“
„Woher bekommen wir diese Flamme?“, fragte Thorn erschöpft.
Leander kicherte. „Fornurs Flamme ist kein Gegenstand, Thorn! Es ist ein Sternbild. Gebildet aus fünf Sternen der nördlichen Himmelssphäre, deren Licht leicht rötlich scheint. Sie werden Fornurs Funken genannt, und sie umkreisen sich immerfort. Nur manchmal geschieht es, dass alle fünf Sterne genau in einer Reihe stehen. Dann sprechen wir von Fornurs Flamme.“
„Doch diese Konstellation kommt in fünf Feuerzyklen nur ein einziges Mal vor.“, ergänzte Mralla.
Ein Feuerzyklus entsprach 1461 Tagen, das hieß, mit etwas Pech …
„Wann genau wird Fornurs Flamme das nächste Mal entfacht?“, wollte Leander wissen. Zwar hoffte er noch immer, den Schwarzen Herold an der Rietburg vernichten zu können, doch sie mussten sich alle Möglichkeiten offenhalten.
Die Gelehrte dachte kurz nach und murmelte dabei auf zwergisch einige Zahlen vor sich hin. „Ihr habt großes Glück oder großes Pech, je nachdem, wie man es betrachtet. In sechsunddreißig Tagen, wenn ich mich nicht irre. Also in der Nacht auf den 32. Wintertag eurer Zeitrechnung. Oh, halt, schon auf den 31. Wintertag. Ein Dunkeljahr erwartet uns.“ Sie kicherte.
„Danke, Mralla!“, brummte Kram. „Du darfst gehen. Und du auch, Rodnek.“
Wenn Ken Dorr über den Rauswurf verärgert war, zeigte er es nicht, selbst seine Atmung behielt ihren Rhythmus bei. Vermutlich konnte er froh sein, nicht wieder in den Kerker geworfen zu werden. Klaglos verließ auch er die Gemächer.
„Solange der Dieb in Cavern ist, können wir ihn bewachen lassen. Oder überwachen.“, überlegte Fürstin Marun, ihn unbeaufsichtigt in der Mine herumspazieren zu lassen, war ihr hörbar unangenehm.
„Keine Sorge! Ich passe schon auf, dass er nichts anstellt.“, versprach Drukil düster. Der Hass in seiner Stimme machte Leander langsam Angst.
Abenddämmerung, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Gästekammern in Roteisenstein, Cavern
… eine hellblonde Frau in dunklen Gewändern, der schwarze Stab mit drei Spitzen von purer Dunkelheit umwoben, schwarzer Nebel eine schwarzhaarige Bogenschützin in grünen Gewändern umschlingend…
… ein kleiner Gegenstand, silbern glänzend, zwischen schaumbedeckten Wellen versinkend…
… Dunkelheit…
… ein gewaltiger, in Flammen stehender Baum…
… ein Mann in weißer Robe, das unscheinbare Gesicht melancholisch in lodernde Flammen schauend…
… ein Junge mit einem grünen Wams, die Arme voller Schriftrollen, von flackerndem roten Licht beschienen, lächelnd eine Frage stellend…
… eine Prozession grün gekleideter Menschen, sich von einem brennenden Baum entfernend…
… Dunkelheit…
… eine Ruine, umgeben von der See, der Himmel weiß vor Möwen, die darüber fliegen und ohrenbetäubend kreischen…
… ein im Schnee kauerndes Mädchen in brauner Kutte, ihr Haar fast so golden wie ihre Augen…
… Dunkelheit…
… ein Mann mit blauer Haut, mit seinem Schwert einen Taren ohne Hörner durchbohrend…
… Zwerge in silbernen Rüstungen, gegen Meereskreaturen kämpfend…
… Dunkelheit…
Leander fuhr keuchend hoch, dann zerriss ein lauter Knall die Stille. Reflexhaft griffen seine Hände nach dem Stab; er war bereit, sich jederzeit zu verteidigen. Doch das Geräusch war nur von der steinernen Tafel gekommen, die auf seinem Schoß geruht hatte und die bei seinem abrupten Erwachen auf den Steinboden gefallen war. Noch immer zitternd beugte sich Leander neben seinem weichen Bett herab und hob sie auf, legte sie neben sich auf die flauschige Polsterung. Etwas zu flauschig. Wer hier lag, spürte nichts davon, dass die Grundlage des Bettes direkt aus dem harten Stein gehauen worden war. Selbst dass seine Fußspitzen über die Kante ragten, wenn Leander sich mit dem Kopf an die Wand legte und anschließend streckte, konnte nicht verhindern, dass dieses Bett deutlich zu gemütlich war, um in ihm wach zu bleiben.
Er hätte es wissen müssen, schalt er sich. Er hätte den Verlockungen nicht nachgeben dürfen, wo er doch ganz genau wusste, dass er nicht mehr richtig denken konnte, wenn er erst schweißgebadet erwachte, nachdem die Dunkelheit ihn heimgesucht hatte. Dabei hatte er sich deshalb doch hierher zurückgezogen – um zu denken.
Sie waren übereingekommen, weiteres Pläneschmieden zu verschieben, bis Kommandant Zagort zurück war. Ihre nächsten Schritte hingen davon ab, ob die Späher etwas fanden und die Armee der Schildzwerge gegen die Kreaturen vor der Rietburg ausrücken konnte oder nicht. Er hatte sich hierher, in die Stille, zurückgezogen, um mit seiner Übersetzung fortzufahren.
Wann immer er in den vergangenen Tagen etwas Zeit hatte erübrigen können, hatte er seine Erinnerung nach Fragmenten der vergessenen Barbarensprache durchforstet, um Themauras´ verborgene Botschaft zu entschlüsseln. Wie von selbst glitten seine Fingerspitzen auch jetzt über die zerfurchte Steinplatte, obwohl er mittlerweile jede Kerbe auswendig kannte.
„seyratt, keetom Aeimrag Lontyl, njasar mirar vaejyg basyg, njasar foddolar vaejog paethog. saakyrsott mjelyg efryren thinghudyren Aeimral. urauthatt ikkryr thinghudyr mirag eaf ikkryr thinghudyr basyg. urauthatt efagaryr thinghudyr - skykkattissyr bloddag vaddostyl keetom saatogen aelkrissyl eaf mirattissyr atim, fers basott mjelyren ulryren mudanyren - vaddostyg eaf vadag krisslommag. urothunatt mjelar krisslommar keetom sovatissog turgedog aykal eaf arauthog efrylen thinghudylen.“, wisperte Leander in die Stille der Gästekammer. Die ungewohnten Laute glitten viel zu leicht über seine Zunge. Zu oft schon hatte er sich überlegt, wie die Barbaren die Worte wohl ausgesprochen hätten, ohne der Übersetzung dabei auch nur eine Silbe näher zu kommen.
In seinem Gedächtnis waren höchstens einige Vokabeln gespeichert, aber nicht die Grammatik, die er sich mühsam hatte zusammensetzen müssen. Manches musste er raten, manches erschließen. Dass beispielsweise Aeimrag Lontyl wohl Mutter Natur hieß vermutete Leander nur, weil Themauras die erste Rune der beiden Wörter je deutlich größer eingekerbt hatte, später hatte er das bei Aeimral wiederholt. So war es in der alten Runenschrift, die eigentlich keine Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinbuchstaben kannte, zu seiner Zeit üblich gewesen, wenn der Name der Göttin aufgeschrieben wurde.
Mit ähnlichen Überlegungen hatte er weitere Wort entschlüsselt und zumindest am Anfang sogar fast so etwas wie einen sinnvollen Text zusammengesetzt:
Durch Mutter Natur folgt ein neuer Anfang jedem Ende, eine neue foddolar jedem Tod. Dies saakyrsott drei Wächter der Mutter. Ein Wächter bewacht den Anfang und ein Wächter das Ende. Der dritte Wächter - skykkattissyr bloddag der Ewigkeit durch saatogen der Welt und anfangend atim, fers beenden diese zwei mudanyren - bewacht die Ewigkeit und die ewige krisslommag. Diese krisslommar wird bewacht durch sovatissog turgedog aykal und arauthog der drei Wächter.
Drei Wächter hatte Themauras auch in dem Text erwähnt, durch den sie erstmals von den beiden Herzen erfahren hatten. Die von Mutter Natur geschaffenen Wächter, die über die Gefangenschaft des Chaos wachten. Leander hatte sich über die neuen Erkenntnisse gefreut und war kurz davor gewesen, den anderen seine erste Übersetzung vorzustellen.
Bis ihm aufgefallen war, dass er einen Fehler begangen hatte. Nicht nur, dass er Bewachen, urothan, mit Behüten, urauthan, verwechselt hatte. Nein, er hatte thinghudyr mit Wächter übersetzt, eben weil er an diesen ersten Text von der Schöpfung der Welt gedacht hatte. Doch tatsächlich tauchte das Wort für Wächter, urothor, im ganzen Text kein einziges Mal auf.
Dann ist thinghudyr eben ein Synonym für Wächter, hatte Leander gedacht, bevor er durch Zufall auf die richtige Übersetzung gestoßen war: Thinghudyr, der Thinghügel, war der Platz im Zentrum jeder befestigten Barbarensiedlung und der Hügel, auf dem die Nomaden ihre größte Jurte aufschlugen. Der kulturelle Mittelpunkt jedes Dorfes, ein Ort der Versammlung und Versöhnung, an der vor langer Zeit regelmäßig das Thing, eine Art gemeinschaftliches Gericht, abgehalten worden war, bis schließlich die Kriegsfürsten die Macht übernommen hatten.
Aber … ein Thinghügel? Ein Thinghügel behütet den Anfang und ein Thinghügel das Ende. Der dritte Thinghügel behütet die Ewigkeit. Was bitte sollte das heißen?
Erschöpft ließ sich Leander wieder in sein Bett sinken. Schweiß kühlte seine Stirn und sein Herz pochte noch immer zu schnell. Seine Vision hatte ihn zu sehr aufgewühlt, für heute musste er die Arbeit ruhen lassen.
Leander verabscheute seine Schwäche. So etwas hatte er noch nie erlebt. Natürlich hatte es immer wieder Sorgen gegeben, er war niemals tollkühn gewesen. Aber jede dieser Sorgen hatte ihre Berechtigung gehabt. Die Vision der Dunkelheit hingegen löste eine Angst in ihm aus, die er nicht benennen konnte.
Die Dunkelheit, die dich verfolgt, wirst du nicht mehr erleben, hatte das Orakel der Geister ihm prophezeit, und wenn das die einzige Voraussage gewesen wäre, Leander hätte sich womöglich sogar darüber gefreut.
Die Flammen, die du schürst, werden dich verbrennen...
Die, die du für Freunde hältst, werden dich verstoßen und verbannen...
Einsam wirst du sterben, verraten von einem falschen Freund, dem du vertraut hast...
Leander atmete tief durch. Er wollte nicht darüber nachdenken. Wenn die Drei Schwestern sich nicht getäuscht haben, kannst du dieses Schicksal ohnehin nicht mehr abwenden, also brauchst du auch nicht daran zu denken, zuckte es durch seinen Kopf. Doch er wusste, dass er sich damit selbst belog.
Als er vor langer Zeit schließlich eingesehen hatte, dass er keine seiner Visionen verhindern konnte, war der Fatalismus für einige Monde überwältigend gewesen. Er hatte nur in seiner einsamen Hütte gesessen und gewartet, schließlich würde die Zukunft unausweichlich stattfinden. Seine nächsten Visionen hatten ihm gezeigt, wie er in seiner Hütte saß, die Wand anstarrte und für einige Monde keinen einzigen Erfolg erzielte. Er hatte lange gebraucht, um es zu begreifen. Was er gesehen hatte, würde unausweichlich geschehen müssen, aber nur, weil er ebenso unausweichlich etwas dafür tun würde. Ein Seher, der tatsächlich sein ganzes Leben nur auf eine wunderschöne Vision wartete, würde sie niemals bekommen, weil seine goldene Zukunft nicht von selbst eintreten konnte. Leander wusste, dass er die Warnung des Orakels nicht ignorieren durfte, selbst wenn sie nicht zu verhindern war.
Er gestattete es sich, für einige Herzschläge die Stille zu genießen, dann begab er sich in sein Gedächtnis, beschwor das Bild seiner Hütte der Erinnerung herauf. Er besaß nicht die Konzentration, die Tafel weiter zu übersetzen, aber dafür hatte er jetzt die Zeit, nach anderen möglicherweise nützlichen Informationen zu suchen. Sein Blick fiel auf das Ebenholzkästchen. Er hatte es sträflich vernachlässigt, hatte es ignoriert, weil er wusste, dass die Erinnerung an seine verhängnisvolle Entscheidung näherrückte. Die Leben der Schmiedin und ihres Lehrlings wogen fast nichts im Vergleich zu dem, was er noch verursacht hatte. Wieso nur war ihm das alles damals so egal gewesen? Seine alten Sünden holten ihn jetzt gleich zweifach wieder ein.
Er klappte den schwarzen Kasten auf. Sofort betrachtete er die bunt schillernde Perle, die vorletzte in der Reihe, die Erinnerung seiner Tat, die er erst jetzt als gewaltigen Fehler erkannte. Vielleicht würde er hier den entscheidenden Hinweis finden? Doch zuvor gab es noch eine andere Erinnerung zu betrachten.
Von den sieben Perlen war sechs kugelrund. Einzig die fünfte Perle war nicht geschliffen, sondern so belassen worden, wie sie in ihrer Muschel herangereift war. Eine einzelne Träne der Vergangenheit, weiß wie Schnee. In Leanders Vorstellung warfen seine blauen Finger einen dunklen Schatten über das Perlmutt. Als er die Träne schließlich berührte, war der Schatten das einzige von Bestand, während jedes Licht und jede Farbe sich auflöste.
Morgendämmerung, 68. Sommertag 42 A.Z.
Rietland westlich des Krähenstamms, Andor
„Sie … sind alle tot!“, stammelte eine tiefe Stimme, als Leander vorsichtig die schiefe Tür öffnete. „Ihr … hattet recht, Schwarzer … Priester!“
Schluchzer zerhackten Sebans Satz in vereinzelte Wortfetzen und Leander tastete nach dem Arm des Mannes und zog ihn schnell ins Innere der verfallenen Hütte, die er seit einigen Tagen bezogen hatte.
„Sie kamen … mit Fackeln … es war Harthalt … Brandurs Schwertmeister … mit dem dunklen Schild … alle tot …“
„Ich habe Euch gewarnt, Auserwählter! Schon vor fünf Tagen! Ihr hättet mühelos entkommen können!“, fuhr Leander den Bauern an. Dann erstarrte er. „Alle?“, fragte er beunruhigt. „Auch Euer Sohn?“
Seban schien ihn nicht wahrzunehmen. „Ich war nur kurz bei Geren …“, wimmerte er und Hass schlich sich in seine tiefe Stimme. „Jemand hat uns an sie verraten … hat von dem Gift erzählt, das ich nie benutzen wollte … Harthalt hatte das Fläschchen, als ich nach Hause kam … er hat meine Asilie nach Euch gefragt … und wo ich bin … sie wollte es nicht sagen … er hat sie nich´ mal selbst abgestochen, nur einen Wink gegeben …“
„Was ist mit Eurem Sohn, Auserwählter? Was ist mit Wel?“, fragte Leander deutlich. Wenn Harthalt sogar eine wehrlose Frau getötet hatte, dann war niemand vor ihm sicher. Der Schwertmeister war dafür bekannt, dass er unbarmherzig sein konnte. Er schickte seine Krieger in den sicheren Tod, wenn es für die Befehle seines Königs von Nutzen war. Es hieß, sein schwarzer Schild raube ihm jedes Mitgefühl.
Seb schluchzte nur noch lauter. „Hat einfach nur zugesehen.“, brachte er mühsam hervor. „Wel war so zornig, als er von der Gelbkralle erfuhr … vom falschen Fieber, ihrer Lüge … sagte, sie sei nicht länger seine Mutter … er hat nich´ mal gezuckt, als sie starb … und ich bin abgehauen … konnte ihn nich´ retten … was hätte ich tun sollen … wie hätte ich … jetzt is´ auch er meinetwegen tot …“
„Verdammt! Dann war alles umsonst!“, stieß Leander hervor, ehe er sich beherrschen konnte. Sebans Eltern waren tot und er hatte keine Familie mehr, das hatte Leander überprüft, als er ihn ausgewählt hatte. „Habt Ihr womöglich ein uneheliches Kind?“
„Ich … nein! Ich war … ihr immer treu … nur zum Schluss … konnte ich nich´ für sie da sein …“
„Er wird opfern sein eigen Fleisch und Blut, den Segen des Flammenbringers zu erlangen.“, zitierte Leander und bekämpfte seinen Zorn. Verdammter Schwertmeister! Für so skrupellos hätte Leander ihn nicht gehalten. „Die Prophezeiung ist eindeutig! Ihr selbst hättet Euren Sohn töten müssen, nicht Brandurs Häscher!“
„Niemals!“, schrie Seb entsetzt. „Ich hätte nich´ … hätte nich´ … um keinen Preis …“
Leander zögerte. Wels Tod war eine Niederlage, aber noch war nicht alles verloren. Der Bauerntölpel musste ein weiteres Kind zeugen und es direkt nach der Geburt opfern. Leander musste es nur richtig anstellen. Die richtigen Worte finden.
„Was wollt Ihr jetzt tun, Auserwählter?“
„Tun? Tun?! Der König sucht mich … mein Leben ist zerstört … mein Haus ist verbrannt …meine Familie wurde ermordet … ich könnte genauso gut tot sein! Mein Leben hat jeden Sinn verloren.“
„Dann gebt ihm einen neuen! ER wacht über Euch, Auserwählter, in guten wie in schlechten Zeiten. Und ER hat Euch eine Mission auferlegt.“
„Ich will nicht … kann nicht!“
„Ihr seid der Auserwählte! Und Ihr wurdet nicht grundlos erwählt. Selbst wenn Euer Leben Euch nichts mehr bedeutet, vergesst nicht, dass SEIN Blick auf Euch ruht und dass Ihr die Zukunft dieses Landes beeinflussen werdet.“
„Was kümmert mich schon die Zukunft dieses Landes?“, schrie Seban ihm entgegen. Ehe Leander es verhindern konnte, wurde ihm die Kapuze vom Kopf gerissen. Seban schnappte nach Luft und stolperte zurück, aber sagte nichts zur Binde über seinen Augen oder zur auffälligen Farbe seiner Haut.
„Es gibt nur noch eines, was ich will!“, flüsterte er. „Ich will wissen, woher … Harthalt von mir wusste. Wer ihm alles verraten hat. Und dann … möchte ich den Schwertmeister und den Verräter besuchen und Gerechtigkeit walten lassen.“
„Es gibt keine Gerechtigkeit. Nur Rache!“, predigte Leander. „Aber ich werde Euch helfen, Eure Rache zu erlangen, Auserwählter. Wenn Ihr danach mir helft und Eure Aufgabe erfüllt. Was sagt Ihr?“
Leander zog seinen rechten Handschuh aus und hielt die blaue Hand ausgestreckt in Sebans Richtung. „Ich kann herausfinden, wer der Verräter ist. Ob es Unachtsamkeit war oder Bosheit. Ich helfe Euch. Wir tragen das Feuer zu den Brandstiftern zurück. Und anschließend werden wir gemeinsam dafür sorgen, dass SEINE Prophezeiung sich erfüllt.“
Seban sagte nichts. Sein zitternder Atem war das einzige Geräusch, das durch die Hütte klang. Schließlich fühlte Leander, wie sich zögernd eine Hand in seine legte. Und er lächelte.
Frühe Nacht, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Fürstengemächer in Roteisenstein, Cavern
„Nein, mein Fürst! Wir haben nichts gefunden.“, verkündete Zagort tonlos. „Wo die Spuren verschwinden ist der Schnee schwarz gefärbt, wie es bisher das Gras war. Als wäre er verkohlt worden, ohne zu schmelzen. Aber woran das liegt, wissen wir noch immer nicht.“
Die Schwermut, die diese Botschaft in der Kammer auslöste, war fast mit Händen zu greifen. Einhellig schwiegen sie. Schwarzer Schnee. Was hatte das nur zu bedeuten?
Nachdem der Kommandant sich entfernt hatte, fragte Leander ohne wirkliche Hoffnung: „Ken Dorr, weißt du vielleicht, wie Nomion das macht?“
„Dann hätte ich es Euch schon längst gesagt.“, erwiderte der Dieb entrüstet. Gegen Drukils Protest durfte er diesmal auch anwesend sein.
„Es tut mir leid, meine Freunde!“, meinte Kram betrübt. „Ich kann die Armee unter diesen Umständen nicht ausrücken lassen. Nicht, wenn der Ewige Rat nur auf Kosten meines ganzen Volkes bezwungen werden kann. Und unsere Truppen aufzuteilen ist zu riskant.“
„Selbstverständlich!“, bestätigte Chada, auch wenn Leander überlegte, dass die Schildzwerge auf Dauer ohnehin verloren wären, wenn der Ewige Rat nicht besiegt würde.
„Brauchen wir die Schildzwerge wirklich?“, fragte Thorn in die Runde. „Wir könnten auch so ins Rietland ziehen und auf den Schwarze Herold warten. Hoffen, dass er erscheint, um seine Kreaturen wieder zum Leben zu erwecken.“
„Das setzt voraus, dass die Rietburg lange genug standhalten kann.“, entgegnete Ken Dorr kühl. „Und dass wir nicht von den Kreaturen erwischt werden. Und dass wir den Schwarzen Herold abpassen, wenn er nicht gerade inmitten einer großen Armee aus Kreaturen oder gar direkt neben Nomion schwebt. Sicherer erscheint es mir, zuerst das neue Herz der Geburt in Sicherheit zu bringen und anschließend den Schwarzen Herold in Krahalzar zu besiegen.“
„Aber dann muss die Rietburg noch länger als einen Mond durchhalten!“, erwiderte Thorn verärgert.
„Ich fürchte, ich muss Ken Dorr zustimmen.“, verkündete Chada mit hörbarem Widerwillen. „Wir sollten nach dem Samen des Baumes der Lieder zumindest suchen. Dank der Drei Schwestern wissen wir, wonach wir Ausschau halten müssen: eine Frucht, die wie abgestorben aussieht. Dass die Mächte des Meeres sie noch nicht gefunden haben, ist der einzige Schutz, den der Baum der Lieder hat. Wenn der Ewige Rat das neue Herz erst besitzt, wird er nicht zögern, den Baum zu zerstören. Die Bewahrer haben keine schützenden Mauern, keine engen Gänge in tiefem Fels und keine Armee, sie können sich gegen ein Heer aus Kreaturen nicht verteidigen.“
„Und wenn der Baum der Lieder stirbt, ist das nicht nur der Verlust von jahrhundertealtem Wissen“, fügte Leander schwermütig hinzu, „sondern es bedeutet auch, dass sich die Macht des Schwarzen Herolds verdoppelt.Welches Unheil er dann anrichten könnte, mag ich mir nicht ausmalen.“
„Aber wenn der Rat es bis jetzt nicht geschafft hat, diesen Samen zu finden, dann gelingt uns das eh nicht.“, brummte Drukil missmutig. „Wenn wir dagegen den Geist an dieser Burg besiegen, ist der Samen auch kein Problem mehr für uns.“ Leander wusste, dass Drukil sich schon allein deshalb für Thorns Vorschlag aussprach, weil Ken Dorr die gegenteilige Meinung vertrat. Je mehr Zeit Leander, Chada und Thorn mit dem Dieb verbracht hatten, desto mehr hatten sie ihn – oder zumindest seinen scharfen Verstand – schätzen gelernt. Bei Drukil war das Gegenteil der Fall.
„Es sei denn, die Mächte des Meeres finden den Samen und zerstören den Baum der Lieder selbst.“, wandte Chada ein. „Dann könnten sie dessen Macht nutzen. Mit etwas Pech besiegen wir den Ewigen Rat, während im Hadrischen Meer eine neue Bedrohung entsteht.“ Die Bogenschützin zögerte kurz. „Es ist leichtsinnig vom Schwarzen Herold, die Suche nach dem Samen anderen zu überlassen.“, bemerkte sie verwirrt.
„Er kann die Mächte des Meeres jederzeit töten.“, erinnerte Leander sie. „Wir dagegen nicht. Selbst wenn wir den Geist besiegen und das Herz des Todes erringen, selbst wenn wir bereit wären, es zu benutzen, bräuchten wir dazu noch je ein Teil der Drei Mächte. Es ist also in jedem Fall wichtig, den Samen des Baumes der Lieder vor den Mächten des Meeres zu finden. Die Frage ist höchstens, ob wir ihnen auf ihrer Suche noch mehr Vorsprung verschaffen wollen, um dafür eine Chance zu haben, den Schwarzen Herold früher zu besiegen, oder ob wir lieber zuerst den Samen suchen.“
„Warum teilt ihr euch nicht auf?“, schlug Fürst Kram vor. „Ein paar warten mit der Krone an der Rietburg, der Rest sucht den Samen.“
Leander zögerte. Bisher war jeder von ihnen hilfreich gewesen, wenn sie sich aufteilten, würde das ihre Kräfte verringern. Andererseits war es durchaus sinnvoll, jemanden mit der Krone an der Rietburg zu belassen. „Könntest du die Krone nicht einem deiner Krieger anvertrauen?“, überlegte er. „Falls sich der Schwarze Herold an der Rietburg zeigt, wird er dort vernichtet, ansonsten reist der Schildzwerg rechtzeitig zurück, damit wir die Krone mit nach Krahalzar nehmen und den Schwarzen Herold dort vernichten können.“
„Ist das nicht zu riskant?“, fragte Ken Dorr vorsichtig. „Was, wenn der Zwerg mitsamt Krone abgefangen wird? Oder wenn er uns verrät?“
„Die Gefahr, dass du uns verrätst, halte ich für deutlich größer.“, knurrte Kram. „Ein vertrauenswürdiger Zwerg würde sich finden lassen.“
Maruns sanfte Stimme flüsterte etwas, zu leise, als dass Leander es verstehen konnte. „Mart ist eine gute Wahl.“, meinte der Fürst bestätigend.
Dieser Mart, den Leander selbst noch nicht kennengelernt hatte, hatte die Verantwortung in Cavern übernommen, während Fürst Kram den Tross der Andori ins Graue Gebirge begleitet hatte. Kram würde wissen, wem er sein Vertrauen schenkte.
„Ich bin dafür!“, verkündete Leander. Auch Chada, Thorn und schließlich Drukil bekundeten ihre Zustimmung. Ken Dorr schwieg.
„Ob ihr den Samen nun findet oder nicht, seid bis zum 25. Wintertag wieder in Cavern.“, fügte Kram noch hinzu. „Ich sage Mart, dass auch er bis dahin wieder zurück sein soll, wenn er keinen Erfolg hatte. Falls wir Fornurs Flamme verpassen, müssen wir zwanzig Jahre auf die nächste Gelegenheit warten.“
Mondhoch, 88. Herbsttag 76 A.Z.
Festhalle in Schwarzeisenstein, Cavern
„Gift! Pures Gift! Ich verstehe nicht, wieso irgendjemand das trinkt.“, spie Drukil aus, seine Stimme übertönte mühelos den Lärm der Feiernden und vermutlich bekam er von den Zwergen soeben einige böse Blicke ab.
„Alkohol betäubt den Geist.“, erklärte Leander gedämpft. „Man ist seine Probleme los und kann sich einfach amüsieren.“ Er hob seinen Humpen und trank einen Schluck. Wasser natürlich. Er selbst hatte sich niemals betrunken. Sein wacher Geist war seine größte Stärke, wichtiger noch als seine Gabe. All sein Wissen, seine Erinnerungen, seine Fähigkeiten basierten auf dem Verstand. Ohne ihn wäre er nur ein schlechter Lügner, ein Blinder, der sich leidlich mit seinem Stock verteidigen konnte. Und er wusste, dass Alkohol keine langfristige Lösung war, um Probleme loszuwerden.
„Sie vergiften sich, um glücklich zu sein?“, vergewisserte sich Drukil fassungslos.
„Sie vergiften sich aus allen möglichen Gründen.“, erklärte Leander abfällig. „Um schön auszusehen, um kurz stärker zu werden, aus Bequemlichkeit. Dagegen ist kurzfristiges Glück als Grund fast schon vernünftig.“
„Und warum pennen sie alle?“, wollte Drukil wissen. „Ich hätte nicht gedacht, dass irgendjemand bei dem Krach einschlafen kann.“ Er verstummte vielsagend, als eine neue Strophe des zwergischen Trinkliedes angestimmt wurde. Thorn schmetterte lauter mit als jeder der Zwerge, dass der Krieger kein Wort verstand, schien ihn nicht zu stören.
„Jeder vierte hier scheint zu schlafen.“, fuhr Drukil empört fort. „Selbst Ken Dorr ist eingenickt.“
„Bei den Zwergen hat es gute Tradition, bis zur Besinnungslosigkeit zu saufen. Es heißt, in zwergischem Bier steckt mehr Alkohol als Wasser. Demnach müsste man es anzünden können.“ Leander lächelte bei der Vorstellung, was die Schildzwerge wohl sagen würden, wenn sie erfuhren, dass er darüber nachgedacht hatte, ihr kostbares Bier zu verbrennen.
„Unser geschätzter Dieb wird diese Mengen nicht gewohnt sein. Lass ihm seine Ruhe und genieße deine. Jetzt kannst du ihn ausnahmsweise aus den Augen lassen. Es sei denn, du gehst davon aus, dass er selbst schlafend seine ganze Umgebung verpestet und den Verrat an uns vorbereitet.“
„War das Sarkasmus?“, grummelte Drukil.
„Du wirst besser!“, lobte Leander. „Weißt du noch, wie seltsam du es anfangs fandest, dass wir Dinge sagen und das Gegenteil meinen?“
„Ich finde es immer noch seltsam. Aber inzwischen kann mich keiner eurer abstrusen Bräuche mehr verwundern.“ Drukil schnaubte laut. „Oder zumindest fast keiner. Und übrigens, der Dieb verpestet tatsächlich selbst im Schlaf die Luft um ihn herum. Ich verstehe nicht, weshalb keiner von euch es bemerkt, aber er stinkt bis hierher. Er wurde mit Hexerei zum Leben erweckt, diesen Makel wird er nicht mehr los.“
Leander nahm noch einen Schluck und wünschte, die besoffenen Zwerge könnten etwas leiser grölen. Diese unnötige Willkommensfeier raubte ihm den letzten Nerv.
„Nicht mehr lange, und niemand wird mehr bemerken, dass du nicht immer ein Mensch warst.“, meinte Leander schließlich. Er wollte sich mit dem Hautwandler jetzt nicht auf eine Diskussion über Ken Dorr einlassen.
„Falls es dieses nicht mehr lange überhaupt noch gibt.“, murmelte Drukil mutlos. Er rückte auf der Steinbank noch näher an Leander heran und flüsterte: „Du hast es nicht vergessen. Keiner von euch. Der Bär wird dich überwinden und den Menschen auslöschen. Zufrieden wirst du durch den Wald streifen, während deine Freunde kämpfen und verlieren. Du wirst sie verlassen haben, und doch wird keiner von ihnen dich vermissen. Ich bin eine Bedrohung, eine Belastung, ein Monster. Der Bär in mir tobt und kratzt und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er endgültig ausbricht.“
Da Drukil sich an ihn lehnen musste, damit seine geflüsterten Worte über den Lärm gehört werden konnten, spürte auch Leander den Hautwandler erschaudern.
„Ich sollte nicht mitkommen. Nicht, wenn ihr in den Wald zieht und am Lebensbaum nach Antworten sucht. Zieht ohne mich los und benachrichtigt mich, falls ihr mich braucht. Vermissen werdet ihr mich ja anscheinend eh nicht.“
Leander drehte sich und griff fest nach Drukils Schultern. „Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass wir dich nicht vermissen würden. Deine Unterstützung ist jedem von uns wichtig, Drukil! Du solltest die Worte des Orakels nicht als Drohung sehen, sondern als Versprechen.“, riet er eindringlich und begann zu lächeln. „Es gibt nur eine Möglichkeit, wie wir dich nicht vermissen könnten: Wenn der Ewige Rat besiegt wurde, wenn wir unser Ziel erreicht haben, wenn du dich herzlich von uns verabschiedet hast, an einem warmen Sommertag, und im Wald verschwindest, um als Bär glücklich zu werden. Wenn der Bär den Menschen auslöscht, weil auch du es dir wünschst. Dann werden wir dich nicht vermissen, Drukil, sondern uns für dich freuen. Ja, deine Freunde werden kämpfen und verlieren. Wie wir auch in der Vergangenheit schon oft verloren haben. Keine dieser Niederlagen war jemals von Dauer.“
Leander erwähnte nicht die andere Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam. Auch Tote konnten niemanden vermissen.
„Ihr braucht mich nicht.“, hauchte Drukil zögernd. „Ich bin doch überflüssig für euch. Thorn kann besser kämpfen als ich, Chada besser führen, du besser denken. Und der Bär ist mehr eine Gefahr als eine Hilfe. Selbst Ken Dorr ist nützlicher als ich.“ Die letzten Worte sprach er voller Abscheu.
„Wach auf, Drukil!“, forderte Leander energisch und rüttelte an den Schultern des Hautwandlers. „Wie kannst du dich mit Ken Dorr vergleichen? Sicher ist der Dieb nützlich, aber du bist mehr als das. Du bist ein Freund! Wir glauben an dich, wir vertrauen dir! Anders als Ken Dorr! Und du bist ganz gewiss nicht überflüssig!“
Er atmete tief ein und zwang sich, seine Stimme zu senken. Nur weil alle anderen hier brüllten, musste er es ihnen nicht gleichtun. „Du bist ebenso wertvoll wie Chada, oder Thorn, oder ich. Auch du besitzt einzigartige Fähigkeiten, und ich spreche nicht nur vom Bären. Du spürst Dinge, die andere nicht wahrnehmen, du siehst, was anderen Augen verborgen bleibt. Wer hat dir gesagt, dass Alkohol Gift ist? Ich? Einer der Zwerge? Nein, ein Schluck genügte dir, um eine Wahrheit zu erkennen, die andere ihr ganzes Leben verleugnen. Die Hexerei hinterlässt für dich ein Gefühl, das kein anderer kennt. Damit kannst du uns vor Fallen warnen, in die wir sonst blindlings laufen würden. Stell dir nur vor, jemand bietet uns seine Hilfe an und du spürst, dass er von der Macht des Schwarzen Herolds berührt wurde.“
„So wie Ken Dorr.“, entgegnete Drukil trocken und Leander nickte.
„Ja, wie Ken Dorr. Ich halte deinen Hass für übertrieben, aber auch dafür brauchen wir dich. Ken ist gerissen, er kam als mittelloser und verbannter Dieb zurück nach Andor und saß kein Jahrzehnt später auf dem Thron. Täuschung und Manipulation ist seine Stärke, und du bist als einziger nicht anfällig dagegen. Der Gestank nach Hexerei, der ihn umgibt, wird dich immer an das erinnern, was wir zu schnell vergessen: Dass er bereits den Ewigen Rat verraten hat, und dass wir die nächsten sein könnten. Du wirst deine Vorsicht nie verlieren, ihm immer misstrauen, ihn im Blick behalten, und vielleicht wirst du uns genau damit alle retten.“
Leander nahm seine Hände von Drukils Schultern und legte sie in seinen Schoß. „Die Drei Schwestern haben in uns allen Zweifel ausgelöst, sogar in der so entschlossenen Chada, aber niemanden quälen die Sorgen so sehr wie dich, das ahne ich. Was du tust ist deine Entscheidung, Drukil, doch vergiss nicht: Wir vertrauen dir! Wir glauben, dass du den Bären um unseretwillen zurückhalten kannst. Die Frage ist nur, ob du dir selbst vertrauen kannst. Wir brauchen dich mit ganzem Herzen bei unserer Sache. Wenn du wirklich glaubst, dass der Bär dich überwinden und uns alle töten wird, dann denke ich zwar, dass du dich damit irrst, aber niemand von uns kann dich zwingen, einen Wald zu betreten. Das kannst nur du selbst. Wir …“
Eine neue Strophe des Liedes echote durch die Halle. Die Zwerge klopften im Rhythmus mit Humpen und Axtstielen auf die steinerne Tischplatte und überdeckten für kurze Zeit jedes andere Geräusch.
Als der Donner verklang, fuhr Leander fort: „Es liegt allein an dir, Drukil. Du wirst nur dann nutzlos sein, wenn du dich dafür hältst. Du musst dich entscheiden, ob die Ängste dich überwältigen sollen oder du sie. Morgen früh brechen wir auf und bis dahin möchte ich, dass du entweder ganz mitkommst oder gar nicht. Unser Vertrauen hast du, jetzt musst du noch deines finden!“ Nach kurzer Überlegung fügte Leander spitz hinzu: „Und bedenke, dass Ken Dorr uns ohne deine Überwachung alle ins Verderben reißen wird.“
Drukil stieß eine Reihe saftiger Flüche aus, von denen Leander sich fragte, wann er sie alle gelernt hatte. „Ken Dorr! Er ist weg! Eben lag er noch auf seinem Platz!“
Leander zuckte nur mit den Achseln. „Dieses nervige Lied wird ihn aufgeschreckt haben. Wahrscheinlich hat er sich in seine Kammer zurückgezogen.“
„Er war schon vorher weg! Ich spüre seit einiger Zeit nichts mehr von der Hexerei, das hätte mir auffallen müssen. Aber als wir die Zwergenhöhle betreten haben, hat es sowieso nachgelassen.“
„Ach ja?“, hakte Leander interessiert nach. „Wurde der Gestank vom Geruch von Waffenfett und verbrannter Steinkohle überdeckt?“
„Es ist kein wirklicher Gestank, mehr ein dunkles Gefühl. Und während unserem Spaziergang durch den Schnee war es so stark wie selten zuvor; ich habe Kopfschmerzen davon bekommen!“ Leander hörte Drukil unruhig auf der Bank hin und her rutschen. „Eigentlich nur während wir in den Spuren dieser Kreaturen waren, wenn ich darüber nachdenke.“
„Die geheimnisvolle Armee ist also ebenfalls von den Toten zurückgeholt worden?“
„Das Gefühl … ich habe es Ken Dorr zugeschrieben, aber es war viel zu stark dafür. Der verdammte Dieb stumpft meine Sinne ab! Ja, Leander, auch die Kreaturen müssen zurückgeholt worden sein, kurz bevor sie die Spur hinterließen. Aber selbst das ist noch zu schwach. Ich glaube … ich glaube, er war dort. Der Schwarze Herold.“
Leander wünschte sich seinen Stab, um sich daran festzuhalten, aber für das Fest hatte er ihn in seiner Kammer gelassen. Als wäre er verkohlt worden, ohne zu schmelzen.
„Eine Streitmacht, die aus dem Nichts auftaucht und beinahe spurlos verschwindet.“, hauchte Leander. „Was meinst du, Drukil, wie viel trockenen Staub hinterlässt eine ganze Armee, wenn der Schwarze Herold sie auf einen Schlag auslöscht? Genug, dass er für Ruß gehalten werden könnte? Genug, um den Schnee schwarz zu färben?“
Drukil sprang auf. „Bestimmt! Und das heißt, dass er die zweite Armee irgendwo verstecken muss und sie nur beschwört, wenn … wenn …“
Leander senkte den Kopf und versuchte sich in die Position des Schwarzen Heroldes hineinzuversetzen. Er würde die Armee irgendwo verstecken, wo es einsam war … und die Kreaturen dementsprechend weniger Nahrung fanden? Nein, einfacher wäre es, sie die restliche Zeit einfach tot zu lassen, sie nur regelmäßig vor der Mine herbeizurufen, um den Schildzwergen zu verdeutlichen, dass sie nicht gefahrlos ausrücken konnten. Aber den dritten Teil der Kreaturen nur dafür einzusetzen … auch das ergab noch nicht wirklich Sinn.
Leander brach in Gelächter aus. „Natürlich! Eine Täuschung! Es gibt keine zweite Armee, Drukil!“
„Wieso … woher kommen dann die Spuren?“
Da es Leander störte, nach oben reden zu müssen, stand auch er auf. „Die Rietburg wird belagert, und wenn der Schwarze Herold die toten Kreaturen zurückrufen kann, muss er ein Stück von jeder einzelnen haben. Er kann sie jederzeit an beliebigen Orten beschwören. Er hat es nicht nötig, seine Streitkräfte aufzuteilen, er kann die Kreaturen in kürzester Zeit durch ganz Andor transportieren. Ich behaupte, die Spuren vor Cavern stammen von denselben Kreaturen, die auch die Rietburg belagern. Er zieht sie nur für eine halbe Nacht ab, um die Schildzwerge abzulenken. Aber jetzt, wo wir es wissen …“
„Können wir nichts tun, oder?“, unterbrach ihn Drukil. „Wenn die Zwerge losziehen, bleibt der Ort hier unbewacht zurück.“
Leander ließ sich schwer auf die Bank zurücksinken. Drukils Worte hatten ihn wie ein Schwall kalten Wassers getroffen, der die Flamme der Hoffnung in seinem Inneren löschte. „Er kann die Kreaturen in kürzester Zeit durch ganz Andor transportieren.“, wiederholte Leander niedergeschlagen. „Es hat sich nichts verändert. Wir haben das Rätsel geknackt und sind einer Lösung für unser eigentliches Problem dennoch keinen Schritt nähergekommen.“
„Also geht es morgen trotzdem in den Wald.“, murmelte Drukil bitter. „Wir haben etwas herausgefunden, aber es bringt uns keine Erkenntnisse.“
„Doch, Drukil!“, entgegnete Leander ernst. „Eine Erkenntnis haben wir gewonnen: Wie dringend wir dich brauchen. Ohne deinen Sinn für die Hexerei wären wir nicht darauf gekommen. Du bist nicht nutzlos, Drukil. Du bist Teil unserer Gemeinschaft, anders als Ken Dorr. Vertraust du uns, Drukil? Vertraust du Chada, Thorn, mir? Vertraust du deinen Freunden? Ebenso sehr wie du uns vertraust, vertrauen wir dir. Wir glauben daran, dass du uns nichts antun könntest, auch als Bär nicht. Jetzt musst nur noch du daran glauben. Vertraue dir selbst ebenso sehr wie deinen Freunden!“
Über die Feier hinweg konnte Leander Drukils Atemzüge nicht hören und daher kaum auf seine Reaktion schließen. Doch plötzlich legte sich etwas um ihn und er wurde er in der Umarmung des Hautwandlers fast zerdrückt.
„Du irrst dich, Leander!“, sagte Drukil fest. „Ich vertraue meinen Freunden nicht, denn ich habe keine. Ihr seid keine Freunde. Ihr seid Familie!“
„Ich danke dir, Drukil!“, entgegnete Leander gepresst und Drukil setzte ihn schnell wieder ab.
„Wofür?“, fragte der Hautwandler verwirrt.
Für dieses Gespräch. Dafür, dass ich in der letzten Stunde einfach ich selbst sein konnte. Dass ich bis zum Wort Familie nicht ein einziges Mal an meinen Bruder denken musste, oder an die Dunkelheit, oder an eine der vielen anderen kleinen Lügen, die ich euch so regelmäßig auftische.
„Dafür, dass du wieder gelernt hast, dir selbst zu vertrauen. Dafür, dass du uns morgen begleitest.“, antwortete Leander stattdessen. Das war vielleicht nicht offen, aber Leander wusste, dass er dennoch recht hatte.
Sonnenhoch, 90. Herbsttag 76 A.Z.
Südlich des Baumes der Lieder, Wachsamer Wald
Ohne Vogelgezwitscher und das Rauschen der Blätter klingt der Wachsame Wald ganz anders, dachte sich Leander. Er hatte fast zweihundert Jahre am Rand des Waldes verbracht und ebenso viele Winter kommen und gehen hören, dennoch überraschte ihn dieser verwandelte Wachsame Wald jedes Mal aufs Neue. Ihre Schritte raschelten nicht, sondern knirschten im Schnee. Die Bäume knarzten leicht im schwachen Wind. In der Ferne knackte es durchdringend, als ein morscher Ast unter der Last des Schnees vom Baum brach. Sonst war alles still, nur ihr keuchender Atem klang unnatürlich laut in der kalten Luft.
Sie waren jetzt seit fast vier Stunden unterwegs, schweigend. Nachdem sie Cavern gestern erst so spät verlassen hatten – vorgeblich um noch die wärmenden Pelze der Schildzwerge entgegenzunehmen, tatsächlich aber, weil zumindest Thorn und Fürst Kram einen Kater von der Größe einer barbarischen Reitechse hatten ausschlafen müssen – waren sie heute morgen schon früh von dem leerstehenden Bauernhof aufgebrochen, kaum dass sich der erste Schimmer am Horizont zeigte. Der Tag war nur halb so lang wie die Nacht, da wollten sie nicht noch etwas vom spärlichen Tageslicht verschwenden.
Eis hatte die Bohlen der Bogenbrücke rutschig werden lassen und beinahe wäre Leander hinuntergefallen. Zwar war die Narne so nahe an der Quelle bereits zugefroren, aber allzu dick konnte das Eis nicht sein, er hatte den Fluss noch immer unter dem Eis sprudeln hören können. Nur Drukils fester Griff hatte ihn gerettet, auf seine Dankesworte hatte der Hautwandler nicht reagiert. Der Wald, den Drukil eigentlich so liebte, nahm ihm jetzt jede Freude und machte ihn noch mürrischer als sonst. Leander wusste, dass der Bär nur mit Mühe zurückgehalten werden konnte. Aber bisher war es Drukil gelungen und auch wenn die kommende Nacht die eigentliche Belastungsprobe wäre, bezweifelte Leander, dass das Mittwinterfest der Bewahrer von einem geifernden Bären unterbrochen werden würde.
„Wir haben schon gehört, dass ihr zurück seid.“, sagte plötzlich eine ruhige Stimme von oben. Leander war beeindruckt. Selbst in der Stille des Waldes hatte er nichts vom verborgenen Bewahrer gehört und anscheinend war auch den anderen nichts aufgefallen. Die Bogenschützen verwendeten gelegentlich auch braune oder weiße Kleider, wenn die sommergrünen Stoffe sie nicht tarnen konnten.
Leander konnte den Bewahrer aus seinem Baum klettern hören. Er stellte sich als Mellorn vor und begleitete sie anschließend das letzte Stück zum Baum der Lieder.
Trotz der Kälte herrschte auf dem Platz vor dem Baum emsige Betriebsamkeit. Was genau die Bewahrer taten, konnte Leander nicht sagen, denn mindestens drei verschiedene aus vielen Kehlen gesungene Lieder konkurrierten darum, das lauteste zu sein. Jedes einzelne hatte ein religiöses Thema zum Inhalt und Leander vermutete Farruns Einfluss dahinter.
Der Oberste Priester begrüßte sie herzlich und versprach, sogleich nach dem Bewahrer namens Ladon zu schicken, nach dem Chada ihn fragte. Anschließend ließ er sie ins Haus der Gäste bringen, wo ihnen ein Gericht aus Apfelnüssen und den Früchten, die der Baum der Lieder selbst produzierte, serviert wurde. Dazu gab es einen herrlich warmen Tee aus Brennnesseln, an dem sich Leander sofort die Zunge verbrannte. Dennoch genoss er es, seine klammen Finger am Tonkrug aufwärmen zu können, während seine Gefährten über das Essen herfielen.
Da schlug die Tür der Hütte auf und ließ einen Schwall kalter Luft herein. „Ich gebe zu, ich bin erstaunt.“, sagte eine Stimme, kalt und scharf wie ein Splitter aus Eis, und Leander hätte beinahe seinen Krug fallen gelassen.
„Kaum lässt man euch für zwei Monde aus den Augen, schon speist ihr gemeinsam mit einem toten Feind. Die Geschichte könnte interessant werden.“
Leanders blaue Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Das wird sie.“, versprach er. „Glaub mir, Eara.“