von Butterbrotbär » 31. Juli 2019, 07:37
Vernehmet hier nun das Märchen von der Schönen und dem Tarus:
Vor langer, langer Zeit war das Lande Andor primär von Trollen bevölkert. Die Rietburg war noch nicht gebaut, die Taverne zum Trunkenen Troll stand noch nicht, der Trunkene Troll selbst war höchstwahrscheinlich noch nicht mal geboren. Vereinzelt und versteckt konnte man Bauernkaten sehen, oftmals in der Nähe der Narne oder im Schatten von Bäumen, auf dass man sich im Falle eines Trollüberfalls rasch in Sicherheit bringen konnte.
Dazumals lebte im Lande ein armer Bauer namens Marus, der hatte sechs Töchter. Waren die älteren fünf Töchter alle selbstverliebt und gemein, so war die jüngste und ihm liebste Tochter grosszügig und nett. Als Marus eines Tages mit seinem kleinen Schiffchen in die nordische See stechen wollte, um einen Teil seiner Ernte in Varatanien zu verkaufen, baten ihn alle Töchter um Mitbringsel. Die älteren fünf Töchter baten um teure Perlen, Golddublonen, Silberketten, bestes Holz aus dem Wachsamen Wald, gar Nixenstaub. Der Vater versprach ihnen all dies. Die jüngste Tochter jedoch, bescheiden, wie sie war, bat Marus bloss um eine Sturmrose.
Das Boot des Vaters geriet in einen Sturm und kenterte. Marus verlor all seine Ladung und strandete auf einer ihm bislang unbekannten felsigen Insel östlich von Varatanien. Nun konnte er seinen Töchtern keine Geschenke mehr kaufen, geschweige denn überhaupt einen Gewinn aus den untergegangenen Vorräten an Winterweizen ziehen. Existenzängste überkamen ihn.
Als der Vater sich so auf der Insel umsah, erkannte er, dass in deren Mitte, geschützt vor der tosenden See durch die hohen Klippen, ein kleines Tal lag, augenscheinlich unbewohnt, da komplett überwuchert. Und da, in der Mitte des kleinen Tälchens, erkannten die geübten Augen Marus’ eindeutig einen einzelnen Blumenstrauch, welcher aus einem Findling spross. Eine Sturmrose!
Kaum hatte der arme Marus sich in Bewegung gesetzt, um diese Pflanze zu pflücken und so wenigstens den Wunsch seiner jüngsten Tochter zu erfüllen, da sprang von einer Felswand ein mächtiges Wesen herunter. Es überragten den doch nicht allzu kleinen Bauern um mindestens zwei Köpfe, hatte gebogene, lange Hörner und war mit nichts als einem Lendenschurz bekleidet. Ein Tarus!
Ihr müsst wissen, damals waren Taren noch nicht als die liebevollen, friedfertigen Naturliebhaber bekannt, als die wir sie heute zu schätzen wissen. Das gemeine Volke und selbst die Bewahrer vom Baum der Lieder hatten nie von einem Tarus gehört, und dieses Exemplar hier war mehr Tier denn Mensch, hatte es doch so lange in diesem Tale festgesessen. Es trat vor den Bauern und sprach: „Du Unwürdiger! Wolltest du Dieb doch glatt das letzte bisschen Schönheit aus diesem mutterseelenverlassenen Tal entfernen, und mich so für alle Ewigkeiten verdammen!“
Und schon hätte er sich auf den völlig überrumpelten Marus gestürzt, hätte dieser nicht beschwichtigend seine Arme in die Luft geworfen und ausgerufen: „Es war in keinster Weise mein Ziel, diesem Tal oder Euch einen Schaden zuzufügen. Ich bin bloss in des Schicksals Ungnade gefallen, wie es mir scheint, und darf nun wohl nicht mal mehr den letzten Wunsch meiner jüngsten Tochter erfüllen – denn bloss ihretwillen wollte ich diese Sturmrose pflücken.“
Da horchte der Tarus auf, und bot dem Vater an, ihn wieder gehen zu lassen, wenn dieser im Gegenzug dafür seine liebste Tochter an seiner Stelle auf die Insel senden würde, sobald sie die Volljährigkeit erreichen würde, auf dass sie die Insel nie mehr verlassen sollte. Der Vater weinte und haderte, doch wusste er, dass seine Töchter ohne ihn nicht durchhalten würden. Da willigte er ein, und der Tarus überreichte Marus ein neues, besseres Schiff, sowie genug Gold für Vorräte für einen gesamten Winter, nein, sogar zwei ganze Winter!
Und Marus kehrte nach Andor zurück, und als seine jüngste Tochter volljährig geworden war, trennte er sich schweren Herzens von ihr und sandte sie zum Tarus auf seiner geheimnisvollen Insel, abgeschottet vom Rest der Welt. Natürlich litt die Tochter darunter, nicht mehr bei ihrer Familie zu sein, doch im Gegensatz zu ihren Schwestern stellte sich der Tarus als gar nicht gemein heraus, das Essen, welches der Tarus bereitete, war köstlicher als alles, was sie je gekostet hatte, die Umgebung war wunderschön, und wie es sich herausstellte, hatte der Tarus Zugang zu einer überragenden Sammlung Danwarer Schriften, sodass die jüngste Tochter ganze Mondzyklen damit verbringen konnte, über die umliegende Welt zu lernen. Bloss verlassen durfte sie die Insel nicht, da war der Tarus ganz strikt.
Jede Nacht träumte die jüngste Tochter von einem wunderschönen Prinzen, der sie innigst bat, ihm zu helfen. Die Tochter glaubte, dieser Prinz müsse wohl ein anderer Gefangener auf dieser Insel sein, und beschloss, ihn zu finden. Und doch war ihre Suche erfolglos. Indes aber näherten sie und der Tarus sich langsam an, und als sie den Tarus bat, sie wenigstens einmal, zur Zeit des grossen andorischen Erntefests, ihre Familie besuchen zu lassen, willigte er ein. Er schenkte ihr sogar ein neues Boot und zusätzliche Nahrung, warnte sie aber: „Kehre unbedingt innert eines Mondzyklus zurück, oder ich werde vergehen.“
Doch als die jüngste Tochter fröhlich zu ihrer Familie zurückkehrte, erblickte sie Neid in den Gesichtern ihrer Geschwister. Sie hatte ein vergleichsweise gutes Leben auf der Insel gehabt, bemerkte sie nun. Gutes Essen, spannende Lektüre, angenehme Gesellschaft. Und als der Mondzyklus beinahe vorüber war, hatte sie in einer Nacht einen anderen Traum, einen Traum vom Tarus, welcher sie innigst bat, zu ihm zurückzukehren, oder er würde sterben.
Und die jüngste Tochter erkannte, dass sie Gefühle für den Tarus empfand, und teleportierte sich mithilfe eines magischen Spiegels vom Volke der Takuri zurück ins Tal des Tarus. Und dieser erzählte ihr seine Geschichte:
Der Prinz aus ihren Träumen war wahrhaftig er! Einst war er ein Mensch von den Nebelinseln gewesen, doch hatte er keinen Respekt vor den Naturgeistern gezeigt. Gar viele Sturmrosen hatte er von dieser Insel ausgerissen, und so hatten die Wiesengeister ihn verflucht. Er war gewachsen, seine Haut hatte sich verdunkelt, und ihm waren seine langen Hörner gewachsen. Zunächst hatte er sich gefreut, stärker, schneller, ausdauernder zu sein. Aber dann hatten ihm die Naturgeister erklärt, dass er von nun an ein Teil dieser Insel sein musste, sie nicht mehr verlassen durfte, bis jemand ihn wahrhaft lieben würde – und der erlösende Kuss musste stattfinden, ehe die letzte Sturmrose auf der Insel verdorrte.
Da blickte die jüngste Tochter auf die Sturmrose, und sie war verdorrt, sie war zu spät! Der Tarus war nun für immer auf dieser Insel gefangen! Bitterlich weinten sie beide, die jüngste Tochter gestand dem Tarus ihre Gefühle, und sie küssten sich. Da ging eine Veränderung in der jüngsten Tochter vor, und auch sie wuchs, ihre Haut verhärtete sich und Hörner brauchen aus ihren Schläfen hervor. Sie ward zu einem weiblichen Ebenbild des Tarus!
Die beiden schickten Falken an Marus und dessen Familie und boten ihnen an, das trollverseuchte Land zu verlassen und zu ihnen auf die Sturminsel zu ziehen. Und als der alte Vater Marus und die fünf anderen Töchter die Insel betraten, wurden auch sie von den Wiesengeistern in Taren verwandelt. Gleich erging es allen Menschen, die über die nächsten Jahre auf der Insel stranden sollten und länger als einige Tage dort blieben. Langsam wuchs eine richtige Gesellschaft dort heran, alle gemeinsam wartend darauf, dass eine weitere Sturmrose wachsen sollte, da sie erst dann die Insel endlich wieder verlassen dürften.
Der Legende nach ist dies die Geschichte, wie die ersten Taren entstanden und warum sie in ihrem Sturmtal so zurückgezogen vom Rest der Welt leben. Und wer’s nicht glaubt, bezahlt `nen Goldtaler. Oder noch besser, gibt `ne Runde aus!