
„Wie heißt du, Bursche?“ Der ältere, grobschlächtige Mann, der ihm, ohne dass er es bemerkt hatte, gegenübergetreten war, starrte ihn schlechtgelaunt an. Er, der „Bursche“, ein Wandergesell aus, na ja, so genau konnte er das auch nicht sagen, wenn wer fragte, kam er aus Andor, nur dass er dort nicht geboren war, wusste er doch nicht, wo er geboren war, schaute unverhofft zurück. Nun, das war eine ganz schön schwierige Frage, wie der Wandergesell fand. Gehetzt ließ er seinen Blick durch die Gasse streifen. Hinter dem grobschlächtigen Mann, von dem er nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was genau er eigentlich von ihm wollte, hatten sich inzwischen zwei weitere, wenn auch etwas breitere wie jüngere Kerle aufgebaut. Die restlichen Menschen, sowie die zwei Taren, die in dem Moment die Gruppe passierten, schien das nicht zu interessieren. Gut, spannend war sein Name jetzt auch nicht, sodass er mehr Aufmerksamkeit verdiente, doch war es nicht sein Name, den der grobschlächtige Mann von ihm wollte, oder so glaubte der Wandergesell. In der engen Gasse zwischen den Werften und der Halle des Hafenmeisters herrschte reger Betrieb. Es war noch früh am Morgen, die Sonne gerade erst aufgegangen und ihr rötlicher Schimmer viel durch den Nebel auf die Szenerie.
„Ich habe dich was gefragt!“ Der Unterton in seiner rauen Stimme war jetzt spürbar genervter. Die Kerle hinter ihm starrten ihn an, als könnte er was verbrochen haben und der Wanderer wusste nicht in welches der drei überraschend ähnlich aussehenden Augenpaare er schauen sollte. „Nun“ hob er an, doch ließ gleich wieder fallen. Welchen Namen sollte er verwenden? Wie hieß er schon? Seine Mutter hatte ihn natürlich einen Namen gegeben. Nur konnte sich außer er selbst niemand mehr an ihn erinnern.
Brenda, die Schusterin, hatte ihn bis zuletzt immer nur Kind genannt. Sie hatte nie nach seinen richtigen Namen gefragt und er hatte es ihr nie erzählt. Generell hatte sie nie viele Fragen gestellt. Sie hatte nie gefragt, woher er kam, wo und ob seine Eltern lebten. Als sie ihn alleine, barfuß und in zerrissenen Klamotten vor den Mauern der Rietburg mitten in der Nacht einem Gor ausgesetzt fand, hatte sie nicht gefragt was um alles in der Welt er hier verloren habe, sondern vertrieb die grausige Kreatur mit ihrer Steinschleuder und nahm ihn wortlos mit zu sich nach Hause. Sie machte ihm was zu essen und erklärte ihm, dass er die Nacht in der Küche schlafen könne, aber auch einfach gehen könne, wenn er denn so wolle. Sie wünschte ihm gute Nacht und am nächsten Morgen, als sie sich an die Arbeit machte, war er noch da und auch am morgen danach. „Hör zu, Kind“, erklärte Brenda, „du kannst nicht ewig hier bleiben, du gehörst doch bestimmt woanders hin.“ Sie klang dabei weder freundlich noch gereizt oder verärgert. Höchstens ein bisschen Wehmut schwang in ihrer Stimme mit, so als würde sie ihn bemitleiden. Brenda bemitleidete das Kind, welches kaum noch eines war, nicht dafür, dass er seine Familie und Heimat verloren hatte, sie wollte und konnte schließlich nichts davon wissen, sondern vielmehr für die Tatsache, dass er nirgends anders zu sein hatte, als in ihrer, Brendas Küche, zu verbleiben. Er blieb. Sie zog ihn zu auf, zwar nicht als wäre es ihr eigenes Kind, hatte sie doch nie welche gewollt, aber als wäre es selbstverständlich und das normalste auf der Welt. Mit der Zeit lernte er ihr Handwerk und viele andere Sachen. Schnell merkte Brenda, dass dieser Junge, der so ungebeten wie plötzlich in ihr Leben getreten war, eine Bereicherung für sie wurde, war sie auch nicht mehr die jüngste. Zwar mochte sie ungern Gesellschaft, anderer Menschen, doch wusste sie seine zeitig zu schätzen und konnte er so für sie nervige, doch unvermeidbare Wege in die Burg oder zum Markt erledigen.
Auch später stellte sie selten Fragen. Nie fragte sie nach, wenn er mal für ein paar Tage bei Freunde oder Freundinnen untergetaucht war oder warum er länger als geplant in der Taverne blieb. Dort hatte er einen anderen Namen. Die Gäste der Taverne, lernten den schnell wachsenden jungen Schusterlehrling aus der Hütte an der Rietburgmauer alsbald kennen. Da er am Anfang noch etwas wortkarg war und wenn er redete ein paar Probleme mit S-Lauten ihn quälten, gaben sie ihm einen Namen, der zu erst als kleiner, aber liebevoller Witz gemeint war, jedoch durchaus passte. Zu jener Zeit trug er selten Schuhe und wenn doch hatten diese an der Sohle meist Löcher. Das war zwar für Bauern im Rietland nicht ganz ungewöhnlich, doch für einen Schusterlehrling ziemlich ulkig. Für Brenda wäre es natürlich ein Kinderspiel gewesen, doch weigerte sie sich, ihm ein vernünftiges Schuhwerk zu geben. „Ein Schuster muss seine eigenen Schuhe flicken und herstellen können.“ Ihm war das gleich, er legte ohnehin nicht so großen Wert auf ein festes Schuhwerk, also lief er, bis er es gelernt hatte, einfach mit löchrigen Fußsohlen rum. Das brachte ihm den Namen „Fussssohle“, mit einem sehr langgezogenem S-Laut ein.
Doch, wenn auch ein Schusterlehrling sehr gut den Namen „Fussssohle“ tragen konnte und dieser an Orten wie der Taverne zwar ein ungewöhnlicher Name, wenn auch bei Weitem nicht der ungewöhnlichste war, musste er zu Beginn seiner Wanderjahre schnell feststellen, dass es ein Name war, der viele Fragen mit sich zog. Als Wandergesell äußerst unpraktisch.
„Verdammt“, dachte er sich, als er den nun schon fast wütenden Mann so anstarrte. „Ich hätte mir vorher überlegen sollen, wie ich mich nennen will.“ Angesträngt dachte er nach. Doch so von Blicken durchbohrt war sein Kopf wie ein leerer Raum. Nur ein Wort stand darin geschrieben. Ein Name, nach dem er sich sehnte, den er jedoch gleichermaßen fürchtete. Die letzte Person, die ihn verwendet hatte, war sein Mutter gewesen und das war viele Jahre her. Gut behütet, mit niemanden geteilt, hatte er seinen Namen all die Jahre mit sich her getragen und sich doch vor ihm versteckt. Nun aber stand er da, mit nichts anderem in der Hand und da holte ihn sein alter Name wieder ein. Seine Mutter hatte ihn den Namen nicht gegeben, damit er als eine Erinnerung an sie durch seinem Kopf wie ein Gespenst, vor dem er sich fürchtete, spukte. Er war nicht mehr der verschreckte Junge, der alleine vor den Mauern der Rietburg stand. Er war nun erwachsen geworden. Er war nicht mehr Kind oder Fussssohle. Es war Zeit die Vergangenheit ruhen zu lassen und sie nicht mehr zu verdrängen. Sie war schließlich ein Teil von ihm.
Etwas gebückt lächelte er den grobschlächtigen Mann an. „Ich heiße Pahl.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich bin Wandergesell.“
Desinteressiert und doch sehr genervt starrte er den Schustergesellen an. „Pahl, der Wanderer? Nie gehört.“
Er musterte ihn noch kurz, dann schob ihn mit einem kurzen „Nun denn“ zur Seite nickte ihm noch zu und ging dann eilig Richtung Hafen, dicht gefolgt von den breiten Kerlen. Etwas verwundert und doch ziemlich abwesend, schaute er den drei Unbekannten hinterher.
Der Wandergesell fühlte sich etwas nackt und betreten, wie er dastand und den dreien hinterherstarrte auch lange, nach dem sie nicht mehr zu sehen waren. Es war ihm als sei nun endlich eine schwere Last, die Jahre lang auf ihm lag, von ihm gefallen.
Pahl schüttelte sich und bog schnell, getragen von einem leichten Lächeln, in eine Seitengasse ein.