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Bird's Legenden von Andor - Kapitel V

Bird's Legenden von Andor - Kapitel V

Beitragvon Bird » 20. April 2018, 18:40

Verehrte Gäste und Zuhörer,
lange ist es her, dass mich meine Schritte einmal mehr an meinen Lieblingsort in ganz Andor geführt haben. Und auch wenn die Tage wieder länger werden, Gelgenheit für einen Krug Bier bei einer Geschichte findet sich vielleicht auch in der warmen Jahreszeit.

Kapitel V – Jagd im Nebel

Chadas Kopf dröhnte und drohte zu zerspringen. Der Lärm im Gastraum der Taverne Zum Trunkenen Troll war unbeschreiblich. Ihre Ohren, die sonst daran gewöhnt waren, leisesten Geräuschen in der Stille des Waldes zu lauschen, schmerzten und die abgestandene Luft, erfüllt vom Gestank nach Schweiß, Bier und Branntwein, taten ihr Übriges.
Hinzu kam die bleierne Müdigkeit, die letzten drei Tage waren kräftezehrend und erholungsarm gewesen. Chada sehnte sich nach Schlaf, wenngleich sie in Fennahs Höhle tief geschlafen hatte, sie war dennoch wie gerädert erwacht und zu allem Überfluss versprach auch diese Nach kurz zu werden.
Mitten in der Nacht, zum zweiten Mondhaus, hatten sie endlich die Taverne erreicht, doch hatte Thorn, anders als sie gehofft hatte, nicht daran gedacht, für zwei Zimmer zu bezahlen und sich auszuruhen. Augenblicklich, kaum waren sie durch die Tür getreten und von Gilda, der Wirtin freundlich begrüßt worden, hatte er begonnen, jeden einzelnen hier im Gastraum nach Hinweisen über Reka zu befragen.
„Er ist wie besessen seit du ihm von den Kreaturen berichtet hast, findest du nicht?“ drang Fennahs Stimme leise in ihr Ohr. Sie waren gemeinsam aufgebrochen, doch als sie die Wegkreuzung erreicht hatten und es ans Abschied nehmen ging, hatte Fennah kurzerhand beschlossen, sie zu begleiten.
„Ich kann es ihm kaum verübeln.“ gab Chada zur Antwort. „Auch meine Heimat ist in Gefahr und auch ich lasse nichts unversucht um zu helfen.“ Sie gähnte herzhaft.
„Jedenfalls bis dir die Augen zufallen.“ erwiderte Fennah lächelnd.
Chada rieb sich die Schläfen, was ein wenig gegen die pochenden Schmerzen half, doch in diesem Moment stimmte jemand am Nachbartisch ein lautes Trinklied an und innerhalb von Lidschlägen grölte die ganze Taverne:

Erloth, ihm sei's gedankt, sein Wagen fuhr durchs Land
Met und Bier ward sein Geschäft, vom Walde bis zum Strand
bis ein Troll des Weges kam und seinen Wagen fand
Met und Bier, das ward verlor'n, doch Erl' sich heraus wand
darauf er blieb gerade hier, sein Wagen wurd' zum Stand
dem Troll wir tun's nun heute gleich, die Kehlen fordern's ein
bringt Met und Bier an uns'ren Tisch, genauso soll es sein
und wir trinken uns lustig, wir trinken uns toll
wir trinken im Gasthaus Zum Trunkenen Troll
und wir trinken zum umfall'n, wir trinken uns voll
wir trinken im Gasthaus Zum Trunkenen Troll


„Ich muss an die Luft.“ stieß Chada hervor, als der Gesang im Refrain anschwoll und mit ihm ihre Kopfschmerzen. Sie erhob sich und eilte hinaus, Fennah folgte ihr, doch Thorn schien keine Notiz davon zu nehmen, er war zu sehr in ein Gespräch mit einem der hiesigen Bauern vertieft. Draußen vor der Tür ließ sich Chada zu Boden sinken, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und sog die frische, kühler werdende Luft ein wie eine Ertrinkende.
„Hier.“ Fennah griff in ihre Tasche und zog etwas Holzfarbenes hervor. „Kau das, das wird dir helfen.“ sagte sie. Chada streckte ihre Hand aus und besah sich das, was Fennah ihr gegeben hatte.
„Baumrinde?“ fragte sie erstaunt, schob sich das Stück aber folgsam in den Mund.
Fennah kicherte. „Das wusstest du nicht? Ein ganzer Baum voller Bücher und Schriftrollen, doch nirgends ist erwähnt, dass Weidenrinde Schmerzen lindert?“
Plötzlich erstarrte Fennah, ihre Hände schossen zu den Waffenscheiden, nur um festzustellen, dass diese leer waren, Gilda hatte sie darauf hingewiesen, dass es unhöflich wäre, ihre Taverne mit Waffen bei der Hand zu betreten. Schwerter, Messer und Bögen waren nun ebenso sicher wie nutzlos im Schrank der Wirtin eingeschlossen.
Obwohl Chada von dem hämmernden Schmerz in ihrem Kopf ein wenig benommen war, konnte sie erkennen, was Fennah aufgeschreckt hatte. Ein eigenartig glimmendes, violettes Licht tanzte in der Dunkelheit und schien auf sie zuzukommen. Chada kniff die Augen zusammen und erkannte eine dunkle Gestalt, die sich näherte. Sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren und schoss in die Höhe, auch sie nach den Geschehnissen der letzten Tage angespannt und wachsam.
Die Gestalt trat ins Licht, es war eine Frau die Chada nicht kannte und, ihrem Blick nach zu schließen, auch Fennah fremd war. Sie schien etwas älter als Chada und Fennah zu sein, doch keinesfalls älter als vierzig Sonnenzyklen. Die Fremde hatte ein freundliches Gesicht, hellblondes, fast weißes Haar und war in eine lange braune Robe gehüllt. Das Auffälligste in ihr war jedoch der mannshohe Stab, den sie in Händen hielt und von dessen gegabelter Spitze das Glimmen ausging, das Fennah vorhin in der Dunkelheit bemerkt hatte. Eine Zauberin! Chada stockte der Atem und für einen Moment vergaß sie beinahe ihre Kopfschmerzen.
„Die Ruhe der Nacht mit euch.“ sagte die Fremde mit einem fremdländischen Akzent in der Stimme. „Keine Sorge, von mir droht euch keine Gefahr.“ fügte sie lächelnd hinzu, als sie ihre Haltung bemerkte. „Ich suche nach Hauptmann Thorn. Er sollte hier vor kurzem zusammen mit einer Bogenschützin mit dem Namen Chada eingetroffen sein.“ Sie blickte auf auf das Wappen auf Chadas Brust und ihr Lächeln wurde breiter. „Die dann wohl du sein musst.“ ergänzte sie.
Bevor Chada etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür zum Gastraum und Thorn trat heraus.
„Chada, Fennah, ich habe euch...“ begann er, doch er verstummte, als sein Blick auf die Gestalt der Zauberin fiel.
„Eara!“ rief er aus. „Welche Geschicke haben dich hierher geführt?“
„Dieselben, die auch dich an diesen Ort brachten.“ gab die Zauberin zur Antwort. „Prinz Thorald hat mir die Lage erklärt. Ich weiß, dass ihr nach Rek...“ doch ein lautes Räuspern Fennahs unterbrach sie.
„Ich mag mich vielleicht irren, doch ich dachte, für gewöhnlich stellen sich Unbekannte in einem Gespräch zunächst einander vor.“ warf sie ein.
Chada blickte Fennah alarmiert an, wie konnte sie in einem solch respektlosen Ton zu einer Zauberin sprechen? Dann fiel ihr ein,dass Fennah sich auch bisher nicht besonders darum geschert hatte, mit wem sie sprach. Zu ihrer Überraschung wurde das Lächeln der Zauberin sogar noch breiter und sie stieß ein kleines Lachen aus.
„Dann bist du wohl diese Vagabundin, Fennah, von der Prinz Thorald sprach.“ sagte sie und es gelang ihr, das Wort Vagabundin nicht beleidigend oder herablassend auszusprechen, sondern warm und herzlich.
„Mein Name ist Eara, ich habe nach euch gesucht.“ fuhr sie fort.
„Eara ist vor drei Wintern nach Andor gekommen.“ ergänzte Thorn, an Chada und Fennah gewandt. „Sie stammt von der Insel Hadria und ist als Botschafterin hier.“
Hadria! Die Insel der Magie! Chadas Gedanken überschlugen sich. Sie hatte von diesem Reich weit im Norden gelesen. Das Talent, das einem erlaubte, Magie spüren und zu formen war dort um ein vielfaches häufiger verbreitet als in Andor.
Earas Lächeln schien ein wenig zu verblassen, als behagte ihr es wenig, wenn ein anderer für sie sprach, doch als sie wieder den Mund öffnete, war ihr nichts davon anzumerken.
„Nur wenig später nachdem ihr aufgebrochen seid, erreichte ein Fischer aus Grauweil die Burg um Hilfe für die Flusslande zu erbitten. Er erwähnte zudem auch eine Hexe, die einige Verwundete versorgte, bevor sie weiter zog. Daraufhin bat mich Thorald um meine Hilfe. Er erklärte mir, dass du nach der Hexe suchst, Thorn. Und da bisher noch keiner der Meldegänger zurückgekehrt ist, fragte er, ob ich bereit wäre, nach dir zu suchen. Er sprach davon, dich zur Taverne geschickt zu haben und so stehe ich nun hier und sage dir dies: Reka kann nicht weit vom Grauen Weiler entfernt sein.“
Bei diesen Worten stieß Thorn einen kleinen Freudenschrei aus.
„Endlich!“ rief er. „In der Taverne wusste niemand etwas von Reka, ich war drauf und dran, die Hoffnung aufzugeben. Das sind wahrhaft gute Neuigkeiten, ich danke dir, Eara!“
Er wandte sich an Chada und Fennah. „Damit haben wir ein Ziel, die Flusslande. Brechen wir sofort auf, können wir zum zweiten Sonnenhaus dort sein.“
So gut Chada Thorns Besorgnis über die Lage und seine Begeisterung darüber, seinem Ziel näher zu kommen, nachvollziehen konnte, in diesem Augenblick hätte sie ihn hassen können. Sie konnte kaum die Augen geöffnet halten und ihr Kopf fühlte sich an, als würde jemand versuchen, ihn mit einem rostigen Nagel aufzubohren, keinesfalls würde sie so reisen können. Sie wollte gerade den Mund öffnen um Thorn zu widersprechen, doch Fennah kam ihr zuvor.
„Bei allen Höllen, Thorn!“ brach es aus ihr heraus. „Das kann unmöglich dein Ernst sein! Sieh dich um! Es ist finsterste Nacht, und das auch nicht mehr für lange, der Morgen zieht bald herauf. Wir sind müde und erschöpft, wie gedenkst du so die Flusslande zu erreichen? Und selbst wenn es uns doch gelingt, was nützt es uns, wenn wir nicht in der Lage sind aufrecht zu stehen?“
Thorns Blick wanderte von Fennah zu Chada und weiter zu Eara. Er wirkte, als würde er sie nun erst wirklich sehen können. Als würde er in diesem Moment erst wahrnehmen, wie bleich und erschöpft sie alle und besonders Chada aussahen.
„Gut.“ nickte er schließlich. „Dann verbringen wir die Nacht hier. Ich werde Gilda fragen, ob noch Zimmer für uns zur Verfügung stehen.“ Er wandte sich um und trat zurück in die stickige Luft des überfüllten Gastraumes. Für einen Moment drang wieder der Lärm aus lauten Stimmen, dem Rücken von Stühlen und dem Klirren von Bechern und Krügen durch die geöffnete Tür zu ihnen nach draußen. Als Thorn die schwere, mit Eisenbändern verstärkte Holztür hinter sich zugezogen hatte und die Geräusche aus dem Innern nur noch gedämpft zu hören waren, ergriff Fennah erneut das Wort.
„Das musste einfach gesagt werden.“ sagte sie, ihre Stimme war nun unvergleichlich ruhiger als zuvor. „Lasst uns versuchen etwas Schlaf zu finden. Morgen werde ich Ko'ar bitten, uns voraus in die Flusslande zu fliegen und nach Reka Ausschau zu halten. Findet er sie noch bevor wir dort eintreffen, ersparen wir uns die Suche.“
Chada nickte nur. Sie wusste nicht, ob es der Weidenrinde lag oder an der Aussicht auf etwas Ruhe und Erholung, doch ihr Kopf schmerzte nicht mehr so heftig. Verstohlen beobachtete sie Eara aus den Augenwinkeln. Die Zauberin schien nun nachdenklich, sie blickte ins Leere und hatte ihre Stirn in Falten gelegt.
„Ja, weshalb auch nicht, das könnte es sein.“ murmelte sie leise, dann hob sie die Stimme.
„Ein gemütliches, weiches Bett wäre auch mir willkommen. Morgen aber werde ich euch begleiten, ich werde mitkommen in die Flusslande und euch bei der Suche nach der Hexe helfen.“ sagte sie mit ihrem melodisch anmutendem Akzent.
Fennah hob eine Augenbraue und auch Chada blinzelte überrascht, doch bevor sie etwas darauf erwidern konnte, öffnete sich die Tür zum Gastraum und Thorn trat wieder ins Freie.
„Der Trunkene Troll ist beinahe voll bis unters Dach“ erklärte er. „Nur ein letztes Zimmer mit zwei Betten kann Gilda noch erübrigen. Das bedeutet zwei von uns werden von den Mäusen und Ratten verschont bleiben, während die Übrigen mit dem Heuboden vorlieb nehmen müssen. Mir, für meinen Teil, soll er genügen.“
Fennah lachte bei Thorns Worten auf. „Ein wahrer Edelmann, gar keine Frage.“ grinste sie schelmisch. „Der tapfere Wachhauptmann wählt freiwillig das Heu, um den Damen ein angemessenes Nachtlager bieten zu können!“ verkündete sie hochtrabend, allerdings gelang es ihr nicht, dabei eine ernste Miene zu wahren, während Chada, Eara und sogar Thorn in ein kurzes Lachen verfielen. „Mein Körper ist es gewohnt, sich nachts auf Erde und Moos zu betten, also wähle auch ich den Heuboden.“ fuhr sie fort, obwohl Chada den Eindruck hatte, Fennah hätte ebenfalls nichts gegen ein weiches Bett einzuwenden gehabt, doch sie schien sich auf ihre Art tatsächlich um das Wohlergehen ihrer Gefährten zu sorgen.
Während Chada wenig später Eara auf ihr Zimmer folgte, schossen ihr tausend Fragen an die Zauberin durch den Kopf, über die Magie, über Hadria, wie sie an König Brandurs Hof gelangt war, doch selbst wenn ein solches Gespräch nicht zu aufdringlich gewesen wäre, sie wäre viel zu erschöpft gewesen um überhaupt die Antwort zu verstehen, als sie in die weichen Kissen sank.

Der nächste Morgen kam rasch und trotz der kurzen Nacht fühlte sich Chada um einiges erholter, als sie erwachte. Der Gastraum war nun, im Gegensatz zum Vorabend still und leer als sie und Eara dort auf Fennah und Thorn trafen. Thorn drängte sie zur Eile, doch die Wirtin bestand darauf, dass sie vor ihrem Aufbruch einen Becher Maka trinken sollten, ein belebendes, dunkelbraunes Getränk aus gerösteten und gemahlenen Apfelnusskernen, die mit heißen Wasser aufgebrüht wurden. Ein Morgen ohne Maka könne keinen guten Tag hervorbringen, sagte sie lächelnd, als sie die dampfenden Becher vor ihnen abstellte und auch wenn für Chada der leicht bittere Geschmack gewöhnungsbedürftig war, konnte sie nicht leugnen, dass, nachdem sie ihren Becher geleert hatte, der Rest Müdigkeit, den sie verspürt hatte, gänzlich verschwunden war.
Die Sonne, die den morgendlichen Himmel in ein helles orange tauchte, versprach wieder einen warmen Tag, doch noch war die Luft angenehm kühl und leicht, als Chada und die anderen die Taverne verließen und sich auf machten in Richtung Osten.
Thorn marschierte mit großen Schritten voran und Chada fühlte sich an Meister Pasco erinnert, was ihr einen schmerzhaften Stich aus Trauer und Schuld versetzte. Was war wohl mit ihm geschehen? Hatten diese Kreaturen ihn getötet? Hatte er gelitten? Oder war es ihm vielleicht sogar gelungen zu entkommen?
„Was meinte Eara mit dem 'Grauen Weiler'?“ riss sie plötzlich ein Flüstern aus ihren Gedanken. Sie wandte den Kopf und blickte in die dunklen Augen Fennahs, die sie fragend anblickten.
„Du warst noch nie in den Flusslanden?“ fragte Chada anstelle einer Antwort. Fennah schüttelte den Kopf. „Außer dem Hof, der von dem Troll zerstört wurde, war ich nie irgendwo anders als im Wachsamen Wald.“ sagte sie leise. Sie wirkte leicht verlegen, so als schämte sie sich dafür, nicht mehr über das Land zu wissen.
Chada nickte und nun senkte auch sie die Stimme zu einem Flüstern. „Der Graue Weiler, den manche auch Grauweil nennen, ist ein kleines Fischerdorf am Westufer der Narne und doch stellt er die größte Siedlung der Flusslande dar.“ sagte sie leise. „Dichter, schwerer Nebel hängt beinahe jeden Morgen, gleich zu welcher Jahreszeit, über den Flusslanden. Schon von weitem kann man ihn erkennen, siehst du?“ Sie wies mit der Hand in Richtung Nordosten, wo am Horizont eine undurchdringlich anmutende, trübe Wand aufragte. „Dieser Nebel legt sich erst, wenn die Sonne am höchsten steht und hat der Siedlung den Namen Grauweil eingebracht.“
Fennah nickte und ihr Blick verklärte sich einen Augenblick. Chada hatte diesen Ausdruck nun schon oft genug gesehen um zu wissen, dass Fennah wieder von ihrer Verbindung zu Ko'ar Gebrauch machte und wohl nun mit seinen Augen sehen konnte, was sie in Grauweil erwarten mochte.
Einen Moment später kehrte die Schärfe in ihren Blick zurück. „Thorn!“ rief sie aus und Thorn weiter vorne wandte sich um. „Wir müssen ans Ostufer der Narne. Ko'ar hat Reka in einem Boot entdeckt, ein Fischer bringt sie gerade über den Fluss.“
Thorns Reaktion kam prompt, er runzelte die Stirn und stieß einen unwilligen Laut aus, der beinahe wie ein Fauchen klang. „Dann verlässt sie Grauweil in falsche Richtung!“ fluchte er. „Das verlängert unseren Weg. Wir müssen uns südlich halten und die Marktbrücke überqueren!“ rief er aus und beschleunigte seinen Schritt.
Eara, die bisher die meiste Zeit über geschwiegen und nur gelegentlich ein paar Worte mit Thorn gewechselt hatte, öffnete kurz den Mund als hätte sie Einwände gegen Thorns Vorhaben. Sie wirkte plötzlich verstimmt und beinahe wütend, ohne dass Chada den Grund dafür erkennen konnte. Doch einen Augenblick später blinzelte sie und ihre übliche, freundliche Miene kehrte zurück.
Wenig später erreichten sie die Brücke und aus den Augenwinkeln konnte Chada erkennen wie Fennahs Augen sich bei diesem Anblick weiteten. Doch auch Chada selbst, die schon von der Brücke gelesen, sie jedoch nie gesehen hatte, hielt fasziniert inne als sie die gewaltigen Statuen zweier mächtiger Zwergenkrieger passierten, die rechts und links auf Säulen die Brücke flankierten. Ihre in Stein gemeißelten Augen blickten grimmig und drohend auf sie herab und ihre langen Bärte verliehen ihnen einen Ausdruck von Wildheit. Am meisten jedoch faszinierte Chada die Präzision, mit der der Bildhauer diese Kämpfer für die Ewigkeit festgehalten hatte. Jede Furche in den Gesichtern, jede Falte in den Gewändern und jeder Ring der Kettenhemden war so präzise gefertigt, dass der Eindruck entstehen konnte, die Zwergenkrieger könnten jeden Augenblick von ihren steinernen Sockeln hinabspringen, bereit zum Kampf und die Brücke gegen jedwede Gefahr verteidigen.
Als sie die Mitte der Brücke erreicht hatten, griff Thorn in eine Tasche seines Wamses und zog eine kleine Münze hervor. „Der Wegezoll an die Schildzwerge.“ erklärte er knapp auf Fennahs fragenden Blick hin und steckte die Münze in den Münzschlitz einer kleinen, ebenfalls steinerne Truhe am Rand der Staße bevor er seinen Weg fortsetzte.
Wieder senkte Chada die Stimme. „Die Schildzwerge haben die Marktbrücke erbaut. Sie leben zwar in Frieden mit den Andori, doch es existiert keine Freundschaft zwischen König Brandur und Fürst Hallgard, dem Oberhaupt der Schildzwerge, sie dulden lediglich einander. Fürst Hallgard hat daher einen Wegezoll auf die Marktbrücke erhoben.“ schilderte sie leise, sodass durch das Rauschen der Narne unter ihnen nur Fennah sie hören konnte.
Als sie die Brücke passiert hatten, stand die Sonne bereits hoch am Himmel und brannte so heiß und unbarmherzig auf sie herab, dass sie für kurze Zeit Schutz unter den Schatten spendenden Zweigen der Zwergeneiche suchten. Während Chada so da saß, den Rücken an den Stamm des Baumes gelehnt und den Blick in die dichte, sattgrüne Baumkrone gerichtet, fühlte sie sich schmerzlich an ihre Heimat, den Baum Der Lieder, erinnert. Dankbar nahm sie von Thorn das Stück Bauernfladen entgegen, das er ihr reichte und zum ersten mal wurde ihr bewusst, wie behütet sie trotz der harten Ausbildung im Wachsamen Wald aufgewachsen war. Nie hatte sie ernsthaft um ihre Zukunft fürchten müssen und gleich wie kräftezehrend und auch gefährlich die Tage teils gewesen sein mochten, zur Nacht hatte sie immer warmes Wasser und ein weiches Lager in ihrer vertrauten Kammer vorgefunden.
Sie blickte auf, Thorn war an sie herangetreten. „Ich hatte gehofft, wenn wir die Flusslande erreichen, hätte sich der Nebel bereits verzogen.“ gestand er und blickte sorgenvoll nach Norden, wo die Straße nur wenige hundert Schritt von der Zwergeneiche entfernt von dichten, grauen Schwaden verschluckt wurde. „Doch heute scheint er sich besonders unwillig zu zeigen, uns den Weg freizugeben.“ fuhr er fort und blickte Chada auffordernd in die Augen, als wartete er auf ihre Meinung.
„Das ist wahr.“ erklang neben Chada die melodische Stimme Earas. „Gehen wir hinein, werden wir von ihm regelrecht verschlungen werden, ohne sehen zu können, was uns darin erwartet.“
„Fennah.“ wandte sich Chada an die junge Frau, die sie schon beinahe als Freundin sah und erhob sich. „Ist Reka noch in Ko'ars Sicht? Weißt du, welchen Weg sie geht?“
Fennah, die gerade ihre Stiefel wieder anzog, derer sie sich entledigt hatte, um ihre Füße im kalten Wasser der Narne zu erfrischen, schüttelte den Kopf. „Nein.“ entgegnete sie, während auch sie auf die Beine kam. „Zwar konnte er sehen, wie sie das Ufer erreichte, doch als sie in den Nebel trat, verschwand sie aus seiner Sicht.“
„Dann werden wir sie suchen müssen. Rasch, bevor wir sie verlieren!“ rief Thorn sie zur Eile, während er hastig ihren Proviant wieder in seinem Beutel verstaute.
Sie traten aus dem Schatten der Zwergeneiche hervor auf die staubige Straße und nach nur wenigen Schritten begann sich der Nebel um sie her auszubreiten, gleich einem Rudel Wölfe, das seine Beute umzingelt.
„Wenigstens ist es hier etwas kühler, wenn wir schon nichts sehen können.“ stellte Fennah fest, was Chada ein Lächeln entlockte, Fennahs Unbeschwertheit war ihr wahrlich willkommen in diesen Tagen. Der Nebel war mittlerweile so dicht, dass sie kaum weiter als ein paar Schritt weit sehen konnte und sogar die Geräusche, die an ihr Ohr drangen, das Rauschen des Flusses, der Schrei eines Vogels am Himmel, ihre Schritte und selbst Fennahs Stimme wirkten merkwürdig gedämpft, als presste ihr jemand ein Kissen gegen die Ohren, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte, wenn sie zitternd aus einem Alptraum erwacht war.
Chada erinnerte sich an die alten Legenden über die Wassergeister, die hier im Fluss leben sollten. Um sich vor Sterblichen verborgen zu halten, ließen sie verzauberten Nebel aufsteigen, der jedem Eindringling die Orientierung nahm und von seinem Kurs abbrachte um es unmöglich zu machen, zu ihnen zu gelangen. Obgleich es Legenden waren, konnte Chada nicht umhin, möglicherweise einen wahren Kern darin zu erkennen, denn dieser Nebel hatte in der Tat etwas Unnatürliches und Beunruhigendes an sich.
„Magie herrscht an diesem Ort.“ murmelte Eara vor ihr leise und Chadas Aufmerksamkeit kehrte zurück. „Nur vermag ich sie nicht klar zu erkennen. Es ist, als würde sie sich mir entziehen.“
Chada schluckte, die Anwesenheit der Zauberin schüchterte sie noch immer ein, doch sie nahm ihren Mut zusammen und fragte: „Was meinst du damit? Was bedeutet das?“
Eara wandte sich zu ihr um, ihre Miene war freundlich, doch zugleich unergründlich und ihre hellgrauen Augen musterten sie. „Was weißt du über Zauberei?“ fragte sie schließlich.
„Nicht viel.“ gab Chada zu. „Es existieren einige alte Zauber hier, doch gibt es in Andor keinen Magus. Keinen, der sie versteht, keinen, der sie zu wirken vermag und auch kaum Aufzeichnungen in den Archiven.“
„Dann lass mich dir so viel sagen.“ begann Eara zu erklären. „Die Magie kann verschiedene Formen annehmen, wie viele, wird dir niemand mit Gewissheit sagen können, da auch die sie einem Wandel unterworfen ist, wie auch die Welt, in der sie existiert. Ein Magus ist in der Lage, die Ströme der Magie wahrzunehmen. Erkennt er das Wesen der Magie, kann er lernen, diese zu formen und sogar zu beherrschen.“
Chada war sich nicht sicher, ob sie zur Gänze verstand, was Eara zu sagen versuchte, doch sie zwang sich, sich jedes Wort genau einzuprägen, um später in Ruhe darüber nachdenken zu können.
„Ich kann hier Magie spüren, die mir vertraut ist, doch daneben herrscht hier auch eine Form, die mir fremd ist. Ich mag in der Lage sein, diese wahrzunehmen.“ fuhr Eara fort. „Doch kann ich ihr Wesen nicht erkennen. Das heißt ich vermag sie weder zu formen, noch zu beherrschen.“ Sie wirkte plötzlich freudig erregt, wie jemand, der etwas erhalten würde, auf das er lange hatte warten müssen.
„Und welche Magie ist dir...“ begann Chada, doch sie unterbrach sich als sie einmal mehr den inzwischen schon beinahe vertrauten, beißenden Geruch von eben jenen Kreaturen wahrnahm, von denen die inständig gehofft hatte, ihnen niemals wieder zu begegnen.
„Sie sind hier!“ stieß sie hervor, ihre rechte Hand schoss zum Köcher über ihrer Schulter und hatte einen Pfeil aufgelegt, schneller als sie blinzeln konnte. Auch ihre Gefährten schienen zu verstehen, denn auch sie zögerten keinen Augenblick. Fennah und Thorn zogen ihre Schwerter und drängten Chada in ihre Mitte. Eara hingegen stand für einen Moment still, die Zauberin hatte die Augen geschlossen, ihre Lippen bewegten sich rasch, aber lautlos. Chada meinte förmlich zu spüren, wie eine unsichtbare Kraft mit der Gewalt eines Sommergewitters um sie herum erhob. Das Leuchten an der Spitze ihres Stabes wurde stärker und als Eara die Augen wieder öffnete, glühten diese in dem selben, grellem Violett und verliehen ihr einen unheimlichen, fast wahnsinnigen Ausdruck. Trotz der Angst, die Chadas Kehle zuschnürte war es unmöglich, von diesem Schauspiel nicht beeindruckt zu sein.
Rücken an Rücken standen sie da, Thorn, Fennah und Eara hielten Chada in ihrer Mitte, ihre Blicke zuckten umher als sie versuchten, irgendetwas durch den trüben, grauen Nebel zu erkennen und in der Stille gefror der Moment für Chada zu einer Ewigkeit.
Dann, wie ein Vorbote der Unheils, drang das Stampfen unzähliger, unförmiger Füße durch die Düsternis. Gedämpft, wie ihre Stimmen zuvor, doch klar und deutlich und sich zweifellos nähernd.
Plötzlich schälte sich eine Kreatur aus dem Nebel und sprang mit einem gellendem Schrei, einem Kreischen beinahe, auf sie zu. Dieses mal zögerte Chada keinen Moment, ihr Pfeil bohrte sich in den Hals des Gors und er fiel, doch hinter ihm erschienen weitere dieser abscheulichen Geschöpfe. Chada fühlte sich wie in den Überfall der Gors im Wachsamen Wald zurück versetzt und doch war es hier und heute anders, sie hatte Gefährten, die mit ihr Seite an Seite standen.
Dem ersten Gor, der nahe genug an die menschliche Mauer herankam, die Eara, Fennah und Thorn vor Chada bildeten, sprang die Zauberin entgegen, sie rief ein Wort in einer Sprache, die Chada nicht verstand, holte aus und rammte ihren Stab gegen die Brust ihres Angreifers. Chada stieß einen erschrockenen Schrei aus, als der Gor vor ihren Augen in Flammen aufging, panisch mit seinen klauenbewehrten Armen um sich schlug und innerhalb von Lidschlägen zu Asche zerfiel.
Dem nächsten Wort in Earas melodiöser Sprache folgte ein Blitzstrahl, der geradewegs aus der glühenden Spitze des Stabes hervorschoss. Eine ohrenbetäubender Knall ertönte, wie ein Donnerschlag und ein weiterer Gor ging zu Boden, zuckend, ein Brandmal, groß wie eine Hand, prangte auf einem seiner unförmiger Arme.
Als Chada sah, welche Mächte eine Zauberin zu entfesseln imstande war, hoffte sie, nie eine solche zum Feind zu haben.
Pfeil um Pfeil schnellte von ihrer Bogensehne, während Fennah und Thorn, die sich schützend nun auch vor Eara gestellt hatten, ihre Schwerter um diejenigen der Kreaturen tanzen ließen, die durch Pfeile und Blitze hindurch bis zu ihnen gelangten.
Dann war es vorüber, Fennah zog ihr Messer aus dem Nacken den letzten verbliebenen Gors, der zu Boden sank, nur um durch eine Berührung von Earas Stab zu Asche verwandelt zu werden.
So unvermittelt, wie sie mit dem Erscheinen der Gors verschwunden war, kehrte die unwirkliche Stille des Nebels zurück und Chada konnte nichts mehr hören außer dem erschöpften Keuchen ihrer Gefährten und ihrem eigenen, schweren Atmen.

„Beeindruckend.“ durchschnitt eine Stimme die Stille. Die Stimme einer Frau, einer alten Frau, knarrend wie ein alter Baum oder ein Türschloss, das dringend Öl bedurfte. Chada wirbelte herum und erkannte eine weitere Gestalt, die sich ihnen durch den Nebel hindurch näherte. Die Gestalt hatte die Kapuze ihres weiten, zerschlissenen Mantels, der vor hundert Sonnenzyklen wohl einmal braun gewesen sein mochte, so tief ins Gesicht gezogen, dass ihre Züge im Schatten lagen. Sie kam, gebeugt und auf einen langen Stab gestützt, mit einem nicht minder krächzenden Lachen weiter auf sie zu. Wachsam und misstrauisch hielt Chada einen weiteren Pfeil zwischen ihren Fingern, beobachtend, abschätzend und auch Thorn schien seine, mittlerweile von dunklem Blut glänzende Klinge nicht senken zu wollen.
„Wer ist da? Bleib zurück und erkläre dich, Alte!“ rief er der Gestalt entgegen, sein Schwert auf Schulterhöhe, die Spitze ihr zugewandt.
Doch die Frau lachte nur weiter ihr knurrendes Lachen. „Wahrlich beeindruckend.“ wiederholte sie. „Ein wenig zu ähnlich einer Heldengruppe aus einer Kindermär, findet ihr nicht? Doch zweifellos effektiv. Und nun zügle dein Schwert, bevor du noch jemanden verletzt.“ fügte sie an Thorn gewandt hinzu und schob seine Waffe scheinbar mühelos mit ihren Stab beiseite.
Chadas Blick huschte zu Fennah herüber, deren Mundwinkel zuckten, als versuche sie, ein Lachen zu unterdrücken und da verstand sie. Vor ihnen stand Reka, die Hexe, die Wanderin von Andor, die wie ein guter Geist seit über fünfzig Sonnenzyklen durch das Land zog und den Menschen so oft ihre Hilfe anbot, ohne je eine Gegenleistung zu verlangen. Rasch ließ sie ihren Bogen sinken und steckte den Pfeil zurück in den Köcher, doch Thorn blieb beharrlich wo er war und verstellte der Frau den Weg. Reka hob nun erstmals den Kopf, sodass ihr Gesicht zu sehen war. Die Züge der Hexe waren von Alter, Wind und Sonne zerfurcht und wettergegerbt, doch es war deutlich zu erkennen, dass sie einst eine überaus ansehnliche Frau gewesen sein musste.
„Bursche.“ knurrte sie an Thorn gewandt, ihr Lachen war verschwunden. „Du solltest etwas mehr Respekt zeigen vor der Frau, die dich eigenhändig auf die Welt geholt hat.“ und wie zuvor sein Schwert, schob sie nun Thorn aus dem Weg, der sie verwirrt anstarrte und schritt an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
„Du. Mädchen.“ Die Stimme der Hexe war wie ein Schlag auf einen Tisch mit der flachen Hand als sie geradewegs auf Fennah zuging. „Lass mich deinen Arm sehen.“ Chada folgte ihrem Blick und erkannte erst jetzt, wie Blut aus einer langen, klaffenden Wunde an ihrem Unterarm zu Boden tropfte.
„Es ist nichts.“ winkte Fennah eilig ab, als auch Chada Anstalten machte, zu ihnen herüber zu kommen, doch die Hexe achtete nicht auf sie. „Ob es etwas ist oder nicht, entscheidest nicht du.“ knurrte sie als sie Fennahs Arm ergriff und eingehend untersuchte. Wieder schien der Nebel jedwedes Geräusch zu verschlingen.
„Es scheint als wären die Geister mit dir gewesen.“ murmelte Reka schließlich. „Die Wunde ist nicht allzu tief und scheint lange genug geblutet zu haben um als sauber erachtet zu werden. Ich werde sie dennoch nähen.“ fuhr sie fort und Silber blitzte auf als sie eine feine, gekrümmte Nadel und eine Rolle Garn hervor zog. Fasziniert trat Chada näher heran, doch bemerkte sie, wie Thorn, der noch immer dort stand, wo die Hexe ihn beiseite geschoben hatte, ein wenig das Gesicht verzog und sich abwandte, wie um im Nebel nach weiteren Gefahren Ausschau zu halten.
„Setz dich.“ wies Reka Fennah barsch an, während sie den Faden durch das Nadelöhr zog. Die Hexe griff ein weiteres mal in ihren Mantel, förderte eine kleine Phiole mit einer durchscheinender Flüssigkeit zutage und ließ etwas davon über Fennahs Arm laufen. Chada konnte hören, wie Fennah scharf die Luft einsog, als das klare Rinnsal ihre Wunde berührte, doch Reka schien keine Notiz davon zu nehmen.
„Wo ist Morar?“ fragte sie ohne aufzublicken, während sie mit schnellen, geübten Bewegungen die Nadel durch die Wundränder zog.
„Ko'ar.“ stieß Fennah hervor, die zwar ihre Zähne zusammen gepresst hatte, aber dennoch Rekas Tun genau beobachtete.
„Ich nenne ihn Ko'ar. Ich befand, er sollte einen Namen haben, den er selbst in der Lage ist auszusprechen.“ erklärte Fennah wenig später, als die Hexe aus weißen Leinenbinden einen festen Verband um ihren Arm formte und Reka ließ bei diesen Worten wieder ihr kurzes, knurrendes Lachen hören.
„Er flog für mich in die Flusslande um nach dir zu suchen, doch dann verlor er dich im Nebel.“ ergänzte Fennah und die Hexe hob den Blick, zum ersten mal seit sie ihr begegnet waren, augenscheinlich ernsthaft interessiert.
„Du, ein Hauptmann, eine Novizin und eine Zauberin suchen nach der alten Reka.“ murmelte sie. Chada starrte sie verwirrt an. Woher wusste die Hexe, dass sie eine Novizin war?
„Dann versinkt entweder das Land in Eintönigkeit und euch fehlte eine Aufgabe, oder aber der Blutsturm vor zwei Tagen soll unsere geringste Sorge gewesen sein. Doch wenn ich diese grässlichen Kreaturen betrachte,“ die Alte wies auf die Körper der Gors einige Schritte von ihnen entfernt, „erscheint mir letzteres wahrscheinlicher“ fuhr sie fort und blickte herausfordernd in die Runde.
Chada fing Fennahs Blick auf, die kaum merklich nickte, holte tief Atem und trat vor.
„Mein Name ist...“ begann sie, doch Reka unterbrach sie.
„Ich weiß, wer du bist, Chada, Novizin vom Großen Baum.“ unterbrach sie die Hexe. „Und ich kenne dich, Hauptmann Thorn und selbst dein Name ist mir nicht fremd, Eara aus dem Norden.“ sagte sie ungeduldig. „Am besten ersparst du mir deine gewiss guten Manieren und sagst mir, was ich wissen muss.“
Chada tauschte einen Blick mit Eara und Thorn, die beide nicht minder verwirrt wirkten als sie selbst, doch sie führte sich vor Augen führte, dass sie einer Hexe gegenüber stand und es gelang ihr, ihr, Überraschung rasch abzulegen. Stattdessen nickte sie und begann ein weiteres mal, wie sie es schon für Fennah, Prinz Thorald und Thorn getan hatte, ihre Geschichte zu erzählen. Als sie zu der Stelle kam, an der sie und Fennah die Rietburg errreicht hatten, mischte sich Thorn in ihre Ausführungen ein und berichtete der Hexe von König Brandur, seiner Krankheit und wie der Prinz sie ausgesandt hatte, um nach ihr zu suchen.
„Und so weckte Fennah in uns die Hoffnung, du könntest helfen. Du wüstest, was zu tun ist.“ schloss er und blickte Reka beinahe flehend an. Wieder herrschte die unwirkliche, undurchdringliche Stille des Nebels, während sie auf eine Reaktion Rekas warteten.
„Möglicherweise.“ murmelte sie nachdenklich. „Doch muss ich ihn so rasch wie möglich sehen.“
Thorn schien ihre Antwort nicht zu genügen, er öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder und wartete einige Augenblicke ab. Als die Hexe keine Anstalten machte, dem noch etwas hinzuzufügen, nickte er.
„Dann soll es so sein. Wir werden dich umgehend in die Rietburg bringen, zur Nacht können wir dort sein, wenn wir geschwind reisen.“ sagte er und wandte sich bereits zum Gehen, doch Rekas Stimme hielt ihn zurück.
„Nein.“ wieder war ihre Stimme scharf wie eine Klinge als sie sprach. „Die Burg zu finden sollte mir auch ohne euer Geleit möglich sein. Ihr müsst etwas anderes für mich tun.“ sie wandte sich zu Fennah um, die noch immer auf der Erde saß. „Ist es das, was ich vermute, wird meine Heilkunst allein nicht ausreichen. Ich werde Angilskraut brauchen. Ich weiß, dass ich dich einiges über Pflanzen und Kräuter gelehrt habe, zeige mir, dass es nicht vergebens war.“
Fennah blickte auf. „Was lässt dich glauben, ich würde für einen König dem ich nichts schulde, für ein Land, dass nicht einmal von mir weiß und für einen Prinzen, der mich obendrein noch beleidigt, den Weg bis ins Gebirge auf mich nehmen?“ fragte sie kalt.
Reka schien mit einem mal wieder leicht zu lächeln. „Aus eben jenem Grund“, sagte sie sanft, „aus dem du auch hier, inmitten eines tückischen Nebels, umgeben von Gefahren bist, ohne irgendjemandem etwas geschuldet zu haben.“
Einen Augenblick hielten die beiden Frauen den Blick der jeweils anderen stand, dann schlug Fennah die Augen nieder und Reka wandte sich an Thorn.
„Angilskraut wächst an den steilen Pässen an den Ausläufern des Grauen Gebirges, Fennah wird es euch zeigen können. Reist rasch und versagt nicht. Ist Brandurs Zustand so, wie du es beschreibst, bleibt ihm nicht mehr viel Zeit. Wenige Tage vielleicht, wenn die Heilergilde mich zu ihm lässt und tut, was ich sage.“ Ihre Stimme war nun weit weniger sanft, vielmehr scharf und bestimmt, wie ein Befehl. Ohne ein weiteres Wort kehrte sie ihnen den Rücken zu und schritt davon. Bereits nach wenig später war von ihr nichts mehr zu sehen, ganz so, als wäre sie nie da gewesen. Chada und die anderen blieben schweigend zurück und sahen sich an.
„Wir sollten aufbrechen.“ durchbrach Fennahs Stimme die Stille. „Doch es wird dunkel werden bis wir das Gebirge erreichen und es wäre Leichtsinn, des nachts durch die Felsen zu klettern.“
Chada gab ihr im Stillen recht, auch sie verspürte wenig Lust, irgendwo in den Bergen in einer Felsspalte ihr Ende zu finden, dann kam ihr ein Gedanke. „Dann sollten wir heute wenigstens so nah wie möglich zum Fuß des Gebirges heran. Heute noch sollten wir ohne Schwierigkeiten Cavern erreichen. Empfängt uns Fürst Hallgard und gewährt uns ein Quartier für die Nacht, können wir morgen zur ersten Sonne den Aufstieg beginnen.“ überlegte sie laut. Sie wandte sich an Thron. „Nur müsstest du dich bei den Schildzwergen zurück halten und wir sollten nicht damit hausieren gehen, dass du ein Andori bist.“ Sie blickte zu ihren Gefährten, wartend auf ihre Reaktion.
„Worauf warten wir dann noch?“ fragte Thorn und wandte sich zum gehen, hielt jedoch wieder inne und blickte nach oben, wo sich der Nebel gleich einer Kuppel über ihnen schloss und den Himmel vor ihnen verbarg.
„Ich kann die Sonne nicht sehen!“ fluchte er. „Wie, bei den Höllen, sollen wir so wissen, wo Osten ist?“ Gleich einer Antwort, stieß ein schwarzer Schatten durch die Schwaden und Ko'ar landete mit einem leisen Rascheln seiner Flügel auf Fennahs Schulter.
„Wir folgen ihm.“ sagte sie nur, deutete die Richtung und schritt voran. „Ko'ar kann uns den Weg zeigen.“ Chada, Eara und Thorn machten sich auf, Fennah zu folgen, während Ko'ar von Zeit zu Zeit von ihrer Schulter aufstieg, hoch hinauf über die Nebelwand, um sich zu vergewissern, dass ihr Kurs der richtige war.
Nach etwa einer Stunde begann der Nebel sich um sie herum langsam aufzulösen. Die Luft wurde wärmer, fast heiß und auch die Geräusche um sie her wurden schärfer. Schließlich schienen auch sämtliche Farben von Wiesen, Bäumen und Bergen satter zu werden, als wären mit einem mal ihre Sinne in die Welt zurückgekehrt. Chada blickte nach Süden und fast meinte sie, an einem der Berge den gigantischen steinernen Torbogen erkennen zu können, der tiefer in den Berg hinein führte, als es sich vorzustellen einem Menschen möglich gewesen wäre, den Eingang nach Cavern.

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Bird
 
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Re: Bird's Legenden von Andor - Kapitel V

Beitragvon Kar éVarin » 21. April 2018, 18:25

Lieber Bird,
wieder einmal hälst du mich erfolgreich von wichtigeren Aufgaben ab!
Dir dafür zu danken, wäre zu viel des Guten, aber meinen Respekt bekunde ich dir nach wie vor.
Bin sehr gespannt!
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Re: Bird's Legenden von Andor - Kapitel V

Beitragvon ltn_koen » 23. April 2018, 17:40

Hallo lieber Bird,

Es hat mir Spaß gemacht, deine Geschichten zu lesen. Es war auch interessant, Ihren Standpunkt zu Andor zu entdecken.

Es gibt ein paar Aspekte, die mich überrascht haben.

Du sagst, Thorn ist ein Hauptmann der königlichen Garde. Aber in der ersten Legende heißt es, dass die Helden gerade in Andor ankommen...

Es ist ein bisschen zu bequem, dass die Gors keine Seele und keinen Verstand haben. Damit die Helden sie mit gutem Gewissen abschlachten können...

Dennoch war es sehr unterhaltsam zu lesen!
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Re: Bird's Legenden von Andor - Kapitel V

Beitragvon Kar éVarin » 24. April 2018, 08:39

Lieber ltn_koen,

Bird schreibt eine alternative Geschichte, die, außer dass sie die selben Personen und Örtlichkeiten nutzt, in keinerlei Zusammenhang mit der Originalstory steht.
Er selbst schreibt dazu vor seinem Prolog:
Bird hat geschrieben:Seid gegrüßt, mein Name ist Bird. Manche nennen mich Bird, den Geschichtenerzähler, denn genau das pflege ich zu tun.
Ich komme aus einem fernen Land, doch bereise ich schon eine Weile das Land Andor. Auch in meiner Heimat sind die Legenden von Andor gern gehörte Geschichten, doch habe ich auf meinen Reisen erkannt, dass die Geschichten hierzulande anders erzählt werden. So habe ich beschlossen, hier in der Taverne Zum Trunkenen Troll wann immer es mir möglich ist, zu erzählen, wie die Legenden in meiner Heimat erzählt werden. Ich muss zugeben, dass sie sich in einigen Ausführungen sogar erheblich von den hier üblichen Erzählungen abheben.


Allerdings sind auch in der offiziellen Story die Helden zur Zeit der ersten Legende keine Neulinge in Andor, wie du im Roman "Das Lied des Königs" erfahren kann!

Deine Begeisterung für Birds Geschichte will ich damit nicht bremsen, mir gefällt sie auch sehr!
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