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Bärig gebutterte Geschichtchen

Re: Bärig gebutterte Geschichtchen

Beitragvon TroII » 13. April 2022, 12:10

Hallo BBB,

na, da hat sich doch einiges noch ertfüllt. Mehr Fokus auf die Ereignisse rund um Taroks Tod und Dunkle Wolken, als ich vorausgeahnt hatte - aber eine sehr schöne Gelegenheit für jede Menge Aspielungen zu deinen diversen anderen Geschichten (und zum Ewigen Rat).

Was Eforas und Saro angeht, hast du natürlich vollkommen recht, mein Fehler... :oops: Aber vielleicht hat Eforas ja auch irgendwie eine Sphäre in die Hand bekommen und konnte so sein eigener Großvater werden? :mrgreen: Aćh Mist, Ijs nennt seinen Vater natürlich in der Geschichte auch schon Saro, also scheidet sogar diese Möglichkeit aus... ;)
Gut, die Sonne im Osten untergehen zu lassen ist natürlich auch eine Option! :lol: Ansonsten, je nachdem wie tief sie sich schon im Gebirge befindet ist es ja auch nicht zwingend ausgeschlossen, dass sie bereits Berge westlich von sich hat, hinter denen die Sonne versinken könnte.

Gruß, Troll
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Re: Bärig gebutterte Geschichtchen

Beitragvon Trollerei » 13. April 2022, 19:18

Butterbrotbär hat geschrieben:Die Epiloge sind hier! :P



TroII hat geschrieben:Insgesamt war Turr aber doch einfacher zu finden als erwartet. Noch in Sichtweite des Felsentors... Ein bisschen antiklimatisch. (Negative Temperaturen eben... 8-) )
Fair. ;) Ich wollte den Kampf halt am Felsentor spielen lassen. Vielleicht könnte man sich noch rausreden damit, dass Nesdora Turr irgendwo tief im ewigen Eis fand und irgendwie zum Felsentor transportierte, da sie ahnte, dass Suchende am ehesten dort auftauchen würden und da Siantari ja gerne einen Eisdämon außerhalb des Tors in ihrer Kontrolle hätte? Ändert nichts daran, dass Turr etwas gar plötzlich einfach wieder auftau(ch)t.

TroII hat geschrieben:Ich bin erstaunt, dass Iril schon auftaucht, mit der hätte ich frühestens in den Epilogen gerechnet...
Tja. :mrgreen: Die vorherigen Kapitel hatten allesamt schon Mini-Epiloge, und ich wollte mal zumindest einen Absatz zu Iril verfasst haben, falls es aus irgendeinem Grund nie zu einem Magischen Abenteuer lll kommen sollte. Da bot sich diese Stelle irgendwie an. So musste ich auch noch nicht näher eingrenzen, wann genau Iril in Andor aufkreuzt.

Ein klein wenig muss ich die leandrischen Schemen leider enttäuschen:
– Ich glaube, Eforas ist der Sohn und Saro der Vater (hoffe ich jedenfalls, sonst müsste ich das Wiki und die verschwundene Krone nochmals korrigieren :oops:).
– Aćh guckt das Fahle Gebirge nicht von Andor aus an. Die andorische Sonne geht im Osten unter, zumindest in dieser Fan-Geschichte.
– Ah, ein Hüter-der-Zeit-Abschnitt chronologisch vor der ganzen Geschichte hätte wirklich was gehabt! :lol:

Aber wie immer wurden viele Schemen der Zukunft 1:1 erfüllt. Ijs wird zu Ijsdur, sein ‘Vater’ (dessen gehörntes Gesicht ich bei der Recherche für diese Geschichte erstmals im Ijsdur-Ankündigungs-Bild zu erkennen glaubte... sahen wir den damals nie oder sprachen wir den nur nie an oder habe ich da etwas völlig vergessen?) versinkt im ewigen Eis, die Unterquerung des Kuolemas durch den genannten Trupp, Mera-Steine öffnen das Felsentor, Aćhs Blick aufs Gebirge (wenn auch früher), Siantaris Befreiung...



@Trollerei: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich dir folgen konnte. Sorry, falls ich dich missverstehe.
Ich würde sagen, ja genau, um eine paradoxe Situation zu vermeiden, muss das, was der Hüter in seiner Zukunft sieht, mit seinen Präferenzen übereinstimmen. Wenn er gerne Antworten erst nach von seinem Gegenüber gestellten Fragen gibt, so sieht er das so kommen und handelt entsprechend. Wenn er hingegen die Antwort lieber schon geben würde, bevor sein Gegenüber die Frage stellt, sähe er dies so kommen und würde entsprechend handeln. Widersprüchlich wird es nur, falls der Hüter lieber anders handeln würde, als er es kommen sieht. Oder? Das gilt ja auch allgemein für ihre Visionen richtig deutende Seher in einer Welt mit einer einzelnen fixen Zeitlinie. :D
Was meinst du mit "Zeitvariante" und "Parallellösung"?



Wie üblich ganz herzlichen Dank fürs Lesen und die Kommentare! 8-)



LG BBB



PS: Ratet mal, wer gerade herausfand, dass er "Guy von Guisborne" die ganze Zeit über falsch geschrieben hat. Da muss ich gleich noch was anpassen gehen. :?
Gisi. Gisbourne. Guy von Gisbourne. Ist doch nicht so schwer.


Schöne Geschichte um Ijs[idur]. Mit Paralelllösung meinte ich, dass es in Trolls ewigem Rat ja 2 Zeitlinien gibt [oder "verschwindet" die chaos-linie nach dem Erwachen des Ents?]. Insgesamt habe ich gemeint, dass der Hüter ja sein Handeln so optimiert, dass er den idealen Ausgang erhält, und er dadurch ja nicht mehr anders Handeln wird, da er es ja nicht mehr nötig hat, wodurch er wieder einen nichtidealen Ausgang sieht, den er optimiert.... Kurz: Durch sein Zukunftssehen beeinflusst er die Zukunft mMn IMMER, auch wenn er den idealen Ausgang sieht. Ich befürchte, das war jetzt auch nicht verständlicher :oops:

Grüße von den zum Glück nicht eisigen Kanaren, Trollerei
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Re: Bärig gebutterte Geschichtchen

Beitragvon Butterbrotbär » 13. April 2022, 21:24

@Troll:

Theoretisch wäre es durchaus noch möglich, wenn auch nicht zwingend wahrscheinlich, dass Eforas sein eigener Großvater würde. :lol:
Umgekehrte Namen können ja eine Bedeutung haben, auch wenn sie zufällig sein mögen: Narne und Enran, Brandur und Rudnar(b), Eforas und Saro(fe)... ;)



@Trollerei: Danke!

Ich mag an den parallelen Linien im Ewigen Rat noch, dass der Troll uns in der einen ein derart überwältigendes Ende vorsetzen kann (ich meine, wirklich, wie könnte dieses noch übertroffen werden?!) und in der anderen dann dennoch noch die hoffnungsvollen Gefühle eines Happy Ends... öhm... Happy Beginnings aufbauen kann. :D

Ob die zweite Zeitlinie "verschwunden" ist, hängt wohl davon ab, wie man die "Existenz" einer Zeitlinie überhaupt definiert. Eindeutig könnte man seine Nicht-Verschwundenheit vermutlich nur feststellen, wenn man mit einer Sphäre, einem magischen Portal oder dergleichen noch zwischen den beiden Zeitlinien hin- und herreisen könnte. Oder auf eine andere Weise irgendwie interagieren. Was meint der Autor?

Ah, jetzt glaube ich zu verstehen: Wenn der Hüter der Zeit sich Mühe geben wird, optimal zu handeln, sieht er eine optimale Zukunft. Und falls er durchs Sehen einer optimalen Zukunft das Gefühl bekäme, sich nicht mehr die Mühe machen zu müssen, landen wir in einem Paradoxon. Oder?

Dann wünsche ich doch schöne und warme Ferien (?) :P


LG BBB
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Re: Bärig gebutterte Geschichtchen

Beitragvon TroII » 14. April 2022, 16:22

Butterbrotbär hat geschrieben:Ob die zweite Zeitlinie "verschwunden" ist, hängt wohl davon ab, wie man die "Existenz" einer Zeitlinie überhaupt definiert. Eindeutig könnte man seine Nicht-Verschwundenheit vermutlich nur feststellen, wenn man mit einer Sphäre, einem magischen Portal oder dergleichen noch zwischen den beiden Zeitlinien hin- und herreisen könnte. Oder auf eine andere Weise irgendwie interagieren. Was meint der Autor?


Puuh, schwierig. Also, in gewisser Hinsicht würde ich sagen, dürften die Epilog-Ereignisse die Chaos-Zeitlinie verunmöglichen... Aber es ist ziemlich problematisch, überhaupt irgendwelche sinnvollen Aussagen über die Chaos-Zeitlinie zu machen, weil die eben explizit Selbstwidersprüche zulässt. Insofern spricht nichts dagegen, dass die Zeitlinie vernichtet wurde UND weiterexistiert... :?



Butterbrotbär hat geschrieben:Ah, jetzt glaube ich zu verstehen: Wenn der Hüter der Zeit sich Mühe geben wird, optimal zu handeln, sieht er eine optimale Zukunft. Und falls er durchs Sehen einer optimalen Zukunft das Gefühl bekäme, sich nicht mehr die Mühe machen zu müssen, landen wir in einem Paradoxon. Oder?


Irgendwo dazwischen muss eben (mindestens) ein Mittelweg existieren, der gut genug ist, dass der Hüter sich nicht mehr genötigt fühlt, sie verändern zu wollen. Eine Zukunft, die sich selbst hervorruft. Wenn wir schon beim Ewigen Rat sind, verweise ich da nochmal auf einen Leander-Absatz zu einem ähnlichen Thema:

Leander schluckte. Es war nicht so, dass er zum ersten Mal über diese Frage nachdachte. Die Zukunft sehen… Was hieß das schon? Welche Zukunft? Ein Seher, der sich selbst unter einem Baum begraben sah, würde den Wald meiden und stattdessen in eine Schlucht stürzen. Einer, der sich ertrinken sah, keinen Fuß mehr auf ein Schiff setzen und im hohen Alter am Husten sterben. Jede Vision, die er jetzt sah, würde beeinflussen, wie er sich in Zukunft verhielte. Wenn er sähe, was ohne seine Visionen eingetreten wäre, dann würde es durch eben diese Vision verändert. Sah er stattdessen diese veränderte Zukunft, wäre auch die Vision eine andere, und das Ergebnis eine neue, dritte Zukunft, die wiederum eine andere Vision erforderte, die in eine andere Zukunft führte… Jede Vision verhinderte sich selbst. Ein infiniter Regress.
Doch es gab unter den unzähligen Bildern, die er sehen könnte, einige, ganz wenige, die anders waren. Die genau die Zukunft hervorriefen, die sie selbst zeigten. Die sich selbst zur Wahrheit machten. Und von diesen wenigen Visionen, die in Frage kamen, sah er genau eine. Doch wer wählte aus, welche davon?


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Re: Bärig gebutterte Geschichtchen

Beitragvon Butterbrotbär » 14. April 2022, 18:13

Ah, danke sehr, da hast und hattest du das Thema wirklich wundervoll in Worte gegossen. :P
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Re: Bärig gebutterte Geschichtchen

Beitragvon Trollerei » 19. Mai 2022, 20:35

Ich habe mir jetzt im Zuge der Veröffentlichung der Barbarenlandkarte noch einmal die Fanfiction zu Barz, dem See Ava und Taroks Feuer durchgelesen. Ich kann mich nur wiederhohlen: sehr gelungen! Deshalb konnte und wollte ich auch nicht mit dem Lesen aufhören und habe auch die 2. MH-Geschichte zu Ách "verspeißt". Auch top, besonders die Beschreibung von Tulgor. Das Land hinter dem Kuolema wirkt bei dir so modern und voller technisch-magischer Innovationen-ganz anders als ich es mir vorstelle. Aber das ist ja auch das schöne an Tulgor, jeder kann es sich so vorstellen, wie er will. Und beim Lesen der Siantaripassage mit dem Einsturz des ewigen-Rat-Baumes in Krahal [Blutbaum?] und Siantaris Befreiung und ihrem Plan, alles in eine Eiswüste zu verwandeln, musste ich dann auch direkt an AA22 denken. Siantari als Bösewicht würde zumindest das Motiv des Wintersteinbesitzers erklären, ich meine, wer außer Eisdämonen hat denn Bitte was von einer Ewigen Kälte?! Aber die wichtigste Frage ist natürlich, wann es mit den MH weitergeht-Ich kann es kaum erwarten :mrgreen:
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Re: Bärig gebutterte Geschichtchen

Beitragvon Butterbrotbär » 20. Mai 2022, 10:26

Hallo Trollerei (diesmal verwechsle ich dich nicht! :roll: ),

Freut mich alles sehr zu hören. :P

Trollerei hat geschrieben:Das Land hinter dem Kuolema wirkt bei dir so modern und voller technisch-magischer Innovationen-ganz anders als ich es mir vorstelle. Aber das ist ja auch das schöne an Tulgor, jeder kann es sich so vorstellen, wie er will.
Du sagst es! :D
Wie hier aufgelistet, gab es bislang schon einige Fan-Projekte, die Tulgor auf ihre eigene Arten interpretierten. Wobei ich natürlich nichts dagegen hätte, wenn die Magischen Autoren uns eines Tages einen offiziellen Blick auf Tulgor erhaschen ließen. ;)
Wenn ich mich richtig erinnere, hatte auch schon das zukünftige Andor in meiner hiesigen Kjall-Fan-Geschichte einen vielleicht etwas zu modernen Anhauch.

Trollerei hat geschrieben:[Blutbaum?]
Offiziell wurde der Baum glaube ich nur an einer Stelle im Lied des Königs erwähnt und erhält dort keinen festen Namen. Mir persönlich gefällt die Bezeichnung "Baum des Blutes" aus dem Ewigen Rat sehr. ;)

Stimmt, Siantari würde ziemlich gut passen! :D Aber da Brandur im AA22 und somit höchstwahrscheinlich auch in DEK noch lebt und das Felsentor zum Tal des ewigen Eises erst nach seinem Tod geöffnet wird, ginge das vermutlich zeitlich nicht auf.

Wann es hier weitergeht, kann ich leider noch nicht genau sagen. Unter anderem zeigte die Fan-Legende "Die verschwundene Krone" schon vor etwa einem Jahr, dass ich lieber keine fixen Versprechen für rasche Fertigstellungen angefangener Projekte machen sollte. :oops: Bislang schrieb ich rund 20'000 Wörter am dritten (und voraussichtlich letzten) Teil. Ich ziele aktuell auf Abschluss diesen Sommer, dann bin ich noch sicher vor möglicherweise kommenden Widersprüchen des Barz-Teils zu DEK.

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Magische Abenteuer lll – Runen im Schnee – Epilog

Beitragvon Butterbrotbär » 30. Oktober 2022, 23:24

Dies ist der dritte und voraussichtlich letzte Teil meiner Fan-Geschichten zu den Magischen Helden (Teil 1, Teil 2), sollte aber auch unabhängig von den anderen Teilen gelesen und verstanden werden können.
Vorsicht, enthält teils leichte, teils weniger leichte SPOILER für das Grundspiel (duh), Magische Helden (duh), Alte Geister und StoryQuest Dunkle Pfade.
Viel Spaß beim Lesen! :D
EDIT: Inzwischen wurde in der Bonus-Legende Im Bann von Choranat zumindest impliziert, dass die Magischen Helden offiziell erstmals als Antwort auf den dortigen Hilferuf der Bewahrer nach Andor kamen. Technisch gesehen könnte diese Fan-Geschichte noch nicht dem Kanon wiedersprechen, doch dafür müssten die MH zwischen dieser Geschichte und dem Bann von Choranat irgendwie in Verruf geraten, um dem „Misstrauisch wurden sie von den Andori beäugt. Den Helden war klar, dass sie erst das Vertrauen der Bewohner gewinnen mussten.“ gerecht zu werden.
EDIT 2: Seit der Erscheinung der Ewigen Kälte wissen wir natürlich, dass der dritte Barbaren-Stamm Grehon heißt, nicht Jpaxo, und dass sie eher Greifen als Drachen anbeten. Ein einfacher Namenswechsel sollte jedoch genügen, damit dieses Fanfic dem Kanon nicht mehr widerspricht.
EDIT 3: Ich erzähle in diesem Fanfic, wie Siantari 65 a.Z., nach dem Öffnen des Felsentors zum Ewigen Eis, am Alten Wehrturm die einstige Präsenz des Wintersteins spürt und mehr über dieses Relikt herauszufinden versucht.
Inzwischen erfuhren wir in der Andor-App-Erweiterung „Herz aus Eis“, dass bereits 64 a.Z. ein Abbild Siantaris in Andor erschien, den Winterstein stahl und damit (am Alten Wehrturm, wie passend :P ) ein Portal ins Ewige Eis zu öffnen versuchte. Reka spekulierte damals, dass der Winterstein die Grenze zwischen Andor und dem Ewigen Eis durchlässig gemacht hatte, sodass Siantaris Geist außerhalb des Ewigen Eises hatte agieren können, während ihr Körper noch hinter dem Felsentor gefangen blieb.
Es gibt einige Möglichkeiten, diese Diskrepanz zu erklären:
(1) Siantari verlor zwischen Herz aus Eis und diesem Fanfic ihre Erinnerungen an die Ereignisse aus Herz aus Eis.
(2) Siantari kapiert in diesem Fanfic schlicht nicht, dass den Winterstein, dessen Präsenz sie spürt, dasselbe Artefakt ist, welches sie eineinhalb Jahre zuvor selbst stahl.
(3) Das Abbild Siantaris aus Herz aus Eis wurde nicht direkt von der wahren Siantari kontrolliert, sondern war eine durch den Winterstein erschaffene Kopie, die ihre Erinnerungen nicht mit der wahren Siantari teilte.





Die Bewahrer vom Baum der Lieder schrieben das Jahr 563 nach andorischer Zeitrechnung.
Die Rietburg und die umliegenden Dörfer waren zur großen Rietstadt zusammengewachsen.
Die Ewige Kälte Hadrias war grünem Gras und sprießenden Blumen gewichen.
Das Graue Gebirge war einige Meter höher als zur Zeit der ersten Helden.
Der große See Ava hatte sich beinahe bis zum Hadrischen Meer ausgebreitet.
Die Rote Steppe Tulgors war größtenteils von der Wilden Wüste des Westens eingenommen worden. Nur ganz nahe am Kuolema-Gebirge wuchs das wilde Steppengras noch ungehindert.
Eine einsame Gestalt lief durch diese tulgorische Steppe, eine Spur aus Eis und Schnee hinter sich herziehend. Ein langer Bart fiel auf eine nackte Brust. Bis auf Stiefel, einen Rock und einen Gürtel mit einigen daran befestigten Artefakten war die Person unbekleidet. Ihre Kleidung war so blauweiß wie ihre Haut und ihr langes Haar. So blauweiß wie das Eis.
Dies war ein Eis-Dämon. Lange schon hatte man in dieser Gegend keinen mehr gesehen. Sein Name war Ijsdur. Schon einige Male war er gerufen worden. „Hilf uns, o Dämon des ewigen Eises. Komm herunter von deinem hohen Berg. Rette das Leben von diesen und jenen. Schenke uns Armen mehr Zeit in dieser unfairen Welt.“
Dabei besaß Ijsdur gar nicht die Fähigkeit, weitere lebensrettende Eiskristallketten zu schaffen. Er wusste nicht, wie er neue Durs und Doras erschaffen sollte, ohne selbst daran zugrunde zu gehen.
Diesmal war er dennoch gekommen. Denn es war an der Zeit. Seine fünf Jahrhunderte waren beinahe um.
Ijsdur besuchte ein Dorf am Fuße des Kuolema-Gebirges. Er fand die gesuchte Hütte, trat durch eine Tür und dann noch eine, und dann erblickte er sie. Eine gebrechliche, todkranke junge Tulgori, die in ihrem Bettchen lag und müde vor sich hin hustete. Ihre Familie saß ums Bett herum und schien nicht wirklich zu wissen, wie sie reagieren sollte. Manche gruselten sich vor dem Eis-Dämon. Ein Vater wich Ijsdurs Blick gekonnt aus. Ein anderer weinte ungehemmt. Ein dritter lächelte. Dieser wirkte gar ... hoffnungsvoll?
Sie waren nicht wichtig. Wichtig war nur die kleine Tulgori, die erneut schwach hustete. Nalle hieß sie. Schwach leuchtende Flecken überzogen ihre dunkle Haut. Die Druiden hatten ihr gesagt, dass sie kaum mehr als ein, zwei Wochen zu leben hätte. Der Blick aus Nalles Augen war wachsam und berechnend, als sie Ijsdur musterte.
„Danke“, sprach sie heiser.
„Danke mir lieber noch nicht“, meinte Ijsdur grimmig, ehe er sich eines Besseren besann und ein gezwungenes Lächeln aufsetze.
Nalle verabschiedete sich von allen Anwesenden. Noch mehr Tränen brachen aus. Ijsdur verzog keine Miene und wandte sich höflich ab. Er streckte seine Arme aus und ließ sich eine Decke darüberlegen, damit die Kleine auf dem Weg nicht allzu sehr frieren würde. Dann ergriff er Nalle mit beiden Armen. Sie war zu schwach, um allein zu laufen.
Langsam trug Ijsdur sie die Hänge des Kuolema-Gebirges hoch. Ihr Pfad schlängelte sich durch ein Meer aus Steinen den Berg hinauf.
In der Ferne sah Ijsdur einen brennenden Takuri über den Himmel fliegen, einen Flammenschweif hinter sich herziehend. Ijsdur drehte sich so, dass Nalle den Feuervogel sehen konnte.
„Hast du schon je einen Feuertakuri von nahe gesehen?“
Nalle schüttelte ihren Kopf und Schneeflocken von ihren Haaren. „Ich habe entfernte Familie unter den Hütern. Aber die trauen sich nur noch ohne Feuervögel in die Nähe des trockenen Steppengrases.“
„Hm. Ich habe schon einige gesehen. Sogar auf dem Weg hierher. Ich besuchte den Nestbaum der Feuertakuri in den westlichen Ausläufern des Kuolema-Gebirges, obwohl die mich dort nicht wirklich mögen. Beruht auch auf Gegenseitigkeit. Die Takuri sind keine Freunde des Eises. Und wir Eis-Dämonen sind keine Freunde von Feuervögeln. Einen gab es mal, den ich mochte. Turr. Nun, eigentlich gibt es ihn immer noch. Er trägt inzwischen einen neuen Namen. Und er erkennt mich nicht mehr. Aber es ist immer noch derselbe Vogel. Irgendwie. Faszinierend. Ich wollte mich von ihm verabschieden.“
Seine Stimme stockte, während er gedankenverloren mit einem schwarzen Pulversack an seinem Gürtel spielte, in welchem etwas knisterte. Warum redete er überhaupt? Und warum so viel? Wollte er seine letzten Stunden des Lebens noch auskosten?
Nachdenklich blickte er in die Ferne. Die rote Sonne ging weit im Westen hinter der endlos scheinenden Steppe unter.
Es wurde dunkel.
„Angst“, flüsterte Nalle leise.
„Oh. Das ist natürlich. Das ist verständlich. Das ist vollkommen in Ordnung“, sagte Ijsdur. „Bald wird sich dein Leben für immer ändern. Aber du wirst nicht mehr leiden. All diese hässlichen Gefühle, die in deinem Kopf herumschwirren, werden sich lindern. Du wirst freier denken können. Du wirst es genießen.“
Nalle grinste schwach: „Du sprichst lustig. Deine Betonung. So altmodisch.“
Dann wurde sie wieder ernst: „Wie ist es? Wie ist es, ein Eis-Dämon zu sein?“
„Willst du es bereits fühlen?“
Ijsdur setzte Nalle sanft ab und zeigte ihr die Kette magischer Kristalle, welche um seinem Hals hing und fest mit seiner Brust verschmolzen war.
„Wenn du willst, kannst du die Eiskristalle anfassen. Sie werden deine Furcht, Sorgen und Schmerzen etwas lindern, wenn das für dich angenehmer ist. Dann weißt du, wie es sich anfühlen wird.“
Nalle überlegte kurz und streckte ihre Hand aus: „Werden die Kristalle auch meine Freude nehmen? Meine Faszination?“
„Sie werden alle gedämpft werden, deine Emotionen“, gab Ijsdur zu, „Doch deine Interessen werden bleiben. Du wirst keine gefühlslose Maschine werden, nur ... kälter.“
„Emotionen sind wichtig“, sprach Nalle fest, „Sie drängen uns zu großen Taten voran und geben uns Kraft.“
Vermutlich hatte ihre Familie ihr dies noch vor Kurzem vorgepredigt. Ijsdur fühlte sich nicht kompetent genug, um sich über den Sinn oder Unsinn von Gefühlen zu unterhalten. Dennoch dachte er laut nach: „Sie mögen uns zu großen Taten antreiben, aber manchmal verschleiern sie auch unsere Sinne und hindern uns daran, unser Potential auszuschöpfen. Wir erkennen sie in anderen Wesen wieder. Und wenn sie gedämpft sind, glauben viele fälschlicherweise, einen nicht mehr zu erkennen. Aber ...“
„Danke für das Angebot, Ijsdur. Doch ich würde lieber noch warten mit der Kette.“
„Das ist auch vollkommen in Ordnung.“
Ijsdur hob Nalle wieder in die Höhe und transportierte sie weiter den Berg hinauf. Sie durchquerten das Felsentor, welches Jahrtausende lang die Eis-Dämonen in ihrem Tal festgehalten hatte. Inzwischen war es schon beinahe ein halbes Jahrtausend lang wieder offen. In dieser Zeit hatte sich das ewige Eis, diese legendäre Eisfläche, aus dem Tal nicht nur bis zum Felsentor hin, sondern auch über das Tor hinweg und ein kleines Stück den Berghang hinunter ausgebreitet.
Ijsdur wollte mehr, als nur das ewige Eis zu berühren. Er wollte nicht riskieren, dass die Weitergabe der Eiskristallkette versagte. Er wollte ins Zentrum des Tals, wo die Kraft des Eises am größten war.
Lange schritten er und Nalle über die Eisfläche zum Mittelpunkt des ewigen Eises. Sie passierten eingeschneite Eissäulen in verschiedensten Formen. Manche sahen gar menschlich aus. Doch gab es kein Leben in ihnen. Sie waren das Werk von vergangenen Eis-Dämonen, welche lange im Ewigen Eis verharrt hatten und verrottet waren. Das Eis hatte sich ihrem stetig schwächer werdenden Willen gebeugt und diese Formen angenommen. Nun zeugten sie nur noch vom wirren Wirken derjenigen, die schon längst vergangen waren. Ijsdur schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Nalle hingegen drückte sich ängstlich tiefer in Ijsdurs schützende Arme.
Trotz der Decke begann sie zu zittern. Das war eigentlich auch gut so. Schließlich musste ihr todkranker Körper erfrieren, damit sie sich bald als unversehrte Eis-Dämonin wieder erheben konnte. Doch fühlte Ijsdur mit ihr und ihrem Leiden in der klirrenden Kälte. Er bot ihr noch einmal an, dass sie seine Eiskristallkette bereits berühren dürfe, um weniger leiden zu müssen.
Nalle blieb eine Zeit lang stumm. Dann fragte sie stattdessen leise: „Magst du... magst du mir eine Geschichte erzählen?“
Ijsdur blieb überrascht stehen.
„Was für eine Geschichte?“
„Irgendeine. Du bist so alt, du musst doch Unmengen kennen.“
„Dem sollte so sein“, sinnierte Ijsdur, „Ich habe unzählige Reiche bereist. Erlebt, wie Kinder und Kindeskinder von Freunden ihre Plätze einnahmen oder ihre eigenen Wege gingen. Ein ganzer Hort von Geschenken und geschichtsträchtigen Gegenständen lagert auf dem höchsten Gipfel des Kuolema-Gebirges, wo ich mir einst eine letzte Behausung suchte, nachdem die Welt sich zu schnell weiterdrehte für mein uraltes Ich. Doch meine Erinnerungen an all die vergangenen Geschichten sind nicht mehr, was sie einst waren. Lass mich meine Gedanken sammeln und eine Erzählung finden, an der du Freude finden könntest.“
„Was ist mit Choranat? Ich habe gehört ...“
„Nicht Choranat“, sprach Ijsdur bestimmt, „Die Geschichte von Choranat ist nichts für Kinderohren. Dieser Bannkreis hat genug Schaden angerichtet.“
Nalle riss ihre Augen interessiert auf: „Oooh, ist das ein Geheimnis? Ich liebe Geheimnisse.“
Ijsdur stolperte. Einer seiner Mundwinkel zuckte. Die erste wirkliche Gesichtsregung, die Nalle in seiner sonst steinernen Miene erkennen konnte. „Du erinnerst mich an jemanden, der ich vor einer langen Zeit kannte.“
Ijsdurs Hand glitt an seinen Gürtel. Er trug nicht viel bei sich – musste er doch im ewigen Eis kaum Nahrung zu sich nehmen und sich auch nicht mit Kleidung vor der Witterung schützen – doch dieser von Runenmustern übersäte Hammer, der an seiner Hüfte hing, war schon seit mehreren Jahrhunderten sein stummer Begleiter.
„Magst du mir von ihm erzählen, an den ich dich erinnere?“, fragte Nalle neugierig.
„Von ihr. Es war eine sie.“
Ijsdur seufzte und begann, zu erzählen. Seine sonst tonlose Stimme wurde weich. Langsam tröpfelten die Worte aus seinem Mund, dann immer schneller, bis er wie ein Wasserfall sprudelte. Er war ungeübt darin, Geschichten zu erzählen. Doch hatte er es einst gerne getan. Er konnte es wieder probieren.
„Diese Geschichte spielt zu einer Zeit, als ich noch ein ganz frischer Eis-Dämon war. Kaum zwei Jahre lang war ich ziellos übers ewige Eis gewandert und hatte mich an meine Existenz gewöhnt. Dann, eines Tages, wurde das uralte Felsentor geöffnet, das das ewige Eis seit Jahrtausenden in unserem schattigen Tal hoch oben im Kuolema-Gebirge festgehalten hatte. Wir Eis-Dämonen konnten erstmals wieder in die weite Welt hinaus reisen. Siantari, die Herrin des ewigen Eises, die uns geschaffen hatte, erlöste uns und ließ uns frei sein. Vergleichsweise frei.
Doch nur wenige Eis-Dämonen waren noch genug bei Verstand nach ihren hunderten von Jahren im Schnee und Eis. Ich glaube, ich war der erste, der die Berghänge heruntertorkelte. Vielleicht auch der einzige.
Jedenfalls stolperte ich, Schnee und Eis hinter mir herziehend, nach Tulgor. Ins Dorf, das einst Ijs‘ Heimat gewesen war.“
Ijsdur stockte kurz und überlegte, wie viel er Nalle zumuten konnte. Er entschloss sich für eine Beschönigung der Geschehnisse. Er musste sie ja nicht anlügen. Nur nicht die ganze Geschichte erzählen.
„Mein Vater – mein leiblicher Vater Saro, nicht der Eis-Dämon, der mir seine Kette übergab – war der erste und einzige Tulgori, der mich wiedererkannte.
Viele Tulgori, vor allem abenteuerlustige Jungen, wagten sich Jahr für Jahr ins Gebirge. Niemand kehrte je wieder, und wenn die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings den Schnee an den felsigen Hängen schmolzen, gab ihnen das Gebirge die Toten zurück. Doch Ijs‘ Körper war nie gefunden worden. Mein Vater und mein Bruder hatten nach mir gesucht und unter großer Trauer die Überreste meiner leichtsinnigen Begleiter gefunden, doch nicht mich. Und so hatten sie stets heimlich gehofft, Ijs könnte irgendwie überlebt haben, ja, einen Weg über das Gebirge gefunden zu haben.
Dem war nicht so.
Und mein Vater Saro war nicht glücklich, als er mich wiedersah. Leblos erschien ich ihm. Er zitterte stets in meiner Nähe. Er kam nicht damit klar, dass überall um mich herum Schneeflocken herumschwirrten, Küche und Schlafzimmer bedeckten. Und als ich ihm sagte, dass ich sein Sohn sei, da spürte ich, dass er mir nicht glaubte. Dass er mich verabscheute.
Da wandte ich mich ab zu gehen. Ich wusste, dass ich eigentlich Trauer, Schmerz oder dergleichen fühlen sollte. Aber in mir war nur eine Kälte. Eine Kälte, die meinen Vater von mir abwandte. Dies war das erste Mal, dass ich mir wünschte, wieder ein Mensch zu sein.
Ich will es nicht beschönigen. Solche Wünsche nach Menschlichkeit wirst du auch von Zeit zu Zeit haben, Nalle. Aber sie werden vorbeigehen. Und vermutlich mit der Zeit immer seltener werden. Im Gegensatz zu meinem Vater wissen die deinen, was dich erwartet. Hoffentlich reagieren sie besser auf dich.
Jedenfalls teilte mein Vater mir mit, dass mein Bruder nicht mehr in Tulgor verweilte. Eforas war gemeinsam mit einigen anderen unter dem Kuolema in Richtung eines fremden Landes namens Andor aufgebrochen. In Richtung des legendären Königreichs, aus dem einst ein gewisser Haamun angereist war, und wohin ein gewisser Barz hatte reisen wollen.
Sie waren erst vor wenigen Tagen aufgebrochen. Da fragte ich mich, ob es vielleicht einen Zusammenhang gab zwischen dem Einsturz des Felsentors und dem Aufbruch der Reisenden. Und ohne besseren Plan für mein zukünftiges Leben, ohne Platz in Tulgor, reiste ich los, ihnen nach, unter dem Berg hindurch. Andor machte mich neugierig. Und vielleicht würde mein Bruder mit mir besser klarkommen als mein Vater. Zu Beginn würde er das zwar nicht tun. Doch mit der Zeit würde er sich lockern.
So unterquerte ich das Kuolema-Gebirge. Ich konnte mich sogar besser durch die labyrinthischen Gänge der Temm orientieren als die Reisengruppe selbst, welche immer wieder in Sackgassen landeten. Ich konnte Abkürzungen finden, ja, mithilfe meiner Eismagie gar eigene Abkürzungen schaffen.
So überholte ich unwissentlich die Reisegruppe von Eforas und Haamun. Und ich erreichte als allererster das fremde Königreich.
Zu einer ähnlichen Zeit – oder vielleicht eher einige Wochen zuvor – war eine gewisse Iril kurz davor gewesen, den Wachsamen Wald zu erreichen.“
„Ist Iril die Person, der einst dein Hammer gehörte?“, unterbrach ihn Nalle.
„Genau so ist es“, lächelte Ijsdur. Er orientiere sich wieder neu und räusperte sich. Dann intonierte er mit klirrender Stimme weiter:
„Das stolze Schiff, die BALENA, glitt über die stürmische See. Sie war von Hadria in See gestochen, hatte Iril und einige Silbergüter der Silberzwerge von Silberland aufgegabelt und hatte inzwischen Werftheim passiert. Die Mannschaft hatte aufgeatmet. Die Windrichtung änderte sich bei den Nebelinseln ständig und nie konnte man vorhersehen, ob das Wetter halten würde. Doch wenn man einmal Werftheim passiert hatte, konnte man so gut wie sicher sein, dass die transportierten Waren ihren Zielhafen bald erreichen konnten. Und was hatten sie nicht alles für Waren geladen! Rindsleder aus Sturmtal, Werkzeuge aus Werftheim, Silberarbeiten aus Silberhall und allerlei ähnliche Produkte, die den Seehandel im und um das Hadrische Meer so lukrativ machten.
Die Wellen des Hadrischen Meeres schlugen gegen einen vollkommen überfüllten Bug. Die Gischt trug Meeressalz und den Geruch nach nassem Holz tief in Irils Nase. Sie prustete.
Am Horizont sah Iril hohe Bäume aufragen. Wie an einen entfernten Schatten erinnerte sie sich an die Silhouetten. Dahinter lag es, das Land ihrer Kindheit. Viele Jahre waren vergangen, seit sie von hier aufgebrochen war. Jahre, in denen sie sich großes Wissen angeeignet hatte. Und nun kehrte sie zurück, um Geheimnisse zu entdecken, derer sie sich jetzt erst gewahr wurde. Doch mit dem Horizont näherten sich auch kalte Zweifel: Würden die anderen Zwerge sie überhaupt willkommen heißen?
Sie hatte damals ihre Familie in Cavern zurückgelassen, ja, sich gar mit ihr zerstritten. Viele der Altvorderen hatten es nicht mit Freude vernommen, dass sich einige Schildzwerge nach der Entdeckung der Silbervorkommen unter dem Silberberg am südlichsten Zipfel Silberlands niedergelassen, die Silbermine Silberhall gegründet und den Silberschild dort oben behalten hatten. Diese Sehnsucht nach Neuem hatte so einige Schildzwerge angesteckt, was von den nicht Sehnsüchtigen nicht mit Wohlwollen quittiert wurde. Schließlich hatte dieselbe Sehnsucht den vorherigen Fürst Hallwort und dessen Gefolge auf Jari Dorrs Handelskogge – möge dieser Dieb in der Unterwelt verrotten – in den Norden gelockt und ihn sein Leben gekostet.
Nichtsdestotrotz hatte Aufbruchsstimmung in der Luft gelegen und in den folgenden Jahren hatten sich viele Schildzwerge aufgemacht, um Hallworts Vorbild zu folgen und sich den Silberzwergen anzuschließen. Manche hatten gar daran geglaubt, dass es sich hierbei um einen göttlichen Fingerzeig gehandelt hätte, der die Zwerge in den Norden riefe.
Iril war aus anderen Gründen nach Silberland gereist. Und nun, Jahrzehnte später, war Iril darauf und daran, ihre alte Heimat wiederzusehen. Nicht nur deswegen ging es ihr gerade speiübel.
Du musst bedenken, Nalle, dass sie eine Zwergin war. Zu meiner Zeit lebten in Tulgor noch keine Zwerge, aber du kennst bestimmt einige, oder?“
Nalle nickte stumm.
„Man möge möglicherweise meinen, dass die Körper von Menschen und Zwergen aufgrund ihres derart ähnlichen Aussehens auch ganz gleich funktionierten, aber dem ist nicht ganz so. Bei Zwergenkörpern geht vieles irgendwie langsamer voran. Sie wachsen und altern in anderem Tempo. Verletzungen heilen gemächlicher. Krankheiten brauchen länger zum Abklingen, aber auch zum Ausbrechen. Die erheblich erhöhte Lebenserwartung im Vergleich zu Menschen ist da keine Überraschung. Manche behaupten, die sturen Zwerge bräuchten auch länger, um aus alten Denkmustern auszubrechen und Neues zu lernen. Und ihre Schwangerschaften dauern signifikant länger und sind seltener.
So ganz nebenbei gesagt, gibt es natürlich auch bei den typischerweise seltenen Schwangerschaften Ausnahmen. Ich kannte da einen gewissen Zwergenfürsten, dessen Eltern über ein Dutzend Kinder in die Welt gesetzt hatten.
Auf jeden Fall dauert bei Zwergen auch der Zyklus signifikant länger und ihre Zeit des Blutes kann besonders heftig sein. Wurde mir gesagt. Erinnerungen daran wurden auch schon direkt mit mir geteilt. Sagen wir einfach, es ging Iril gerade speiübel, während ihr Schiff auf die Küste des Wachsamen Waldes zuhielt.
Geräuschvoll übergab Iril sich über die Reling und warf den sie belustigt begutachtenden Matrosen böse Blicke zu. Zu ihren Krämpfen gesellten sich stechende Kopfschmerzen. In Silberhall hätte Iril frisch gebrauten Mondkrauttee schlucken und ihre Füße hochlegen können. Doch hier, auf diesem Schiff, blieb ihr kaum etwas anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und zu hoffen, dass die Fahrt nach Andor möglichst bald und möglichst ereignislos zu Ende gehe.
Leider war sie nicht so glücklich.
Ein markerschütternder Schrei hallte durch den Wachsamen Wald.“
Nalle blickte Ijsdur erwartungsvoll an. Dieser legte theatralisch den Kopf in den Nacken und schrie in die dunkle Nacht hinaus.
„DRACHEE!“
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Magische Abenteuer lll – Runen im Schnee (1/10)

Beitragvon Butterbrotbär » 30. Oktober 2022, 23:25

„DRACHEE!“
Der verzweifelte Schrei hallte durch den Wachsamen Wald und weit ins Hadrische Meer hinaus. Die Nixen, welche bis eben noch dem Schiff nachgeschwommen waren und der blassen Iril mitleidige Gute-Besserungs-Wünsche zugesprochen hatten, waren auf einmal nirgendwo mehr zu erblicken. Vermutlich hatten sie sich in ihre tief unter der Oberfläche liegenden Behausungen zurückgezogen.
Keine Minute zu früh.
Denn auf einmal waren das Rauschen gewaltiger Schwingen und ein fernes Brüllen zu vernehmen.
„Ein Drache?!“, wiederholte Iril ungläubig, „Einen Drachenangriff gab’s doch nicht mehr seit dem Unterirdischen Krieg! Der ist Jahrhunderte her!“
Damit hatte sie fast recht. Sie konnte das nicht wissen, denn die wenigen, unvollständigen Informationen zum letzten aller Drachen waren verstreut über verbotene Schriftrollen in den Schwarzen Archiven und alte Lieder von Tavernenwirtinnen, die Iril nicht kannte. Doch ein einziger Drache hatte den Unterirdischen Krieg und das nachfolgende Massensterben überlebt.
Tarok. Er hatte sich während Jahrhunderten in seiner Höhle im Grauen Gebirge verschanzt und in unruhigen Träumen seinen Zorn gepflegt. Hin und wieder hatte Tarok nichtsahnende Reisende überfallen, doch seit einem legendären Kampf gegen den zukünftigen König Brandur von Andor hatte er auch das kaum mehr getan. Er hatte sich gefürchtet, geschlafen und gelitten. Während ein, zwei Gelegenheiten, die hier nicht näher behandelt werden sollen, hatte Tarok sich aus unruhigen Träumen reißen lassen und in die Lüfte erhoben, um Feuer und Glut vom Himmel regnen zu lassen und Bewohner der Berge und Steppe an seinem Leid Anteil haben zu lassen. Und um diese widerlichen Krahder in ihre Grenzen zu verwesen.
So kam es, dass hin und wieder in der Bevölkerung das Gerücht umging, dass jemand einen leibhaftigen Drachen gesehen hätte.
Doch davon abgesehen hatte Tarok sich während Jahrzehnten still in seiner Höhle versteckt und Kraft aus Krahal gezogen. Die Schildzwerge und ihre Drachenfallen hatte er gemieden. Brandur hatte er gemieden. Andor hatte er gemieden. Ruhig darauf wartend, dass König Brandur das Zeitliche segnete. Er war ein Drache, theoretisch unsterblich, sofern er nicht dem Fluch des Steins anfiel. Brandur war nur ein Mensch. Mochte die Hexe Reka sein Leben mit Tränkchen und Mitteln unnatürlich in die Länge ziehen: Früher oder später würde die Zeit seinen Erzfeind für ihn erledigen.
Aber das musste nicht heißen, dass Tarok nicht nachhelfen konnte.
Nun war es soweit gewesen. Taroks Kreaturen hatten unter dem Befehl seines Schwarzen Herolds die Rietburg eingenommen und Brandur tödlich verwundet. Während die Helden um die Befreiung der Rietburg gekämpft hatten, war der alte König seinen Verletzungen erlegen. Und Tarok war erwacht. Noch in derselben Stunde hatte er sich aus seiner Knochengrube erhoben und war schnurstracks zum Angriff auf Andor übergegangen.
Auf seinem Weg zur verhassten Rietburg hatte er einen Abstecher zum Baum der Lieder gemacht und die Magie des Landes in sich aufgezogen. Nun, mit erheblich gewachsener Macht, erhob sich der Drache mit mächtigen Flügelschlägen aus dem Wachsamen Wald in die Höhe.
Und wurde unter anderem von einer gefährlich nahe segelnden Handelskogge erspäht.
Iril kniff ihre Augen zusammen. Täuschte sie sich, oder saß tatsächlich ein Reiter auf dem Rücken des Drachen? Zwischen zwei Rückenstacheln eingekeilt, ein langes Schwert hoch in die Luft gereckt, den langen schwarzen Umhang hinter sich flatternd.
Irils Aufmerksamkeit wurde vom mysteriösen Reiter weggerissen, als der Drache sich einmal im Kreis drehte, während er einen gewaltigen Flammenstrahl spie.
Bäume und Büsche entflammten. Beißender Rauch stieg auf vom Wachsamen Wald. Und Iril wurde ihrer prekären Lage gewahr. Sie befand sich auf einem brüchigen Kahn vor einem brennenden Wald, mit einer riesigen Echse hoch über ihr, die sie jeden Augenblick erspähen und für Grillspaß befinden konnte.
„Wir müssen weg von hier, echt schnell!“, rief Kapitän Lunor und kurbelte wild am Steuer herum. Lunor war ein stämmiger, muskulöser Mann, an dessen Körper alle Stellen, deren Anblick man schicklicher Weise Anderen zumuten konnte – und vermutlich auch einige unschickliche Stellen – mit Tätowierungen bedeckt waren. Diese Tradition hatte Kapitän Lunor an seine Mutter angelehnt, der legendären Kapitänin Mondrianne, die der Legende nach einst gar ein Handelsschiff aus Oktohans Schlund gerettet hatte. Im Gegensatz zu Irils Runentattoos hatten Mondriannes und Lunors Tätowierungen eher persönliche als magische Bedeutungen. Und im Gegensatz zu Iril hatten sie keine magische Kraft nötig. Mit purer Muskelkraft zog Lunor am großen Steuer und blinzelte in die Gischt. Die BALENA legte sich gefährlich schief und drehte sich langsam vom Ufer ab, in Richtung des sicheren Nordens. Iril klammerte sich an der Reling fest, um nicht übers Deck zu rutschen. Doch der Wind war nicht mit ihnen. Nur langsam kamen sie voran.
Die meisten Reisenden suchten unter Deck Schutz. Nicht so Iril. Sie öffnete ihre Reisetasche und kramte daraus eine bestimmte kleine Metallscheibe hervor, kaum größer als ihre Handfläche. Es war keine komplexe Runenfolge, die sie jetzt brauchte, aber eine sehr mächtige. Sie griff an ihren Gürtel.
Es fühlte immer noch falsch an, Burmrits Runenhammer selbst zu führen. Sorgfältig strich Iril über die gravierte Oberfläche und über das stumpfe Ende des Hammers. Ein leises Summen ertönte aus seinem metallenen Inneren. Er war bereit, magische Ströme weiterzuleiten. Iril fasste den Runenhammer fest und ließ ihn mit der flachen Seite auf die Runenscheibe niederfahren. Ein Geräusch wie von einem Gong ertönte, gefolgt von einem fernen Donnern. Runenscheibe, Hammer und Irils Augen glühten gelblich auf. Ihr ganzer Körper kribbelte wohlig.
Der Wind nahm zu und bauschte die Segel des kleinen Schiffs. Die BALENA nahm Fahrt auf, so schnell wie möglich weg vom Ufer mit dem wütenden Drachen. Die beiden Seekrieger, die nebst Kapitän Lunor als einzige auf Deck geblieben waren, jubelten und klatschten. Doch dann furchte die eine plötzlich ihre Stirn und schrie an Iril zurück: „Abbremsen! Abbremsen! Da vorne ist der Hirschhuf! Klippe voraus!“
Iril drehte die Runenscheibe in ihren Händen, verzweifelt versuchend, den Wind noch rechtzeitig abzulenken.
Kapitän Lunor drehte ebenso verzweifelt am Steuer und fluchte gegen den aufziehenden Sturm.
Mit voller Fahrt raste das Schiff in die Klippe hinein.
Ein hässliches Knirschen ertönte, als der Rumpf des Schiffes sich öffnete und Wasser hineinströmte.
Mit einem Ruck wurde Iril von der Reling gerissen und taumelte übers Deck.
„Sporndreck!“, fluchte sie. Schuldgefühle übermannten sie. Doch sollte sie sich lieber später damit befassen, wenn sie nicht mehr auf einem sinkenden Schiff stand.
Die Seekriegerin fasste sich als erste und schrie: „Hier sind wir nicht sicher. Wenn ein Drache hier ist, sind seine bösartigen Kreaturen nicht fern! Und das Meer wimmelt nur so von grausamen Meereskreaturen!“
„Wo sollen wir hin?! An Land wütet der Drache!“
Iril warf einen wachsamen Blick ans Land rüber. Der Drache schwebte nicht mehr über dem Wachsamen Wald, sondern hatte sich weiter gen Westen bewegt. Der dunkel gewandte Reiter auf seinem Rücken zeigte mit seinem langen Schwert nach unten. Der lange Hals des Drachen folgte. Und wie ein Seeadler stieß der mächtige Drache auf irgendetwas im Westen herab.
Iril öffnete erneut ihre Reisetasche und zog eine andere Runenscheibe hervor. Diese hier bestand aus einer handgroßen gläsernen Linse, die in einem mit Runen übersäten Steinring eingefasst war. Iril hielt ihren Runenhammer darunter und konzentrierte sich. Licht strömte hervor, schillerte in allen Regenbogenfarben und ließ in der Runenlinse ein verzerrtes, bewegtes Bild erscheinen.
Iril blickte aus der Vogelperspektive auf das Geschehen herab. Ein großer Schatten fiel auf das Rietland. Das goldene Rietgras zerfiel unter einem Flammenstrahl zu schwarzer Asche. Der Drache stieß auf einen alten Wachturm hinab.
Iril kniff ihre Augen zusammen und versuchte, in der Schemen dieser Runenscheibe mehr Einzelheiten zu erkennen.
Das Gemäuer, das sie erblickte, musste der legendäre alte Wehrturm sein. Vor Urzeiten war er einst von den Schildzwergen erbaut worden, doch seitdem er einst in einem Kampf gegen einen riesigen Trollfürsten eingerissen worden war, munkelte man, dass ein Fluch auf ihm läge. Schon so oft hatte jemand versucht, ihn wieder aufzubauen, und so oft war jemand daran gescheitert. Jetzt stand der Turm wieder. Vermutlich hatten mutige Andori ihre Kämpfer mit dem Wiederaufbau des Turms unterstützt, so gut es ging. Iril wäre jede Wette eingegangen, dass er in einigen Monaten schon wieder eine Ruine wäre.
Iril konzentrierte sich stärker. Das magische Bild innerhalb der Runenlinse zoomte hinein und verdeutlichte sich.
Vor dem Wehrturm hatte sich eine Gruppe Krieger zusammengeschart. Kleine Gestalten umringten einen Reiter auf einem schwarzen Pferd. Sie flohen nicht, sondern schienen ihre Waffen bereitzuhalten. Ganz oben auf dem Wehrturm hatte sich gar ein Bogenschütze eingerichtet und verschoss wirkungslos Pfeile auf den auf sie zustürzenden Drachen.
Tapfere Idioten.
Schade um sie.
Der verzerrte Drache in der Runenscheiben-Vision riss seinen Mund zu einem Schrei auf. Kurz darauf schallte ein leises Echo seines animalischen Schlachtrufes an Irils Ohren.
Sie zuckte zusammen, als Kapitän Lunor direkt neben ihr zu erkennen gab, dass er die Scheibe ebenfalls beobachtet hatte. Laut rief er: „Der Drache ist abgelenkt. Das Risiko an Land ist echt geringer, als wenn wir im sinkenden Schiff bleiben. Hier sind wir wie ein Signalfeuer für Nerax. Und für Schlimmeres. Echt, wir müssen an Land rüber. Macht euch bereit“
Mit Blick auf Iril fügte er an: „Kannst du schwimmen?!“ Iril nickte hastig. Technisch gesehen konnte sie schwimmen. Sie hatte es nur schon lange nicht mehr getan. So schwer konnte es ja nicht sein, sich an die Züge zu erinnern.
Während Lunor unter Deck rannte und seine kleine Tochter an Bord rettete, packte Iril ihre Runenscheibe zurück in ihre luftdicht verschließende Tasche und setzte an, ihre Schuhe und sonstige schwere Kleidung zurückzulassen. Da tauchten plötzlich zwei Nixen vor ihr aus dem Wasser auf. Sie blubberten und heulten etwas. Unter Wasser hätte es bestimmt schön geklungen und der Klang wäre weit gedrungen, doch hier, bei der Geräuschkulisse eines Drachenkampfs im fernen Hintergrund, hätte Iril sie wohl nicht einmal verstanden, wenn sie Nixisch sprechen könnte.
Natürlich gäbe es entsprechende Runentattoos, die Iril aktivieren könnte, um die Nixen zu verstehen. Magie war ein wundervolles Allzweckmittel, mithilfe dessen man überraschend schnell Strukturen in gesprochenen Worten erkennen und fremde Sprachen entschlüsseln konnte. Doch soweit musste Iril gar nicht greifen. Die freundlich lächelnden Gesichter der Nixen waren verständlich genug, sodass Iril sich die Bedeutung der fremden Worte vorstellen konnte. „Wir können euch helfen“, sagten sie leise.
Die beiden Seekrieger schlugen das Angebot der Nixen zugunsten weniger schwimmfähiger Passagiere aus und sprangen elegant ins Meer. Es geschah nicht selten, dass ein Schiff in einen Sturm geriet (oder schlimmeres) und seine Passagiere dann irgendwo an Land gespült wurde. Seekrieger mussten das Schwimmen beherrschen, und ihre Schulterplatten waren aus leichtem, auftreibendem Material statt schwerem Metall. Kompliziert war vielmehr, dass der eine Seekrieger während der Überfahrt einen strampelnden Streifenmarder an sich drückte und über Wasser zu halten versuchte[1]. Aber das Schiffsmaskottchen zurückzulassen kam nicht in Frage.
Lunor weigerte sich, seiner Tochter einer Nixe zu übergeben. „Ich habe echt schon seit meiner Kindheit der See getrotzt! Ich kümmere mich selbst um die Sicherheit meines Töchterleins.“
Er führte seine Tochter sanft in die wogende See und schwamm mit kräftigen Zügen in Richtung Ufer.
Die restlichen Passagiere ließen sich bereitwillig von den Nixen an Land bringen. Iril beobachtete, wie die zwei Seekrieger ans stürmische Ufer traten und sofort ihre langen Naginata bereithielten, als würden diese Stangenwaffen etwas gegen einen angreifenden Drachen ausrichten können.
Dann war Iril an der Reihe. Das Wasser des Hadrischen Meers war kühl und stürmisch. Salz ließ Irils Augen brennen, während sie sich verzweifelt an den glitschigen Körper ihrer Nixe zu klammern versuchte. Sie hustete und prustete und schluckte Seetang. Dann war es vorbei.
Iril schleppte sich an Land und ließ sich aufs sandige Ufer sinken
So hatte sie sich ihre Rückkehr nach Andor nicht vorgestellt.
„Danke.“
Die Nixe blubberte ihr eine unverständliche Abschiedsnachricht zu und sprang dann zurück in die tosende See, um weitere Reisende aus dem Wrack zu retten. Iril wrang ihre nassen Haare aus und betrachtete das Schiffswrack auf dem Hirschhuf, der Klippe vor dem Wachsamen Wald. Sie versuchte nicht an die vielen Waren zu denken, welche nun dort nun entweder verrotten oder von Meereskreaturen gestohlen werden würden. Immerhin waren alle Schiffsbrüchigen in Sicherheit.
Da ertönte ein Schrei direkt neben ihr. Sie wirbelte herum. Kapitän Lunor saß klitschnass neben seiner Tochter. Selbige lag zusammengesunken im seichten Ufergebiet und rang erfolglos nach Luft. Wasser strömte aus ihren Augen und ihrem Mund. Lunor schüttelte seine Tochter panisch. Das half natürlich nicht.
„Lasst mich!“, rief Iril. Sie kniete sich hastig neben die Kleine. Der Runenhammer glitt zu Boden. Iril öffnete ihre Reisetasche und durchsuchte ihre Vorräte an kleinen metallenen Scheiben. Manche Runenfolge war so vielseitig nützlich, dass sie sie permanent auf einer ihrer Scheiben eingraviert hatte und mit sich führte. Iril fand die gesuchte Scheibe, hob sie in die Höhe und ließ sie mit aller Macht auf ihren Runenhammer donnern. Die Scheibe flackerte bläulich auf. Dünne Linien darauf begannen zu schimmern und verschmolzen rasch zu Symbolen. Die Scheibe wurde warm. Ebenso pulsierten Irils Augen und der Runenhammer in blauen Tönen. Ihre gesamte Haut kitzelte wohlig.
Der Sturmwind ebbte ab.
Überall um Iril herum stiegen Wassertropfen aus dem matschigen Boden in die Höhe. Iril selbst fühlte ebenfalls den vertrauten Zug des Wassers in ihrem Körper, auch wenn sie selbst natürlich zu schwer war, um davon in die Höhe gehoben zu werden. Iril bewegte die leuchtende Runenscheibe zur hustenden Tochter und zog sie langsam von ihrem Magen bis zu ihrem Gesicht. Weitere Wasserschwalle brachen aus der Kleinen hervor und sammelten sich als wabbelige Wassermasse um die Schiebe. Ihr Gesicht rot an, ebenso Irils Hand, die die Scheibe hielt. Dann erbrach sich die Kleine und sank schwach in die Arme ihres Vaters. Angeschlagen, doch wieder angemessen atmend.
„Danke. Echt“, hauchte Lunor, seine Tochter eng umarmend.
„Kein Problem. Wasserrunen sind meine Spezialität. Könnte mit der Hintergrundgeschichte dieses Hammers zusammenhänge ... aber nein, die ist jetzt nicht wichtig“, murmelte Iril. Sie tippte so rasch wie möglich auf die Scheibe und brach den Anziehungseffekt ab, ehe sie aus Versehen die Kotze der Kleinen ansaugte.
Erst jetzt konnte Iril sich wirklich auf die Umgebung konzentrieren. Die Nixen hatten sie zu den Anlegestegen der Bewahrer gebracht. An diesem Hafen wurde sonst oft emsig gehandelt. Nicht so heute.
„Hierher. Da lodert es!“
„Eimerkette bilden! Dalli, dalli, der Wald wartet nicht!“
Waldbewohner eilen umher und versuchen, die Brände im Wachsamen Wald einzudämmen.
Der über die restlichen Bäume hinausragende Wipfel des gewaltigen Baums der Lieder war angekokelt. Löschfässer wurden von seinen obersten Ästen gelöst und verschwanden hinter den tiefer liegenden Baumwipfeln, gefolgt von Platschgeräuschen.
Einige Bogenschützen in der Kleidung der Farbe des Sommerlaubes erreichten die leeren Anlegestege. Manche hielten Bögen im Anschlag, andere trugen große Rucksäcke. Sie begleiteten weitere Bewahrer in grauen Gewändern. Ein Bewahrer, in ein weißes Kleid gekleidet, rollte auf einem hölzernen Stuhl mit breiten Rädern an der Seite über den Waldpfad zum Hafen und balancierte mühevoll einen Stapel breiter Bücher und Schriftrollen-Kisten auf seinem Schoß, so hoch, dass er selbst kaum darüber hinwegblicken konnte. Sein kleiner Kopf guckte auf der Seite des Bücherstapels hervor und sank enttäuscht, als er den leeren Hafen erblickte.
„Was nun, Hoher Priester Tion?“, fragte ihn eine Begleiterin.
Tion kratzte sich am Bart. „Unschön. Wenn in den nächsten Tagen keine Schiffe von hier abfahren, müssen wir umgehend kehrt machen und anderswo Asyl suchen. In die Tiefen Caverns oder in die Lande der wilden Völker des Ostens. Nur weit weg vom wütenden Drachen.“
Iril sollte später herausfinden, dass die Bewahrer hier am Hafen auf Boote gehofft hatten. Der oberste Priester der Bewahrer hatte sie weise aufgefordert, das Land zu verlassen. Sie hatten den Auftrag, so viele Pergamente wie möglich vom Baum der Lieder mitzunehmen und nach Sturmtal aufzubrechen. Von dort sollten sie ein Schiff nehmen und weit, weit fortsegeln. Denn Tarok, der Drache, würde den Baum der Lieder bestimmt nicht verschonen, wenn er erst einmal die Rietburg dem Erdboden gleichgemacht hatte.
Und nun lagen nicht einmal mehr Boote zum Fliehen an den Stegen.
Die Bewahrer waren nicht als einzige über die fehlenden Schiffe im Hafen enttäuscht. Garz, ein im gesamten Norden berühmt-berüchtigter Handelszwerg mit einem komödiantisch dicken Rucksack auf dem Rucksack, blickte fassungslos den leeren Steg entlang und murmelte: „Mein Schiff nach Hadria sollte doch schon längst hier am Hafen vor Anker liegen. Bei allen Kreaturen der Tiefe, wo ist mein Schiff nach Hadria?!“
„Auf der Klippe liegt es. Ein Wrack ist es geworden!“, sprach Kapitän Lunor missmutig, immer noch seine Tochter umarmend, „Und es war nicht mal mein eigenes Schiff. Syenna wird mich umbringen.“
Das holte Iril in den Moment zurück.
„Verzeiht mir. Das ist alles meine Schuld“, sprach sie hastig, „Ich weiß nicht, wie ich dafür aufkommen soll. Ich bin nicht reich, habe aber noch einige Goldmünzen ...“
„Nein“, widersprach Lunor, „Es mag dein magischer Wind gewesen sein, der uns auf den Hirschhuf auflaufen ließ. Aber es war auch mein Segel. Und mein Steuer. Ich werde dafür geradestehen. Du hast meine Tochter gerettet. Ich würde sagen, wir sind echt mehr als quitt.“
Iril nickte, doch das Schuldgefühl in ihrem Inneren ließ sie nicht los. Sie war es gewesen, die Lunors Tochter überhaupt erst in Gefahr gebracht hatte. Niemand hätte ihr verziehen, wenn die Kleine ihr Leben verloren hätte.
„Hört ihr das auch?“, unterbrach sie der eine Seekrieger, der immer noch seinen tropfnassen Streifenmarder an sich drückte und streichelte.
„Was meinst du, Stinner?“, fragte die andere Seekriegerin, „Ich höre nichts.“
„Eben.“
Bislang war die ganze Zeit wie in weiter Ferne ein Echo zu vernehmen gewesen. Ein Brüllen und Fauchen, das den Boden leicht erzittern ließ. Der Lärm eines Drachenkampfs. Doch nun war es plötzlich still geworden.
Einen Augenblick lang standen alle Anwesenden wie erstarrt da.
Urplötzlich rumpelte die Erde. Heftig. Vögel stiegen von den Bäumen auf. Laub, Äste, Eichhörnchen und kletternde Streifenmarder wurden gleichermaßen zu Boden geworfen. Sturmwellen platschten mannshoch ans Ufer. In der Ferne hörte man Felsen bersten und Lawinen krachen.
Dann war das Erdbeben auch schon wieder vorbei. Der Wachsame Wald lag wieder ruhig da. Und dennoch konnte Iril das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas grundlegend anders war als noch vor wenigen Minuten.
„Was war das? Seht ihr irgendetwas?“, rief eine Bewahrerin zwei anderen zu, welche mit Ferngläsern in den Himmel starrten.
„Kein Drache in Sicht“, kam die Antwort.
„Ich glaube echt, der Drache ist tot!“, jubelte Lunor ein wenig optimistisch. Die Seekrieger stimmten mit ein. Die Bewahrer vom Baum der Lieder schienen noch skeptisch.
Der Hohe Bewahrer Tion gab den Befehl, man solle ihn und die wertvollen Schriften zurück zum Baum der Lieder befördern. Hier am Hafen waren sie nur ein Ziel für Kreaturen. Und hoffentlich würde bald schon ein Falke mit Neuigkeiten eintreffen.
Iril schloss sich ihnen an.
Sie bot Tion auch an, einen Teil seines gewaltigen Bücherstapels abzunehmen, doch der Hohe Bewahrer winkte entschieden ab. Die Schriften wären sowohl sehr wertvoll als auch potenziell gefährlich und sollten somit lieber nicht von einer dahergelaufenen Kriegerin transportiert werden. Iril versuchte, das nicht persönlich zu nehmen.
Als Tion dann allerdings über eine zu große Astwurzel rollte und sein Schriftenstapel beinahe in sich zusammenfiel, konnte er sich immerhin dazu herablassen, Iril die oberste Schachtel voller Schriftrollen tragen zu lassen.
So reiste die Truppe weiter zum Baum der Lieder.

***

Ein riesiger schwarzer Fleck zeigte an, wo unlängst ein gewaltiger Drache auf dem Baum der Lieder gesessen und den uralten Mammutbaum mit Klauen bearbeitet hatte.
Die Lichtung war übersät von angekokelten Riesenästen und den Leichen von Menschen und Zwergen, Gors und Skralen. Die sonst rötlich-pink schimmernden Schuppen der Kreaturen waren von schwarzen Spuren übersät und die sonst weißen Augen schimmerten tiefschwarz. Hatte der Drache sie mit einem dunkelmagischen Blitz gestärkt?
Auch wenn die aktuelle Gefahr durch das Feuer gebannt sein mochte, herrschte an der Lichtung wie am Hafen emsiges Treiben. Lösch- und Bergungsaktionen wurden durchgeführt. Verletzte sammelten sich an feuchten Stellen und blickten furchtsam in den Himmel.
„Doro, überprüfe bitte, ob bereits Falken eingetroffen sind“, sprach der Hohe Bewahrer Tion zu einer seiner Begleiterinnen, kaum hatten sie den Rand des Dorfes erreicht. „Und magst du auch noch beim Ausguck nach Neuigkeiten vorbeischauen?“
„Bis ganz nach oben?! Oh, Mutter, wie ich mir wünschte, dass es Abkürzungen für so etwas gäbe“, sprach Doro, eilte dann jedoch folgsam davon. Tion drehte sich um, wies einen hammerschwingenden Begleiter auf einen seiner Meinung nach höchst einsturzgefährdeten Ast hin und sprach weiter: „Und Giftknödel, kannst du bitte ... Giftknödel, wo steckst du?!“
Der angesprochene junge Bewahrer eilte zu Tion, um weitere Anweisungen entgegenzunehmen. Allzu dringlich konnten sie jedoch nicht sein. Denn anstatt fortzueilen, nickte Giftknödel nur und kehrte danach wieder an Irils Seite zurück. Er warf weitere interessierte Blicke auf Irils leuchtenden Hammer, wie er es schon auf dem ganzen Weg zum Baum der Lieder getan hatte.
„Das ist ein Runenhammer“, meldete Iril kurz angebunden, „Der Runenhammer von Golja.“
„Runenmagie?“
„Genau! Ihr Bewahrer wisst bestimmt so einiges darüber.“
„Aber nicht über einen solchen Hammer. Die Lücken in unseren Archiven schrumpfen stetig und werden doch nicht weniger. Welch mannigfaltige Fähigkeiten verleiht der Hammer dir?“
„Ich habe lange studiert, um verschiedenste Aspekte der Macht der Runen zu meistern. Der Hammer ist nur ein kleiner Teil davon.“
„Noch bin ich nur ein Novize, doch bald, in weniger als zwei Jahren, werde ich ein vollwertiger Adept des Bewahrerordens werden und mitbestimmen dürfen, welche Berichte ich verfolgen will. Darf ich dich dann aufsuchen und mehr erfahren, eine Lücke unserer Legenden schließen?“
„Wenn du mich dann noch findest, dann sicher.“
„Wo dürfte ich dich denn erwarten?“
„Wenn ich das wüsste. Meine Zukunft ist ungewiss. Cavern. Andor. Irgendwo, wo man mich brauchen kann.“
„Das engt es nicht wirklich ein.“
„Das ist wohl wahr. Vielleicht halte ich einfach nach dir Ausschau, wenn es mich in Zukunft wieder an den Baum der Lieder lenken sollte.“
Die beiden wurden vom emsigen Geschehen auf der Lichtung abgelenkt.
Eine krächzende Stimme tönte über das Stimmengewirr hinaus. „Trinkt das. Der Schleim mag euch grausen, im Nachhinein werdet ihr mir aber danken. Nein, Larissa, jetzt vergeuden wir unsere Zeit sicher nicht damit, übers Geld zu sprechen. Die Verletzten brauchen eine Heilerin.“ Die Urheberin dieser Worte, eine grau gewandte Bucklige, eilte im Dorf umher und verteilte orange leuchtende Tränke, die gegen die Hitze helfen sollen. Auch wenn sie scheußlich schmeckten und ihre Konsistenz an schleimigen Schaum erinnerte, sollte man sie so rasch wie möglich runterschlucken. Eine Bewahrerin in einem langen weißen Gewand – Heilerin Larissa – eilte der Alten hinterher und zischte etwas über zu hohe Preise.
Dann erklang Geschrei aus dem Unterholz. Ein Flötenspieler, dessen verschmutzte Kleidung mit einem hübschen Rautenmuster überdeckt war, unterhielt sich ein wenig abseits im Unterholz aufgebracht mit einer blauhäutigen Kapuzengestalt mit Augenbinde. Gerade intonierte der mutmaßliche Barde: „... lügnerischer Habicht, du, der mir die Sonne vom Himmel zu holen versprach, wenn ich nur deinen Wünschen Folge leiste. Worin auch immer deine weiteren Pläne bestehen mögen, zähle mich absent von ihnen, du kleingeistiger Scharlatan niederster Sorte!“
Die erheblich leiser gesprochene Antwort des Blinden entging Iril, denn in diesem Augenblick kehrte auch schon wieder die von Tion ausgesandte Bewahrerin zurück, ein weiteres Ordensmitglied im Schlepptau. Jenes versuchte vergeblich, eine goldene Mitte zu finden zwischen dem möglichst raschen Laufen zu Tion und der Schonung eines jungen Falken in seinen Armen.
„Keine Neuigkeit von der Rietburg. Gända meldet sich nicht. Tapta meint, dass der einzige kürzlich eingetroffene Falke aus dem Osten kam und keine Nachricht, sondern bloß einen angeknacksten Flügel mit sich mitbrachte.“
„So ist es“, bestätigte Tapta, weiterhin den angeschlagenen Falken stützend, „Keine neue Nachricht über den Drachenangriff oder dieses Erdbeben. Keine Informationen von Gända. Immerhin hat der Ausguck seit letzterem keinen fliegenden Drachen mehr erblickt. Doch muss das nichts heißen. Wir können mit den besten Fernrohren nicht ins Rietland blicken. Der Nebel steht heute hoch über den Wipfeln des Wachsamen Waldes. Es könnte weiterhin weise zu sein, unsere wichtigsten Schriften in Sicherheit zu bringen.“
Dann fiel sein Blick auf Giftknödel, und er führte an: „Aber zumindest steht dein Feigenbaum noch, Phlegon. Kein Funken hat ihn erreicht!“
„Immerhin so viel“, entspannte sich Giftknödel, „Dann darf ich wohl annehmen, dass es um unsere Familie und Freunde auch nicht schlechter steht?“
Tapta nickte. Die zwei jungen Bewahrer schienen weitersprechen zu wollen, doch verstummten sie.
Stille breitete sich allgemein auf der Lichtung vor dem Baum der Lieder aus, als eine herrische Gestalt durch die Portale des Baums trat.
Gekleidet war der Priester in ein edles weißes Gewand mit goldenen Verzierungen, welches einige Rußflecken trug. Die langen braunen Haare trug er offen und waren wild zerzaust. Nichtsdestotrotz strahlte er eine ehrwürdige Aura aus.
Iril hatte schon von ihm gehört.
Der Oberste Priester Melkart.
Der Anführer des Bewahrerordens ließ eine Versammlung einberufen. Als erstes machte er sich daran, zwei Mitglieder seines Ordens zu finden, welche mutig genug waren, ins möglicherweise drachenverseuchte Rietland aufzubrechen.
Eigentlich verließen die Bewahrer so selten wie möglich den grünen Radius, sondern warteten darauf, dass Besucher aus der Umgebung ihre Berichte hierherbrachten. Dies war eine Ausnahme. Ein Drachenangriff war ein unglaublich ungewöhnliches Ereignis. Wieder einmal hatte die Geschichte Andors einen Wendepunkt erreicht. Und es war die Aufgabe der Bewahrer, diese Geschehnisse niederzuschreiben. Damit große Geschichten nicht zu Verschollenen Legenden wurde. Melkart wollte das Risiko nicht eingehen, Berichte aus erster Hand zu verpassen, weil Verletzte bald aus dieser Welt scheiden könnten.
So erlaubte der Oberste Priester zwei jungen Bewahrerinnen, zwei fortgeschrittenen Adeptinnen des Bewahrerordens namens Sanja und Jorna, den grünen Radius zu verlassen. Aufgeregt reisten die beiden bald los. Sie sollten in den Westen aufbrechen und herausfinden, ob der Drache tatsächlich gefallen war. Falls dem so sei, sollen sie Berichte der Überlebenden zu sammeln. Falls nicht ... möge die Mutter ihnen gnädig sein.

***

Sanja und Jornas Ziel, das westliche Rietland, war nicht Irils Ziel. Der Pfad unserer Runenmeisterin führte sie weiter nach Cavern. Dorthin hatte sie eigentlich schon von Beginn an aufbrechen wollen.
Auf dem Weg durch den Wald bis zum nördlichen Mineneingang wurde sie von mehreren Falken überflogen. Die Nachrichtenvögel verbreiteten unzweifelhaft Nachrichten über die aktuelle Lage. Iril wünschte sich, sie zu lesen.
Der nördliche Mineneingang wirkte noch unversehrt. Einzig die große Tanne, deren tief hängende Äste die Pforte verbergen sollte, war ein wenig angekokelt.
Zwei gut gerüstete Zwergenwachen standen davor und schienen ihre Gedanken gerade woanders zu haben. Anstatt ihre Waffen zu heben und Iril nach ihrem Belang fragten, blickten sie wie erstarrt in die Ferne. Der eine, mit einem helleren Hautton, streichelte gedankenverloren eine elegante Eule auf seinem Arm.
„Werte Wachen!“, rief Iril beim Nähertreten, „Mein Name ist Iril von Silberhall, und ich bin hier ...“
„Keine Zeit für lange Vorstellungen. Ich bin Bort“, unterbrach sie der eulenlose Wächter, und zeigte auf seinen eulentragenden Kumpanen, „Und der hier ist Mart. Sprecht, habt Ihr Neuigkeiten vernommen?“
„Ich sah den Drachen aufsteigen und über dem alten Wehrturm niedergehen. Das ist alles.“
Bort ließ seinen Kopf sinken.
„Was ist überhaupt los? Wie ist es möglich, dass nach all dieser Zeit ein Dr...“, setzte Iril an.
„Der König der Andori ist tot“, sprach Mart niedergeschlagen, ohne Iril ausreden zu lassen. „Die Lage ist ernst. Der Prinz von Andor wurde verschleppt. Die Rietburg wurde angegriffen und eingenommen, während die Helden von Andor sich hier in unserer Mine um die Bedürfnisse unseres Fürsten kümmerten. Während die Helden schon wieder den Dunklen Magier aus unserer Mine vertreiben mussten, als wären wir Schildzwerge nicht mehr in der Lage, unsere heiligen Hallen zu Beschützen. Es ist eine Schande. Bei Boords Bart, ich mache mir solche Sorgen.“
„Sei beruhigt, dieser Drache kriegt uns schon nicht klein“, grinste Bort schwach, „Und ganz allein waren die Helden ja auch nicht. Manche unseres Volkes haben bei der Befreiung der Mine und nun auch bei der Befreiung der Rietburg geholfen. Wie schon beim ersten Mal, als die Rietburg erobert wurde. Deine Schwester ist dabei. Brolaf ist ausgerückt. Und natürlich der heroische Kram. Ich hoffe, dass es ihnen gut geht. Nein, ich glaube sogar, dass es ihnen gut geht.“
Mart nickte bedrückt und sah alles andere als überzeugt aus. Bort umarmte ihn beruhigend und streichelte Marts Haarschopf. Iril beachteten die beiden nicht weiter. So viel zu den berüchtigten Sicherheitskontrollen der Schildzwerge. Aber angesichts der aktuellen Umstände war das durchaus zu verstehen, dass sie nicht jeden durchreisenden Zwerg filzten.

***

Iril zog es weiter ins Innere der Mine. Mancherorts herrschte Chaos. Zwerge rannten herum, manche kampfbereit, andere im Nachthemd, als hätte sie das Erdbeben direkt aus ihren Schlafgemächern gerissen. Ein übellauniger Zwerg mit rostbraunem Schnurrbart fluchte beim eingestürzten Tiefen Markt über frische Risse an der Stollendecke. Eine stämmige Kriegerin mit einer unpraktisch großen Kampfaxt und golden glänzenden Zwergenstiefeln raste an Iril vorbei, dicht gefolgt von einigen Zwergenkindern, die sie prompt in eine sichere Nische eines Höhlengangs scheuchte. Zwerge rasten hin und her, begutachteten die Schäden des Bebens und stützten Gänge mit komplizierten Metallstützen ab.
Keiner achtete auf Iril.
Einmal trampelte gar eine Gruppe Gors an ihr vorbei, ohne sich um sie zu kümmern, weitergescheucht durch einen Skral mit einer Augenklappe. Iril langte nach ihrem Hammer, doch der Skral warf ihr kaum mehr als einen raschen Blick zu, ehe er etwas in seiner Sprache fluchte und wieder davonsprang. Nichts außer der Gestank nach Blut und Fäulnis verriet, dass sie hier gewesen waren.
Eine elegante Eule überholte Iril auf ihrem Weg tiefer in die Minen. An ihrem Bein hing eine Nachricht. Neue Neuigkeiten der Wächter Bort und Mart? Ob der Drache wohl wirklich gefallen war?
Iril führte noch einige Handvoll getrockneter Algen aus der Zucht Silberhalls in ihrer zum Glück wassersicheren Reisetasche mit sich. Sie pflanzte sich in eine steinerne Nische, belegte ein Stück würziges Silberbrot mit den Algen und bedachte mampfend ihre nächsten Schritte, während sie ihren krampfenden Bauch zu ignorieren versuchte.
Ihr ursprünglicher Plan hatte schlicht darin bestanden, nach Cavern zurückzukehren, den Kontakt mit ihren Freunden oder ihrer Familie wieder aufzunehmen und dann weiterzugucken, was aus ihrem weiteren Leben werden sollte. Viele Geheimnisse der Runen hatte sie im Norden gelüftet und die erworbenen Fähigkeiten in Silberhall bereits zur Genüge einsetzen können. Doch hatte sie es als moralische Pflicht empfunden, nicht nur ihre außergewöhnlichen Kenntnisse zu mehren und die silberzwergischen Kenntnisse über die Runenmagie weiterzubringen. Nun war die Zeit für einen neuen Lebensabschnitt gekommen. Einen Neuanfang. Nun, wo Irils Runenmeisterin verstorben war und ihr ihren unbezahlbaren Runenhammer vermacht hatte. Nun, wo Iril vernommen hatte, wie in Cavern unzählige Kreaturen ihr Unheil suchten und sich ein Dunkler Magier hier versteckt hatte – gar zweimal in dem letzten Halbdutzend Jahren – hatte sie gedacht, dass ihre Hilfe hier nötiger war als im Norden. Diese Meinung hatten nicht viele geteilt. Und so hatte sie sich schweren Herzens von ihren Freunden bei den Silberzwergen getrennt und war auf Lunors Schiff, der BALENA, in den Süden gestochen.
Jetzt, wo sie hier war, schien es gar möglich, dass die Bewohner des Rietlands ihre Hilfe nötiger hatten als die Schildzwerge. Doch noch bestand ihre erste Priorität darin, Bekannte zu finden. Und dies stellte sich als schwerer hinaus als gedacht.
Iril suchte die Behausungen ihrer Familie nahe der Tiefminen auf. Schon dies kostete sie einige Zeit, denn sie war das Orientieren in diesen teils engen, verwinkelten Gängen nicht mehr gewohnt. In Silberhall waren die Gänge breit, rechtwinklig und blankpoliert. Hier in Cavern, insbesondere vor den Tiefminen, waren die Gänge eng, unförmig und von Ruß überzogen. Auch hier wuselte es nur so von Zwergen, die einander mit Reparaturen aushalfen und die wildesten Gerüchte über die Geschehnisse der Außenwelt herumsprachen. Niemand erkannte Iril, ja, niemand schien überhaupt ihren Namen oder die ihrer Familie zu erkennen. Oder sie wollten sich gerade einfach nicht die Mühe machen, darüber nachzudenken, wo es dringlichere Angelegenheiten hab.
Iril bedauerte wieder einmal ihre Entscheidung, mit ihrer Familie zu brechen. Sie hatten einander nicht mehr viel zu sagen gehabt nach ihren vielen Streiten über Silberhall und die Zukunft des Zwergenreichs. Was hatten sie auch so stur sein müssen! Iril war kein Kind mehr gewesen. Sie hatte ein Recht darauf gehabt, ihren eigenen Pfad einzuschlagen. Die Tiefminen hinter sich zu lassen.
Und nun war sie wieder zurück. Iril hatte die Höhle erreicht, in der sie ihre Kindheit lang gelebt hatte. Der Eingang war von einer schweren Steintür verschlossen, die mit massiven Metallbeschlägen verziert war. Dank eines ausgeklügelten Systems konnte man die schwere Tür dennoch ganz sachte beiseiteschieben. Sofern man den richtigen Schlüssel besaß. Iril tat das nicht. Sanft fuhr sie mit ihrer Hand über die rußige Tür und schluckte einen Kloß in ihrer Kehle herunter.
„Verlaufen?“, fragte eine heisere Stimme hinter ihr. Die Stimme gehörte zu einem Zwerg mit angegrautem blondem Haar, der achtsam einen großen Kessel mit irgendeiner köstlich dampfenden Suppe auf den Boden stellte. Er trug einen Schulterpanzer mit einem schwarzen Zwergenseil darüber. Dies wies ihn als Tiefminen-Arbeiter aus. Er war einer der Entbehrlichen, die für die hohen Fürsten Edelsteine aus den feurig heißen Untiefen der Erde bergen „durften“. Kam ja nicht in Frage, dass ein hochwohlgeborener Schildzwerg mit einer langen Ahnenlinie sein Leben in den brüchigen Lebensadern Caverns aufs Spiel setzte.
Solche Ungerechtigkeiten gab es in Silberhall nicht. Zumindest noch nicht. Die Mine war nicht alt genug, als dass sich Zwerge mit langen Ahnenlinien darauf beruhen könnten und verlangen, dass ihre Untertanen ihnen mehr Reichtum verschafften.
„Hast du dich verlaufen?“, wiederholte der Zwerg etwas lauter.
Iril zuckte zusammen. „Verzeiht, ich wollte nicht stören. Wohnt Ihr hier?“
„Nein, nein, wir wohnen zwei Gänge weiter in Richtung Tiefe“, winkte der Zwerg lächelnd ab, „Aber ich kenne die Familie, die hier haust. Und du siehst ein wenig verloren aus, wenn ich das anmerken darf.“
„Dem ist wohl so. Ich bin Iril. Ich liebte hier einmal, Jahrzehnte ist es her.“
„Drak. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Wenn du hier wohntest, dann hast du früher einmal in den Tiefminen gearbeitet, nicht wahr?“
„So ist es. Wie wohl alle aus meiner Ahnenlinie.“
„Na, na, wir Zwerge sind auch erst von irgendwoher nach Cavern gezogen. Sag, bist du vor oder nach der Ankunft der Flüchtigen aus Krahd von hier weggezogen?“
„Nachher. Silberhall gab es bei der Ankunft der Andori ja noch gar nicht.“
„Ah, du bist eine derjenigen, die sich von Silberlands Versprechen verlocken ließen?“ Drak verzog sein runzeliges Gesicht kurz.
„Schuldig im Sinne der Anklage. Doch nahm mein Leben in Silberhall eine andere Richtung, als ich ursprünglich gedacht hatte.“
Irils Hand ruhte auf ihrem Runenhammer. Drak zuckte er mit den Schultern und meinte: „Tja, was geschehen ist, ist geschehen. Wenn du vor der Gründung Silberhalls noch hier lebtest, habe ich dich vermutlich doch schon getroffen, auch wenn du dich nicht mehr daran erinnern magst.“
„Ich bin das Kind von Graiah und Perith.“
„Ah! Stimmt, die hatten doch vor langer Zeit eine Tochter, die ausgewandert ist. Warst du das, die uns immer die Stollenwände vollgekritzelt hat?!“ Drak kicherte. Dann wurde er ernst. „Tut mir zutiefst leid, Iril, das mit deiner Familie.“ Drak senkte seinen Blick und stampfte zweimal kurz auf, eine Geste des Respekts.
„Was ist mit meiner Familie?“, fragte Iril argwöhnisch.
„Weißt du das nicht?“
„Ich habe schon seit Jahren nicht mehr von ihnen gehört.“
„Oh. Auweia. Ich bin wohl nicht die beste Person, um dir das zu verraten. Doch ist es oft besser, die schlechten Nachrichten rasch zu überbringen, statt lange um den heißen Brei herumzureden. Willst du, dass ich es dir erzähle?“
Iril nickte, während ein drückender Kloß der Furcht sich in ihrem Innern ausbreitete.
„Na dann ...“, seufzte Drak, „Die Sache mit Iolith hat deine Eltern hart getroffen. Perith wurde vom Fieber der Traurigkeit erwischt und erlag ihm. Graiah mochte sich durchaus gegen den Kummer zu wehren, doch hielt sie es kaum mehr in dieser Höhle aus. Oft zog sie sich von ihren Bekannten zurück und stapfte tagelang ziellos in den verlassenen Gängen umher. Eine Horde Gors überraschte sie. Einen dieser scheußlichen Drachendiener riss sie noch mit ins Reich der Toten. Die restlichen ... nun ... wir fanden nur noch Blutspuren ... und ...“
Drak schüttelte seinen Kopf und schloss: „Ich labere schon wieder zu viel. Es tut mir leid, Iril. Du hast hier keine Familie mehr. Deine Eltern sind beide dahingeschieden. Die Mutter der Erde hat sie zu sich geholt.“ Erneut stampfte Drak zweimal auf.
Iril brachte nicht einmal eine kohärente Antwort zustande. Ihr Herz pochte und sank zugleich in ihre Magengegend, welche wild zu rumoren begann. Ihr wurde übel und schwindelig. Ihre Eltern sollten ihr nicht viel bedeuten, nachdem sie so lange nicht mehr mit ihnen interagiert hatten. Und doch erfüllte sie die Nachricht ihres Todes mit einem Gruseln.
Iril lehnte sich an die Höhlenmauer und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Gefühle wallten in ihr auf, die sie nicht richtig zuzuordnen vermochte. Bilder von Graiah und Perith, einander anschreiend. Einander umarmend. Sie ins Bettlein bringend und sanft zudeckend. Auch sie hatte der Tod sich geholt. Zuerst Burmrit, und nun ihre Familie. Iril ließ einige Tränen fließen. Nichtsdestotrotz sprach sie fest:
„Was ... was war diese Sache mit Iolith, die alles auslöste? Wer oder was ist Iolith?“
Drak machte große Augen und schluckte.
„Oh ... öhm ... wie lange warst du denn nicht mehr in Kontakt mit Cavern? Iolith ist ... deine Schwester.“
Das war zu viel für Iril. Zum Glück lehnte sie bereits an der Stollenwand, denn jetzt musste sie sich erst einmal hinsetzen und tief durchatmen.

***

Drak war so lieb, die überwältigte Iril zum Abendessen einzuladen. Er bot ihr sogar an, sie am nächsten Tag zum Grab ihrer Eltern zu führen und ihr mehr von Iolith zu erzählen. Aber zunächst einmal knurrte sein Magen. Und er wollte mehr über die wilden Neuigkeiten aus dem Land erfahren. Auf zu seiner Familie.
Darks Wohnraum war wie diejenigen der meisten Tiefminen-Arbeiter grob in die Wand des eines breiten Querstollens gehauen. Seine Familie hatte daraus ein wirklich heimeliges Reich gemacht. Zahlreiche schmucke Laternen hingen von der Decke und erhellten auch die letzte Ecke des Raumes. Grünlich schimmernde Pflanzen waren in eigens dafür geschaffenen Löchern in den Wänden eingelassen und präsentierten ihre vielfarbigen Blüten. Elegante Wandteppiche schmückten den blanken Stein der Wände. Sie zeigten Menschen und Zwerge im und unter dem Gebirge, beim Fördern von Edelsteinen und Zurücktreiben von Kreaturen. Ein Teppich zeigte gar einen schwarzen Drachen, der von einem hochgewachsenen Helden mit einem blauen Schild konfrontiert wurde. Die sternförmigen Runen auf dem Schild kennzeichnete diesen eindeutig als den Sternenschild, den ersten der vier mächtigen Schilde aus uralter Zeit. Warum Drak wohl einen Menschen auf seinem Wandteppich abbildete?
Iril konnte sich nicht lange auf die Verzierung des Wohnraums konzentrieren, ehe sie auch schon zu Tisch gerufen wurde.
Draks Familie war außergewöhnlich groß, besonders für Zwerge. Zehn Kinder drängelten sich neben Iril, Drak und dessen Gemahlin Bairen an einem überlangen Esstisch, der nahtlos in den Steinboden überging. Wobei der Begriff „Kinder“ irreführend sein könnte. Viele der anwesenden Zwerge waren bereits lange erwachen. Groß, stark und rußverschmiert von der Arbeit in den Tiefminen. Einige sahen auch etwas herausgeputzter aus und legten klappernde Rüstungen ab, ehe sie sich zu Tisch begaben. Nur ein, zwei Anwesende waren wahrlich noch Kinder. Der jüngste musste gar noch mit Lätzchen essen und verschmierte vergnügt sowohl seinen eigenen kleinen Bart als auch das Gesicht einer älteren Schwester, die neben ihm saß, mit dem Essen, das eigentlich in seinen Magen gehörte.
Zu essen gab es den köstlichsten Waldpilz-Eintopf, den Iril je die Ehre hatte zu verspeisen. Doch konnte sie sich irgendwie nicht darauf konzentrieren. Zu sehr kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem zurück, was Drak ihr erzählt hatte. Wie ein Geschwür schlichen sich die Gedanken zu ihrer verlassenen Familie in ihren Geist und hinderten sie daran, das geniale Gericht zur Gänze zu genießen.
Sie hatte eine Schwester. Iolith hieß sie. Geboren war sie offenbar kurz, nachdem Iril nach Silberhall gezogen war. Niemand wusste, wo sie sich im Moment aufhielt. Iolith hatte sich ähnlich wie Iril mit ihren Eltern zerstritten und ihren eigenen Weg gesucht. Scheinbar hatte sie sich im Grauen Gebirge in eine Agren verliebt, welche die Schildzwerge und ihre unterirdischen Grabungen als Schandtaten an der Natur ansah. Ganz ungeachtet dessen, wie sehr die Zwerge bei der Erschaffung ihrer berühmten Bauten stets bemüht waren, im Einklang mit den natürlichen Felsformationen zu sein, wie zu Stein gewordene Echos der Natur.
Graiah und Perith hatten ihre zweite Tochter nicht auch noch verlieren wollen, und leider dadurch umso mehr davongetrieben. Eines Tages war an Ioliths Stelle ein Abschiedsbrief auf ihrem Kopfkissen gelegen. Keiner wusste genau, wo sie nun war. Keiner wollte es mehr so genau wissen.
Ein weiteres Geheimnis, das Iril eines Tages ergründen würde.
Sie liebte schließlich Geheimnisse.

***

Mitten ins Abendessen platzte eine aufgeregte Zwergin, welche ein aufgerissenes Stück Pergament schwang. Sie blieb verheißungsvoll grinsend im Eingang stehen.
„Habt ihr es schon gehört?“, ertönte ihre schallende Stimme. Alle Augen richteten sich auf sie.
„Spann uns nicht auf die Folter, Marun!“, rief einer der vielen Brüder und schlabberte seine Schüssel Waldpilzeintopf mit einem Schluck leer.
„Ein Goldstück darauf, dass der Drache tot ist!“, warf eine Schwester ein.
„Wie geht es Kram?“, fragte Drak angespannt. „Wie steht es um meinen Jungen?“
Iril hatte den Namen Kram schon gehört und konnte ihn nach einiger Überlegung einordnen. Ein Zwerg aus den Tiefminen und Held von Andor. Einer derjenigen, die den Dunklen Magier Varkur in den Tiefen der Mine aufgestöbert hatten, und somit einer der Gründe, weswegen Iril überhaupt erst hierher aufgebrochen war. Doch erst jetzt machte sie die langsam die Verbindung zwischen dieser Familie und Kram. Welch Zufall, dass sie ausgerechnet hier gelandet war. Oder war es etwa mehr als das? Konnte es sein, dass dieselbe Hilfsbereitschaft, mit der Draks Familie Iril zu sich eingeladen hatte, auch dieselbe war, weswegen Kram einer der wenigen Schildzwerge war, die sich um das Schicksal der Menschen kümmerten? Dank der er überhaupt zu einem Helden von Andor geworden war?
Einen Augenblick lang herrschte noch Stille. Dann wurden Irils Gedanken unterbrochen, als Marun freudig herausplatzte: „Der Drache ist tot! Kram hat ihn erlegt! Und gleich noch den verschleppten Prinzen gerettet! Heldenhaft. Es geht ihm gut. Sie feiern draußen im Rietland.“
Einen weiteren Augenblick lang herrschte wieder Stille. Dann brach der gesamte Tisch in Jubel aus. Die Anwesenden klopften einander auf den Rücken, jubelten, und prosteten einander mit Rachenputzer zu.
Schon leicht angetrunken erhob sich Draks Gemahlin Bairen und rief: „Ein Hoch auf unseren Sohn! Auf dass er bald wieder gesund zu uns zurückkehrt und uns von dieser Heldentat berichten kann!“. Marun rannte weiter, wohl, um die nächste Wohnung über die fröhliche Neuigkeit zu informieren. Drak rannte indes in den Lagerraum und holte ein Holzfass heraus, welches mit drei X angeschrieben war.
„Drachenfass Rachenputzer. Enorm starker Zwergenschnaps. Das trinken wir sonst nur zu Geburten und Beerdigungen. Doch welch bessere Gelegenheit gäbe es, das hier anzuzapfen, als einen Sieg über einen verfluchten Drachen zu feiern! Möge er der letzte gewesen sein!“
Erneut ertönte allgemeiner Jubel. Iril stimmte mit ein. Doch fühlte sie auch ein Stechen in ihrem Herzen. So fühlte es sich in einer Familie an. Und eine Familie hatte sie hier nicht mehr. Cavern war nicht mehr ihr Zuhause.
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Magische Abenteuer lll – Runen im Schnee (2/10)

Beitragvon Butterbrotbär » 30. Oktober 2022, 23:25

Nach dem feierlichen Abendessen verteilten sich die Anwesenden wieder auf die umliegenden Gänge, um sich weiter umzusehen, wo Hilfe vonnöten war. Glücklicherweise hatte das Erdbeben keinen direkten Stolleneinsturz verursacht. Die wenigen kritischen Ritze wurden von Baumeistern rasch gestützt und geflickt. Verletzte gab es kaum welche. Die ersten Invaliden von der Befreiung der Rietburg und dem Kampf gegen den Drachen würden erst in einigen Tagen hier eintreffen. Und so nutzten die Schildzwerge ihre Zeit zum vollen aus.
Ein unbeschreibliches Fest folgte auf den Sieg über den Drachen. Erwachsene tanzten wild in den Stollen und die Kinder lachten und sangen. Die letzten Tage hatte sie alle viel gekostet. Doch nun wurde gefeiert!
Met wurde ausgeschenkt, guter Kuchen aus den Vorratsstollen geholt, Festbänke aufgestellt und komplexe alchemistische Funkenkörper durch den Schlauchgang Barathrum in die Höhe geschossen, wo sie in verschiedenste farbenfrohe Muster explodierten.
Iril bedanke sich ausgiebig bei Draks Familie für deren Gastfreundschaft und zog weiter. Sie glaubte inzwischen kaum mehr daran, sich wieder mit alten Freunden aus längst vergangenen Zeiten auszutauschen.
So zog es sie an die verlasseneren Orte Caverns. Sie hatte Feste noch nie die famoseste Freizeitbeschäftigung gefunden.
Neugierde war aber ihr Ding. Und als sich eine in einen dunklen Mantel gekleidete Zwergin geheimnisvoll an der Ecke vorbeischlich, in welche Iril sich verkrochen hatte, keimte Irils unbändigbare Neugierde wieder auf. Sie liebte schließlich Geheimnisse.
Die Zwergin mit dem dunklen Mantel blickte sich mehrmals um, als ob sie fürchtete, beobachtet zu werden. In ihrer Hand hielt sie einen rötlichen Edelstein, um den jemand ein kompliziertes metallenes Gerüst geformt hatte. Solche Schätze sah man in den Tiefminen selten, und noch seltener wurden sie über legale Händel erworben. Eine Diebin, die die Gunst der Stunde und das Chaos der Feierlichkeiten ausnutzte? Iril sah ein Glimmen in den dunklen Augen der Fremden und kniff schnell die eigenen zusammen. Doch schien die mysteriöse Zwergin Iril im Schatten nicht zu erkennen und schlich weiter den Gang entlang.
Kurz debattierte Iril die Moral davon, jemandem zu folgen, der offensichtlich nicht verfolgt werden wollte. Die Chance, dass es hier ein Unrecht aufzudecken gab. Die potenziellen Gefahren, die am Ende des Gangs auf sie lauern könnten. Und das unwiderstehliche Drängen ihrer Neugierde, die kein Geheimnis unerforscht lassen wollen.
Rasch war Iril auf den Beinen, zückte ihren – aktuell nicht leuchtenden – Runenhammer und huschte der mysteriösen Zwergin leise hinterher. Hinter ihr donnerten die Festmusik der Zwerge, der Klang dutzender blecherner Blasinstrumente dutzendfach verstärkt durch das Echo der dünnen Gänge. Allzu große Sorgen, von der mysteriösen Kuttenträgerin gehört zu werden, musste sie sich nicht machen.
He, diese Gänge kannte sie ja, die mündeten wieder in die nördlichen Oberhallen Caverns!
Die Zwergin im dunklen Mantel eilte an der prunkvollen Halle der vier Schilde vorbei und zwischen zwei prunkvollen Säulen hindurch, bis sie vor einer protzigen, mit Blattgold verkleideten Tür stehen blieb, durch die selbst ein Troll gepasst hätte. Sie läutete an einem goldenen Glöckchen und wartete, bis die Tür sich, von unsichtbaren Mechanismen gezogen, von selbst öffnete.
Rhythmisches Hämmern erklang dahinter, und rötliche Schimmer gleißten hervor. Rauch lag in der Luft.
Nach einem letzten Umschauen, bei dem der geheimnisvollen Zwergin wieder einmal die sich in die Schatten Caverns drückende Gwundernase Iril entging, verschwand sie hinter der Tür. Hinter ihr verschloss sich das gewaltige Tor wieder wie von selbst. Ein darüber hängender golden verzierter Hammer verriet Iril, was für ein Raum dahinter lag.
Dies war die Schmiede von Hildorf, dem Schmiedemeister, welcher – ganz bescheiden – seine Arbeitsstelle direkt neben der legendären Halle der vier Schilde eingerichtet hatte. Seine Spezialität war die Fertigung magischer Artefakte. Magischer Artefakte wie dem Drachenrelikt, das diese mysteriöse Zwergin in den Händen gehalten hatte. Artefakte aus Roteisen, dem Blutstein-Erz, welches seit Jahrhunderten vom Blut der Drachen durchtränkt war.
Die Macht dieses roten Metalls im Stein war ein Geheimnis. Ein Geheimnis der Tiefminen. Wie alle Geheimnisse, von denen sie gehört hatte, hatte Iril auch dieses einst zu knacken versucht. Erfolglos. Selbst in den Tiefminen beherrschten nur wenige Zwerge dieses Metall. Der Roteisenstein, oder auch Blutstein, wie ihn manche nannten, war von dem roten Erz durchsetzt und wurde von den Schildzwergen oft als Baustoff für das Errichten von Sockeln, Mauern und Türmen verwendet. Doch nicht viele vermochten das Roteisen aus dem Stein herauszulösen und in Form zu gießen. Wenige wussten überhaupt, woher der Roteisenstein seinen Namen hatte. Und so gut wie niemand wusste, wie man damit magische Artefakte schaffen konnte. Hildorf behauptete gerne, dass er der Einzige sei, der diese Drachenmagie handhaben konnte. Es stimmte zumindest, dass kaum jemand seiner Schmiedekunst das Wasser reichen konnte. Nicht, seitdem der legendäre Schmiedemeister Xoll Hammeraxt, dessen Ruf sogar zu Iril nach Silberhall gedrungen war, das Zeitliche gesegnet hatte.
Ein wütender Aufruf erklang aus dem Innern von Hildorfs Schmiede.
Iril konnte sich nicht davon abhalten, näherzutreten und zu lauschen.
„Der Drache ist tot?!“ Eine tiefe Stimme, vermutlich Hildorf selbst. Wut und Unglauben schwang in seinem Tonfall mit.
„Die Nachricht war eindeutig. Tarok der Gewaltige ist gefallen“, antwortete eine zweite Stimme, vermutlich die der mysteriösen Zwergin.
„Wer hat es gewagt?!“
„Die Helden von Andor, so sagt man.“
„Welch Unrecht! Tarok der Gewaltige wollte doch nur ...“
„Egal. Wir müssen rasch handeln! Ehe sie seinen Leichnam schänden können.“
„Natürlich. Was braucht Ihr, Serafimma? Weitere Drachenrelikte, um den Uralten mehr Beseelte zu verschaffen? Mehr Geisterfeuerzeuge für die Dunklen Messen? Zusätzliche Waffen für den kommenden Konflikt? Rüstungen, die Feuer und Pfeil gleichermaßen fernhalten?“
„Nichts von alledem, Hildorf. Wir brauchen dich. Die Drachenkultisten scharen so viele Anhänger wie möglich aus und ziehen in den Westen, zum Leichnam. Mit genügend Anhängern sind wir eine bedrohliche Präsenz. Dort nützt du uns mehr, als wenn du dich wieder tagelang hier einpferchst und weitere Artefakte herstellst, die wir – seien wir ehrlich – nicht mehr wirklich nötig haben.“
Nun klang Hildorf widerspenstig. „Ich bin doch nur ein Schmied. Ein guter zweifelsohne, doch nicht mehr. Ich kann keinen Kriegshammer führen.“
„Mit etwas Glück wirst du das auch nicht müssen. Wir wollen nur genügend viele sein, dass man uns nicht ignorieren kann. Los jetzt, pack‘ deine Sachen.“
„Aber ... meine Gehilfin ...“
„Branna wird einige Tage lang ohne dich auskommen können. Auf, mein Freund, auf mit dir! Schamanin Sagramak vom Barbaren-Stamm der Jpaxo wartet bereits vor dem südlichen Tor. Als von Taroks nächstem Verwandten Beseelte steht es ihr zu, das Ritual zu vollziehen.“
„Ich weiß, ich weiß. Du vergisst, dass ich es war, der überhaupt erst das Drachenrelikt schuf, welches nun von Sagraks Seele erfüllt ist.“
„Na bitte! Die Drachen verdanken dir bereits so viel. Da ist es doch ein Klacks, für sie einige Schritte ins Rietland zu tun.“
Hildorf grummelte etwas, das nach verdächtig wie „Einige würden sagen, mein Dienst an die Flammen wäre bereits erfüllt“ klang.
„Was war das?!“, antwortete die Zwergin – Serafimma – schnippisch, „Wenn du willst, kannst du es ja mit den Drachen aushandeln, wenn sie hinter der Pforte des Todes über dich urteilen. Ich weiß, was ich an deiner Stelle tun würde.“
Hildorf grummelte weiter vor sich hin. Den Geräuschen nach machte er sich aber auch zeitgleich daran, seine Sachen zu packen.
Iril duckte sich in den Schatten eines Erkers im Gang, während Serafimma die Schmiede verließ und erneut an ihr vorbeischlich, diesmal in Begleitung von Hildorf.
Der Meisterschmied trug einen gewaltigen Rucksack, an dem einige grünlich schimmernde Tränke klirrten. Anstelle einer linken Hand befand sich dort eine eiserne Prothese, an der eine eckige Laterne befestigt war. In seinen für zwergische Verhältnisse äußerst kurzen, hellbraunen Bart waren Dutzende kleine und zweifellos unverschämt kostbare Edelsteine eingeflochten.
Irils Gedanken rasten. Drachenkultisten! Anhänger der kriegerischen Bestien aus den Urzeiten. Hier, mitten im Herzen von Cavern! Und Schmiedemeister Hildorf war einer von ihnen!
Iril hatte Gerüchte über die Verbreitung dieses Kults von Drachenanbetern gehört, diese jedoch nicht glauben wollen. Hatten sie denn alle die grausamen Taten der Drachen während des Unterirdischen Kriegs vergessen?!
Ihre Gedanken ratterten. Was sollte sie tun? Gab es Obrigkeiten, die man in solchen Fällen informieren sollte? Nein, leben und glauben sollte ja jeder Zwerg, was er wollte, solange er damit niemandem schadete. Und die Drachenkultisten schadeten niemandem mit ihrer Existenz. Doch schienen sie irgendetwas mit Taroks Leichnam zu planen. Iril musste mehr herausfinden.
Sie schlich Hildorf und Serafimma nach. Inzwischen waren die beiden schon so weit fortgeschritten, dass Iril ihnen nicht mehr strikt folgen konnte. Doch hatte sie belauscht, dass eine Schamanin der Barbaren vor dem südlichen Ausgang wartete. Und selbst so betrunken, wie die meisten restlichen Zwerge waren, konnte Iril hin und wieder jemandem finden, der ihr den schnellsten Weg zum südlichen Ausgang weisen konnte.

***

Bis Iril den südlichen Ausgang Caverns erreichte, hatten die meisten Feierlichkeiten längst ein Ende gefunden.
Am Minenportal stieß Iril auf zwei Zwergenwachen, welche mürrisch aufs Rietland blickten. Es herrschte Nacht. Der Mond war nicht zu erkennen, musste er sich doch gerade auf der anderen Seite des Erdenkörpers aufhalten. Doch nicht nur die Fackeln aus der Tiefe und die Sterne am Himmel spendeten Licht. Weit draußen im Rietland auf der anderen Seite der Narne leuchteten weitere Fackeln und Lagerfeuer. Feierten die Andori?
Ein weiteres Licht fiel Iril auf. Ein bisschen weiter inland, doch noch immer vor der Marktbrücke, beleuchtete ein flackerndes Lagerfeuer eine mächtige einsame Eiche. Die legendäre Zwergeneiche von Fürstin Brala.
Iril hinterließ bei den Wachen am südlichen Ausgang eine knappe Nachricht an Draks Familie, in der sie sie über die Lage aufklärte. Zudem kaufte sie sich einen Falken.
Dann machte Iril sich auf in die Dunkelheit und auf zur Zwergeneiche, wo sie Hildorf und die Drachenkultisten vermutete. In genügender Entfernung blieb sie hinter einem Hügel liegen und spähte zur Zwergeneiche.
Wie erwartet, erkannte sie einige aufgespannte Zelte und einige finstere Gestalten um ein Lagerfeuer sitzen. Zwerge und Menschen und sogar einen Skral. Am Rande der Gruppe, nur noch schwach beleuchtet, saß ein gewaltiger rötlicher Raubvogel zusammengesunken auf einem Stein, den Kopf unter einen riesigen Flügel gesteckt. Hildorf, den Schmiedemeister, erkannte Iril am genau anderen Ende des Lagerfeuers, so weit wie möglich vom Raubvogel entfernt, wie er am Boden saß und mit Serafimma ein Kartenspiel spielte. Die meisten anderen sichtbaren Anwesenden schliefen auf behelfsmäßigen Betten. In den Zelten hielten sich vermutlich noch mehr Drachenkultisten auf.
Das mussten über ein Dutzend Personen sein, vielleicht sogar zwei. Iril drehte sich der Magen um. Was hatten sie vor?! Sie sandte ihren braven Falken mit einer entsprechenden Notiz zurück an die Wachen am südlichen Eingang – wohl wissend, dass diese auch kaum etwas damit anfangen könnten – und machte sich daran, sich ein provisorisches Nachtlager zu bereiten.
Und Iril fiel in einen erschöpften, traumlosen Schlaf.

***

Iril wurde von einem kurzen Schrei geweckt. Hastig richtete sie sich auf, während die Erinnerungen an die vergangenen Tage langsam auf sie einprasselten. Ihr Falke war zurückgekehrt und ruhte neben ihrem dürftigen Kissen, auf einem Bein, den Kopf unnatürlich verdreht und in sein Gefieder gesteckt. Dem Falken schien dies nichts auszumachen.
Der Himmel über ihr erglühte in rotem Licht, als wäre das Blut des gefallenen Drachen in ihn aufgestiegen und hätte dem Licht der aufgehenden Sonne gefärbt.
Mondbeeren glitzerten im vom Tau nassen Rietgras. Der Sonnenaufgang konnte noch nicht lange her sein.
Vorsichtig blinzelte Iril über die Kuppe des Hügels, hinter dem sie geruht hatte. Vor der Zwergeneiche war immer noch eine Horde an Drachenkultisten versammelt. Die meisten Zelte waren bereits abgebaut. Das Lagerfeuer war erloschen. Hastig huschten die Anwesenden umher und machten sich reisefertig. Der Riesenvogel von gestern war nirgends zu sehen.
Dafür erklang ein weiterer kurzer Schrei. Und diesmal fand Iril die Urheberin.
Am Rande des Lagers der Drachenkultisten, im Schatten der Zwergeneiche, saß eine Frau im Schneidersitz. Sie trug eine elegante silberne Rüstung mit vielen Verzierungen. Neben ihr lag eine lange Stangenwaffe mit einer wie ein Schneckenhaus verdrehten Spitze. Wirkte eher zeremoniell als kampftauglich. Und dann erst der prunkvolle silberne Helm, der neben der Frau lag und scheinbar metallene Flügel als Verzierung trug. Nicht zwingend zweckdienlich, doch zweifelsohne imposant.
Iril musterte das ferne Gesicht der Kultistin. Deren Augen waren geschlossen. Ihre Nase sah schief aus, als wäre sie gebrochen. Ihr Mund öffnete und schloss sich, ohne Worte zu bilden.
Da! Erneut schrie sie kurz auf. Diesmal klang es weniger überrascht und mehr verärgert.
Zwei weitere Kultisten saßen neben ihr, ein Mann in einem dunkelblauen Gewand und ein Wesen in einem dunklen Kapuzenmantel, das nicht näher erkennbar war, doch der Form der Kapuze nach lange hohe Hörner trug. Es redete leise auf die Kultistin ein. Iril spitzte ihre Ohren, vernahm jedoch bloß Wortfetzen:
„Welche Wahrnehmung ..., Sagramak? ... sich der Zustand ... Tarok?“
Die Kultistin, Sagramak, schlug flatternd ihre Augen auf und rief:
„Es ist der Prinz! Der elende Prinz beansprucht den Leichnam für sich! Seine Garde umkreist ihn und lässt niemanden hin. Sie wollen ihn zerteilen! Rasch, rasch, macht euch zum Aufbruch bereit!“
Ihren Worten wurde rasch Folge geleistet. Iril packte ebenfalls ihr Schlafzeug zusammen und erledigte ihr morgendliches Geschäft, während sie über die Worte der Drachenkultistin nachsinnierte. Als sie wieder über den Hügel blickte, war der Tross der Drachenanbeter bereits aufgebrochen und daran, die Marktbrücke ins westliche Rietland zu überqueren.
Iril eilte ihnen hinterher. Einmal verharrte sie ängstlich, als sie sah, wie in der Ferne der Riesenvogel von gestern vom Himmel stürzte. Gute Güte, das war ein waschechter Krark! Rotbraune, rasiermesserscharfe Federn. Ein gewaltiger gebogener Schnabel, der selbst in Felsen hineinhacken konnte. Unterarmlange, gebogene Krallen, fast so scharf wie die Schneide eines Schwerts. Iril schauderte es.
Der Krark ließ sich vor Schamanin Sagramak nieder und biss ihr spielerisch in die Nase, während sie seinen Hals streichelte. Hatte sie etwa so ihre Nase vernarbt? Nun, der Krark könnte erklären, wie Sagramak vorhin Geschehnisse im Rietland beobachtet hatte. Konnte sie vielleicht mit diesem Krark eine geistige Verbindung aufbauen und durch seine Augen sehen?
Der Tross der Kultisten reiste tiefer ins Rietland. Nach einer kurzen Wartezeit folgte Iril ihnen verdeckt. Der Krark schien sich nicht groß um seine Umgebung (oder etwaige Verfolger) zu kümmern, sondern stolzierte stolz an Sagramaks Seite. Das sah sehr seltsam aus. Aber Iril hatte es lieber so, als dass er am Himmel seine Runden gedreht und sie möglicherweise erspäht hätte. Mit diesen Bestien war nicht zu spaßen, falls sie der Hunger überkam.
Außerdem erlaubte dies Iril, ihren Falken sorglos erneut mit einer Nachricht an die Schildzwerge zurückzuschicken.
Von der Marktbrücke aus erspähte Iril bereits den gewaltigen schwarzen Drachenkadaver Taroks. Der Drache lag zusammengesunken neben den wieder eingestürzten alten Wehrturm, sein langer Hals verbogen, die durchlöcherten Flügel zerknittert, die Schnauze tief in der matschigen Erde vergraben. Offenbar war der Alte Wehrturm im Todeskampf der Riesenechse schon wieder eingestürzt. Das wievielte Mal war das nun schon, dass der Turm von Grund auf neu hatte erbaut werden müssen? Unglaublich, als läge ein Fluch darauf.
Doch nicht nur der Alte Wehrturm hatte unter den Angriffen von Drachen und Kreaturen der letzten Woche gelitten. Das ganze Rietland wirkte verwüstet.
Brandspuren durchzogen das goldene Rietgras. Letzte Rauchwolken hingen tief über dem Land. Bauernhäuser waren eingestürzt. Der Freie Markt, eine Ansammlung diverser Stände verschiedenster Händler nicht unweit des alten Wehrturms, lag in Trümmern. Die Händler waren geflohen. Dies war nicht nur das Werk des Drachen, sondern auch das seiner dunklen Kreaturen. Sie hatten wirklich alles gegeben für diesen Angriff auf das Rietland.
Iril erkannte einige grün gewandte Soldaten der Andori in der Ferne. Einige trugen Flaggen, auf denen das Wappen Andors wehte. Eine Sternblume auf leuchtend rotem Grund. Dies war die legendäre Rietgarde Andors.
Doch machte sich die Rietgarde nicht daran, die Schäden zu beheben. Nein, sie standen rund um den Leichnam der Riesenechse und richteten lange Speere drohend in Richtung der ankommenden Drachenkultisten.
In ihrer Mitte saß ein hünenhafter Mann auf einem mächtigen Rappen und fuchtelte mit seinem Schwert herum.
Es war, wie Sagramak es gesehen hatte. Prinz Thorald von Andor beanspruchte den Leichnam Taroks für sich und hinderte die Drachenkultisten daran, ihn zu erreichen.
Beim Näherkommen erkannte Iril tiefe Furchen in der Flanke des Leichnams. Offenbar hatte Sagramak auch damit Recht gehabt, dass die Ritter des Königs den Drachen zu zerteilen begonnen hatten. Damit hatten sie aber aufgehört. Nun war ihre Priorität, diesen Zwist zwischen Drachenanbetern und dem Prinzen zu ihren Gunsten aufzulösen.

***

„Zurück! Zurück, befehle ich euch! Ich, euer Prinz!“, rief ein offensichtlich aufgewühlter Prinz Thorald. Die nähergetretene Menge an Drachenkultisten folgte nur widerwillig und breitete sich vor Taroks Leichnam aus, während die Rietgarde sie weiterhin mit Speeren auf Abstand hielten. Es waren augenscheinlich mehr Kultisten als Soldaten anwesend, doch waren die Soldaten besser bewaffnet. Die meisten Kultisten wirkten kaum kampftauglich, eher wie eine zusammengewürfelte Sammlung von Bauern und Jägern, welche nervös und wütend blickten.
Rufe von beiden Seiten wurden laut.
„Mörder!“
„Weichet zurück!“
„Lasst den Körper sein!“
„Lasst doch selbst den Körper sein!“
„Was wollt ihr mit ihm?“
„Zurück, sagte ich!“
Armond, Anführer der Rietgarde, schrie nicht. Er trat einige Schritte vor seine restlichen Krieger und legte demonstrativ seinen Speer nieder. Die Menschen direkt vor ihm blickten nervös zu ihm auf. Armond erhob seine salbungsvolle Stimme über die vor ihm versammelte Menge.
„Gibt es jemanden, der Euch anführt? Jemanden, mit dem man verhandeln könnte?“
„Sehen sie so aus, als wollten sie verhandeln?!“, zischte ihm Prinz Thorald ängstlich zu.
„Mit Verlaub, was für eine andere Möglichkeit gibt es, eine Eskalation zu verhindern?“, murrte ein junger Gardist.
„So einige, Malin, so einige“, sagte Armond, „Doch keine ehrenvollen. Wir sind die Krieger des Königs. Uns bindet ein Eid, für Frieden und Freiheit einzustehen. Wer wären wir, wenn wir ihn so leichtfertig brechen würden?“
„Ich bin eine Anführerin mit Verhandlungsmacht“, meldete eine volltönende Stimme aus der Menge. Die Kultisten wichen zur Seite und machten Platz für ... „Ich bin Sagramak, eine Schamanin der Jpaxo. Ich spreche für die hier Anwesenden. Ebenso wie für die Seelen der Drachen. Ich bin beseelt vom Drachen Sagrak, und als Taroks nächstem Nachkommen steht es ihm zu, über seinen Leichnam zu urteilen. Und damit mir.“
Sagramak trat stolz zu Armond, ihre elegante Rüstung mit jedem Schritt scheppernd. Auf dem Kopf trug sie ihren imposanten Drachenhelm. An ihrer Seite hielt sie ihre lange Stangenwaffe, die sie analog zu Armond demonstrativ zu Boden legte. Als sie sich dem Anführer der Rietgarde näherte, öffnete ihr gewaltiger Krark in der Menge hinter ihr kurz demonstrativ seine Flügel und krächzte in den Himmel. Thorald erbleichte.
Sagramak wandte sich ihm zu: „Mit welchem Recht beansprucht Ihr Mörder den Leichnam des letzten Drachen für euch? Nur, weil ihr der Nachkomme desjenigen seid, der sich vor einigen Jahrzehnten stolz selbst zum König von Andor erklärte?“
„Wagt es nicht, von meinem Vater zu lästern“, zischte Thorald, „Er wurde fair gekrönt und ihr Flussländler freutet euch darüber, dass euch jemand vor den wilden Trollen beschützte!“
„Ich stamme nicht aus den Flusslanden, sondern aus den Gebirgsausläufern“, korrigierte Sagramak, „Und wir hatten keinerlei Probleme mit den Kreaturen des Drachen, bis euer Vater dessen Zorn auf sich zog und sein Wille sie zum Angriff eurer Lager stürmte. Unsere Verbindung zu ihm ist größer als eure. Wir haben ein Anrecht auf seinen Körper.“
Thorald wollte etwas entgegnen, wurde jedoch von Armond zurückgehalten.
Waffenlos traten Armond und Sagramak einander gegenüber, während die Kultisten und Krieger einander weiterhin drohend anblickten. Nicht alle natürlich. Iril sah, wie der junge Mann, der vorhin gesprochen hatte – Malin hieß er – seinen Speer demonstrativ locker an seiner Seite hielt, statt damit in Richtung der Kultisten zu fuchteln. Und in der Menge der Kultisten gab es so einige, darunter den Schmiedemeister Hildorf, die dreinblickten, als würden sie am liebsten im Boden versinken. Keinerlei Kreaturen. Wohin die sich wohl verzogen hatten?
Iril glaubte für einen Augenblick, in der Menge der Drachenkultisten auch eine dunkel gewandte Gestalt mit einer seltsamen Maske zu sehen. Der mysteriöse Drachenreiter mit dem langen Schwert? Hatte er überlebt? Doch als sie wieder blinzelte, war die Gestalt verschwunden.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder aufs Geschehen vorne.
Iril vernahm nicht, was Armond und Sagramak leise miteinander diskutierten, doch verstand sie den grundlegenden Konflikt. Die Drachenkultisten wollten den Leichnam des Drachen, wohl aus religiösen Gründen. Und die Andori wollten ihnen den Drachen nicht überlassen. Nicht, dass der Leichnam ihr Eigentum gewesen wäre oder dass sie grundsätzlich verhandlungsunwillig gegenüber ihnen nicht freundlich gesinnten Völkern wären. Doch waren frisches Drachenblut und Drachenknochen äußerst potente magische Mittel. Und Tarok war ein äußerst mächtiger Drache gewesen, vielleicht der größte und mächtigste von allen. Es war nicht auszudenken, was für Schandtaten ein finsterer Magier damit anrichten könnte. Wer konnte schon garantieren, dass sich unter den Drachenkultisten kein finsterer Magier befand?
Iril konnte den Hass der Andori auf den Drachen gut verstehen. Man sollte seine Schuppen und Zähne zu Staub zermahlen, sein Fleisch verbrennen und seine Knochen ins Meer werfen. Seine Überreste vernichten und verstreuen, damit nie wieder jemand von diesem Dämon heimgesucht werden konnte.
Doch konnte Iril auch verstehen, dass die Drachenkultisten da andere Präferenzen hatten.
Iril sah einen andorischen Ritter heimlichtuerisch einen Nachrichtenfalken lossenden, während Armond und Sagramak weiterverhandelten.
Die Andori schindeten Zeit. Doch wohin wurde der Falke gesandt? könnte kommen, um diesen Konflikt noch zu ihren Gunsten zu drehen?
Eine ganze Menge Personen, wie sich herausstellte.
Als erstes tauchte ein Paar auf, das auf einem großen braunen Pferd mit einem weißen Fleck auf der Schnauze angeritten kam. Die hinten sitzende Person, eine grün gewandte Bogenschützin, sprang bereits elegant vom Reittier, während die vorne sitzende Person, ein blau gewandter Krieger, das Pferd vorsichtig drosselte.
„Was geht hier vor sich?“, verlangte die Bogenschützin zu wissen. Entschlossenheit blitzte aus ihren dunklen grünen Augen auf.
Die beiden Neuankömmlinge traten zu Armond und ließen sich von ihm die Lage erklären. Iril erkannte, dass ihre beiden Umhänge vorne von einer Sternblumen-Brosche zusammengehalten wurden. Das Zeichen des Königshauses Brandur. Dies waren Helden von Andor. Diejenigen, die den Drachen geschlagen hatten.
„Vielleicht habt ihr unsere Namen schon gehört. Ich bin Chada. Das ist Thorn“, rief die junge Bogenschützin nun an die Menge, „Wir stellen uns grundsätzlich gegen alle, die die Freiheit anderer berauben wollen. Doch ist es auch so, dass gewisse Geheimnisse zu groß und zu gefährlich sind, um sie allen zugänglich zu machen. Die Bewahrer wissen das. Und ich weiß, dass Ihr das wisst. Im Namen des Friedens muss ich Euch alle bitten, zurückzutreten. Der Körper dieses Drachen ist ein mächtiges magisches Mittel. Er soll die Narne hinuntergeschwemmt werden und sich im Hadrischen Meer verteilen, wo niemand ihn für finstere Zwecke missbrauchen kann. Selbst er hat verdient, das Ewige Glück zu erreichen.“
„Bockmist!“, rief eine Frau mit einer Zipfelmütze aus der Menge der Kultisten hervor, „Taroks Körper steht uns zu. Ihr, die ihr schon den letzten Avatar der Götter ermordet habt, wollt uns nun nicht einmal die Gnade seiner Bestattung gewährend!“
Chada runzelte ihre Stirn. „Tarok war ein zorniger Mörder, der schon seit Jahrzehnten seine Kreaturen zum Krieg gegen die Unschuldigen dieses Landes aussandte! Seine Kreaturen haben den edlen Brandur getötet! Wie hirnverbrannt ...“
Thorn trat hinter sie und legte ihr besänftigend eine Hand auf die Schulter. Chada verstummte. Dann erhob Thorn selbst seine freundliche Stimme und sprach beruhigend auf die murrende Menge ein. Es wirkte kaum. Doch Thorn ließ sich davon nicht beirren.
Langsam bahnte Iril sich einen Pfad durch die Menge der Kultisten. Wie vermutet, achtete niemand groß auf sie. Keiner der Anwesenden konnte wissen, wer alles Teil dieser Menge war, und wer sich nur hindurchschlich.
Ein Aufschrei ertönte, als Sagramak ihre Stangenwaffe wieder ergriff und in die Menge zurückstolzierte. Offensichtlich hatten ihre Verhandlungen mit Armond wenig gebracht. Wütend watete die Schamanin an Iril durch die Ansammlung der Kultisten. Iril senkte ihren Blick, doch auch Sagramak schien in Iril nichts Unübliches zu sehen.
Mit der Zeit erschienen immer mehr Helden von Andor und stellten sich zwischen die Ritter der Rietgrade und die Kultisten. Manche, wie ein massiger Krieger mit grauem Fellumhang, taten dies eher widerstrebend und mürrisch. Andere, wie eine Zauberin in schlichtem braunem Mantel, taten dies sehr gefasst und ernst. Die Zauberin steckte gar ihren Stab in den Boden und breitete theatralisch ihre Arme aus, während sie einzelne Personen in der Menge anblickte, welche daraufhin oft verschreckt umherblickten.
Einer der andorischen Soldaten schrie auf und stach mit seinem Speer gegen einen Mann in dunkler Kutte, der ihm zu nahe gekommen war. Ein neben ihm stehender Held – ein gehörntes Wesen mit einem noch längeren Speer – legte dem Krieger besänftigend eine Hand auf die Schulter und wies ihn zurück. Dieser zischte eine hastige Antwort, die Iril nicht verstand.
Da sah Iril Hass in den Augen einer Kultistin direkt vor sich aufblitzen. Eine Zwergin in glänzender Rüstung, vielleicht gar Serafimma selbst. Die Kultistin grummelte etwas unter ihrem Atem, bahnte sich einen Weg durch die Menge und schwang auf einmal einen gewaltigen Hammer auf einen jungen Soldaten, der erschrocken zurückwich – und da war Iril plötzlich vorgetreten und knallte ihren eigenen Hammer gegen den der Angreiferin. Der Runenhammer glühte rötlich auf und hinterließ eine nicht unbeachtliche Delle in der Waffe der Zwergin. Diese wich vor Irils entschlossenem Blick zurück. Oder vielleicht auch davor, wie Irils Augen dabei magisch aufleuchteten. Der Soldat – Manus hieß er, wie sich herausstellte – bedankte sich überschwänglich bei Iril.
Nun war Iril auch Teil der Kette zwischen Kultisten und dem toten Drachen. Auweia.
Iril überlegte sich, sich zurück in die Menge zu mischen. Nicht, dass die Helden und Krieger noch dachten, dass sie eine Kultistin wäre, die sich auf den Leichnam zu schleichen versuchte. Dann jedoch blieb sie stehen. Hier konnte sie helfen.
Die ernste Zauberin blickte Iril tief in die Augen. Iril schreckte zurück, als in ihrem Kopf eine leise Stimme ertönte: „Danke. Ich spüre die Tapferkeit in dir. Es ist wichtig, weiteres Blutvergießen zu verhindern.“
Iril hatte noch niemals eine so schöne Stimme gehört, ernst und leise und gleichzeitig so klar und rein. Doch hatte sie nicht die Zeit, sich mehr mit ihrer Urheberin zu befassen. Denn von irgendwoher kam ein Stiefel zu fliegen und traf Iril in die Seite. Sie rieb sich ihre Rippen.
„Wenn noch länger gewartet wird, eskaliert diese Lage! Warum wird der Drache nicht einfach verbrannt?“, fragte Iril.
„Auch ihm steht das ewige Glück zu“, murmelte Chada neben ihr erneut bestimmt.
„Und es ist eine Qual, ein so großes Feuer sicher zu entfachen“, fügte eine Kriegerin Andors blinzelnd hinzu, „Ganz abgesehen davon, dass Drachenfleisch lässt sich nicht so leicht verbrennen lässt. Das bleibt selbst im stärksten Schmiedefeuer roh. Ich habe gehört, jemand wollte es schon einmal für isolierende Rüstungen nutzen. Hat aber nicht viel genutzt.“
Keiner wusste, was mit dem riesigen Leichnam anzufangen sei. Schlussendlich befahl Thorald, zum ursprünglichen Plan zurückzukehren. Taroks Leiche wurde er zerteilt und Stück für Stück die Narne heruntergespült – auf dass selbst diese verbitterte Echse vielleicht das ewige Glück finden könne.
Helden und andorische Krieger wechselten sich ab mit verschiedenen Aufgaben. Und davon gab es wahrlich viele. Aufgebrachte Kultisten friedlich vom Körper zurückzuhalten, den gewaltigen Körper mit langen Sägen zu zerteilen, die blutigen Stücke auf Karren zu laden, die Karren sicher zur Narne zu begleiten, den stinkenden Inhalt dort wieder abzuladen und fortzuspülen ...
Die Wassergeister der Narne erhoben sich immer wieder aus dem Wasser und schleuderten wortlose Flüche gegen die Andori. Prinz Thorald rief ihnen zu, dass, wenn sie nicht zufrieden waren mit Taroks Leichnam in ihrem reißenden Fluss, sie ihn doch lieber schnell ins offene Meer bringen sollten.
Es dauerte lange. Mehrere Tage. Und es benötigte eine Menge an heldenhaften Helfern.
Iril sah den legendären Zwerg Kram aus der Ferne, wie er mit einer eleganten Zwergenaxt messerscharfe Schuppen vom toten Tarok löste und auf Karren zum Abtransport stapelte.
Iril sah einen Menschen mit rotem Haarschopf, breitschultrigen Körperbau und einem Raben auf der Schulter, der einige harsche Worte in einer fremden Sprache mit Sagramak austauschte.
Iril sah eine Hüterin in weißem Gewand, die einen Wassergeist umherdirigierte. Dieser Wassergeist raste in Windeseile umher. Wo immer Spannungen auftraten, war er vor Ort, um Hitzköpfe abzukühlen. Und als der lange Hals des toten Drachen sich auf einmal aufblähte und Lava absonderte, war der Wassergeist zur Stelle, um ein ausbrechendes Feuer zu verhindern.
Gemeinsam konnten die Helden von Andor schier jedes Hindernis überwinden.

***

Nach wenigen Tagen schien die Lage sich größtenteils beruhigt zu haben.
Von Tarok war fast nur noch ein grobes, stinkendes Gerippe übrig, welches nun ebenfalls Stück um Stück abtransportiert wurde.
Die meisten Kultisten waren abgezogen. Einige wenige hatten in der Nähe des alten Wehrturms ein Lager aufgeschlagen, saßen in Kreisen herum und riefen wilde Worte in längst vergessenen Sprachen in den Himmel.
Das Interessanteste, was in den letzten Tagen geschehen war, war eine Gruppe von drei Jugendlichen gewesen, welche sich in die Narne geworfen hatten, um einige Knochen des Drachen herauszufischen. Sie hatten Bekanntschaft mit der reißenden Narne und den willensstarken Wassergeistern gemacht und waren erfolglos wieder herausgefischt worden. Nun saßen sie von Decken umgeben um ein Lagerfeuer und zitterten.
Die Krieger der Rietburg waren erschöpft und freuten sich aufs sich abzeichnende Ende der Knochenarbeit. Prinz Thorald hatte sich schon länger nicht mehr blicken lassen, vermutlich, weil er schon lange wieder in seinem weichen Bett in der Rietburg weilte.
Tarok war von einer imposanten Kreatur zunächst zu einem stinkenden Knochengerippe geworden, dessen letzten Überreste kaum als Teile eines Körpers erkennbar waren.
Iril saß auf einem Pferdekarren, der eine Pranke des Drachen in Richtung Narne transportierte, und unterhielt sich mit Chada und dem schlanken Wachmann Manus. Letzterer ließ sich soeben begeistert darüber aus, wie die Rietgarde jegliche Bedrohung von der Burg abwehren könnte, wenn sie denn nur einen Seher fänden und auf ihre Seite zögen. Chada selbst schien in eigene Gedanken versunken. Iril hatte nur am Rande mitgekriegt, wie sie sich kürzlich mit der Hohen Priesterin Gända gestritten hatte und letztere zurück in den Wachsamen Wald abgedampft war.
Drei Personen Begleitschutz pro Karren. Das war die Regel. Und an der Abladestation an der Narne wurden noch stärkere Sicherheitsvorkehrungen getroffen.
An diesem Nachmittag zeigte sich sogar Prinz Thorald wieder. Stolz galoppierte er auf seinem edlen Rappen an den entfernt voneinander durchs Rietland gezogenen Karren vorbei und sprach den Andori Mut und Tapferkeit zu. Manus unterdrückte sich ein Kichern, als Thorald zum dritten Mal an ihrem Karren vorbeirannte und ihnen Zugang zum besten Tropfen aus seinem Weinkeller versprach.
Die Lage war ruhig.
Zu ruhig.
Die Pferde schnaubten.
Ohne Vorwarnung teilten sich die Wolken am Himmel und ein Schatten stürzte sich auf ihren Karren. Ein gewaltiger Krark mit Flügelspannweite von mehrfacher Mannslänge warf sich auf die Pferde und riss sie beiseite. Zwei in Kutten gekleidete Skrale sprangen aus dem hohen Rietgras auf den Weg und gaben den Reittieren den Rest. Das panische Wiehern erstarb abrupt. Die echsenhaften Kreaturen bleckten ihre Zähne und bedachten die Kutscher mit milchigen Augen.
Der riesige Raubvogel drehte sich zum Kutschbock herum und starrte den drei dort stationierten Personen entgegen. Dann schwang er sich über die beiden Skrale und die drei Kutscher hinweg und grub seine Klauen in die Überreste von Taroks Pranke, die auf dem Karren transportiert wurde. Mit mächtigen Schlägen seiner Schwingen versuchte der Krark, abzuheben.
Manus war als erster auf den Beinen, sprang auf die Drachenpranke und stocherte mit einem Schwert nach dem Krark.
Chada wirbelte so schnell herum, dass ihr langer Zopf beinahe Irils Kopf getroffen hätte, wenn er nur ein klein wenig höher gelegen hätte. Chada legte einen Pfeil in ihren treuen Bogen Audax, während Iril magische Kraft in ihrem Runenhammer sammelte. Iril schleuderte die magische Waffe auf den linken Skral und warf ihn zu Boden. Ein Pfeil surrte an ihr vorbei und bohrte sich tief in die Brust des Skrals. Chada warf Iril ein aufmunterndes Grinsen zu.
Ein menschlicher Schrei ertönte und verklang ebenso abrupt. Iril fuhr herum. Der gekrümmte Schnabel der Krarks hatte sich in Manus‘ Nacken verbissen und dem tapferen Soldaten innert Augenblicken ein blutiges Ende bereitet.
Iril versuchte, sich wieder umzudrehen, sich dem letzten Skral zuzuwenden, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Wie gebannt starrte sie auf Manus‘ Leichnam, versuchte, zu verarbeiten, was soeben aus diesem freundlichen Gesellen geworden war.
Wie in Zeitlupe nahm sie wahr, dass der Krark seine Flügel ausbreitete, seine Krallen tief in Taroks tote Pranke grub und nun ungestört in den Himmel abhob. Unter ihm schwankte ein fleischiges Stück von Taroks Pranke.
Ein Pfeil drang tief in den Schädel des Krarks ein. Der Krark krächzte und ächzte gequält. Leblos krachte das Vieh wieder auf den Boden zurück und begrub den Karren unter sich.
Pferdegetrappel ertönte. Prinz Thorald und sein edler Rappen waren zur Rettung gekommen. Thoralds Lanze riss den letzten Skral zu Boden. Die Hufe seines Reittiers gaben ihm den Rest.
Chada fand Manus‘ Hand, fühlte nach seinem Puls und ließ enttäuscht ihren Kopf sinken. Bei den Pferden machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe. Sie waren offensichtlich aus dieser Welt geschieden.
Chada legte ihre Hand auf Irils Schulter und blickte ihr in die Augen.
„Geht es dir gut? Bist du verletzt?“, fragte ihre helle Stimme.
Gute Güte, sie schien so jung, und doch so unbekümmert ob des soeben Geschehenen. Iril schüttelte ihren Kopf und sortierte ihre Gedanken.
„Alles in Ordnung“, brachte sie hervor. Das genügte Chada fürs Erste. Die Heldin richtete sich auf und überprüfte, dass die beiden Skrale auch wirklich das Zeitliche gesegnet hatten.
Thorald stieg von seinem Pferd ab und warf Chada einen selbstgerechten Blick zu.
„Immer wieder gerne bereit, zu helfen“, sprach er.
Traurig blickte er in die Ferne, sein Mantel im Wind wehend.
„Der arme Manus. Er konnte mir so einiges beibringen in seiner Zeit. Wäre ich nur früher hier gewesen ...“
„... hättest du den Riesenvogel etwa mit deiner Lanze abzustechen versucht?“
Thorald murmelte etwas vor sich hin und fuhr sich durch die Haare. Anschließend sprach er mit Bedacht: „Diese Kultisten hofften, sich dieses Stück von Taroks Leichnam mit Gewalt verschaffen zu können, und dies kostete einer der unseren sein Leben. Das darf nicht sein. Wir lassen uns von ihnen nichts vorschreiben. Uns nicht einschüchtern. Lasst dieses Stück Drachenfleisch in die Rietburg bringen. Wir werden sie in unserer Schatzkammer einschließen. Als Trophäe für den erschlagenen Krark – und den erschlagenen Drachen. Als Andenken an Manus – und alle anderen, die in den letzten Tagen ihr Leben gaben. Und vor allem als Zeichen, dass die Kultisten diese Pranke niemals haben können werden!“
„Was?!“, fragte Chada ungläubig. „Das ist nichts als ein vermoderndes Stück Fleisch, das wir gerade eben loswerden sollten, damit es nicht die falsche Aufmerksamkeit zieht. Hat die Schatzkammer überhaupt Platz dafür?!“
Thorald knurrte: „Ich bin der Regent von Andor. Der zukünftige König. Wenn ich will ...“
„Natürlich, wenn du willst, wird es so sein. Aber was bringt dir das? Diese Tatze ist tot und stinkt. Keiner ...“
„Na gut, na gut“, murmelte Thorald, „Der Geruch könnte tatsächlich ein Problem werden. Lasst uns einfach ...“
Thorald stach mit seinem Dolch in das Fleischstück hinein, rümpfte seine Nase und angelte einige Fußknöchelchen des Drachen hervor. Für Tarok mochten sie winzig gewesen sein, doch war jedes einzelne größer als Thoralds Hand.
„... lasst uns lieber nur einige Drachenknochen mitnehmen. Als Andenken, Trophäe und Zeichen, dass wir uns nicht von den Kultisten einschüchtern lassen.“
„Thorald, bitte, halte ein und überlege dir noch einmal gut, worin du dich hier verrennst ...“
Iril ließ die beiden sein, sprang vom Kutschbock, hielt ihre Nase zu und sammelte ihren Hammer von der Fratze des linken Skrals ein. Sie versuchte, die tote Kreatur nicht allzu genau anzusehen.
Mit Nase und Augen abgewandt, nahm dafür ihr Gehör etwas wahr. Ein Rascheln im Rietgras fiel ihr auf.
Vorsichtig trat Iril nach vorne, hob ihren Hammer, und ...
... blickte tränennassen Augen entgegen. Versteckt im hohen Rietgras lag Schamanin Sagramak. Ihre glänzende Rüstung hatte sie gegen ein Lumpengewand eingetauscht, doch diese gebrochene Nase erkannte Iril problemlos.
Sagramak bewegte ihren Mund, als suche sie nach Worten. Ihre entsetzten Augen schwirrten zwischen der vor ihr stehenden Iril und dem toten Krark hin und her. „Nein ... nein, das hätte alles nicht so ...“
„Hierher!“, rief Iril zu Chada und Thorald.
Hastig rappelte sich Sagramak auf und versuchte, ihre Fassung zu wahren. Eine Waffe zog sie allerdings nicht. Stattdessen jaulte sie: „Dies hätte nicht so kommen sollen. Ihr hättet uns einfach Zugang zu Taroks Körper geben sollen!“
„Und nun, wo ihr es nicht konntet, versuchtet ihr es mit Mord und Totschlag?“, erklang Chadas zornige Stimme.
„Euer Krieger ...“, ächzte Sagramak, „Ich wollte nicht ... die Instinkte des Krarks ... es tut mir so leid.“
„Das kommt davon, wenn man zur Axt statt zum Schild greift“, sprach Thorald geschwollen.
„Wir mussten zu solchen Mitteln greifen!“, rief Sagramak. „Was sollen wir denn sonst tun, um unsere Stimme hörbar zu machen?!“
„Wir hören euch doch schon“, rief Thorald wenig hilfreich, „Aber eure Belange kümmern uns wenig!“
Frustriert fauchte Sagramak auf, wirbelte herum und verschwand überraschend, gar unnatürlich rasch tiefer im hohen Rietgras.
Chada hielt Audax im Anschlag und zielte. Und zögerte.
„Na, mach schon!“, fuhr Thorald sie an, „Schieß!“
Chadas blinzelte unentschlossen, doch ihre Hand blieb ruhig.
Iril dachte zurück an die mit einzelnen Pfeilen getroffenen Skral und Krark. Ihr fuhr es schaurig den Rücken herunter. Sie hatte gehört, dass die Bewahrer ihren Bogenschützen beibrachten, Tiere mit nur einem einzigen Schuss zu erlegen, damit sie keine unnötigen Qualen litten. Man wollte sie lieber nicht zum Gegner haben.
Entschieden ließ Chada ihren Bogen sinken. „Sie ist keine Gefahr. Taroks Körper ist die Gefahr, und was man damit alle für finstere Rituale auslösen könnte.“
Thorald schnaubte auf und blickte zurück zu seinem Pferd, unzweifelhaft kalkulierend, ob die durchs Rietgras davonsprintende Sagramak den Aufwand einer Verfolgung wert war. Schließlich winkte auch er ab. „Die sehen wir so bald nicht wieder. Kümmern wir uns lieber darum, den Karren zu reparieren. Und den Toten einen würdigen Abschied zu bereiten.“
Er blickte Chada und Iril vielsagend an und galoppierte dann einfach davon. Vielleicht kam es ihm nicht einmal in den Sinn, dass er selbst hätte aushelfen können.
Iril schluckte schwer und begann damit, Manus‘ Leichnam vom Karren zu heben.

***

Noch am selben Tag war es vorbei.
Der restliche Abtransport von Taroks Leichnam ging ohne Probleme vonstatten. Eine Priesterin aus der Kapelle der Rietburg trat an die Narne und sprach einige friedliche Worte, während die letzten Überreste der Riesenechse ins Hadrische Meer trieben. Wassergeister plätscherten unverständliche Worte der Warnung gegenüber den Kultisten, die der Narne zu nahe kamen – und gegen die Krieger, die ihren schönen Fluss mit finsteren Knochen, Fleisch und Blut besudelt hatten.
Manus Körper wurde aufgebahrt. Krieger zollten ihm Respekt. Seine Familie bereitete den Totenritus vor.
Soldaten stellten sicher, dass die großen Blutlachen vor dem alten Wehrturm aus dem Rietgras gewaschen waren. Dann traten sie zurück und ließen die trauernden Kultisten nähertreten. Viele von ihnen sanken zu Boden. Manche weinten, manche suchten nach Überresten des Drachen, und sei es nur, um ein Stück einer Schuppe oder eine Phiole verschmutzten Drachenblutes finden.
Die meisten Helden von Andor blickten einander unsicher an. Dies war definitiv nicht so, wie sie sich das Nachspiel eines heroischen Drachenkampfes vorgestellt hatten. Und einige schienen unsicher, ob sie auf der richtigen Seite dieses Konflikts gestanden hatten.
Sei dem, wie es sei, es war vorbei. Taroks Leichnam war fort. Keiner konnte den Körper mehr für etwaige finstere Zwecke nutzen. Die Helden konnten wieder abziehen. Manus‘ Familie konnte um ihn trauern.
Die Hüterin der Flusslande teilte den restlichen Helden mit, dass sie hierbleiben würde. Unter den Drachenkultisten hatten sich auch ein, zwei Flussländer befunden. Mit ihnen würde sie demnächst ein Wörtchen sprechen.
Die restlichen Helden verstreuten sich wieder in alle Himmelsrichtungen.
„Kommst du mit?“, fragte eine tiefe Stimme hinter Iril. Diese erschrak, als sie im Sprechen den berühmten Kram aus den Tiefminen erkannte, fasste sich aber auch wieder rasch.
„Wie meint Ihr?“
„Bitte, du kannst das Du nutzen. Ich bin Kram. Danke für deine Unterstützung. Kommst du nicht auch von Cavern? Ich breche dorthin auf. Du könntest dich mir anschließen.“
Iril fasste sich ein Herz.
„Ich weiß nicht. Ich stamme eigentlich von Silberhall. Ich fühle mich in Cavern nicht mehr wirklich zuhause.“
„Das verstehe ich“, murmelte Kram, „Ich bin mir auch nicht mehr sicher, wo mein Herz mehr liegt. Doch ändert das nichts daran, dass es eine wahre Freude ist, bei meiner Familie in Cavern zu sein.“
„Familie, ja“, schluckte Iril, und dachte an Iolith. „Die habe ich nicht mehr hier. Bitte, richten S ... richte Du einen Gruß an deine Familie aus. Es sind feine Gesellen. Aber in Cavern hält mich nichts mehr.“
Kram kratzte sich am behelmten Kopf, nickte dann aber und wandte sich in Richtung Süden. An seiner Seite stapfte der große Wolfskrieger.
„Na, auch auf zum Trunkenen Troll, Kram?“
„Nee, Papa kommt bestimmt schon um vor Sorge.“
„Dein Pech. Ich gönne mir jetzt mindestens eine Woche Auszeit in Gildas Taverne. Danach können wir uns Gedanken machen über den Wiederaufbau all dessen, das vernichtet wurde.“
Iril sah die beiden Helden abziehen. Sie wusste nicht, wo sie hinsollte. Doch wusste sie, dass es sie nicht nach Cavern zog. Beim Gedanken, dorthin zurückzukehren und vor den Behausungen ihrer toten Familie herumzulungern, drehte sich ihr Magen um. Nein, in Cavern gab es nichts für sie. Zeit, zu schauen, ob sie den Andori helfen konnte.

***

Iril folgte einer Gruppe abziehender andorischer Krieger in Richtung Rietburg. Nachdem sie sich im Debakel mit den Kultisten auf die Seite der Helden gestellt und eine edle Rede über Manus‘ tapferen Einsatz geschwungen hatte, erfuhr sie kaum Misstrauen der Rietgarde. Die Krieger des Königs waren ohnehin größtenteils viel zu erschöpft, um sich groß um sie zu kümmern.
Die Türme der Rietburg ragten hoch in den Himmel. Auch über diesem Gemäuer hing eine dunkle Rauchwolke vom letzten, doch das ewige Feuer vor den hohen Toren flackerte in hellem orange. Ein Zeichen, dass die Gefahr sich gelegt hatte. Dass die Andori in das befreite Gemäuer zurückkehren und sich an die Reparaturen machen konnten.
Iril erlebte am Rande mit, wie Prinz Thorald mit viel Theatralik den Sack mit Taroks letzten Fußknochen in den Thronsaal brachte.
„Der bringt die Knochen jetzt in seine Schatzkammer, wo auch der Bruderschild verstaubt. Einer der vier mächtigen Schilde aus uralter Zeit. Die Helden von Andor fanden ihr vor einigen Jahren wieder. Nun verrottet er jedoch die größte Zeit in Thoralds Prunksaal“, sprach eine tiefe Stimme.
Iril blickte sich um. Neben ihr stand ein Zwerg in voller Plattenrüstung, der sich auf einen langen Hammer stützte und das Geschehen mürrisch beobachtete. Seine kahle Stirn glänze im Sonnenlicht. Sein langer Bart war wohl einst rötlich gewesen, nur jedoch eher braun und grau vor lauter Dreck. Einer der Schildzwerge, die bei der Befreiung der Rietburg mitgeholfen hatte?
Iril, die sehr wohl gewusst hatte, was der Bruderschild war, blieb stumm. Dies nahm der mürrische Zwerg zum Anlass, fortzufahren: „Ich könnte es zumindest respektieren, wenn die Helden den Bruderschild für gute Zwecke einsetzen würden. Wenn er aber ohnehin nur in der Privatsammlung eines Prinzen Staub sammelt, könnte man ihn geradesogut denjenigen zurückgeben, die ihn wahrlich verdient hatten. Den Schildzwergen. Den Nachkommen Kreatoks. Nicht wahr?“
Iril dachte zurück an den Silberschild, denjenigen mächtigen Schild aus Kreatoks und Nehals Sammlung, der schon seit Jahrzehnten in Silberhall Staub sammelte. Sturmschild nannte man ihn auch, da er es seinem Träger erlaubte, sich die Winde untertan zu machen. Einige der darauf zu findenden Runen hatten den Runenmeistern gereicht, um solche Effekte in kleineren Skalen zu replizieren. Doch davor, die Sturmwinde über dem gesamten Hadrischen Meer zu befehligen, wie es Träger des Sturmschilds konnten, träumten die Runenmeister nur. Erst recht, solange Arkteron, der Herr der Stürme, in den wogenden Meereswellen lauerte.
Iril hatte den Silberschild nur einmal aus der Ferne gesehen. Schon seit längerem war er nicht mehr aus der Schatzkammer geholt worden. Die Silberzwerge, die Werftheimer und die Taren hatten Rat gehalten und beschlossen, den Schild lieber nicht zu demonstrativ präsentieren. Nicht, dass die Mächte des Meeres sich durch dieses höchste Gut zwergischer Schmiedekunst provoziert fühlten. Eines Tages würden würdige Träger vielleicht in der Lage sein, den Schild zum Wohle des Nordens einzusetzen. Doch bis dahin hielt man ihn lieber versteckt.
Iril schüttelte ihren Kopf. In die Politik der mächtigen Schilde wollte sie sich nicht einmischen. Die meisten Geheimnisse dieser Schilde waren bereits enthüllt worden. Und ob sich seit Kreatoks Tod je wieder wirklich würdige Träger dafür finden sollten, stand in den Sternen geschrieben.
Der mürrische Zwerg vor Iril schien ihre mangelnde Antwort richtig zu interpretieren und deutete zum Themenwechsel auf ein nahegelegenes Hausdach.
„So hätten wir mit dem Drachen umgehen sollen“, murmelte er.
Es dauerte einen Augenblick, bis Iril erkannte, was ihre Augen wahrnahmen. Ein gewaltiges geschupptes Wesen lag quer über dem Dach des Palas‘, mit einigen Pfeilen quer aus seiner Kehle ragend. Rückenstacheln länger als ein Arm. Hörner länger als ein ausgewachsener Mensch. Ein doppelt so langer Schwanz. Eine dampfende, blau glühende Flüssigkeit tropfte aus einem vielzahnigen Mund. Iril schauderte es bei seinem Anblick. Welch finstere Kreaturen hatte dieser Drache befehligt?!
Leitern waren rund um das Gebäude angebracht worden. Um das gewaltige Wesen standen und saßen viele Andori auf dem Strohdach und entfernten Fleischstücke aus dem Leichnam. Andere reichten die Fleischstücke an den Boden, wo sie auf verschiedenen Feuern landeten.
Iril fiel besonders ein kleiner Wichtel in einem Kapuzenmantel auf, der am Boden stand und mit großen Gesten etwas herumdirigierte. Umso überraschter war Iril, als sie sah, dass auf das Winken und Wedeln des Wichtels ganze Fleischstücke der geschuppten toten Kreatur von grünem Licht erfüllt wurden und sanft zu Boden schwebten. Der Wichtel grinste fröhlich bei der Arbeit. Glitzernder Sand rieselte aus seinen Händen, während er weiter herumzauberte.
„Wunderst du dich über das kleine Männlein?“, sprach der mürrische Zwerg. „Das ist Wrort. Er sagt, er sei aus einem fernen Land angereist. Will aber nicht sagen, woher. Magisch begabte Wesen, diese Wichtel. Mir sind sie nicht ganz geheuer. Und das riesige Viech auf dem Dach nennt man einen Mhourl. Schon lange haben wir keine mehr gesehen. Es ist kein gutes Zeichen, dass sie jetzt wieder auftauchen. Ich bin übrigens Lafgar. Sag, kannst du auch sprechen?“
„Wenn man mich lässt“, grinste Iril und stellte sich vor. Lafgar grinste nicht, begrüßte sie jedoch mit einem Faustschlag.
„Warum wird der Mhourl denn erst am Boden verbrannt? Kann man ihn nicht schon dort oben verbrennen?“, fragte Iril neugierig.
„Nicht, ohne die ganzen Dächer anzuzünden. Mit getrocknetem Rietgras wurden sie gedeckt“, lachte Lafgar kopfschüttelnd, „Als wollte jemand, dass sie in vom erstbesten fliegenden Funken in Brand gesteckt werden.“ Er lachte leise beim Gedanken daran.
„Das wäre ein Feuerfest geworden, wenn der Drache bis zur Rietburg gekommen wäre“, brummelte Lafgar weiter. „Aber das hätte mich nicht gefreut. Diese Rieseneidechse entkam dem Tod schon zu lange. Ein hirnloses Biest war das, dafür müsste niemand das Ewige Glück in der Narne suchen. Wie sehr hätte es mich erfreut, wenn man den gewaltigen Fleischvorrat genutzt hätte und auch noch in zwei Jahren davon hätte zehren können.“
„Drachenfleisch kann Körper und Geist vergiften“, meinte eine fremde Stimme, „Es ist gut, dass wir es so rasch wie möglich beseitigten.“
Iril blickte sich um und erblickte einen weiteren Gesprächigen, einen jungen Andori, der sich zu ihnen gesellt hatte. Er trug bereits die Kleidung eines andorischen Kriegers, doch schien das Schwert an seinem Gürtel eher zu Trainingszwecken.
Lafgar und der Andori tauschten einige kreative Beleidigungen des toten Drachen aus. Iril lachte mit ihnen. Dann erinnerte sie sich und fragte interessiert: „Wer ist eigentlich dieser Reiter des Drachen mit dem langen Schwert? Ich glaube, ihn unter den Drachenkultisten gesehen zu haben.“
„Ein Drachenreiter?! Keine Ahnung“, brummte Lafgar, „Man muss doch verrückt sein, um auf diesen Dingern reiten zu wollen.“
Das Gesicht des jungen Andori hellte hingegen auf. Er sprach zur Begrüßung seinen Namen – Peta – und berichtete dann beflissen: „Ihr habt den Drachenreiter unter den Kultisten gesehen? Das ist bedenklich. Wenn auch kein Wunder. Das ist der Schwarze Herold. Eine Sagengestalt. Aber keine erfundene. Ich habe ihn auch schon gesehen. Er unterstützt alles Böse in Andor. Er treibt die Kreaturen des Drachen an.“
„Heißt das, dass die Drachenkultisten die nächsten Bösen der andorischen Geschichte sind, wenn er nun bei ihnen weilt?“
Peta antwortete: „Fest steht, dass diese Drachenkultisten dem Königreich nichts Gutes wollen. Ehrlich, ich kann nicht verstehen, wie man die Drachen anbeten kann.“
„Vielleicht haben sie Angst statt Ehrfurcht“, überlegte Iril, die an die belauschte Konversation von Hildorf dem Meisterschmied zurückdachte. „Wenn man denkt, dass die Drachen einen nach seinem Tode richten werden, würde man durchaus einiges tun, um ihre Gunst zu gewinnen.“
„Verzeiht ihre Taten noch lange nicht.“
„Der Prinzen ist jedoch auch nicht automatisch im Recht. Der Drachenleichnam ist zu gefährlich, um anderen Zugang dazu zu gewähren, und doch lässt Thorald sich dazu hinreißen, einige Knochen in seine Schatzkammer zu bringen?“
„Unser Prinz wird seine guten Gründe gehabt haben“, sprach Peta.
„Pah“, meldete sich nun der mürrische Lafgar wieder zu Wort, „Als ob der Prinz wüsste, was er tut. Mit der Rietgraskrone auf Thoralds Kopf wird das Leben nirgendwo besser werden. Wir können von Glück reden, wenn er keinen Krieg mit den Drachenkultisten anzettelt. Oder einen Aufstand der Flussländler. Oder die Barbaren wieder vertreibt. Er ist vieles, aber kein Diplomat. Und kein feiner Herrscher.“
„So einen feinen wie Brandur wird es nie wieder geben“, sprach Peta andächtig. Lafgar gluckste ungläubig. Ehe er zu einer potenziellen Tirade über den Landräuber Brandur ausbrechen konnte, mischte sich Iril ein:
„Mit Verlaub. Brandur war nur ein König. Ein guter König vielleicht, aber immer noch nur ein König. Ein Mensch, der Fehler macht. Sein Sohn wird auch Fehler machen. Aber er wird dieselben Berater haben, dieselbe Burg, dieselben tapferen Krieger an seiner Seite. Worüber macht ihr euch solche Sorgen?
Peta antwortete leise: „Oh, ihr kennt Thorald noch nicht. Er ist ein ausgezeichneter Reiter und gut im Umgang mit der Lanze, aber das ist auch schon alles. Und ihr versteht nicht, wie beliebt König Brandur hier war. Brandur hat unsere Großeltern im Alleingang als Jugendlicher aus der Sklaverei ins Freie geführt. Todesmutig verschaffte er allein seinem Gefolge einen Weg am Drachen Tarok vorbei. Später verteidigte er die hier Angekommenen, die Andori, in den Trollkriegen immer und immer wieder aufs Neue. Er ist ein Held. Manche sehen ihn als Geschenk von Mutter Natur höchstpersönlich. Schon als kleiner Junge träumte ich davon, einer seiner Krieger zu werden. Als ich ihm das erste Mal gegenüberstand, dachte ich, mein Herz schlüge aus meiner Brust hinaus vor Aufregung. Manche dachten, Brandur könne gar nicht sterben. Er wurde älter und älter, und natürlich auch gebrechlicher, doch sein Wille schien nie gebrochen ...“
„Unsinn, sein Wille ward mehrmals gebrochen.“, unterbrach ihn Lafgar wieder, „Unlängst brauchte es gar ein seltenes Heilkraut, um seine angeschlagene Stimmung zu retten. Und als sein böser Bruder die Agren terrorisierte, bot Brandur ihm einen Platz an seiner Seite an. Sein eigen Blut kümmerte ihn schon seit jeher mehr als alles andere. Erinnert ihr euch noch an die Zeit, als Thorald im Eisschlaf feststeckte und Brandur nur noch vor sich hin trauerte, statt eine Lösung zu suchen? Brandur war anfällig auf Fehler wie wir alle. Und dann erst die Gerüchte, dass er in vor nicht einmal so langer Zeit einigen un- und verheirateten Damen ...“
„Schweig stille“, zischte Peta, „Das ist unser König, über da sprichst!“ Wut glitzerte in seinen Augen.
„Eben nicht mehr“, gab der übellaunige Zwerg zurück.
Peta nickte traurig und wandte sich ab. „Nicht einmal eine ganze Woche ist er von uns gegangen, und schon spricht man schlecht von ihm. Natürlich tat man das auch schon vorher, aber nun, mit Thorald an seiner Stelle ...“
Peta verstummte und schüttelte seinen Kopf. „Nicht verzagen. Wir können noch hoffen. Und unser Bestes geben. Vielleicht, mit etwas Glück und Verstand, werden auch die Jahre von König Thoralds Regentschaft durch Frieden und Freude gezeichnet. Vielleicht sogar mehr als die Jahre von Brandur selbst. Wir können noch hoffen.“
Iril nickte bloß. Sie verabschiedete sich von den beiden und kehrte in den Flüchtlingslagern an der Rietburg ein. Die nächste Zeit würde sie hier verbringen und aushelfen, wo sie konnte.
Anfangen würde sie beim Zerteilen des Mhourls.
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