Die tapferen Helden Chada, Thorn, Eara, Kram, Fenn, Hogo, Bragor, Kheela, Iril, Ijsdur, Aćh und Barz fanden sich beim ersten Sonnenlicht im Rietland zusammen. Leise Worte wurden gewechselt.
„..., zehn, elf, zwölf“, zählte Chada, „Wo ist Tenaya?“
Eara kannte die Antwort: „Tenaya wollte unbedingt mit ihrem ehemaligen Meister Lifornus und diesen beiden Danwaren an der Stätte der heiligen Flammen in der Barbarensteppe diesen Lavastein in des Feuerkriegers Brust untersuchen. Sie hoffen wohl, mit ihren Feuerzaubern etwas darüber herauszufinden, was den beiden Orden Danwars entgangen wäre. Und ausgerechnet so weit im Osten! Mit ihnen – und mit Flaps – können wir in der nächsten Zeit nicht rechnen. Meister Lifornus meinte gar, er wolle bis im nächsten April an der Stätte der heiligen Flammen verbleiben. Irgendeine mächtige Sternenkonstellation soll dort am 1. Tag des 4. Mondes eine besondere Macht enthüllen.“
„Lifornus?“, horchte Barz auf. „Etwa derselbe Lifornus ...“
„Derselbe Lifornus, der so leichtsinnig einen Drachen und einen Takuri beschwor?“, fragte Chada mit einem schiefen Grinsen, „Ich kenne die Geschichten der großen Geschehnisse in Thakkum. Nein, Tenayas Lifornus ist erheblich älter und etwas weiser als der eure.“
„Der Name ist in Hadria weit verbreitet“, steuerte Eara bei.
Barz wollte schon zur Verteidigung der Weisheit seines Lifornus antreten, überlegte es sich dann jedoch wieder und schloss seinen Mund.
„Folglich sind Tenaya, Jarid und Trieest heute allesamt nicht zu erwarten“, rekapitulierte Chada.
Kram fügte an: „Und Orfen ist mal wieder mit Merrik im Grauen Gebirge unterwegs. Auf ihn müssen wir auch nicht warten.“
„Orfen und Merrik?“, meinte Barz, „Dieser brummige Wolfsfreund und dieser Kartenzeichner, der keine rohen Fische essen will, ja, der sogar Stahlfischöl ausschlägt? Ich kenne sie beide, einst verschlug es sie mitten in unsere schöne Steppe. Wie geht es ihnen?“
„Du kennst sie?“, meldete sich Iril, „Orfen haben wir erst kürzlich getroffen. Er hatte vor Taroks Tod einen beeindruckenden Sieg über den Schwarzen Herold errungen.“
Thorn sagte: „Zu schade, dass Merrik weg ist. Er hätte den Tulgori bestimmt bei ihrer Kartographie aushelfen können.“
Kram meinte: „Ich bin mir da nicht so sicher. Kartographen sind so ein Völkchen, die wollen manchmal lieber ihre eigenen Karten zeichnen, als die anderer zu kopieren.“
„Zumindest abgleichen hätte man sie anschließend können.“
„Können sie ja später immer noch.“
Chadas Stimme unterbrach die Gespräche: „Verzeiht, werte Anwesende, doch wollen wir den Tratsch nicht in die Taverne verschieben und uns zunächst auf die dringlicheren Probleme berufen?“
Es wurde still in der Versammlung der Helden. Barz‘ Fokus richtete auf Chadas Bogen, den die Bewahrerin an einen Stein gelehnt hatte und der nun direkt vor ihm lag. Barz griff danach, staunte über seine Länge und zupfte probehalber an der Sehne.
Er nickte Chada anerkennend zu. Diese bat ihn freundlich lächelnd, Audax doch bitte in Ruhe zu lassen. Barz‘ Mund formte lautlos die Silben „Audax“. Dass die Bewahrer ihren Waffen eigene Namen gaben, half ihrem mythischen Status.
Chada eröffnete die wöchentliche Versammlung der Helden von Andor. Es gab Berichte über die Heldentaten der letzten Woche auszutauschen, verschiedene Hilfsbedürfnisse abzuwägen und Pläne zu ihrem Handeln zu treffen. Auch wenn die Helden von Andor keine strikte Struktur wie der Bewahrerorden besaßen und ihre Mitglieder eigentlich frei handeln konnten, hatten sich in der wilden Zeit nach Taroks regelmäßige Absprachen als äußerst hilfreich erwiesen.
Insbesondere jetzt, wo sie die neugierigen Tulgori bei ihrer Kartographie des Landes zu beschützen hatten.
Die Helden waren zum Aufbruch bereit, als sie in der Ferne einen Mann sahen, der schnell in ihre Richtung lief.
„Wir brauchen eure Hilfe! Andor ist in großer Gefahr! Dreifacher Gefahr!“, rief der Andori atemlos, als er endlich die Heldengruppe erreicht hatte. Vierundzwanzig Heldenaugen und einige Tulgori blicken ihn erwartungsvoll an.
In Irils Magen machte sich ein Unwohlsein breit, als sie die Verzweiflung im Gesicht des Mannes deutete. In letzter Zeit hatte sie wie die meisten restlichen Helden auch den Andori geholfen, Taroks Spur der Zerstörung ungeschehen zu machen. Bauernhäuser waren wieder aufgebaut worden. In die Rietburg geflüchtete Bauern konnten endlich wieder zu ihren Katen und Feldern zurückkehren.
Doch die Lage sah nicht gut aus. Kaum eines der Felder hatte den Zorn des Drachen überstanden und so versuchten die Andori durch Fischfang und Jagd zu überleben. Doch mussten sie stets fürchten, selbst zur Beute zu werden. Und wie sollten die tapferen Andori das wenige übrige Korn ernten, wenn sie jederzeit einen Angriff fürchten mussten? Der kommende Winter würde bald seine eiskalte Hand ausstrecken. Die Zeit drängte.
Und so hatten sich die Helden von Andor, darunter auch die neu dazu gestoßenen Iril, Ijsdur, Aćh und Barz, nach getaner Arbeit nicht etwa ausruhen können, sondern mit doppeltem Elan an die Verteidigung der tapferen Andori gemacht.
Tapfer waren die Andori wirklich. Schon von Kind auf bekamen sie von ihren Eltern eingebläut, die Kreaturen zu fürchten, ja, es gab sogar Kinderreime dazu. Abgehärtet, wie sie waren, lösten einzelne Gors und Skrale in ihnen kein Schlottern aus, sondern nur einen zügigen temporären Rückzug in sichere Verstecke. Manchmal gar einen Griff zur Mistgabel. Was konnte also vorgefallen sein, dass dieser eine Andori vor ihnen derart ängstlich angerannt kam? Von welch dreifacher Gefahr sprach er wohl?
„Es ist Shron, der Sohn des Hark, der uns bedroht“, sagte der Mann, nachdem er sich etwas beruhigt hatte. „Er zieht durch das Land und rüstet sich für einen Angriff auf die Rietburg. Mehr und mehr Kreaturen schließen sich ihm an.“
„Den übernehmen wir!“, rief Thorn aus, „Mit ein bisschen Hilfe von Reka konnte ich vor einigen Jahren schon seinen Vater ausschalten. Ich fühle, Harthalts Tod ist noch nicht genug gerächt! Ich dürste nach Skralblut!“
Kram wich etwas zurück, als er die Mordlust in Thorns Blick erkannte. Chada trat hinter Thorn und legte ihm besänftigend eine Hand auf die Schulter. Er verstummte. Chada erhob selbst ihre Stimme und sprach etwas gefasster: „Wenn wir Shron einen Schrecken einjagen können, der für den Rest seiner Tage auf seinem Gesicht geschrieben steht, genügt das schon.“
„Viel kann man von seinem Gesicht nicht sehen“, meinte Eara, „Wir haben Shron gerade erst bei der Befreiung der Rietburg getroffen. Er war der Skral mit der eisernen Maske.“
„Umso besser!“, lachte Thorn, „Da kann man tatsächlich einen Schrecken draufschreiben.“
Chada, Thorn, Eara und Kram wichen etwas zurück und berieten sich darüber, wie man am besten die Bildung eines Kreaturenheers verhindern könnte. Der Andori, der die Botschaft überbracht hatte, atmete rasch ein und aus, als er nach weiteren Worten rang.
„Du sagtest, da sei noch mehr?“, hakte Kheela nach, die Hüterin der Flusslande, die oft mit einem danwarischen Stab einen Wassergeist umherlenkte. Gerade tanzte Vara über ein nahegelegenes Feld und löste die Schneespuren auf, die ein gewisser unachtsamer Eis-Dämon beim Darüberspazieren hinterlassen hatte.
„Ja, da ist noch mehr. Es ist Skuvar“, nickte der Mann, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, „und mit ihm sind die Maasavi erwacht. Skuvar ist ein uralter Erdgeist. Die Maasavi sind seine Schatten, die Seele der andorischen Erde. Ich weiß nicht, was sie hervorgelockt hat, doch Skuvar wurde unweit der Rietburg gesehen.“
Der Mann schnappte kurz nach Luft und sprach dann: „Ihr könnte ihn nicht verfehlen. Ein massiger Körper mit einem dehnbaren Mund, der blau leuchtet. Rücken- und Schwanzstacheln, länger als mein Unterarm. Und gewaltige Vorderbeine, auf denen er sich manchmal im Handstand fortbewegt. Seid wachsam. Die Maasavi folgen seinem Ruf und werden angetrieben von Eurem Willen, Andor zu verteidigen.“
„Ich kenne mich mit Erdgeistern aus!“, rief Kheela, „Vara wird uns helfen, sie zu besänftigen. Wir hatten in den Flusslanden schon mal mit einigen zu ringen.“
„Gehen wir vorhin zum Thronsaal und holen uns den Bruderschild, auf dass Bragor uns an der Kraft seiner prallen Muskeln Anteil haben lassen kann?“, schlug Fenn vor.
„Ich verstehe immer noch nicht, warum wir den Schild diesem König geben mussten“, flüsterte Bragor laut genug, um von allen Anwesenden gehört zu werden. Taren hatten bekanntlich unglaublich gute Ohren, flüsterten aber offenbar dennoch ziemlich laut. „Jetzt vergammelt der Bruderschild die größte Zeit in der Burg, während Brandurs Sohn, der Schürzenjäger, oft nicht mal in dort ist, und den Schild noch seltener nutzt.“
Hogo stupste Bragor zwar in die Rippen, um ihn vom unbedachten Sprechen abzuhalten, doch handelte er sowohl zu spät als auch zu sanft, damit Bragor es überhaupt registrierte.
Barz blickte Bragor fasziniert an, wie jedes Mal in den letzten Tagen, wenn Bragor sprach. Barz hatte Iril zwar erklärt, dass er im Tarus nicht den fleischgewordenen großen Büffel sah, den die Yetohe in ihm gesehen hatten. Dennoch schien ihn etwas an diesem Fremden aus Sturmtal zu faszinieren.
Hogo, Bragor, Fenn und Kheela koppelten sich ebenfalls von der restlichen Heldengruppe ab.
Damit blieben noch die vier neusten Helden von Andor übrig.
Die Augen des Mannes wurden leicht glasig, als er zu schlottern begann. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, berichtete er den Helden von einer weißen Gestalt, umgeben von Wirbeln aus Schnee und einem solch kalten Blick, dass man meinte, sofort zu Eis zu erstarren. Nur Augenblicke später sei die Gestalt wieder verschwunden.
„Siantari ...“, flüsterte ein Tulgori blass. „... eine Dämonin des Kuolema. Ihr müsst sie finden und aufhalten, sonst wird sich das ganze Land in eine Eiswüste verwandeln. Es hat sicher schon begonnen ...“
Ijsdur, der die Tulgori überhaupt erst vor Siantari gewarnt hatte, nickte stumm. Der Mann, dem Ijsdurs Anwesenheit überhaupt erst jetzt aktiv aufzufallen schien, blickte ihn erwartungsvoll an. Dieser erwiderte den Blick still, offensichtlich nicht kapierend, was man von ihm erwartete. Da meldeten sich Aćh und Barz beinahe gleichzeitig zu Wort:
„Das klingt nach einem Fall für uns! Wir hatten schon einmal mit einer Eis-Dämonin zu tun und waren siegreich, und da waren wir nur zu zweit! Eigentlich war es sogar Aćh allein.“
„Und du hast meinen Arm gebrochen“, sagte Aćh in Tulgorisch.
„Technisch gesehen hast du ihn dir selbst gebrochen“, gab Barz zurück.
„Da schließe ich mich doch euch an“, hob Iril ihre Hand. Alle blickten gespannt zu Ijsdur. Dieser nickte ebenfalls.
Die vier waren in den Tagen nach dem Erringen der Drachenknochen nur enger zusammengewachsen. Sie hatten einander zu schätzen gelernt. Ijsdur hatte sein strategisches Geschick im Astz-Kartenspiel enthüllt und damit die Herzen von Barz und Aćh errungen. Iril und Barz hatten sich in tiefgründigen Gesprächen über ihre Spezialgebiete der Magie mitreißen lassen.
Und nun machten sie sich auf den Weg, Ijsdurs Dämonin zu überwinden.
***
Barz verteilte die zerriebenen Rietgrasblüten auf dem gewaltigen Eisblock, der aus der Narne bis hin ins Fischerdorf ragte. Langsam schmolz das Gebilde und gab die Boote der ängstlich danebenstehenden Andori frei. Jubel brandete auf. Unsere Helden konnten allerdings nicht einstimmen.
„Das bringt so nichts“, murmelte Barz, „Wir sind schon im ganzen Land Siantaris Spuren gefolgt und haben unter großem Aufwand die Überreste ihrer niederregnenden Eisblitze beseitigt. Doch noch immer sind wir ihr kein bisschen näher als zuvor!“
Als wollte er seine Worte unterstützen, zuckte ein weiterer Eisblitz über den Himmel. Ein erst einige Zeit später ertönendes dumpfes Donnern verriet, dass er in weiter Ferne niedergegangen war. Ein weiteres Bauernhaus getroffen? Ein weiterer einsamer Wanderer im Eis erstarrt? Was es auch war, es würde sie wieder Zeit kosten, ohne mehr über die Position der Urheberin des Übels zu verraten.
„Danke für die exzellente Zusammenfassung, Barz“, sprach Iril, „.Wir müssen unsere Taktik ändern.“ Sie setzte sich entschlossen auf einen Stein am Wegesrand, packte ihre steinerne Runenscheibe aus und begann, daran zu werkeln.
„Ein Fernrohr zum Spähen wäre nicht schlecht“, meinte Aćh, „Nach dem, was Ijsdur erzählt hat, ist Siantari alles andere als unauffällig.“.
„Die Tulgori haben den zerstörten freien Markt zu ihrem Lager erklärt“, warf Ijsdur ein, „So geschickte Spiegel- und Brillenbauer sie auch sind, tragbare Fernrohre scheinen nicht Teil ihres Repertoires zu sein. Ich wüsste nicht, wo wir sonst in der Nähe welche kaufen könnten.“
Barz schlug sich an den Kopf: „Wie konnte ich das vergessen! Wir müssen nur mein ...“ Er griff an seinen Pulvergürtel und seufzte. „Natürlich. Ich habe meinen Vorrat an Umwandlungspulver bei Sabri gelassen.“
Er blickte den Weg durch das Rietgras zurück, der die Heldengruppe zum vereisten Fischerdorf geführt hatte.
„Vermutlich stapft sie brav unseren Fußstapfen nach. Oder stampft gerade einem andorischen Bauern quer durchs Feld und ich werde wieder dafür geradestehen müssen. Wie dem auch sei, ich mache mich besser daran, Sabri aufzuspüren. Ich werde uns mit dem Umwandlungspulver ein Fernrohr herbeizaubern. Und dann kehren wir auf den höchsten Turm der Rietburg zurück und sondieren die Umgebung. Ist jemand mit mir?“
Iril schüttelte ihren Kopf: „Ich bleibe lieber hier sitzen und kümmere mich um meine Runenscheibe. Wenn ich es schaffe, sie auf Eismagie anspringen zu lassen ...“
„Dann sollte ich lieber nicht zu nahe sein und das Ergebnis verfälschen“, sprach Ijsdur. „Ich werde dich begleiten, Freund Barz.“
„Danke dir, Freund Ijsdur!“, grinste Barz. Welch Animosität er einst gegenüber dem Eis-Dämon gehegt haben mochte, sie war geschmolzen wie Schnee in der Wüste, nachdem Ijsdur Barz‘ verlorene Ringkette zurückgegeben hatte.
„Turr und ich bleiben sonst bei Iril und sorgen dafür, dass sie vor lauter Konzentration nicht plötzlich einen anstürmenden Gor übersieht“, meinte Aćh.
Damit schienen alle einverstanden. Während die Fischer in ihr vom Schnee befreites Dorf zurückkehrten und die Helden allesamt zum Essen einluden, brachen Barz und Ijsdur Seite an Seite auf, zurück in Richtung Sabri.
„Passt gut aufeinander auf!“, riefen Iril und Aćh ihnen hinterher.
„Nicht wir sind es, die an einem Ort rasten, der bis soeben noch von einem Eisblitz bedeckt war.“
„Man sagt doch, Blitze schlügen nie zweimal am selben Ort ein“, gab Iril zurück.
„Eisblitze vielleicht schon. Und das Sprichwort stimmt ohnehin nicht. Genau dafür gibt es auf Thakkum ja Blitzfänger-Stangen“, protestierte Barz.
„Ihr fangt Blitze?“, fragte Ijsdur überrascht.
„Keine große Kunst. Du musst nur genug hoch in den Himmel vordringen und die Blitze springen dir von selbst entgegen.“
Still wanderten Steppennomade und Eis-Dämon Seite an Seite am Narnenufer entlang durch das weite Rietland. Dunkle Wolken warfen ihren Schatten auf die wenigen Bäume, die hier und da umherstanden.
„Was wäre denn größere Kunst? Dein Umwandlungspulver?“, fragte Ijsdur nach einer Weile.
„Ja, magische Pulver sind durchaus einiges komplexer als Blitzfänger-Stangen. Die richtige Mischung von Materialien zu finden ist aufwendig und fehleranfällig. Fehler, die überaus gefährlich sein können. Aber die Pulverschamanen der Iquar fanden schon einige stabilere Verbindungen, deren magischen Effekte man mit der entsprechenden Expertise ziemlich konsistent hervorrufen kann. Einige solche Pulver führe ich nun mit mir.“
„Könntest du mir eigentlich beibringen, sie zu nutzen?“
Barz schluckte schwer. „Könnte vielleicht schon, will aber nicht zwingend. Jedenfalls nicht so husch-husch. Es ist besser, wenn nur ich meine Pulver handhabe.“
Ijsdur blickte ihn schief an: „Wie kommst du denn darauf?“
„Ach, weißt du“, verwarf Barz seine Hände, „Ich schenkte Aćh einst eines meiner Pulver, einen Nixenstaub. Leider wusste ...“
„Nixenstaub? So was sah ich dich noch nie einsetzen.“
„Mein Vorrat ist ja auch alle. Scheinbar gibt es weder in Tulgor noch in Andor nennenswerte Nixendörfer.“
„Dafür aber in Silberland. Glaube ich. Wenn du willst, könntest du Iril mal danach ansprechen, sie erzählte mir jedenfalls einmal von der Nixe, die einst ihren Runenhammer schuf.“
„Naja, vielleicht ist es auch besser, wenn dieses Pulver nicht allzu verbreitet ist. Denn wie schon gesagt: Leider wusste Aćh natürlich nichts über die Feinheiten des Nixenstaub-Einsatzes. Insbesondere nicht, dass man es lieber nicht auf verletzte Gegner werfen sollte. Beinahe wären wir deswegen beide zu Eis-Dämonen geworden.“
„So schlimm ist das gar nicht“, meinte Ijsdur mit einem gezwungenen Lächeln.
„Für dich vielleicht nicht mehr. Siantari hätte uns genutzt, um die ganze Welt zu vereisen versuchen. Es war fahrlässig von mir. Ich werde meine Pulver nicht mehr so unvorsichtig mit anderen teilen. Wenn ich damit Fehler mache, liegt die Schuld wenigstens vollständig bei mir und ich ziehe nicht noch andere Leute rein.“
„Das ist die Lektion, die du daraus ziehst? Was wäre damit, Leuten, denen du Pulver schenkst, angemessen zu erklären, wie sie zu benutzen sind?“
„Ich konnte zu diesem Zeitpunkt vielleicht zehn, zwanzig tulgorische Wörter! Und das Pulver war auch mehr eine symbolische Geste. Weißt du, es war mein Fehler, der Turr im ewigen Eis festsitzen ließ, und die arme Aćh schluckte ihre Wut darüber und ihre Sorgen um Turr herunter und half mir, kümmerte sich um mich! Da musste ich doch irgendwie ausdrücken, dass ... ich meine, Worte allein haben nicht dieselbe Wirkung wie eine solche Geste, das verstehst du, oder?“
Ijsdur hob beschwichtigend seine Hände. „Durchaus. Dennoch finde ich, dass die Beschränkung deiner Pulver auf dich selbst nicht der optimalste Schluss ist, den du aus diesem Vorfall ziehen könntest. Du hast ja auch nicht aufgehört, mit neuen Pulvermischungen zu experimentieren, nur weil das Experiment mit Turr schieflief, oder?“
„Nein. Aber es lässt mich all meine künftigen experimentellen Thesen zweimal überdenken, insbesondere wenn andere Wesen involviert sind. Wir alle machen Fehler, aber wenn wir daraus lernen, machen wir sie in Zukunft seltener. Einfach keine Experimente mehr durchzuführen, um keine Fehler zu riskieren, ist auch nicht die glücklichste Lösung.“
„Genau! Siehst du, was ich meine?“
Barz blickte Ijsdur überrascht an, nickte dann aber.
„Also dann, magst du mir demnächst mal den Umgang mit einem deiner Pulver beibringen?“
Barz‘ Grinsen erstarb und er druckste weiter herum. „Es ist ein langwieriger Prozess, und kompliziert, und es darf auch wirklich nichts schiefgehen, also ...“
„Und es ist ein langwieriger Prozess, einen Menschen von etwas zu überzeugen, gegen das sich seine Schuldgefühle sträuben“, beendete Ijsdur die Konversation, „Belassen wir es fürs erste dabei? Ich freue mich schon darauf, in Zukunft weiter darüber zu diskutieren.“
Barz nickte und blieb eine Zeit lang mit seinen Gedanken allein.
„Schau, da vorne, ist das sie?“, fragte Ijsdur.
„Beim großen Seeadler, was hast du denn für Augen? Ich sehe nur Nebel!“
„Da vorne bei der Marktbrücke ruht sie, deine Echse, ich sehe sie immer deutlicher. Schläft tief und fest.“
Barz‘ Schritte wurden beschwingter.
„Die Marktbrücke ist einer meiner liebsten Orte in ganz Andor!“, sprach er.
Als er ansetzte, auf ihre wundervollen Besonderheiten einzugehen, protestierte Ijsdur: „In Tulgor gibt es so viel schönere und stabilere Brücken. Die Marktbrücke wirkt, als habe ein eifriger Bauherr so rasch wie möglich die Narne überwinden wollen und danach einfach zwei Zwergenstatuen auf jede Seite geklatscht. Du willst mir doch nicht etwas sagen, dass diese Brücke stabil sei?! Jeder halbgroße Krake sollte diese Brücke im Nu auseinandernehmen können.“
„Ich kenne mich nicht mit Stabilität aus, vertraue den Werken der Schildzwerge aber diesbezüglich durchaus. Und elegant ist die Brücke doch auf jeden Fall.“
Die beiden erreichten die Markbrücke. Unter ihnen rauschte die Narne. Zwei Zwergenstatuen bewachten die Marktbrücke. Daneben schnarchte Sabri gut vernehmlich.
***
„Arrogscheiße!“, fluchte Iril auf, als der Eisenstift von der Runenscheibe abrutschte und ihre Hand aufschürfte.
„Was ist ein Arrog?“, fragte Aćh grinsend, „So langsam gewöhne ich mich an den Sprachtrank dieser Hexe, doch ein Arrog sagt mir noch nichts.“
„Stell dir eine gewaltige Klippe vor, aber lebendig. Mit muskulösen Armen, gepanzertem Rücken, einem riesigen Maul voller spitzer Zähne und ... ich bin mir nicht mal sicher, wie sie unter der Wasseroberfläche aussehen. Sag, gibt es in deiner Heimat Tulgor auch solch bösartige Kreaturen?“
„Gibt es faszinierende Kreaturen nicht überall? Oh, von welch fantastischen Wesen ich dir berichten könnte. Doch bösartig sind die wenigsten. Viele folgen nur ihren Instinkten. Auch der netteste Takuri könnte mit einem einzelnen Funken der Begeisterung die Rote Steppe niederbrennen.“
Iril schnaubte. „Takuri werden ja auch nicht von einer bösartigen Macht angetrieben.“
„Redest du vom Drachen, der die Kreaturen antrieb?“
„Ja. Oder Dunkle Magier und finstere Nekromanten, die anderen gerne ihren Willen aufzwingen. Oder Mächte des Meeres, die es nicht mögen, wenn man zu tief in den Ozean vordringt. Mir scheint, nur wenige Kreaturen sind wirklich frei.“
„Nun, in Tulgor gibt es weder Mächte des Meeres noch Nekromanten. Und die meisten unserer Magier leben zurückgezogen in hohen Türmen und kümmern sich wenig um die Wesen der Wildnis.“
Aćh streichelte Turrs Kopf sanft und blickte in die Ferne, wo die wolkenverhangenen Hänge des Fahlen Gebirges hoch aufragten. Wehmut lag in ihrem Blick.
Iril hörte auf, das Blut von ihrer verletzten Hand zu putzen, und fragte: „Vermisst du Tulgor sehr? Wie gut lebst du dich hier ein? Wann geht es für dich wieder zurück?“
Ein Moment der Stille herrschte, nur unterbrochen von Turrs fröhlichem Gurren. Dann antwortete Aćh leise: „Ich weiß nicht so recht. Ich bin eine Fremde in einem fremden Land hier. Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich die Reise hierhin antrat. Aber ich war nicht darauf vorbereitet, dass auch Barz seine eigene Geschichte hier hatte. Er und Nabib verbringen viel Zeit miteinander. Und Barz ist nicht nur meine einzige Verbindung zu den Andori, er war auch meine direkte Verbindung zu den tulgorischen Minenarbeitern und anderen Reisenden. Er arbeitete lange Zeit in den Mera-Stollen, nicht ich. Ich ... ich bin ziemlich allein hier.“
„Da sprichst du mir aus der Seele“, meinte Iril, „Auch ich fühlte mich als Fremde hier. Meine Verwandtschaft ... meine Schwester, von der ich nicht einmal wusste, dass es sie gab ... die Schildzwerge wollen mich nicht und die Andori natürlich auch nicht. Und auch in Silberhall würde ich nur stetig daran erinnert, dass Burmrit, meine Lehrmeisterin, nicht mehr unter uns weilt. Doch es wurde besser.“
„Wir können zusammenhalten. Wir beide“, meinte Aćh nun.
„Können wir. Wenn du hier in Andor bleiben willst. Du hast, wenn ich es richtig verstanden habe, im Gegensatz zu mir noch eine Familie auf der anderen Seite der Berge. Du kannst noch dorthin zurückkehren, wenn dir das Rietgras zu den Ohren raushängt.“
„Das ist ja mal ein eigenartiges Sprachbild“, schmunzelte Aćh, „Ja, ich habe in Tulgor noch eine Familie. Verwandte, Bekannte, Freunde. Vielleicht kehre ich eines Tages dorthin zurück. Falls du dich bis dahin nirgendwo eingelebt hast, könntest du da vielleicht auch mitkommen. Wenn du willst. Ich könnte dir den Nistbaum und die weite Steppe zeigen, statt nur darüber zu reden.“
„Vielleicht. Wo immer man unsere Hilfe brauchen kann“, nickte Iril träumerisch. „Und sofern wir uns bis dahin noch ausstehen können.“
„So, wie ich dich in den letzten Wochen kennengelernt habe, mache ich mir da keine Sorgen. Aber für den Moment bleibe ich ohnehin gerne hier. Andor ist ein konfliktreiches Land. Die Leute hier brauchen nach dem Wüten des Drachen mehr Hilfe als die Tulgori. Die Sprache ist ein Hindernis, aber abgesehen davon gefällt es mir ungemein hier. Und Leuten in Not zu helfen, wirklich zu helfen, fühlt sich einfach gut an.“
„Es wäre sogar gut, Leuten zu helfen, auch wenn es sich nicht gut anfühlte. Das gute Gefühl ist nur ein Bonus.“
„Genau. Na los, Iril, lass uns Eis-Dämonen jagen.“ Mit Blick in den Süden, wo Ijsdur davonstapfte, fügte Aćh an: „Nur gefährliche natürlich.“
Iril runzelte ihre Stirn und kehrte zurück zur Arbeit auf ihrer Runenscheibe.
Eine Viertelstunde später war sie soweit. Iril hob ihren Runenhammer in die Höhe und murmelte etwas vor sich. Die in die uralte Waffe eingeritzten Runen glommen grünlich auf.
Interessiert blickte Aćh zu. Noch immer hatte sie keine Ahnung, woher dieses Artefakt genau seine Kraft bezog.
Iril ließ den Hammer auf die Scheibe niederfahren. Ein blechernes Klingen ertönte. Doch das magische Glühen sprang nicht vom Hammer auf die Scheibe über. Vielmehr verstärkte sich das Leuchten des Hammers abrupt. Die Scheibe glitt zu Boden und rollte nutzlos ins Rietgras.
Grünliche Schwaden steigen von Irils leuchtenden Tattoos auf. Aćh fiel es auf einmal schwer zu glauben, dass die Runentattoos nur aus unter der Haut bugsierten Farbteilchen bestanden. Wie kleine Lebewesen, die sich verselbstständigten, wanden die leuchtenden Runen sich. Iril schrie auf und klappte zusammen. Ihr ganzer Körper zitterte.
Aćh fiel neben Iril aufs Knie und streckte ihre Hand aus. Zwischen klappernden Zähnen stieß Iril hervor: „Nein! Fass .... fass mich nicht ... du bist ... Mensch, du bist ... Dunkle Magie ... nicht gewachsen ... Stimme ... verlockend ...“
„Was soll ich tun?“
Irils Körper lag flach wie ein Brett am Boden und wurde von Krämpfen geschüttelt. Eine erschreckend lange Zeit antwortete sie nicht und atmete flach, dann würgte sie hervor: „Geht ... vorbei. Keine Sorge, das ... nicht tragisch.“
Aćh war nicht überzeugt. Besorgte Flammenbäusche überzogen auch Turrs Gefieder. Dann flüsterte Iril: „Bleibe ... bei mir ... bitte.“
Das Schütteln ließ langsam nach. Irils verkrampfte Hand öffnete sich und ließ den schweren Runenhammer zu Boden plumpsen. Das grüne Glühen verlosch. Iril blieb noch eine Weile liegen und blinzelte schwach.
„Guck bitte ... nicht ... einschlafe“, hauchte sie erschöpft. Aćh war sofort wieder auf ihren Beinen und achtete darauf, dass Iril ihre Augen offenhielt. Nach einer Weile hatte sich der Atem der Zwergin wieder normalisiert. Iril streckte ihre Hand aus und die sitzende Aćh half ihr auf die Beine.
„Alles wieder klar, Runenmeisterin?“
„Alles klar, Takuri-Hüterin“, sprach Iril schwach.
„Bei den sieben Feuern des Himmels, was war das?“
„Kompliziert“, murmelte Iril, „Die Runen können Kraft leiten, in Dinge hinein oder hinaus. So was wie vorhin sollte nicht passieren, wenn man genügend vorsichtig ist beim Runenzeichnen. Dieser Hammer ... Die meisten Runen werden vom Licht des Mondes oder der Sonne gespeist. Dieser Runenhammer ist sehr nützlich, um Runen unabhängig von der Tageszeit oder dem Mondzyklus zu aktivieren. Aber er ist immer noch ein von Dunkler Magie erfülltes Artefakt. Und diese fordert meistens ihren Tribut. Die Runen auf dem Hammer erlauben uns, den größten Teil dieser Last nicht selbst tragen zu müssen. Ja, ohne diese Runen könnte auch ich die Magie in seinem Innern nicht nutzen. Aber so mächtig die Runen auch sind, sind sie selbst für die größten Meister schwer zu bändigen. Manchmal scheint es mir, als verselbstständigten sie sich langsam. Und dann zehren sie an meiner Willenskraft. Und selten, ganz selten, bricht die Dunkle Magie völlig aus dem Hammer aus und überzieht die Runen auf meinem Körper. Die saugen mir dann wie kleine Egel die Energie aus. Diese Vorfälle sind unregelmäßig, unberechenbar, meistens ganz unscheinbar, aber hin und wieder einfach unausstehlich. Ich wünschte, ich hätte einige Runensteine bei mir. Darin lässt sich die bei solchen Anfällen durchströmende unvorstellbare Energie speichern und produktiv nutzen. Du hättest nicht zufälligerweise welche bei dir gehabt?“
„Runensteine?“, fragte Aćh, „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Wort verstehe. Ich kenne Edelsteine und Mera-Steine, doch ein Runenstein ist mir unbekannt. Ist das einfach ein Fels, in den Runen gemeißelt worden waren? Die Temm waren Meister darin, solche Gänge zu bauen.“
„Na, ein bisschen mehr als bekritzelte Steine sind Runensteine schon“, meinte Iril, „Aber im Großen und Ganzen hast du recht. Bevor das Geheimnis ihrer Erschaffung verloren ging, schufen die Runenmeister der Schildzwerge vor Urzeiten Unmassen von Runensteinen. Auch heute noch kann man in den Minen und selbst hier draußen im Land welche finden. Leider trifft man sie kaum auf den Inseln des Nordens an, sonst hätte ich schon längst eine ganze Sammlung davon angelegt. Die Kraft der Runensteine kann sehr vielseitig nützlich sein und auch ohne magische Kräfte genutzt werden. Auch wenn sie leider primär zu Kriegszwecken eingesetzt wurden. Gegen die Trolle, gegen die Drachen, sogar in Kämpfen von Zwerg gegen Zwerg. Wie viel potenzielles Wissen wohl verloren gegangen ist, weil wir uns gegenseitig abschlachteten, statt zusammenzuarbeiten? Ohnehin waren die Runenmeister der Urzeiten geschickter als wir es heute sind. Sie schufen ein weit verbreitetes Netzwerk aus Gängen, welche durch magische Zwergentüren verbunden waren, die die Gegensätze von Feuerrunen und Wasser vereinten. Und dann erst die legendären unterirdischen Runengänge in unbekannte, fremdartige Reiche und Gefilde, die angeblich nur dann, wenn der Rote Mond hoch oben am Himmel steht, sichtbar werden und etwaige Durchquerer eine Zeit lang mit einer raffinierteren Übersetzungsrunen versehen sollen – so wie die, die ich Ijsdur anhängte – ach Aćh, so viele Kenntnisse der vergangenen Runenmeister sind verloren gegangen. Geheimnisse aus der Vergangenheit, die wir in harter Arbeit aufs Neue ergründen. Ich komme glatt ins Schwärmen.“
„Es freut mich vor allem, dass es dir wieder besser geht“, schmunzelte Aćh, „Eklige Egel, diese Runen. Doch ich werde daran denken, falls ich einen Runenstein sehen sollte. Wobei, solche massiven Felsen sind bestimmt schwer zu transportieren.“
„Massive Felsen? Wo denkst du hin, Runensteine sind teils kaum größer als Kiesel! Die passen bequem in deine Reisetasche. Glaube mir, von Größe auf magische Macht zu schließen, kann trügerisch sein.“
„Dem ist wohl so!“, erklang Barz‘ fröhliche Stimme hinter ihnen, „Sabri hat etwa noch keinen Funken magisches Talent gezeigt.“
„Ihr seid zurück!“, rief Aćh auf, denn Ijsdur und Barz waren zurückgekehrt.
„Unser Vorhaben war von Misserfolg gekrönt“, berichtete Iril bedrückt.
„Na, dann ist doch umso besser, dass wir etwas herausgefunden haben“, sagte Barz. Stolz präsentierte er ein Fernrohr, welches golden glitzerte. Wohl frisch umgewandelt.
„Ich blinder Büffel hätte sie glatt übersehen, doch Ijsdur hat eine Spur von Santari gefunden. Die wird euch jedoch nicht gefallen.“
Barz übergab das Fernrohr an Aćh und sprach: „Sieh, dort drüben. Am Alten Wehrturm. Dort, wo Tarok fiel.“
„Was in aller Welt ist das?!“, rief Aćh aus.
„Was? Was siehst du?“, fragte Iril ungeduldig.
„Ein Eis-Drache“, sprach Ijsdur tonlos. „Bei der Ruine des alten Wehrturms wütet ein Wirbelsturm der Kälte, wie an so vielen Orten im Reich. Und darin ruht ein gewaltiges Wesen aus Eis und Schnee. Ich hoffte, es möge nur eine Formation sein. Doch sah ich, wie es sich bewegte. Vier Beine, zwei Flügel und ein stacheliger Kopf auf einem Schlangenhals.“
„Ist es Siantari gelungen, einen Eis-Drachen-Dämon zu beschwören?“, fragte Iril.
„Das sollte sie nicht können!“, sagte Ijsdur, „Siantari ist mächtig, aber sie kann nicht aus dem Nichts Leben formen.“
„Dann bleibt uns nur etwas übrig. Auf, zum alten Wehrturm!“
***
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann“, murmelte Aćh. „Gegen diese Kultisten vorgehen. Ich habe bislang nur ein Leben genommen. Diese Eis-Dämonin oben im Ewigen Eis, die mich und Barz zu einer der ihren machen wollte.“
„Das kommt schon“, sprach Barz, „Ich habe schon in der Steppe Banditen bekämpft. Der Tod ist Teil des Lebens.“
„Macht es nicht leichter“, sprach Ijsdur, „Ijs ist für den Tod seiner Freunde verantwortlich.“
Niemand wusste, was darauf zu sagen war.
„Ich habe noch nie getötet“, meinte Iril, „Nur Kreaturen erledigt. Die zählen ja kaum als wertvolle Lebewesen.“
Barz widersprach: „Denken und fühlen können sie doch auch.“
„Aber bitte, ein Gor ist noch instinktgesteuerter als ein hungriger Wolf. Und es besteht doch ein himmelweiter Unterschied darin, ob du einen anderen Barbaren oder eine Echse röstetest.“
„Beim Großen Affen, warum würde ich Sabri je rösten?!“
„Verzeih, ich nahm an, dass sie am Ende ihres Lebens ...“
„Ist das, was ihr in Silberhall tut? Am Ende eures Lebens von Gefährten verspeist werden?“
„In Silberhall geben wir uns größtenteils mit den Erträgen des Meeres als Speise zufrieden. Algen und Seetang lassen sich überraschend gut züchten. Wir hatten keine Ahnung, als wir von Cavern dorthin reisten. Doch die Nixen lehrten uns.“
„Die Nixen lehrten auch uns so einiges, als unser Stamm sich im großen See Ava niederließ.“
Das Gespräch zog sich ähnlich weiter, während die Helden weiter durchs Rietland schritten.
Sie hatten kaum einen Drittel der Strecke zum Alten Wehrturm überwunden, da hieß Ijsdur sie an, innezuhalten und das Fernrohr wieder hervorzuholen. Etwas bewege sich.
Tatsächlich! Der gewaltige Eis-Drache am Wehrturm hatte seine Schwingen ausgebreitet und war darauf und daran, sich in die Höhe zu schwingen!
„Ich erkenne eine dunkle Gestalt, die neben ihm schwebt. Der Schwarze Herold?“, berichtete Iril, durch die verschwommenen Linsen blinzelnd.
„Ich vermute es stark. Doch wird er kaum allein sein.“, gab Ijsdur zurück. „Darf ich kurz das Fernrohr ... danke sehr! Ja, da reiten gleich eine ganze Gruppe grimmiger Gestalten auf dem Eis-Drachen. Allesamt eingewickelt in schwere Decken und Tücher. Über ein kompliziertes Geflecht aus Gurten an den Drachen geschnallt. Das wird bestimmt einige Zeit gekostet haben, diese herzustellen.“
Iril staunte wieder einmal über den scharfen Blick des Eis-Dämons und fragte sich, wie seine eisigen Augen funktionierten.
„Erkennst du die Personen?“, fragte Barz, der sich nicht von solcherlei Überlegungen ablenken ließ.
Ijsdur bejahte. „Die eine Rüstung würde ich im Schlaf wiedererkennen.“
„Lass mich raten: Sagramak, die Schamanin der Drachenkultisten?“
„Genau, da ist Sagramak. Aber da sind noch mehr. Dieser Nehamal, und das Ziegenwesen Fir, das die Knochen einst stahl. Und einige anderer ihrer Sippe, allesamt bewaffnet. Sie alle haben sich auf den Rücken des Eis-Drachen geschnallt. Sie wollen irgendwo hin.“
„Das ist kein großes Rätsel. Die wollen zur Rietburg, die Knochenkette zurückfordern“, sprach Aćh, „Warum haben wir Taroks Knochen schon wieder dem Prinzen überlassen?“
Iril brummelte: „Weil wir dachten, dass die Rietburg irgendwie sicher wäre. Hätte ja keiner geglaubt, dass die einen Eis-Drachen herbeirufen können.“
„Das sollten sie auch nicht können, sonst hätten sie das auch viel früher getan.“
„Siantari war das aber auch nicht“, sagte Ijsdur, „Wenn sie von selbst ein derart mächtiges Leben schaffen könnte, wäre das Felsentor zum Tal des ewigen Eises schon viel früher gebrochen worden.“
„Aber sie kann Eiskristallketten schaffen!“, erinnerte sich Barz, „Sagramak trug doch Knochensplitter um den Hals! Knochen von Sagrak dem Drachen. Was würde geschehen, wenn man diese mit einer Eiskristallkette verbinden würde?“
Ijsdur blieb stocksteif stehen: „Ich weiß, was geschehen würde, wenn man einen gut erhaltenen Drachenleichnam mit einer Eiskristallkette verbände. Aber wenige Knochen, uralt und verrottet?“
„Es sind nun mal magisch potente Mittel“, knurrte Iril, „Seht ihr nun, warum ich ihr nicht Taroks Knochen überlassen wollte? Irgendwie haben sich die Drachenkultisten mit Siantari verbündet. Und irgendwie haben sie einen Eis-Sagrak herbeigerufen.“
„Sagrakdur“, flüsterte Ijsdur.
Lautes Donnern übertönte seine Stimme und erfüllte die kalte Luft. Unvermittelt begann die Erde zu beben. Die Helden wandten sich um und sahen in der Ferne, am alten Wehrturm, riesige Wolken aus Schnee und Staub aufwirbeln. Dann erhob sich ein dunkler Schatten am Horizont.
Sagrakdur war gewaltig. Er breitete seine Flügel aus, stieß in den grauen Himmel empor, und in einem weiten Bogen überflog er langsam das schneebedeckte Land.
Unzweifelhaft näherte sich das Biest der Rietburg. Doch der Wirbelsturm der Kälte über dem alten Wehrturm blieb bestehen.
„Siantari ist nicht mit den Drachenkultisten mitgezogen. Sie lauert noch am alten Wehrturm“, zischte Ijsdur.
„Falls wir sie erledigten, würde das auch den Eis-Drachen vom Himmel holen?“, fragte Aćh.
„Keine Ahnung. Aber wenn die Ermordung Siantaris den Eis-Drachen vernichtete, dann auch mich“, antwortete Ijsdur. „Ich präferierte eine längere Existenz.“
„Wir könnten zur Rietburg gehen und uns den Eis-Drachen selbst vorknöpfen“, meinte Iril.
„Oder wir reden mit Sagramak“, sprach Barz, „Sie ist eine vernünftige Person. Wenn sie will.“
Ijsdur meldete sich wieder zu Wort: „Es könnte von Vorteil sein, Siantari nur zu überwältigen und die Drachenkultisten vor ein Ultimatum zu stellen. Ihr Eis-Drache sollte sich wie alle Eis-Dämonen Siantaris Willen beugen müssen. Schließlich trägt er anders als ich keine beschützende Runenscheibe im Hals. Und wenn wir erst einmal Siantari in der Hand hätten ...“
Da sprach sich Iril dagegen aus: „Der alte Wehrturm und die Rietburg sind etwa gleich weit entfernt. Was, wenn wir uns entschließen, Siantari aufzuspüren, sie überwältigten und dann klar würde, dass sie gar keine Macht mehr über den Eis-Drachen hat? Dann hätten wir wertvolle Zeit vergeudet, in der dieser Eis-Drache was weiß ich für bösartige Bosheiten vollbringen könnte.“
Aćh konterte: „Und was, wenn wir zur Rietburg gehen, den Eis-Drachen schmelzen und uns erst danach um Siantari kümmern können? Jetzt wissen wir, wo sie sich befindet. Bis dahin könnte sie schon wieder in alle Welt geflohen sein.“
„Und einen finsteren Plan in Tag umgesetzt haben“, warf Ijsdur ein, „Ich befürchte, ihr seid zu optimistisch, was unsere Gewinnchancen angeht. Siantari ist eine formidable Gegnerin. Unterschätzt sie nicht. Und die Stärke eines Eis-Dämons im Körper eines Drachen jagt selbst mir einen Schauer über den Rücken.“
In der Ferne erklang weiteres raues Gebrüll. Sagrakdur hatte seinen Mund geöffnet und einen bläulich-weißen Strahl der Kälte und des Schnees aufs tief unter ihm liegende Rietland gespuckt.
„Gütige Mutter!“, rief Ijsdur aus.
„Seit wann glaubst du denn an die Mutter?“, fragte Iril.
„Tu ich nicht, diese Redewendung habe ich mir von dir abgeguckt.“
„So schlimm ist die Lage gar nicht“, meinte Iril, „Im Vergleich mit Tarok ist dieser Eis-Drache hier geradezu winzig.“
„Aber die Helden, die Tarok besiegten, sind im gesamten Lande verstreut und haben ihre eigenen potenziell königreich-endenden Gefahren zu bekämpfen.“
„Dann bleibt diese ganze Sache wohl an uns hängen. Wir müssen uns aufteilen. Ich verstehe nichts von Eis-Dämonen, aber so einiges von Drachen. Ich biete mich an, zur Rietburg zu ziehen und mich dem Eis-Drachen zu stellen. Siantari würde ohnehin gar nicht verstehen, was ich ihr für Beleidigungen an den Kopf werfen würde.“
„Ich komme mit dir!“, rief Barz, „Ich bin froh, wenn ich meiner Lebtag keiner Eiskristallkette mehr nahekommen muss – Anwesende ausgenommen. Und ich will eine friedliche Lösung mit den Drachenkultisten nicht aufgeben. Auf mich wird Sagramak am ehesten hören. Ohne dir nahe treten zu wollen, Iril, könnte es dafür sogar besser sein, wenn ich allein dorthin ziehen würde.“
„Willst du von Sagrakdur in einem einzigen Angriff zu einem Eisblock reduziert werden?“, fragte Iril schnippisch. „Meine Runenmagie könnte das einzige effiziente Mittel gegen ihn sein.“
Aćh räusperte sich und gestikulierte zum brennenden Feuervogel auf ihrer Schulter. „Das einzige Mittel?! Mein feuriger Turr könnte aus Sagrakdur bestimmt eine große Pfütze machen.“
„Wenn er nicht zuerst in einen Eiswürfel verwandelt wird“, murmelte Ijsdur, „Ich sähe ihn lieber auf unserer Seite.“
Aćh blickte ihn fragend an. „Unsere Seite?“
„Nun, es scheint passend, dass ich mich Siantari stellte“, erklärte Ijsdur, „Und ich wäre lieber nicht allein dabei. Irils Runen können bestimmt etwas ausrichten gegen einen Dur, aber vielleicht nicht gegen die Tari selbst. Und Hitze schmilzt kleinere Mengen Schnee erheblich schneller als große. Dass Siantari signifikant kleiner ist selbst der kleinste Drache, muss ich dir wohl nicht sagen. Alles in allem ...“
„Klingt nach einem Plan!“ Barz klatschte in seine Hände. „Ist das gut so? Aćh, kümmerst du dich mit Ijsdur und Turr um Siantari?“
Aćh nickte stumm, sah aber alles andere als glücklich aus.
Iril setzte sich prompt wieder an ihre Runenschreibe und kritzelte darauf herum. Ijsdur beobachtete sie stumm. Barz hingegen starrte Aćh an, welche an ihrer Unterlippe kaute. Rasch flüsterte er ihr etwas zu. Iril vernahm Floskeln der Entschuldigung und der Nachfrage. Wohl fragte er, ob sie wirklich einverstanden damit war, sich an Ijsdurs Seite einer Eis-Dämonin entgegenzustellen. Er hatte das Erlebnis mit Nesdora nicht vergessen.
„Fećht!“, fluchte Aćh. Sie stieß einige Sätze auf Tulgorisch aus, ganz leise und schnell. Iril hätte sie nicht einmal gut verstehen können, wenn sie ihre Übersetzungsrune aktiviert hätte. Barz hingegen verstand und machte große Augen. Seine Mundwinkel zuckten, als müsse er sich ein Grinsen verkneifen. Dann nickte er aber ernst und hörte weiter zu. Schließlich erklärte er etwas davon, dass sein Bannpulver ohnehin nicht gegen Siantari wirken könnte. Aćh unterbrach ihn erneut. Doch schließlich nickten die beiden, umarmten einander und gingen dann zu ihren jeweiligen Kameraden für die kommenden Aufgaben.
Aćh hatte nichts mehr einzupacken und brach in Richtung des alten Wehrturms auf. An ihrer Seite folgte Ijsdur, der ohnehin nie etwas einzupacken hatte. Über den beiden drehte ein fröhlicher Turr seine Runden.
Iril studierte in ihren Notizen die genaue Runenfolge, welche in Silberhall so effektiv Geister vertreiben konnte. Eine Variation davon hatte Ijsdur von Siantari befreit. Eine andere Variation hätte ihn in der Eiskristallkette einschließen können. Das hätte sie für den Eis-Drachen gerne.
Iril verschloss ihre Reisetasche und erblickte, wie Barz seinen Pulvergürtel – an dem soeben ein türkises, ein braunes und ein blaues Säcklein hingen – lange betrachtete und zu überlegen schien, ob er lieber noch einen weiteren Abstecher zu Sabri machen und seine Pulver umverteilen sollte. Dann aber zuckte er mit den Schultern und wandte sich Iril zu.
„So, dann machen wir zwei Hübschen uns auf zur Rietburg, oder?“, rief Barz. „Was ist unser Plan?“
„Was meinst du, für was unsere Zeit reicht?! Rechtzeitig ankommen und draufhauen, das ist der Plan.“, rief Iril.
„Reden!“, murmelte Barz, während er seine Schuhe enger band. „Sagramak hat meines Wissens noch niemanden umgebracht, der mit ihr verhandeln wollte. Außer ... außer diesem einen Händler, der ihr die ganze Zeit ... na, das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.“
Das konnte ja heiter werden.
***
Vor der Rietburg schwebte der Schwarze Herold bedrohlich auf einer kleinen rauchigen Sturmwolke. Das Ewige Feuer hatte sich violett verfärbt. Der lila Feuerschein flackerte um seine dunkle Silhouette und spiegelte sich in der gezackten Maske, die er auf dem Gesicht trug. Die Zeit war nah. Die meisten Helden von Andor waren in Scharmützel mit allen möglichen Gegnern verstrickt. Jetzt war der Zeitpunkt, seinen Meister zurückzubringen. Er, der Schwarze Herold, war der Antreiber der Kreaturen und der Vorbote des Feuers, und nun auch der Vorbote des Eises. Wo er auftauchte, verloren die guten Menschen von Andor den letzten Mut.
Der Herold begann zu sprechen. Er flüsterte, und doch hörte jeder in Andor seine Stimme:
„Ich verkündige die Ankunft des mächtigen, des gewaltigen Sagrakdur. Vernichtet wurde sein Körper vor Jahrhunderten. Nun kehrt er zurück und holt sich, was der Letzte seiner Art nicht konnte. Die Archive vom Baum der Lieder sollen zerbröseln, wenn mein neuer Meister seinen eisigen Atem über den Wachsamen Wald streifen lässt. Die Knochen der Zwergenbrut sollen zersplittern unter der Kälte meines Gebieters. Und auch Brandurs Sippe soll nicht verschont werden.“
Alarmglocken wurden geläutet. Rufe erklangen. Menschen eilten von Turm zu Turm, von Tür zu Tür. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile. Ein Drache schoss auf die Rietburg zu, schon zum zweiten Mal in diesem Jahr. Und diesmal standen keine Helden von Andor bereit, um sich ihm entgegenzustellen.
Am Ausguck wurde berichtet, dass es sich bei diesem anfliegenden Drachen augenscheinlich um ein magisches Wesen aus purem Eis und Schnee handelte. Einige Bewohner der Burg verkrochen sich in ihren Kellern. Viele flohen ins offene Rietland. Die Rietgarde rüstete sich für den kommenden Kampf.
Und über all dem schwebte der Schwarze Herold. Er genoss den Aufruhr.
Hinter ihm kündigte das Rauschen großer Schwingen die Ankunft des Eis-Drachen an. Der Herold blickte ihm stolz entgegen. Ein Meisterstück der Magie. Sein Meisterstück. Er hatte Siantari und Sagramak auf einen gemeinsamen Pfad geführt. Nun war es an seiner Zeit, zu glänzen.
Sagrakdurs Kopf schwenkte auf seinem langen Schlangenhals nach unten. Seine durchscheinende Zunge züngelte. Sah er einige fliehende Andori, welche sich in Ermangelung angreifender Kreaturen in alle Himmelsrichtungen zerstreuten? Kurz schien der Eis-Drache zu bedenken, die Fliehenden angreifen zu wollen, dann aber schüttelte er seinen Kopf und hielt direkt auf die Burg zu. Pfeile der verteidigenden Rietgarde gruben sich in seinen Bauch, doch kümmerten diese ihn nicht einmal. Bolzen von der großen Balliste der Rietburg hätten ihm wohl geschadet, doch diesen wich Sagrakdur gekonnt aus.
Ein bläulich-weißer Strahl der Kälte und des Schnees ging aus Sagrakdurs Mund auf die Balliste nieder. Sie und die Kriegerin, die sie betätigt hatte, wurden unter einer dicken Schicht aus Eis und Schnee bedeckt. Jubel ertönte von den zahlreichen Gestalten auf dem Rücken des Eis-Drachen.
„Jeder, der sich ergibt, wird verschont!“, verkündete Sagramaks schallende Stimme. „Verlasst das Gemäuer und gebt uns den Weg zum Prinzen frei!“
Ein, zwei Menschen desertierten und rannten ins Rietland hinweg. Und die Drachenkultisten schienen sehr stolz darauf, was für gute Menschen sie doch waren.
Die Kultisten. Der Schwarze Herold lachte innerlich beim Gedanken an diese selbstgerechten Knochendiebe. Sie waren nützliche Spielsteine für seine nächsten Züge. Und manche von ihnen teilten seine Überzeugungen und Ziele gar. Aber nicht alle. Viele ersuchten die Macht der Drachen, um ihre Sippen zu stärken und sich ein gutes Leben zu verschaffen. Sie waren keine wahren Diener der Drachen. Die wahren Diener, das waren der Herold und die von ihm angetriebenen Kreaturen. Und mit seiner Hilfe würden sie bald wieder einen Meister haben.
Sagramak spie weitere Eisstrahlen, bis alle Krieger des Königs sich in ihre steinernen Türme zurückgezogen oder ihr Leben mit einem eiskalten Atemzug ausgehaucht hatten.
Schwer landete der Eis-Drache inmitten der Rietburg, auf einem mit Rietgras besetzten Dach, das unter ihm nachgab. Stab und Dreck stob auf. Stolz stolziert er zu einem freien Fleck, drehte sich zur Seite und entließ die Drachenkultisten von seinem Rücken. Als allererste landete die selbstbewusste Sagramak auf dem festen Boden der Rietburg.
Sie breitete ihre Arme aus – welche einen Schild und einen zeremoniellen Speer führten – und zog tief Luft ein. „So riecht es also in der Rietburg“, murmelte sie, „Stinkt mehr, als ich erwartet hätte. Danke sehr für die feurige Ansprache, werter Herold. Nun denn, wenden wir uns der Sippe Brandurs zu. Wo ist euer Prinz? Wo hält er die Drachenknochen versteckt? Bringt uns Thorald!“
***
Aćh und Ijsdur zogen gemeinsam durchs Rietland. In der Ferne war bereits der alte Wehrturm erkennbar. Weiterhin wirbelte ein Sturm von Schneeflocken und Eisschwaden um ihn herum. Er war stärker geworden. Inzwischen war es beinahe unmöglich, die Ruine des Turms zu erkennen.
Schnell stapfte Aćh voran. Ijsdur, der wie üblich eine Linie aus Schnee und Eis hinter sich herzog, blieb immer mehr zurück. Als sie sich auf einer Hügelkuppe umdrehte und erblickte, wie Ijsdur ein halbes Feld hinter ihr zurückgeblieben war, blieb sie stehen. Davonlaufen konnte und sollte sie ihm nicht.
Stumm holte Ijsdur zu Aćh auf und lief einige Schritte neben ihr her. Sie hoffte, dass er einfach stumm bliebe. Aber natürlich tat er das nicht.
„Das wäre wir uns damals im Hängeschiff nicht im Traum eingefallen, dass wir ein paar Jahre später in einem fremden Land jenseits des Kuolema-Gebirges Seite an Seite kämpfen würden, oder?“
Aćh antwortete nicht.
„Tut mir leid, dass du dich mit mir abfinden musst, Aćh. Ich sehe, dass dir meine Gegenwart nicht behagt. Ich befürchte, dass es für das Wohl des Landes sein muss.“
Stille.
„Ich bin nicht wie diese andere Eis-Dämonin, die du getroffen hast. Ich bin meine eigene Person. Du hast keinen rationalen Grund, mich derart nicht zu mögen.“
War das nun eine Anschuldigung? Schuldgefühle machten sich in Aćh breit. Ihre Familie hatte sie erzogen, möglichst höflich und doch offen zu sein.
„Es ist nicht so, dass ich dich nicht mag. Es ist nur so, dass ich für Feuer stehe und du für Eis. Das harmoniert einfach nicht.“
„Feuer und Wasser werden oft als Gegensätze beschrieben. Mit dieser Hüterin der Flusslande und ihrem Wassergeist schienst du dich dennoch bestens zu verstehen.“
„Tja, bei ihr fühle ich mich sicherer. Ich habe schon schlechte Erfahrungen mit Eiskristallketten gemacht. Und wenn ich allein mit dir unterwegs bin, müsstest du nicht einmal eine passende Gelegenheit abwarten, um mich zu überwältigen und dem Gefolge Siantaris anzuschließen.“
„Meine Eiskristallkette funktioniert nicht mehr so. Und du hast ja Turr. Wenn ich dir gefährlich werden sollte, kann er mich in Grund und Boden schmelzen“, grinste Ijsdur.
Ein gezwungenes Lächeln spannte sich über Aćhs Gesicht.
„Und wenn ich etwas Übles tun sollte, nähmen Iril und Barz bestimmt meine Verfolgung auf und würde mir mit ihrem mächtigen Hammer den Garaus machen.“
„Da fühle ich mich doch schon ganz sicher.“
„Bin mir nicht sicher, ob du das ironisch meinst, aber das sollte es wirklich. Vielleicht vertraust du eher auf meinen Selbsterhaltungstrieb als auf meine Freundlichkeit. Was auch immer dich des Nachts ruhiger schlafen lässt.“
„Ich werde ruhig schlafen können, wenn Siantari dieses Reich verlassen hat.“
Stumm bewegten die beiden Helden sich weiter in Richtung des alten Wehrturms.
Diesmal war es Aćh, die die Stille brach.
„Sag mal, Ijsdur: Du hast deinen Körper schon quasi aus dem Nichts wieder zusammengesetzt. Kannst du dich nicht auch einfach in einen Eis-Drachen verwandeln? Auch ein sehr kleiner Drache würde schon immens helfen.“
„Verzeih mir, Aćh“, ließ Ijsdur seinen Kopf hängen, „Aber das ist nicht so, wie es funktioniert. Ich habe schon versucht, Anpassungen an meinem Körper vorzunehmen. Mental und physisch. Einmal habe ich sogar buchstäblich Wasser aus einem Brunnen genommen und an mich gepatscht, auf dass es in der gewünschten Form dort gefrieren könne. Nicht einmal Stacheln konnte ich mir geben.“
„Zu schade.“
„Vermutlich hat es mit meinem Selbstverständnis zu tun. Von irgendwoher muss der Schnee und der Eis in mir ja wissen, welche Form er zu haben hat – und nicht von meinem Leibe, denn dieser war erheblich weniger muskulös, hatte keine spitzen Ohren und kein Geweih. Das scheint sich auch auf Waffen zu beziehen. Ich kann mir ein magisches Eisschwert rufen, aber keine ausgefeilte Arcuballiste. Am Ende fühle ich mich wohl einfach wie ein Schwertkämpfer und kein Fernkämpfer. Leider scheint es, dass ich kein Eis-Drache sein werde, solange ich mich nicht als Eis-Drache sehe.“
„Zu schade“, wiederholte Aćh.
Warum hatte sie nicht mit Barz und Iril zur Rietburg mitreisen können? Warum hatte man sie hier mit dem elenden Eis-Dämon auf der Jagd nach Siantari zurückgelassen? Eigentlich wusste sie die Antworten auf diese Fragen. Aber dies bedeutete nicht, dass es ihr gefallen musste.
Ijsdurs Anwesenheit ließ sie weiterhin frösteln, und nicht nur wegen der Kälte, die stets von ihm ausging.
„Siantari ist eine mächtige Dämonin. Wir werden sie nicht mit schierer Stärke überwältigen können“, gab Ijsdur zu bedenken.
„Was ist mit Feuerbällen eines Feuertakuri?“
„Ich weiß es nicht. Ich würde lieber nicht unsere Zukunft darauf wetten.“
Aćh kaute an ihrer Unterlippe. „Was wäre mit einem feurigen Seil? Ich habe noch einige Phiolen Takuri-Asche bei mir. Eine Dose Sufarsaft, die einen vor Hitze und Kälte gleichermaßen beschützt. Und ein reißfestes Seil der Meraminenarbeiter. Wir könnten das Seil mit Saft und Asche behandeln. Es würde sich bei Kontakt entzünden, selbst aber unversehrt bleiben. Wenn man damit keine Eis-Dämonin fesseln kann, esse ich einen Besen.“
„Was bin ich froh, dich an meiner Seite zu haben!“, rief Ijsdur. Seine Stimme blieb dabei wie meistens monoton. „Doch werden wir nicht einfach mit einem Seil zu Siantari aufmarschieren und sie gefangen nehmen können. Und pure Gewalt dürfte gegen ihren erstarrenden Blick kaum helfen. Es scheint mir klüger, eine List anzuwenden.“
„Eine List?“
„Noch denkt Siantari, ich wäre auf ihrer Seite. Lass mich dich gefangen nehmen. Nur zum Schein. Ich bringe dich zu ihr und erzähle ihr etwas davon, wie du der Schlüssel dazu bist, das ewige Eis über diese Lande zu verbreiten.“
„Siantari dürfte sich wundern, dass sie dich nicht mehr kontrollieren kann.“
„Auch das können wir vielleicht dir und deiner Feuermagie in die Schuhe schieben. Davon abgesehen wissen wir nicht einmal, wie es sich anfühlt, Herrin aller Eis-Dämonen zu sein. Vielleicht merkt sie nicht einmal aktiv, dass ich ihrer Kontrolle entschlüpft bin.“
„Und vielleicht muss sie sich nur stark genug auf dich konzentrieren, um Irils Runen zu überwinden und dich wieder unter ihren Willen zu kriegen. Dann hätten wir ihr prompt uns beide ausgeliefert. Das kann doch kaum das Ziel sein.“
„Natürlich nicht. Aber es hilft unserem Ziel auch kaum, blind mit zwei Schwertern auf sie zuzustürmen und sie zu erledigen hoffen.“
Stille.
„Wenn du meinst“, murmelte Aćh. Sie kramte ihre Dose Sufarsaft hervor, träufelte eine gehörige Prise Takuri-Asche hinein und rieb ihr Seil in der Flüssigkeit ein. Anschließend schwang sie es an ihre Hüfte, wo es hoffentlich möglichst natürlich zu ihrer zeremonielle Rüstung passte.
Ijsdur nahm Aćhs Schwert an sich und hängte es an seine Hüfte, an der sich auf magische Art ein passender Gurt mit Scheide formte. Dann hielt er Aćhs Arme fest, als wäre sie seine entwaffnete Gefangene, und schob sie vor sich hin.
So bewegten die beiden sich weiter.
„Da vorne!“, rief Ijsdur. Aćh konnte noch nicht gut erkennen, was genau er meinte. Sie hatte die riesige Säule aus umherwirbelndem Schnee und Nebel aber ebenfalls schon erspäht. Der Alte Wehrturm war kaum sichtbar. Falls das Gemäuer nicht schon beim Kampf gegen die Kälte eingestürzt wäre, hatte Siantari ihm nun definitiv den Rest gegeben. Worauf wartete sie nur?
„Da vorne ist Siantari“, wiederholte Ijsdur. „Ich sehe ihre Silhouette. Sie thront oben auf der Ruine des alten Wehrturms. Nun, inzwischen ist es eher ein Schneehügel. Ausgestreckte Arme. Sie befiehlt den Sturm. Und sie ist nicht allein.“
„Drachenkultisten? Etwa gar ein weiterer Drache?“
„Ich glaube nicht. Das sind Gefangene! Mindestens zehn Personen. Klein. Kinder? Sie sitzen in einer Reihe weiter unten am Hügel. Da!“
Ijsdur zeigte in den Schneesturm hinein, doch Aćh konnte bloß dunkle Schemen erkennen.
„Jetzt kusch, Turr! Warte auf deinen Moment!“, rief Ijsdur, und wedelte mit den Armen. Turr gurrte protestierend, flatterte dann aber davon, hoch in den Himmel, in die dunklen Wolken, in denen er hoffentlich nicht einmal von den scharfen Augen eines Dämons erspäht werden konnte.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Aćh breit. Ohne Turr kam sie sich so alleingelassen vor.
Hier lief sie, waffenlos, ungeschützt. Kurz davor, einer bösartigen Eis-Dämonin entgegenzustehen, die sie mit einer raschen Berührung zu einem ihrer Diener machen könnte. Schaudernd dachte Aćh daran, wie sich Aćhdora angefühlt hatte.
Der neben ihr stehende Eis-Dämon hatte versprochen, nicht auf Siantaris Seite zu stehen. Konnte sie ihm wirklich vertrauen? Turr hatte Ijsdur noch nie gemocht. Was, wenn dies die ganze Zeit sein Plan gewesen war? Aćh und Turr an Siantari auszuliefern und die Gefahr des Feuers auszuschalten? Tenaya die Feuerwächterin und Lifornus der Feuerzauberer, ja selbst Trieest der Feuerkrieger befanden sich weit weg von hier, das hatte Eara bei der letzten Heldenversammlung mitgeteilt.
Kalter Wind heulte und klatschte Schneeflocken gegen Aćhs Gesicht. Ihre Schritte wurden schwerer. Ihre Stiefel sackten immer tiefer in den lockeren Schnee ein. Ijsdur hingegen wurde beschwingter. Er lief voran, ohne in den Schnee einzusinken.
Sie hatten den Schneesturm erreicht. Inzwischen konnte Aćh die Silhouette des alten Wehrturms wieder besser erkennen. Neben dem beständigen Rauschen des Sturmwinds in dieser klirrenden Kälte glaubte sie auch, Schmerzensschreie zu hören.
Tappte Aćh soeben in eine Falle? Ihr Atem beschleunigte sich. Nein, redete sie sich ein, das waren nur ihre Sorgen, die sich verselbstständigen. Wenn schon, hätte Ijsdur doch lieber Iril ausgeschaltet, ihre Runenmagie schein die größte Gefahr für die Eis-Dämonen. Naja, außer die Runen funktionierten gar nicht und Ijsdur täuschte ... stopp, sie durfte diesen Gedanken nicht länger nachhängen. Ijsdur hatte ihr Leben gerettet, schon mehrmals. Und er hatte nie ein Anzeichen bösartigen Willens gezeigt, während Nesdora damals schon innert Kürze ihr wahres Gesicht gezeigt hatte. Doch was war mit diesen gefangenen Gestalten vor Siantari? Und was war mit diesem Wirbelsturm?
„Ijsdur, können wir kurz anhalten?“, fragte Aćh, „Ich muss meine Gedanken sortieren.“
„Jetzt hat uns Siantari vielleicht schon erspäht. Wenn wir anhalten, gefährdet dies unsere Tarnung.“ Ijsdur zog an Aćhs Arm. Sie stolperte weiter.
„Ijsdur, halt an. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Wirklich nicht.“
„Umso besser, das wirkt viel authentischer.“
„Ijsdur, lass mich los!“
Aćh riss sich los von Ijsdur. In einer geschmeidigen Bewegung riss sie ihr Schwert von seinem Gurt und taumelte einige Schritte zurück. Blut pochte in ihren Ohren. Das Feuer der Furcht raste durch ihre Adern. Ijsdur blickte sie aus kalten, schneeweißen Augen an. Genau wie Nesdora es getan hatte. Ijsdurs Eiskristallkette glitzerte und glomm schwach umgeben von all diesem Schnee. Furcht überkam Aćh. Sie wirbelte herum und nahm ihre Beine in die Hand.
Im Heulen des Windes hörte sie nicht, ob Ijsdur sie verfolgte. Eine Schneewehe gab unter Aćhs Stiefeln nach. Sie kippte zur Seite, verwickelte sich in ihrem langen Umhang und kullerte unfreiwillig in eine Kuhle. Es war nass und kalt und nass. Bäh! Sie verschnaufte und verfluchte zu gleichen Teilen sich selbst, Ijsdur und Siantari.
Dann schob sie ihren Kopf leicht über die Anhöhe und blickte dorthin, woher sie gekommen war. Der Sturmwind machte es schwer, irgendetwas zu erkennen. Immerhin würde er auch ihre Spuren rasch verwischen.
Da, eine Gestalt! Gehörnt und zu Fuß unterwegs. Ijsdur trat näher, bis er nur noch einige Mannslängen von Aćh entfernt war. Er sah sich ratlos um, blickte allerdings weit über Aćhs aus der Senke hervorlugenden Kopf hinweg.
Doch er war nicht allein. Der Sturm nahm an Stärke zu, als zweite Gestalt in den Fokus kam. Auch sie war gehörnt, doch lief sie nicht, sondern schwebte mit ausgestreckten Armen auf einem Kissen aus Luft. Ihr langes Kleid flatterte im Wind.
Eisblaue Augen richteten sich auf Ijsdur und eine Stimme erklang, so klar und so kalt wie Eis, und noch viel klirrender als Ijsdurs.
„Sieh an. Hat es doch noch ein anderer Eis-Dämon bei Verstand durchs Felsentor geschafft. Der verlorene Sohn kehrt zurück.“
Ijsdur drehte sich um und fiel vor Siantari auf das Knie. „Herrin! Endlich habe ich Euch wiedergefunden!“