von Butterbrotbär » 9. September 2022, 00:36
Die Nacht lag ruhig über Andor. In der Ferne heulten Skrale. Spiegelbilder der Sterne funkelten auf der Oberfläche der Narne. Der rote Mond sandte seinen warmen Schein auf die andorische Erde, doch gegen die kalten Winde aus dem Gebirge konnte er nicht viel ausrichten.
Stumm standen die vielen Bauernkaten des Rietlands im Schatten da. Nicht so hingegen die Taverne zum Trunkenen Troll. Kerzenlicht erhellte das gemütliche Gasthaus und Stimmengewirr drang in die Nacht hinein.
Die Tür schwang auf und eine gedrungene Gestalt stürzte in die Taverne hinein. Kleine Äuglein blinzelten unter einer beigen Kapuze hervor. Zwei Hände – oder war es Pfoten? – schoben sich aus Ärmeln hervor und wärmten sich am Feuer. Bibbernd streichelte die Gestalt die Tavernenkatze und fragte in die Runde: „Hat jemand ein Butterbrot? Ich komme gleich um vor Hunger!“
Damit wären etwaigen Zuhörern klar, um welchen Tavernengast es sich beim Neuankömmling handelte. Doch kam keine Antwort von den zahlreichen Anwesenden. Allesamt waren sie tief in ihre jeweiligen Gespräche verwickelt. Eine angespannte Stimmung herrschte.
Ein wenig lauter erzählte der Neuankömmling: „Ich überbringe einen dringlichen Appell aus einem Dorf im Süden. Der Trunkene Troll wütet im Suff und lallt etwas davon, dass er höchstbrisante Informationen habe, von denen die Zukunft des Königreichs abhängen könnte – welche er für den Spottpreis von 30 Fässer von Erloths sagenumwobenem Goldmet teilen würde. Höchstwahrscheinlich nichts als ein trauriger Bluff, aber wenn jemand dem Trunkenen Troll Einhalt gebieten geht, könnte man ihn gerne nach diesen angeblich schicksalsbestimmenden Informationen aushorchen. Und Einhalt gebieten sollte man ihm bald, wenn die Katen des Südens nächstes Jahr noch stehen sollen. Vielleicht könnte einer der ein wenig besonneneren hier einkehrenden Trolle den Trunkenbold aufsuchen und ihm die Vorzüge einer langen Winterstarre darlegen.“
Falls solche besonnenere in der Taverne einkehrende Trolle den Butterbrotbären vernommen hatte, gaben sie dies nicht zu erkennen. Vielmehr nahm das allgegenwärtige Gemurmel und Gebrabbel noch an Lautstärke zu. Die wenigen Wortfetzen, die der Bär vernahm, weckten allerlei Sorgen in ihm.
„... Fängen der Fluggors...“
„... geplündert und gebrandschatzt ...“
„... Varkur ...“
So gesellte sich der Bär an den Stammtisch und fragte nach der Ursache der allgemeinen Aufregung. Wortlos hielt eine Fischerin ihm ein Pergament entgegen. Der Bär las und erbleichte unter seinem Fell mit jedem Satz mehr.
„Oh nein! Das Schwarze Archiv wurde geplündert?! Wer weiß, welchen Schaden die Geheimnisse aus den Schwarzen Archiven in den falschen Händen anrichten können. Ah, wenn die Helden von Andor nur hier wären, statt wer weiß wo im Gebirge ihren Abenteuern nachzugehen!
Oh nein! Jemand wird im verlassenen Turm gefangen gehalten?! Dieses Zwergenbauwerk ist bekanntlich nur sehr schwer zu erreichen. Es gibt keinen ausgetretenen Pfad dorthin und man macht sich sicherlich beim Aufstieg zur Zielscheibe garstiger Fluggors.
Oh nein! Es ist Albus?! Ich war dabei, als er zum ersten Mal die Taverne besuchte. Ein guter Bewahrer und einer der wenigen Wachsamen Wäldler, die dieses Gasthaus aufsuchten und ihr Versprechen, bald wiederzukehren, auch einhielten.“
Marduk der Bewahrer erinnerte den Bären daran, dass bezüglich der Einhaltung solcher Versprechen vielmehr Kallun die Ausnahme gewesen war. Doch des Bären Aufmerksamkeit war schon wieder weiter gewandert. Ein alter Mann namens Taris hatte ihm eine Landkarte gezeigt. Der Bären Miene hellte sich auf. Karten waren so spannend, dass sie seine Stimmung selten senken konnten. Mit gefurchter Stirn studierte der Bär die Stelle, auf die Taris zeigte.
„Der alte Bron? Welch geschichtsträchtiges Gemäuer. Es handelt sich dabei um den ältesten oberirdischen ... nein, das ist gerade nicht wichtig. Ihr sagt, hier gäbe es einen unterirdischen Weg unter der Kornschlucht hindurch, der nur diese beiden Zwergentürme verbindet und keinerlei andere Zugänge hat? Wie ist das möglich?“
Der Bär brummelte nachdenklich vor sich hin.
„Zwergentüren!“, meldete sich Betram zu Wort, „Das könnte ein Zwergentüren-Gang sein! Die Ausgänge des weit verbreiteten Netzwerks tauchen überall auf. Erst kürzlich habe ich eine solche Pforte direkt vor meinem Hof entdeckt. Die Dinger sind wirklich gut versteckt, aber etwa im Lichte des Mondes oder im Schein eines Runensteins kann man ihre Tarnzauber schon durchschauen.“
„Natürlich!“ Der Bär klatschte fröhlich in seine Tatzen. „Das muss eine Zwergentüren-Verbindung sein! Eine Vereinung der Gegensätze von Feuer und Wasser! Vom Verlassenen Turm direkt zum Alten Bron! Eine Eingangstür und eine Ausgangstür. Erst, wenn beide Türen geöffnet werden, kann der Gang dazwischen begangen werden. Und ich sage euch: Bei diesen Gängen ist potente Runenmagie im Spiel, so geschwind, wie die Reise zwischen zweier solcher Türen dauert.“
„Dann ist doch klar, was wir als nächstes tun können!“, rief Elisa. „Die beiden Zwergentüren öffnen und Albus befreien! Noston der Falke kann an Albus zurückgeschickt werden. Bitten wir den Bewahrer, in seinem Gefängnis nach einer Zwergentür Ausschau zu halten und selbige zu öffnen. Doch wie öffnen wir die Tür im alten Bron?“
Da meldete sich Betram wieder zu Wort: „Erinnere ich mich falsch, oder zog es nicht kürzlich unseren guten Freund, den Handelszwerg Garz, zum alten Bron? Er schwurbelte etwas davon, dort einen Handelsposten eröffnen zu wollen. Würde mich nicht wundern, wenn es ihm primär darum ginge, den Agren einige Edelsteine billig abzuluchsen. Davon könnten wir nun profitieren. Wollen wir einen weiteren Vogel zu ihm schicken? Wenn sich im Alten Bron eine Zwergentür befindet, sollte Garz sie für uns aufspüren und öffnen können. Sofern wir der Nachricht an ihn eine milde Gabe von einigen Goldstücken beiliegen und bei Erfüllung eine Zulage versprechen, besteht eine gute Chance, dass Garz unseren Wünschen tatsächlich Folge leistet.“
„Und was dann? Wenn die beiden Türen geöffnet sind, soll Albus einfach so ins Freie laufen?“, warf eine Fischerin ein, „Was, wenn sein Entführer ihm nachfolgt? Wir sollten einige Tavernengäste als Unterstützung aussenden. Doch der Weg zum alten Bron liegt weit ab der alten Zwergenstraße. Jeder Pfad dorthin ist lang und beschwerlich.“
„Ein Glück, dass wir nicht zwingend einen solchen Pfad begehen müssen, um zum alten Bron zu gelangen“, meinte der Bär wichtigtuerisch. „Neben dem alten Bron wächst schließlich der Bronwald, in dessen Innern ein uralter Druidenhain liegt. Ein Druidenhain, wie es auch einen im südlichen Wald gibt. Kaum eine Stunde von hier entfernt! Die Druidenorden mögen während des unterirdischen Kriegs ihr Ende gefunden haben, doch die Spuren ihrer magischen Rituale verschwinden nicht so schnell. Wenn wir eine Fee fänden, die bereits beide Haine besucht hat, könnten wir sie bitten, uns ein Portal zwischen den beiden Hainen zu öffnen – eine Abkürzung, direkt durch die Feenwelt, von hier bis zum Bronwald! Es schaudert mich nur der Gedanke daran, was eine Fee als Gegenleistung für einen Gefallen erwarten könnte.“
Gemurmel brandete wieder auf. Jemand erzählte stolz, mit etwas Hilfe auch ohne Feenmagie ein Portal zwischen den beiden Druidenhainen öffnen zu können.
Der Bär ließ sich indes auf einen Schemel plumpsen und murmelte: „Und nun sagt mir bitte, dass noch irgendwo ein halbes Butterbrot übrig ist. Ich komme gleich um vor Hunger.“
Bald schon schmatzte er nur noch still vor sich hin, während um ihn herum weitere Pläne geschmiedet wurden.