„Edler Herr, seid Ihr verletzt?“
Thorald rieb sich zum zweiten Mal an diesem Tag den schmerzenden Kopf und erwachte aus der Dunkelheit. Über ihm gebeugt stand ein Soldat in einer ihm unbekannten Uniform und stupste ihn mit einem Speer an. Rot war seine Kleidung, und rot-weiß war das spitze Schild, das er fest in seiner anderen Hand hielt.
„Wo... wo bin ich?“, stammelte Thorald.
„Im Forest seid Ihr, und allem Anschein nach hat Euch einer der Geächteten übel erwischt. Diese Bastarde haben es schon seit Wochen auf die Adligen der Grafschaft von Nottingham abgesehen.“
Die Wache legte ihren Speer ab und kniete neben Thorald hin: „Geht es Euch gut? Wurdet Ihr am Kopf erwischt?“
Thorald nickte bloß und fragte dann: „Konntet Ihr die magischen Schilde sicherstellen? Und wisst wenigstens Ihr, dass ich Euer König bin?“
Die Wache blickte verdutzt drein und murmelte dann: „Auweia. Öhm. Kommt, Ihr müsst Euch erholen. Ich besitze leider nicht die Heilkünste, die benötigt werden, um mit einer solchen Kopfverletzung umzugehen. Stützt Euch auf mich, ich bringe Euch zur Burg. Unser Heiler wird sich Euer annehmen können.“
„Ja, die Rietburg ist ein gutes Ziel, ich weiß, wo die steht“, lallte Thorald. Sein Blickfeld wurde wieder unscharf, und die Stimme der Wache hallte, als befänden sie sich immer noch in der Höhle bei der Quelle des Likko.
„Ja, ja, zur Burg mit uns. Auf jetzt. Nein, lasst Euch nicht fallen. Bei Gott, Ihr seid ja in einem Zustand...“
Danach nahm Thorald nur noch verschwommen war, wie Sprachfetzen an sein Ohr drangen.
„Warum müsst Ihr auch so schwer...
„Kommt, Alrich, helft mir kurz...“
„Dieser Karren ist konfisziert im Namen des...“
Plötzlich musste Thorald nicht mehr laufen, sondern konnte sich auf ein Strohbett sinken lassen. Aber das war gar kein Strohbett, das schaukelte ja viel zu heftig. Wie eigenartig.
So sank Thorald in einen unruhigen Schlaf.
Als Thorald aufwachte, brauchte er einen Moment, um seine Erinnerungen zu sortieren und zu verstehen, was geschehen war. Es gelang ihm nicht vollständig. Er bemerkte, dass sein Kopf nicht mehr schmerzte und stattdessen von einem weichen Samtkissen aufrecht gehalten wurde.
Überrascht schlug Thorald seinen Augen auf und blinzelte gegen die grellen Lichtstrahlen. Dann fiel ihm auf, dass er sich in einem ihm vollkommen unbekannten Raum befand. Und dass eine ihm vollkommen unbekannte Person auf einem Stuhl neben seinem Bett saß und ihn aufmerksam musterte. Der Mann trug einen eleganten, königlich roten Mantel und feuerrotes Haar, das Thorald an Fenn erinnerte. Seine Hände hatte er gefaltet und seine Aufmerksamkeit galt ganz dem erwachenden Thorald.
Thorald beschloss, die unangenehme Stille zu unterbrechen. Er räusperte sich, hustete und stammelte dann: „Ich... ich danke Euch ganz herzlich für die Gastfreundschaft. Ich war nur auf der Durchreise durch den Wald, als ich von einem groben Hünen überfallen wurde.“
Die Person auf dem Stuhl nickte: „Das wurde mir von der Wache auch berichtet. Ich bin der Sheriff von Nottingham, und es ist meine Aufgabe, diese Geächteten und ihren Anführer Robin Hood zu fangen und zu richten.“
„Sehr erfreut, Sheriff“, nickte Thorald, „Ich bin der Thorald von Andor“. Ein seltsamer Name war das, Sheriff. Und auch von einem Nottingham hatte er noch nie gehört. Konnte es sein... vor vielen Jahren hatten die Andori erfahren, dass das Fahle Gebirge ihnen ein ihnen bislang unbekanntes Land verborgen hatte, das mythische Tulgor, Land der Architektur und Technologie, der Temm und der Takuri. Konnte es sein, dass die Andori von der Existenz eines weiteren Landes nicht wussten? Auf jeden Fall lag Thorald auf einem Bett in einem ihm fremden Gemäuer. Einer Burg? Thorald wusste von keiner bewohnten Burg außer der Rietburg. Wie fern von seinem Heimatland befand er sich nur?
„Thorald von Andor, soso“, murmelte Sheriff, „Ihr seht eindeutig wie ein Adliger aus, wenn auch ein ziemlich verdreckter. Schon alleine Euer Umhang dürfte mehr wert sein, als eine Wache in einem Monat verdient. Seltsam ist bloß, dass ich noch nie von einem Adelsgeschlecht namens ‚Andor‘ gehört habe. Und ich rühme mich, in den Adelsgeschlechtern ziemlich bewandert zu sein.“
Thorald wusste, dass er vorsichtig vorschreiten musste. Sheriff schien eine mächtige Person zu sein, und mächtige Personen tendierten oft zu einem Hang für Willkür. Es schien ihm nicht falsch, auf die Symmetrie ihrer Situation hinzuweisen.
„Nun, Sheriff“, sprach Thorald, „Mir scheint das Ganze ebenso seltsam. Ich habe noch nie von einem Nottingham gehört. Wo befinde ich mich denn überhaupt?“
„Im Nottingham Castle, dem Herzen von England!“, kam die Frage wie aus der Pistole geschossen.
„England?“
Der Sheriff schüttelte lachend seinen Kopf: „Ich habe ja schon gehört, dass einen Schlag auf den Kopf einem Manne den Geist vernebeln kann, aber das ist schon unerhört, was ihr mir hier auftischt. Woher glaubt Ihr denn zu stammen, wenn ihr nicht einmal England kennt?“
„Wie ich bereits sagte: Ich stamme aus Andor, dem Drachenland.“
Der Sheriff verschluckte sich fast vor Glucksen, als er das hörte: „Drachen?! Als nächstes erzählt Ihr mir noch von Feen und Einhörnern!“
„Von den Drachen habt Ihr also schon gehört!“, rief Thorald freudig auf, „Dann werdet ihr ja wissen, dass die Drachenspezies vor langer Zeit schon ausgelöscht wurde bis auf den letzten. Dessen Hort... da direkt nördlich davon liegt Andor!“
Sheriff schlug sich auf die Schenkel: „Haltet ein, Thorald von Andor. Ich mag solche Geschichten so gerne wie der nächste, aber irgendwann wird es einfach zu viel. Ich hoffe, dass sich Euer Geist bald wieder beruhigt, auf dass wir einige Informationen über die Geächteten erfahren mögen.“
Wie konnte es sein, dass der Sheriff von Drachen, nicht aber von Andor gehört hatte? Hatte der Unterirdische Krieg vielleicht nur alle Drachen in der Nähe Andors ausgelöscht, aber weiter weg lebende verschont? Die Gerüchte über einen Eisdrachen im Hohen Norden würden dem ja auch entsprechen. Nicht, dass Thorald diesen Gerüchten Glauben schenken würde. Aber Ken mochte es, darüber zu diskutieren.
Da fiel Thorald etwas anderes auf: „Ihr behauptet, noch nie von Andor gehört zu haben. Wie kommt es dann, dass Ihr die andorische Sprache sprecht? Die Sprache, die den flüchtigen Ambacus aus Krahd einst von den Bewahrern gelernt wurde?“
Thorald besann sich, einst von einem legendären Trank gehört zu haben, welcher seinem Trinker erlaubte, Strukturen in gesprochener Sprache zu erkennen. War es vielleicht möglich, mit Runenmagie einen ähnlichen Effekt zu erzeugen? Runenmagie wie derjenigen, die den langen Gang zwischen Andor und dieser seltsamen Welt geziert hatte? Aber würde er die Sprache dieser Menschen dann so klar verstehen können? Und warum in diesem schrecklichen Akzent?
„Nein, mit ‚andorischer Sprache‘ hat das gar nichts zu tun. Ihr sprecht die Sprache Englands, wenn auch mit einer, wage ich zu behaupten, abscheulichen Betonung“, schmunzelte Sheriff.
War es möglich, dass sie tatsächlich dieselbe Sprache sprachen? Das würde, nein, musste bedeuten, dass sie gemeinsame Wurzeln hatten. Dass ein Kontakt zwischen den Welten bestand, oder dass gar Menschen aus Andor dieses Land besiedelt hatten, wenn nicht umgekehrt. Die Implikationen davon mochte sich Thorald gar nicht ausmalen. Nein, das hätten die Bewahrer vom Baum der Lieder mit all ihren Aufzeichnungen doch unmöglich unter Verschluss halten können.
Sheriff unterbrach Thoralds Überlegungen: „Auf welchem Pfad seid Ihr hierhergekommen? Zu Fuß? Zu Wagen?“
„Hoch zu Ross“, fuhr Thorald fort, „durch einen unterirdischen Gang. Erst hielt ich ihn für das Werk von Zwergen, aber die Zwerge hatten noch nie von einem England berichtet... vielleicht war das ein Feenpfad durch die Feenwelt? Solche können große Distanzen überwinden.“
„Ich sagte doch bereits: Haltet ein mit den Märchen!“, rief Sheriff nun mit einem bedrohlicheren Unterton in der Stimme, „Und bleibt bei der Wahrheit! Nichts von Feen, Zwergen, Magie oder dergleichen. Diese existieren nicht!“
Da erkannte Thorald endlich, dass Sheriff all diese Wesen und gar die Magie selbst für Hirngespinste zu halten schien, und verstummte überrascht. Sheriff war eindeutig ein reizbarer Mensch, und solange er Thoralds Erzählung nicht glaubte, war es vielleicht geschickter, sie nicht weiter auszuführen. Aber lügen wollte er auch nicht. Ach, wenn doch nur Ken hier wäre, der wüsste, was zu tun wäre.
Beim Gedanken an Ken spürte Thorald ein feines Stechen in seiner Brust, aber er ließ ihn nicht los, sondern versuchte, sich im Geiste Kens schnarrende Stimme vorzustellen:
„Ein sehr skeptischer und ignoranter Mensch ist das. Kein Wunder, dass er dir nicht glaubt, vor einem Jahrzehnt hättest du auch niemandem die Existenz von Tulgor abgekauft. Du musst etwas finden, was ihn überzeugt, dass du nicht auf den Kopf gefallen ist. Tische ihm keine alten heiteren Geschichten über Feen und Zwerge auf, sondern demonstriere ihm irgendetwas etwas Neues, Dunkles, vielleicht gar etwas Magisches?“
Da hatte Thorald eine neue Idee: Er griff in seine Hosentasche und zog den grünen Runenstein hervor, den er bei seiner Reise zu Elgas und Junas Hof gefunden hatte.
„Und was sagt Ihr zu diesem Prachtstück hier? Ein stärkender Stein, geprägt mit der Macht der Runen. Er war es, der mir den Gang in dieses Land überhaupt öffnete. Ein klassisches Beispiel für Magie!“
Sheriff griff nach dem Stein, wog ihn in der Hand und warf ihn dann zu Thorald zurück: „Ist das Futhorc? Ein hübscher Stein, kein Zweifel, aber ich erkenne darin keine Spuren von Magie.“
Jetzt, wo er es sagte, musste Thorald ihm recht geben. Der Stein glomm nicht mehr und als Thorald ihn an sein Ohr hielt, summte er auch nicht leise, wie die Runensteine es sonst taten. Er lag einfach nur still da. Als wäre die Magie in seinem Inneren erloschen.
Natürlich hatte Thorald schon erlebt, dass die Runensteine an verschiedenen Orten mit ihrer Umgebung mehr oder weniger resonierten – an den Eingängen zu den unterirdischen Zwergengängen waren sie beispielsweise mächtiger als über dem offenen Meer – aber dass er einen Runenstein fest in seiner Hand halten konnte, während dieser komplett erloschen blieb, das hatte er noch nie erlebt. Was war das hier für eine Umgebung?
„Keine weiteren Geschichtchen mehr?“, lachte Sheriff und behauptete stolz, „Das magischste, was ich je in meinem Leben erlebt habe, war eine präzise dressierte Krähe. Da draußen züchtet jemand Krähen und schickt sie auf uns los. Wenn wir eine von denen einfangen könnten, oder besser gar, zu ihrem Hüter verfolgen, dann wäre dies überaus hilfreich. Ich schwöre beim Herrn...“
„Beim Herrn?“
„Ach, kommt schon, Ihr glaubt doch nichts ernsthaft, dass ich Euch abkaufe, noch nie vom Herrn gehört zu haben.“
„Ich will Euch wirklich keinen Bären umbinden.“
„Bären hat es also dort, woher Ihr kommt?“
„Natürlich gibt es in Andor Bären!“
„Aber Gott kennt man dort nicht? Seid Ihr etwa ein Ketzer?“
„Ich habe noch nie in meinem Leben eine Kerze gezogen“, versicherte Thorald Sheriff.
„Ihr müsst Euch dringendst mal mit Father Egbert unterhalten, werter Thorald von Andor. Naja, sobald dieser sich wieder eingekriegt hat“, gluckste Sheriff, „Im Moment ist er nicht so gut auf die Krone zu sprechen, seitdem wir das goldene Kreuz der Kirche für die Kriegssteuer einziehen mussten.“
„Ach ja, Steuern. Das Volk mochte sie bei uns auch nicht sonderlich.“, murmelte Thorald bedrückt und erinnerte sich daran, wie Ken ihn zum Erheben größerer und größerer Steuern ermuntert hatte. Die Staatskasse Andors war nun praktisch am Überlaufen, aber das Volk war nicht besser auf die Krone zu sprechen. In den Flusslanden gab es gar Schreie nach Unabhängigkeit. Obwohl Thorald versprochen hatte, das Gold zum Wohle Andors zu nutzen, sobald sich eine Gelegenheit ergab.
Sheriff schein das nicht so zu sehen, denn er gluckste auf und stimmte zu: „Natürlich mag das Volk die Steuern nicht, die wollen ja lieber ihren Wohlstand für sich behalten. Aber Wohlstand der einzelnen Bürger besiegelt nun mal keine Bündnisse fürs ganze Volk. Und arme Schlucker sind abhängiger vom guten Willen der Krone. So können wir unsere schöne Macht beibehalten. Diejenigen, die nicht genügend leisten oder sich uns widersetzen, werden zu Geächteten, und diese wiederum erhalten früher oder später das, was sie verdienen: Den Tod!“
Thorald spürte ein flaues Gefühl in seinem Magen. Dieser Sheriff hatte nicht das Geringste Mitgefühl für seine Untergebenen. Daran erkannte man einen Tyrannen, das hatte ihm Brandur schon oft gesagt.
„Hört mal, werter Herr Sheriff...“, setzte Thorald an.
„Sheriff ist kein Name, sondern mein Titel“, brummelte der Sheriff, „Wenn ihr mich schon bei Namen nennen müsst, so nennt mich William von Wendenal.“
„Werter Herr von Wendenal“, setzte Thorald erneut an, doch blieb dann stumm. Sich mit dem Sheriff über die Moral seiner Taten zu unterhalten, wäre ein guter Weg, selbst auf die Feindesliste dieses Tyrannen zu landen. Stattdessen fuhr er fort:
„Ich könnte Euch vielleicht von der Wahrheit meiner Geschichte überzeugen, wenn ich Euch zum Höhlengang in mein Heimatland führte und dieses mit dem Runenstein öffnete. Wie klingt das in Euren Ohren?“
Sheriff lächelte mit kalten Augen: „Ha! Als ob ich so viel Zeit zur Verfügung hätte. Viele Angelegenheiten in der Grafschaft erfordern meine Aufmerksamkeit. Der hohe Prinz John hat sich höchstpersönlich hier in Nottingham einquartiert, könnt ihr es euch vorstellen? Was für eine Ehre! Seit der König in die Kreuzzüge gezogen ist, regiert der Prinz das Land an seiner Stelle. Darum müssen wir doppelt so hart durchgreifen, Wachpatrouillen verdoppeln und Räuber und Diebe ohne Gnade dem Tod überweisen. Und darum haben wir keinerlei Mannen für derlei Hirngespinste aufzuwenden.“
Thorald sagten eine Menge dieser Worte nichts, aber innerlich verfestigte sich sein Gefühl, dass er als König Andors nicht einmal so schlecht gewesen war. Zumindest hatte er nicht seine eigenen Untertanen ermorden lassen.
„So glaubt mir doch, warum würde ich Euch auf den Arm nehmen wollen?“, fuhr Thorald fort, der spürte, dass er ohne Beweise dieses Castle nicht mehr lebend verlassen würde, und der sich sicher war, dass ein Wiederholen seiner Behauptungen diese glaubhafter machen würde, „Genau dieser Runenstein hier öffnete den Ausgang zum Höhlengang zwischen unseren Reichen. Der war mit Runen verziert, Runen wie der auf diesem Stein hier. Der Ausgang hatte die Form eines riesiges steinernen Gesichts, und hinter seinem Mund liegt der Gang nach Andor...“
„Ein steinernes Gesicht?“ horchte der Sheriff plötzlich auf, „Hat es geweint?“
„Öh... vielleicht? Es war jedenfalls Wasser dort...“
Leise flüsterte der Sheriff: „‘Trittst du in den Kreis der Runen ein, wird der Strom der Tränen versieget sein.‘ Ist das möglich, dass... ?“
Der Blick des Sheriffs, der Thorald nun traf, war urplötzlich kalt und entschlossen.
„Ich lasse einen Trupp bereitmachen. Führt sie zum steinernen Gesicht.“
Thorald fühlte sich endlich wieder ein wenig königlich, als er auf einem edlen Pferd von Nottingham Castle aus aufbrach, in Begleitung zweier Wachen und des besten Söldners, den man für gutes Gold anheuern konnte. Guy von Gisbourne hieß er, und offenbar verdingte er sich als Jäger dieser Geächteten, die Thorald die mächtigen Schilde abgenommen hatten – wenn auch bislang bloß mit mäßigem Erfolg. Thorald zweifelte daran, dass ein so grimmiger Bursche dem geschickten Fenn aus dem Barbarenland im Fährtenlesen etwas vormachen konnte.
Der Sheriff betrachtete die Abreise des Trupps vom Torbogen aus, sein rotes Gewand in starkem Kontrast zum blauen Himmel. Insgeheim nahm Thorald sich vor, ein Wams in derselben Farbe in Auftrag zu geben. Die Farbe hatte etwas.
Auf dem Weg aus der Burg heraus blieb Thoralds Blick an einem großen Holzgestell hängen, an dem ein langes Seil mit einer Schlaufe am Ende hing. Thorald fragte Gisbourne, ob es sich dabei um ein Kunstwerk oder ein Werkzeug handelte. Gisbourne lehnte sich aus seinem Sattel und flüsterte Thorald ins Ohr: „Das ist der Galgen, an dem der Henker alle Gesetzesbrecher aufknüpft. Dieses Schicksal steht vielleicht auch dir bevor. Der Sheriff mag dir deine Wahnsinngeschichte abkaufen, aber so leicht trügt man mich nicht! Ich habe ein Näschen dafür, wo die Geächteten auftauchen, und diese Nase schlägt Alarm, wenn ich mich auch nur in deine Nähe komme. Sollte dein Tipp ins Leere schlagen, so lasse ich dich gefesselt und gekettet vor Prinz Johns Urteilspruch bringen. Und dann werde ich genüsslich zusehen, wie du am Galgen zappelst, bis dir die Luft ausgeht“
Thorald schluckte tief. Er hatte die letzten Jahre stark damit gekämpft, ein schlechter König zu sein, aber im Vergleich mit diesem Herrscher kam er sich ganz goldig vor. Ein Werkzeug zum Ermorden der eigenen Untertanen, so prominent zur Schau gestellt?! In was für einer Welt war Thorald hier nur gelandet?
„Meister Gisbourne...“, versuchte er, seine adlige Haltung zu bewahren, „Ich führe Euch hier freiwillig zu diesem Gang, in der Hoffnung, zurück in mein Land zu kommen. Ein wenig Dank wäre von Eurer Seite nicht fehl am Platze“
Thoralds zog rasch wieder den Kopf ein, als Gisbourne bloß knurrte und eine unwirsche Geste in seine Richtung machte. Was für eine grausame Kreatur dieser Söldner doch war. Thorald beharrte: „Ich kann Euch versichern, dass ich nicht lüge. Es mag sein, dass ich den Weg auf die Schnelle nicht finde, aber wenn wir nur lange genug suchen, werden wir die Stelle schon finden. Den Eingang kann man auf jeden Fall nicht übersehen. Seht, wir folgen den Radspuren des Wagens, der mich zur Burg gebracht hat. Folglich liegt der Gang in dieser Richtung. Haltet einfach Ausschau nach einem Runenkreis oder einem steinernen Gesicht.“
Thorald hob seine Hand und zeigte grob in die Richtung, in welcher er das Gesicht vermutete. Ein Rascheln ließ seinen Blick ins Unterholz gleiten, wo sich soeben eine grau gewandte Gestalt mit einem großen Buckel in den Schatten zurückzog. War das Reka, die Kräuterhexe? War sie etwa auch dem Tunnel in dieses fremde Land gefolgt?
„Keine Ablenkungen“, zischte Gisbourne, „Auf, auf! Die Geächteten kommen näher, das spüre ich. Wenn wir uns beeilen, können wir sie vielleicht überraschen.“
Da fühlte Thorald, als hätten die Baumwipfel Augen und würden auf den kleinen Trupp des Königs starren, wie er durch den Sherwood Forest ritt. Ein Blick nach hinten verriet ihm, dass die beiden Wachen ebenfalls vorsichtig die Bäume inspizierten. Nur Guy von Gisbourne ritt mit starrem Blick nach vorne voran.
Sie waren kaum eine Viertelstunde weiter gezogen, da schrie Gisbourne plötzlich auf. Thorald hatte seine Schwierigkeiten damit, sein Pferd zu zügeln, da zischten auch schon mehrere irgendetwas an seinem Kopf vorbei.
Im Licht, das die sinkende Sonne durch die Wipfel warf, erkannte Thorald mit Schrecken, wie die beiden Wachen hinter ihm zu Boden sanken. Aus der einen ragten zwei Pfeile, von denen der eine den anderen beinahe vollständig gespalten hatte.
Thorald wurde bleich. Hilflos suchte er die Umgebung ab, nach einem Zeichen, wer denn hinter diesem Überfall steckte. Gisbourne starrte die meisterhaft geschossenen Pfeile an und flüsterte: „Das ist Robin Hood. Das ist ihr Anführer!“
Ein irres Glänzen schlich sich in seine Miene, als er ausrief: „Zeig dich, Robin, wo versteckst du dich?“
Als wäre es seine Antwort, surrten zwei weitere Pfeile durch die Luft und schlugen gegen die Brustplatte des Söldners. Gisbourne keuchte, aber die Pfeile hatten seinen Brustpanzer nicht durchschlagen und fielen wirkungslos zu Boden.
Gisbourne zog einen verdreckten Helm hervor und setzte ihn auf. Lilane Federn ragten stolz daraus hervor und nur noch seine wahnsinnig glänzenden Augen waren von ihm zu erkennen. Jetzt würde es erst recht schwer werden, ihn zu treffen.
Thorald fluchte und glitt von seinem Pferd, in der Hoffnung, am Boden vor einem Pfeilhagel sicherer zu sein. Er landete unsanft in einer Ansammlung von Waldpilzen, welche prompt zu stäuben begannen und seine Nase reizten. Thorald nießte einmal, zweimal laut und rollte sich aus den Pilzen auf den matschigen Waldboden. Es stank nach Pferdedreck.
Als Thorald sich aufrichtete, sah er zwei Gestalten entgegen, welche in die hell erleuchtete Lichtung traten. Die eine war schlank, aber großgewachsen, in einen himmelblauen Umgang samt Kapuze gekleidet, und hielt einen mächtigen Bogen auf Gisbourne gespannt. War das dieser legendäre Robin Hood, der Anführer der Geächteten? Die andere Gestalt trug ihr langes feuerrotes Haar offen und stützte sich auf eine schwere Axt. Wenn Thorald sich nicht täuschte, wehte der Wind gerade ein bisschen zu viele Blätter um sie herum, als dass es ein Zufall sein könnte. Ein schwarzer Rabe stürzte sich aus dem Himmel und flog der Gestalt ohne Kapuze in ihre ausgestreckte Hand, woraufhin sich Thorald an die Worte des Sheriffs erinnerte:
„Da draußen züchtet jemand Krähen und schickt sie auf uns los.“
„Zurück!“, erklang ihre helle, gebieterische Stimme, „Ziehet von hinnen und wir schenken Euch Euer Leben!“
„Zur Hölle! Wo ist Robin Hood?!“, zischte Gisbourne und presste seine Fersen in die Flanken seines Pferdes. Dieses wieherte, richtete sich auf seine Hinterbeine und sah ganz gefährlich aus. Dann ließ es seine Vorderbeine wieder auf den Boden prallen und nahm geifernd Kurs auf die beiden Geächteten. Gisbourne zückte seine blanke Klinge und richtete sie auf die Gestalt mit dem Raben.
Der himmelblaue Bogenschütze feuerte auf den Söldner, einmal, zweimal, aber wieder prallten die Pfeile nutzlos an Gisbournes Rüstung ab. Mit einem frustrierten Grunzen schulterte der Bogenschütze seinen Bogen wieder und rief: „Gisi? Darf ich dich Gisi nennen? Die Welt wird sich erfreuen an den Spottliedern, die ich über dich verfassen werde... sobald du erst einmal das Zeitliche gesegnet hast!“
Der Bogenschütze zog ein langes Messer hervor und richtete es auf den anstürmenden Gisbourne, scheinbar ungerührt von dessen Ansturm. Gisbourne gab sich ähnlich ungerührt, zügelte sein Pferd und bellte vom Rücken seines Gauls einen knappen Befehl. Wie aus dem Nichts tauchten hinter den beiden Geächteten zwei weitere rote Wachen auf und fuchtelten mit langen Speeren. Die Frau mit dem Raben wich zurück und sprang auf den nächsten Baum, während ihr Rabe der Wache ins Gesicht flog und allen Anschein nach ansehnlichen Ärger bereitete.
Dann aber wurde der Rabe davongescheucht und die beiden Wachen drängten den übriggebliebenen Bogenschützen in Thoralds Richtung. Ein Speer verfing sich in der himmelblauen Kapuze, riss sie herunter und enthüllte ein faltenloses Gesicht mit einem strubbligen schwarzen Haarschopf. Das war doch noch kaum ein erwachsener Bursche! Thorald sah zu, wie der Geächtete gefährlich unkontrolliert mit seinem langen Messer herumfuchtelte, und beschloss, einzugreifen. So griff er nach einem am Boden liegenden Büschel von Ästen und schleuderte diese ungelenk von sich. Nicht viele der Äste trafen ihr Ziel, doch zu seiner Freude sorgte sein Eingreifen dafür, dass der Bursche sich umdrehte und die beiden Wachen sich auf ihn stürzen konnten. Nach einem kurzen Gerangel wurde das Messer des Burschen fortgeschleudert. Gisbourne sah dem ganzen Vorgehen aus einiger Entfernung grinsend zu. Thorald richtete sich zu seiner vollen Größe auf und wischte sich den Dreck von seinen Kleidern.
Ein dumpfer Schlag direkt neben ihm ließ sein Herz wieder in die Hose sinken.
„Haste mich vermisst?“, ertönte eine tiefe Stimme. Der Hüne, der Thorald erst vor Kurzem so freundlich in diesem Reich begrüßt und ihm die beiden mächtigen Schilde entwendet hatte, war auch hier! Thorald schrie mutig auf und gab Fersengeld, aber kaum zwei Mannslängen weiter erwischte ihn der kräftige Griff des Hünen dennoch.
Der Hüne warf Thorald ohne Mühe über seine Schulter. Jetzt konnte Thorald nur noch den verschwommenen Waldboden ausmachen, wie er hin- und herschaukelte, während der Hüne mit großen Schritten davonrannte. Ein mächtiger Satz, dann ein Knarzen wie von einem Baumstamm, dann... Stille. Ein Schrei erklang, in dem Thorald die Stimme Gisbournes zu erkennen glaubte, aber er schien weit weg.
Thorald wurde sanft zu Boden gelassen. Das war kein Waldboden, sondern... Bretter? Eine Brücke in den Bäumen? Ehe Thorald sich genauere Gedanken dazu machen konnte, hatte sich der Hüne bereits über ihn gebeugt und platzierte seine breite Hand fest auf Thoralds Mund.
„Hübsch still sein, gell?“, wies er Thorald an. Dieser hustete und blickte sich panisch um, aber Widerstand schien ihm im Moment nicht das geschickteste Vorgehen zu sein.
Es raschelte neben ihm und die Gestalt mit dem Raben trat in sein Blickfeld. Überrascht erkannte Thorald, dass es sich um eine Dame in einem langen Kleid handelte. Das Bild passte so gar nicht zur mächtigen Axt, die sie mit zwei Händen führte.
„Sie haben Will geschnappt“, fluchte sie.
„Un‘ wir ha’m den hier“, meinte der Hüne,
„Aber wir hängen unsere Gefangenen im Gegensatz zu ihnen nicht einfach so, wenn sie nichts dagegen tun.“
Der Hüne kratzte sich am Kinn und antwortete dann: „Wenn Gisi ihn geschnappt hat, gibt es so hurtig nichts, was wir für ihn tun könn‘. Komm, Marian, wir bringen den hier zu Robin, und dann guck’n wir weiter, wie wir Will aus dem Castle kriegen.“
„Deine Hoffnung hätte ich gerne“, schüttelte die Dame – Marian – ihren Kopf.
Der Hüne meinte schlicht: „Der Herr ist mit uns.“
Marian schluckte tief, nickte dann aber: „Na gut, dann auf zu Robin mit ihm. Zuletzt hat er auf der anderen Seite der Lichtung Position bezogen. Suchen wir ihn dort.“
„Nicht nötig“, erklang eine leise Stimme dicht neben dem Trio, und alle drei zuckten zusammen, wenn auch Thorald am stärksten. Er versuchte erfolglos, seinen Kopf so zu drehen, dass er den Neuankömmling erkennen konnte.
Der Neuankömmling indes beugte sich so nahe an Thorald heran, dass dieser seinen Atem spüren konnte, und murmelte: „Ich bin Robin von Loksley.“
Thorald stammelte ein „Sehr erfreut“, das durch die Hand des Hünen kaum zu verstehen war.
Robin fuhr ungerührt fort: „Wir sind etwas in Eile, darum komme ich gleich zum Punkt: Wer seid Ihr, und warum wisst Ihr, wo unser geheimes Lager liegt?“
Thorald schluckte. Er wusste doch gar nicht, wo ihr geheimes Lager lag. Und so skeptisch, wie der Sheriff auf seine Geschichte reagiert hatte, war es vielleicht nicht das Geschickteste, einem Haufen Halunken seine Herkunft zu erklären versuchen.
Schon entfernte der Hüne seine Hand von Thoralds Mund. Thorald krabbelte ein wenig zurück und richtete sich auf. Ja, er stand auf einer Art Baumbrücke, durch deren Ritzen er den erstaunlich weit von ihm entfernten Waldboden erahnen konnte. Ihm wurde etwas schwindelig und er richtete seinen Blick lieber auf die drei Geächteten, die ihn gespannt anblickten. Neben ihnen sah Thorald nun den Sack, den der Hüne Thorald bei ihrer ersten Begegnung abgenommen hatte. Die beiden mächtigen Schilde waren hier, direkt in seiner Reichweite!
„Nun?“, fragte Robin erneut. Sein Ton war nicht freundlicher geworden.
„Ich... ich bin ein Reisender aus einem fremden Land“, gab Thorald vorsichtig von sich, „und ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung, wo Euer geheimes Lager liegt. Und ebenso wenig Interesse daran.“
Der Hüne gluckste: „Wir würd’n dir ja gerne glauben, aber dass du den groben Gisi direkt in uns’re Richtung geführt has‘, sagt ‘was andres als deine Stimm‘.“
Robin nickte: „Wenn der Hüter des Waldes mich nicht vorgewarnt hätte, hättest du Guy und seine Truppen direkt zu uns gebracht.“
„Aber... aber ich bin doch erst seit einigen Stunden hier! Wie soll ich denn ein geheimes Lager gefunden haben, welches nicht einmal der beste Söldner des Landes aufspüren konnte?“
Robin wandte sich den anderen beiden zu: „Er lügt nicht... könnte es sein, dass er vielleicht ebenfalls...“
Marian unterbrach ihn: „Was ist das für ein fremdes Land, aus dem du stammst?“
Ach, was soll’s. Etwas ausdenken wollte Thorald sich nun wahrlich nicht, das war nie seine Stärke gewesen.
So begann er: „Mein Heimatsland heißt Andor. Ihr mögt noch nicht von ihm gehört haben, aber es existiert. Wirklich. Und ich bin dort der K... eine wichtige Persönlichkeit. Also wagt es nicht, mir etwas anzutun. Ihr wollt keinen Ärger mit uns anfangen.“
Seine Drohung ignorierend, sahen sich Robin und Marian wissend an, und der Hüne gluckste erneut. Dann sprach er: „Witzig, dass du‘s so sagst. Wir ha’m den Namen nämlich g’rad vorhin schon mal g’hört.“
Als wäre das ihr Stichwort gewesen, schwang sich eine dunkel gewandete Gestalt auf die Plattform in den Bäumen und kam neben Robin zum Stehen.
Das Licht der untergehenden Sonne traf auf einen kahlen Schädel. Thorald erkannte überrascht Ken Dorr, seinen treuen Ratgeber, wie er ungerührt neben den drei Geächteten stand und ihnen Rapport gab: „Sie haben Will ins Castle gebracht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“
Robin erwiderte ebenso ungerührt: „Dann hast du bestimmt nichts dagegen, wenn ein paar fremde Augen das bestätigen lassen.“
Er gab ein Handzeichen. Marian nickte und sprang von der Baumbrücke. Eine Rabe stürzte aus dem Himmel und folgte ihr.
Ken Dorr fixierte Robin aus kalten Augen und lachte auf: „Endlich jemand mit Verstand, Robin von Loksley! Es wäre töricht gewesen, meinem Rat einfach so zu vertrauen. Schön, zu sehen, dass...“
„Still, Kennard. Zu dir komme ich noch.“
Ken verstummte und zog sich ein bisschen zurück, die Hand scheinbar locker auf seiner Hüfte liegend, aber gefährlich nahe an seiner Schwertscheide. Sein Gesicht war wie eine grimmige Maske. Er gab nicht zu erkennen, ob er Thorald erkannte. Aber es musste Ken Dorr sein, diese Narbe an seiner rechten Wange würde Thorald im Schlaf wiedererkennen.
„Das is‘ gut“, meinte der Hüne nun, „Solang‘ Will nicht in dieser verfluchten Festung Blackgarden steckt, ha’m wir ‘ne gute Chance, ihn da wieder ‘rauszuhauen.“
Robin nickte und tigerte auf der kleinen Brücke hin und her, während er sich am Kopf kratzte:
„Wenn Kennards Bericht stimmt, müssen wir uns beeilen. Irgendwie in die Burg schleichen, bevor Prinz John zu Will kommt – oder der Henker. Wir brauchen ein Seil.“
„Colin der Zimmermann könnte noch ein‘s bei sich haben.“
„Wollen wir die Dorfbewohner wirklich noch mehr in Gefahr bringen?“
„‘S‘is immerhin Will, um den’s hier geht.“
Thorald blickte zu Robin und dem Hünen, wie sie verschiedene Pläne besprachen. Wie gemeine Diebe wirkten sie nicht, erst recht nicht, als sie die Sicherheit der Dorfbewohner zu besprechen begannen und festlegten, wie viel Proviant sie den Hungernden verteilen konnten. Thorald schlich sich langsam rüber zu Ken. Dieser wirkte im Gegensatz zu den Geächteten wie ein waschechter Gauner, wie er mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen mit einer Goldmünze umherspielte. Thorald lag immer noch ungut im Magen, was in Andor zwischen ihm und Ken vorgefallen war. Aber darum konnte er sich auch später noch kümmern. Im Moment war es einfach nur eine unglaubliche Erleichterung, ein bekanntes Gesicht zu sehen.
Ken versuchte eine Zeit lang, Thorald zu ignorieren, aber als dieser zu nahe an ihn getreten war, setzte er ein gequältes Lächeln auf uns sprach theatralisch:
„Kennard von Dorr ist mein Name. Fremder in einem fremden Land, wie du, so scheint es.“
Endlich fiel der Groschen bei Thorald, dass Ken nicht preisgeben wollte, dass sie sich bereits kannten, und er nickte theatralisch:
„Thorald ist der meine. Ummm... Ihr... Ihr stammt ebenfalls aus Andor?“
Ken verdrehte die Augen ob dem fehlenden Schauspieltalent, nickte aber brav.
„Ja, zu euch beiden und euren seltsamen Namen kommen wir noch“, wandte sich Robin ihnen beiden wieder zu, „Aber Will aus der Gefangenschaft zu befreien hat im Moment Priorität.“
Der Hüne nickte zustimmend.
Ein Rabe kam angeflogen und krähte zweimal.
„Nun denn, sieht so aus, als ob du die Wahrheit gesagt hast, Kennard. Will wurde ins Nottingham Castle gebracht“, nickte Robin, „John und ich machen uns auf den Weg dorthin. Kennard, kannst du dich um unseren Adligen kümmern, bis wir zurückkommen? Danach entscheiden wir, was wir mit ihm und seinem Gespür für versteckte Lager tun wollen.“
Ken schien kurz etwas erwidern zu wollen, nickte dann aber brav und legte Thorald possessiv eine Hand auf die Schulter. Thorald schauderte leicht.
Robin packte den Sack mit den mächtigen Schilden. Dann sprangen er und John von der Baumbrücke – es ertönten ein leiser und ein mächtiger Aufprall – und zogen davon. Ken wartete einige Augenblicke und wandte sich dann mit einem breiten Grinsen Thorald zu:
„Ich nehme alles zurück, was ich über seine Weisheit sagte. Es war töricht von ihm, uns zwei Fremde zusammen zurückzulassen.“
Es war, als würde eine große Last von Thoralds Schultern fallen. Das hier war Ken, wie er ihn kannte und liebte. Der weise Ken, der stets einen Plan hatte und die Lage zum Bessern wenden konnte.
„Nun, du hast ja auch so getan, als würden wir uns nicht kennen. Und sie haben gerade Wichtigeres im Kopf“, relativierte Thorald. Resigniert ergänzte er: „Wegen mir ist dieser Will in Gefangenschaft geraten und wird jetzt vor den Folterknecht und dann den Henker kommen. Ich habe wieder einmal alles falsch gemacht.“
„Machst du Witze?“, rief Ken, „Das war doch ihre Schuld. Sie dachten, dass du sie direkt zu ihrem Lager führst, obwohl du dieses noch nicht einmal gesehen hast. Allein aufgrund der Warnung eines uralten Waldverrückten! Wer aufgrund einer derart geringen Sachlage bereits zu einer Tat schreitet, ist ganz und gar selbst für deren Scheitern verantwortlich.“
Thorald war die Spitze in Kens Worten nicht entgangen, die sich nur allzu gut auf Reka übertragen ließ. Rekas Warnung bezüglich Ken fiel ihm wieder ein. Er ignorierte sie geflissentlich, wie es einem König gebührte, unterdrückte seine Schuldgefühle, wie er es schon so oft getan hatte, und stellte stattdessen eine ebenso dringende Frage: „Wie... wie hast du mich überhaupt gefunden?“
Ken gluckste: „Die Hufspuren im Schlamm vor der Quelle des Likko waren kaum zu übersehen. Du bist nicht wirklich geübt im Verstecken, oder? In der Höhle musste ich dann nur der Spur des tropfenden Pferds folgen und bin durch einen langen Gang zu diesem steinernen Gesicht gekommen. Hat eine Zeit lang gebraucht, bis ich den Ausgang öffnen konnte. Zum Glück hatte ich einen Casamatuc zur Hand.“
Ken Dorr schüttelte ein kleines Werkzeug aus seinem Ärmel und überreichte dieses Thorald zur Inspektion. Tatsächlich, das könnte ein Casamatuc sein! Das waren Zwergenwerkzeuge, mit denen man so gut wie jedes Schloss öffnen konnte. Sie waren relativ selten, Thorald hatte bislang nur in Erzählungen von ihnen gehört. Wie Ken an diesen Casamatuc gekommen war, wollte Thorald lieber nicht nachfragen.
Während Ken ihm fröhlich den Casamatuc zeigte, konnte Thorald nicht umhin, sich zu wundern, wie Ken so gelassen sein konnte. Der zornerfüllte Schemen, der Ken im Eingang zu Elgas Hütte gewesen war, schien vollkommen verschwunden. Oder zumindest unterdrückt. Thorald wollte lieber nicht zu lange darüber nachdenken, sondern führte stattdessen seine eigene Geschichte aus.
„Ich hatte natürlich keinen Allzweckschlüssel, doch bemerkte ich tatsächlich erst, dass das steinerne Gesicht sich verschließen kann, nachdem ich hindurchgetreten war. Der Mund scheint sich automatisch zu öffnen, sobald man einen Runenstein in seine Nähe bringt. Der ganze Gang war ja auch mithilfe von Runenmagie beleuchtet. Aber kaum war ich ein bisschen weitergezogen, wurde ich auch gleich von diesem Hünen, John, überfallen und dieser hat mir... mit... mit einem fiesen Trick die Schilde abgeknöpft. Wie... wie hast du dich bei den Geächteten eingeschlichen?“
Kens Blick trübte sich.
„Ach Thorald, ich habe dir doch schon einmal davon erzählt. Ich musste mich in meiner Kindheit in der Gasse rumschlagen, und habe da das eine oder andere Talent aufgegriffen. Den gefürchigen Dieb zu spielen, gehörte leider dazu. Dieser Will Scarlet ist wie ein Waldgeist vor mir aufgetaucht und wollte mich überfallen, aber da habe ich ihm gezeigt, dass man Ken Dorr nicht so einfach beraubt.“
Ken grinste kurz, dann wurde seine Miene aber wieder finster.
„Ein Glück, dass ich dich so schnell finden konnte. Ich werde nicht lügen, Thorald, dein irrsinniger Umgang mit den mächtigen Schilden hat mich ziemlich wütend gemacht. Aber jetzt müssen wir uns gerade auf Wichtigeres fokussieren. Dieses Steingesicht, durch welches wir hierher kamen, liegt nicht weit von hier. Wir können zurück nach Andor und mit der gesamten Rietgarde zurückkehren, um uns die Schilde zu erkämpfen.“
Der Gedanke war verlockend. Thorald vermisste das Rietland schon jetzt. Dort könnte er sich endlich wieder sicher fühlen. Saubere Kleider anziehen. Sich weder mit tyrannischen Herrschern noch Geächteten herumschlagen. Nur... nur mit Ken. Aber dann müsste Thorald auch mit leeren Händen zurückkehren, während die mächtigen Schilde in diesem unbekannten Land saßen und weiß Mutter Natur was anstellten. Und die Rietgarde von der Rietburg abzuziehen war ein Fehler, den Thorald nur einmal machen würde. Die erste Befreiung der Rietburg hatte genug Leben gekostet. Ganz zu schweigen davon, dass eine fremde Armee im Sherwood Forest den Bewohnern von Nottingham Castle sicherlich nicht gefallen würde, und ihre Wachen waren nicht schlecht ausgerüstet, nach dem wenigen, was Thorald im Castle hatte erkennen können. So viel Verstand von der Kriegskunst hatten ihm seine Lehrmeister eingebläut.
Dann schoss Thorald wieder das Bild durch den Kopf, wie dieser junge Geächtete, Will, wegen Thoralds Angriff strauchelte und von den roten Wachen zum grimmig grinsenden Guy von Gisbourne geschleift wurde. Nein, Thorald würde nicht fliehen. Ganz abgesehen von den mächtigen Schilde hatte er durch seine Taten Will dem Tode verurteilt. Dem unrechten Tode. Als König war es seine Pflicht, Unrecht entgegenzuwirken!
Thorald schüttelte seinen Kopf: „Ken, das Volk hier leidet unter einem tyrannischen Herrscher. Ohne Will fehlt den Geächteten ein wichtiger Streiter. Will wird wegen mir vor eine Mordmaschine kommen. So etwas habe ich meiner Lebtag nicht gesehen. Und im Gegensatz zu den Geächteten habe ich einen sicheren Zugang in die Burg. Nur ich kann ihm jetzt noch helfen.“
„Ist bei dir noch alles in Ordnung im Oberstübchen?“, spottete Ken, „Du willst mir doch nicht ernsthaft sagen, dass du dich jetzt um eine dahergelaufene Bande von Aufmüpfigen scherst! Du suchst doch nur wieder nach einer Möglichkeit, deinen Stolz zu bewahren! ‚Thorald, der gute und gerechte König‘. Diese Kutsche ist doch schon lange abgefahren. Hör auf, dir etwas vorzumachen, und komm mit mir zurück nach Andor, lass die Rietgarde dies handhaben!“
Thorald blieb trotzig: „Meine Meinung steht fest. Wir sind... ich bin Schuld daran, dass Will gefangen genommen wurde. Ein junger Mann ist das, ein guter Mann, der noch sein ganzes Leben vor sich gehabt hatte. Es ist meine Pflicht, ihm da wieder rauszuhelfen.“
Ken griff sich bloß an den Kopf und stöhnte.
„Na komm“, meinte Thorald, und klopfte Ken auf die Schulter, „Wir haben uns lange genug vom Schicksal herumschubsen lassen. Lass uns aktiv werden.“