von Butterbrotbär » 5. Dezember 2024, 23:38
Das bläuliche Glühen strahlte aus den vier Augen der beiden Kreaturen, die vor der Heldengruppe aus dem Gestrüpp brachen.
Lange Hauer, spitze Hornklauen, dunkle Schuppen – zweifelsohne waren dies Nachtgors aus Hadria, dem fernen Land der Magie. Doch diese beiden Nachtgors schienen nicht an Menschenfleisch interessiert. Der linke Nachtgor hielt sich die linke Schulter, an der schwarzes Blut heruntertropfte. Der andere zog sein rechtes Bein hinter sich her. Sie erstarrten, als sie der vier bewaffneten Helden gewahr wurden.
Vier Heldenaugenpaare starrten in vier pupillenlose Kreaturenaugen.
Eine Eule schrie in der Ferne.
Und Bewegung kam über die Nachtgors. In entgegengesetzte Richtungen humpelten sie davon.
Kheela, die Hüterin der Flusslande, brüllte ihnen hinterher: "Ja, lasst euch hier nicht mehr blicken! Und in den Flusslanden auch nicht!" Dann richtete sie ihre zeremonielle Ghirlada und blickte stolz in die Runde.
Kram, der Tiefminen-Arbeiter aus Cavern, rieb seine Finger, an denen immer noch das getrocknete Blut des verletzten Andori klebte. "Unser Andori hatte nicht einmal sein Schwert gezogen. Nicht er hat diese Nachtgors so zugerichtet. Sind die eigentlich immer so ängstlich?"
Chada, die ehemalige Bewahrerin aus dem Wachsamen Wald, ließ ihren Bogen Audax sinken und furchte nachdenklich ihre Stirn. "Wenn Eara oder Tenaya hier wären, könnten die dir sicher genaueres sagen. Nach dem wenigen, was ich von Nachtgors gelesen habe, sind sie vergleichbar mit den hiesigen Gors, verstehen sich aber umso besser auf schneeige Umgebungen. Der Legende nach sollen sie nach dem prophezeiten Qurun in Scharen aus der Hadrischen Unterwelt dringen, wie es einst unsere Gors nach dem Unterirdischen Krieg aus Krahal taten."
Aćh, die Takuri-Hüterin aus dem fernen Tulgor, ließ ihr goldenes Mondschwert zur Sicherheit gezogen. "Soll Turr ihnen folgen? Oder wollen wir vielmehr herausfinden, wovon diese Nachtgors flohen?"
Nach rascher Beratung kamen die vier Helden zum Schluss, dass die beiden verletzten Nachtgors keine akute Gefahr darstellten. Stattdessen wollten sie sich weiter ins Unterholz des südlichen Waldes vorwagen und versuchen zu ergründen, wer oder was die Nachtgors verletzt hatte.
Die kahlen Bäume warfen lange Schatten über den dunklen Schnee. Es knirschte laut unter den vier Paar Stiefeln, so leise die Helden auch zu schleichen versuchten.
Kram hatte als Zwerg natürlich die beste Sicht in der Dunkelheit, und so hatte er kein Problem, die Fährten der Gors zu erspähen. Problematisch war eher, dass er immer wieder tiefe Schneelöcher einkrachte. Seine sonst so gute Laune verpuffte endgültig, als er zum dritten Mal bis zur Brust im weißen Pulver einsank.
"Und das ausgerechnet heute", grummelte Kram durch seinen vereisten Bart hindurch. "Dieser neue Sternkundige aus Tulgor las dunkle Tage aus seinen Himmelskarten. Wir sollten bald zur Rietburg aufbrechen, wenn wir das Adventsfest noch miterleben wollen."
"Och, mich würde es jetzt nicht allzu stören, König Thoralds neuste langatmige Rede zu verpassen", sagte Aćh. "Die anderen Helden wiedersehen und Flaps streicheln würde ich aber schon gerne."
"Doch ist dies hier nun unsere Aufgabe", sprach Chada bestimmt. "Wir können dem südlichen Wald nicht einfach den Rücken kehren, solange ein unbekannter Schrecken hier lauert."
"Und ohnehin", sagte Kheela versöhnlich, "Wollen wir etwa Fenn erzählen gehen, neben seiner Höhle lauerte eine unbekannte Gefahr, und wir wären einfach unverrichteter Dinge abgezogen? Da stehen wir nicht als gute Freunde da."
Da wollte niemand etwas entgegnen. Noch enger in ihre dicken Wintermäntel eingehüllt, zogen die vier Helden weiter durch die weiße Wunderwelt. Aćh dachte an ihre Mutter Nelímar, die ihr gut zusprechen würde, wenn sie hier wäre. Chada wünschte sich, sie könnte ihren treuen und warmen Zauberwolf Lonas kuscheln. Kheela dachte an ihren Sohn Janis, der hoffentlich gerade in seinem warmen Bett im Hof auf der anderen Flussseite vor sich hin schnarchte. Kram schwelgte in Erinnerungen an den legendären Eintopf seiner Großfamilie. Sein Magen knurrte entsprechend.
"Mir knurrt auch langsam der Magen", gab Kheela zu, "Was würde ich nicht alles für eine warme Suppe geben."
"Mit Blaubachbeeren!", sagte Chada schwärmerisch, "Kombiniert mit den legendären grünen Blättern des Westerwaldes lassen die jedem Gericht eine feine Note verleihen."
"Eure Träume in allen Ehren", meinte Kram, auf einmal flüsternd, "Aber bin ich der einzige, der diesen Gestank riecht? Hinter dieser Schneewehe da vorne ist etwas. Bei den versengten Augenbrauen des Wunderkinds, ich kann den Geruch kaum aushalten!"
Mit seiner Axt schaufelte er mehr Schnee zur Seite, doch die Schneewehe wurde kaum kleiner
"Warte, lass mich. Oder besser gesagt, lass Turr", sagte Aćh. Sie zog aus ihrem Wintermantel eine grob gehauene steinerne Flöte hervor und spielte eine leise fröhliche Melodie. Nicht eine Minute später stieß mit einem klangvollen Schrei ein golden glühender Feuervogel durch die dunklen Wolken und krallte sich in Aćhs Schulter.
"Tja, damit ist das Überraschungsmoment dahin. Turr! Haamun Meza.", kommandiere Aćh, und deutete nach vorne. Mit einem melodischen Kreischen hüpfte der Feuertakuri auf Aćhs Haarschopf – die Takuri-Hüterin ächzte nur leicht unter seinen Krallen – breitete seine Flügel gebieterisch aus und begann, immer stärker zu leuchten. Flirrende Hitze umfasste den Schneehaufen. Unter der Wärme des Feuervogels schmolz er dahin wie Eis im Licht der Morgensonne und gab den Blick frei auf den Ursprung des Gestanks, einen großen schattigen Schemen.
Sie hatten ihr Ziel erreicht.
Vor ihnen wurde ein Bild der Zerstörung deutlich.
Der Schemen stellte sich als glitzernde Holzkutsche heraus, größer als der tollste Troll. Allerdings glich sie aktuell mehr einem Wrack an einer der unzähligen Klippen des Hadrischen Meeres, wie sie verkehrt herum im Boden steckte.
Im aufgewühlten Schnee, umgeben von roten Blutflecken, erkannte Kheela das verlorene Schwert des verletzten Andori. Schwer lag es in ihrer Hand, als sie sich die schartige Waffe an den eigenen Gürtel steckte. Die Handhabung solcher Klingen war nicht ihre Stärke, als Hüterin der Flusslande hatte sie oft repräsentativere Aufgaben. Sollte sie ihren Wassergeist Vara rufen oder damit abwarten, bis ihre Gegenwart wirklich nötig war? Sie umklammerte ihren danwarischen Stab fester und richtete ihren Blick auf das große Gefährt vor ihr.
Es war einst sicherlich eine elegante Kutsche gewesen, nun jedoch stand sie kopfüber in ihren eigenen Einzelteilen. Davor lagen zwei tote Wardraks, zweifelsohne die Urheber des Gestanks. Wenn das Licht des roten Mondes die Heldenaugen nicht täuschten, waren die Echsennasen dieser Wardraks nicht wie üblich schwarz, sondern knallrot. Schwere Ketten befestigten die animalischen Kreaturen mit dem Karren. Tiefe Furchen zogen sich durch ihre Flanken, als hätte ein Wesen mit großen Klauen sie angefallen. Furchen, wie sie der Andori aus der Taverne an der Schulter gehabt hatte. Schwarzer Rauch stieg von den Wunden auf und waberte wie dunkle Schatten um den Ort des Geschehens.
Seltsam war auch, dass es keine Fußspuren oder Kufenspuren im Schnee um die Kutsche gab, die zeigen würden, woher sie gekommen war. Hingegen waren zahlreiche Äste an nahe liegenden Bäumen abgeknickt, als wäre der Karren durch sie direkt vom Himmel gefallen.
Unter, hinter und neben der abgestürzten Kutsche war ein wahrer Berg an Geschenken verstreut. Einige waren noch in Pergament in allen Regenbogenfarben verpackt und mit schönen Schleifen verschnürt, doch die meisten waren angeknickt, plattgedrückt oder gar völlig zerfetzt. Da lagen tropfende Trinkschläuche, zerbrochene Fernrohre, gar ein Falke mit angeknackstem Flügel, neben dem sich Turr sofort beruhigend setzte.
Und neben dem Karren, sicher in einem großen Schneehaufen gelandet, steckte ein weiterer Gor und atmete schwach. Kein Nachtgor war dies, wie an seiner rötlichen Schuppenfarbe erkennbar war. Zudem trug dieser Gor trug nicht nur die losen Lendenschurze, die von diesen Kreaturen auf im Winter zu erwarten war. Nein, dieser Gor war in einen eleganten roten Mantel gekleidet, und auf seinem Kopf trohnte eine lange Zipfelmütze mit einem weißen Bommel.
Chada blinzelte überrascht. "Ist das nicht ... ? Nein, das kann nicht sein, ich dachte stets, er wäre bloß eine Legende, die die Hohepriester von Mutter Natur erzählen, um den Nachwuchs brav zu lassen."
Kheela legte ihren Kopf schief. "Liebe Chada, haben wir in den letzten Jahren nicht zu oft erfahren, dass alle Legenden einen wahren Kern haben? Der Schwarze Herold, der letzte Drache, die Eis-Dämonen aus dem Fahlen Gebirge ... warum auch nicht der Santa Gor?"
Aćh, welche im fernen Land Tulgor aufgewachsen war und in ihrer Zeit hier noch lange nicht alle Sagen Andors vernommen hatte, fragte ein nervös: "Wer oder was ist der Santa Gor?"
Kram holte tief Luft und setzte an: "Die Geschichte vom Santa Gor erzählt mein guter Freund Mart immer gerne zum längsten Dunkeltag, wenn der Winter bevorsteht. Es geht darin um den guten Geist der ..."
Da regte sich die Kreatur mit der Zipfelmütze, richtete sich auf, klopfte sich den gröbsten Schnee vom langen weißen Bart und krächzte in akzentfreiem Andorisch: "Jawohl, ich bin der Santa Gor, o Helden von Andor. Und wie ich befüchte, benötigen ich und meine Nachtgor-Helferlein dringend Eure Hilfe."